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Impulse treiben die Menschen an, helfen dabei, Entscheidungen zu treffen oder Probleme zu lösen. Doch sie sorgen auch für Reue: unbedachte Worte, ein Schlag, eine falsche Entscheidung und schon ändert sich das ganze Leben. Diese Anthologie enthält 25 fesselnde Geschichten und Gedichte, die sich Verbrechen widmen. Die Spendeneinnahmen kommen dem Verein VEREINT gegen Gewalt e.V.“ mit dem Projekt A4 zugute, das Männer unterstützt, die Opfer häuslicher Gewalt sind.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sind wir von Natur aus Böse, oder werden wir es im Laufe unseres Lebens.
Wie beeinflussen Impulse unser Handeln? Welche inneren und äußeren Einflüsse bringen unsere dunkle Seite zum Vorschein.
Diese Fragen ergründen die Autor:innen dieser Anthologie.
Wir tauchen ein in die Gedanken von verzweifelten Vätern, Opfern jahrelangen Mobbings, Psychopathen oder Süchtigen die am Abgrund stehen.
Wir erfahren was Macht über Menschen in einem selbst auslösen kann.
25 Gedichte und Geschichten führen dich auf die dunklen Pfade des Menschseins.
Wir, die Herausgeberinnen, lehnen jegliche Form von Gewalt, psychisch, physisch oder Machtmissbrauch ab.
Unsere Anthologie dient in keiner Weise der Verherrlichung.
Impressum
© Anne Polifka & Jennifer Schumann
Anne Polifka
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Alle Rechte vorbehalten.
Webseite:
EMail:
Schriften:
Andada & Special Elite
Lektorat & Korrektorat:
Spendenanthologie
Hersg. im Selbstverlag
Anne Polifka & Jennifer Schumann
1. Auflage:
2025
© Alexander Wilms, Anja Prössel, Catharina Louisa Ilg,
Anne Polifka & Jennifer Schumann
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Mitwirkende
Fassadenreinigung
Äste und Astra und Berge und Luft
Sperrstunde
Blutiges Rib-Eye-Steak
Der letzte Impuls
Briefe an die Vergangenheit
Was bleibt
Ich hab noch nie
Gestapo
Pull the Trigger
Alte Heimat
Der Mann, den niemand nennt
Die Namenlosen
Ein Fehler und ich bin tot
in diesen Wänden
Herr Scholten setzt ein Zeichen
Von Helden und Tätern
Sieben Stiche
Der letzte Feinschliff
Aus liebe
Drei, zwei, eins, Mord
Verloren
Nacht der Entscheidung
Nicht ganz sauber
Zombiebaby
2050
Rituale
Heimkehr
Unterstützende
Content Notes:
Unsere Geschichten behandeln sensible Themen:
Menschenhandel
Suchtmittelmissbrauch (während der Schwangerschaft)
toxische Beziehungen
Femizid
Mord
Stalking
Machtmissbrauch
Missbrauch/ Vergewaltigung
Mobbing
Catharina Luisa Ilg
Mit Hochdruck reinigen wir die Fassade, lassen das Holz in neuem Glanz erstrahlen! Immer wieder,
wenn die Witterung neue Spuren hinterlässt.
So haben wir immer eine schöne Fassade!
Jedes Mal jedoch, wenn man sie reinigt,
verschwindet nicht nur Dreck.
Sie fängt beständig an zu weinen!
Das Alter beginnt ihr schneller zuzusetzen.
Denn durch den Druck vertiefen sich die Ritzen.
Auf deiner Rechnung
wirst du die Fassadenreinigung bald öfter finden!
Denn mit der Tiefe der Ritzen,
beginnt auch die Witterung sie schneller zu verletzen.
Viel schneller sammelt sich nun der Dreck!
Die Fassade jedoch weint!
Sie ächzt und stöhnt.
Bald kann sie dem Druck nicht mehr widerstehen,
lässt sich gänzlich gehen.
Dann wirst du sie nie wiedersehen!
Autorenvita
Catharina Luisa Ilg, 2005 auf die Welt gekommen, geboren und aufgewachsen im Erzgebirge, derzeit Schülerin am sächsischen Gymnasium. Liebt es zu reiten und zu reisen, was ihr beides von ihren Eltern – bei denen sie noch immer wohnt – ermöglicht wird. Arbeitet auf ein baldiges Architektur-Studium hin. Gelegentlich schreibt sie in ihrer Freizeit kurze Gedichte sowie fantasievolle Kurzgeschichten, was ihr einen Ausgleich zum sonst allgemein sehr stressigen Alltagsleben ermöglicht. Hinzukommend hat sie zwei jüngere Brüder, von denen der Ältere ebenfalls hobbymäßig ab und an eigene Texte verfasst.
Lars Peters
Mist, da bin ich verrutscht. Das Foto kommt erst viel später. Das habe ich durch die Windschutzscheibe geschossen. Was man halt so macht, wenn man gerade dem Tod ins Auge sieht … Hier, das, das ist das richtige Bild! Ich hab’s heimlich aufgenommen, wie der Kopf von Felix aus der Scheide meiner Frau kommt. Das war dann jahrelang mein Bildschirmschoner.
Was lacht ihr denn da so blöd? – Kann ich dann jetzt mal weiter? Sonst muss Frau Doktor ’ne Runde blauer Pillen schmeißen …! – Gut, also, es gibt nämlich einen sehr guten Grund für das Bild. Weil, Charlotte war nie wieder so glücklich wie schwanger. Und Frau Doktor kann euch erklären, dass das die Hormone sind und die Endorphine, aber das ist ja egal, denn glücklich ist glücklich, und den Zustand wollte Charly nicht verlieren. Sie war dann eine Woche drüber, zehn Tage, und noch immer keine Wehen. Und erst als sie ihr gedroht haben, sie müssten einleiten, konnte ich das Foto schießen. Nicht, dass Charly das bewusst verschleppt hätte. Das war mehr so ein Psycho-Ding.
Erst viel später habe ich gedacht, was natürlich absurd ist. Aber ich habe gedacht, sie wusste es. Und immer, wenn ich mir das Foto jetzt ansehe, denke ich, ich hätte einen Film machen sollen. Denn einen Film kann man rückwärts laufen lassen. Und dann würde Felix’ Kopf nicht aus Charlotte rauskommen, sondern wieder in ihr verschwinden. Und alle Probleme wären gelöst. Wahnsinnig gerne würde ich mir das ansehen, in Endlosschleife, wie das alle mit dem Jumbo machen, der ins World Trade Center rast. Und dann schreien die New Yorker und laufen in Todesangst weg. Aber in einem Krankenhaus in Hamburg-Harburg, da geschieht das Wunder, denn da wird Charlotte für alle Zeiten verschlossen, wie diese griechische Büchse!
Und das hier ist ein Bild von Felix mit anderthalb, mit blonden Locken. Und weil er als Kind so süß war, hat Charly immer gesagt, wir müssten total auf ihn aufpassen. Ja, so denken Eltern. Dass man ihnen ihren Felix wegnehmen könnte. Weil er so schön ist. Und so unschuldig …
Das nächste Foto hier ist aus einem Park. Das hab ich aus der Hängeschaukel heraus fotografiert. Man sieht links noch was vom Gerüst, in dem die Schaukel arretiert ist. Und der Vogel da, das Rotkehlchen, das sitzt auf dem Zaun, der den Spielplatz umschließt. Und ich habe dort oft mit Felix geschaukelt und ihn an mich gedrückt, und wir hatten es warm und gemütlich, und Felix hat mich mal gefragt, da war er noch keine zwei: Was macht der Pipsi? Und ich wusste gar nicht, dass er schon so viele Worte kann, auch die Reihenfolge hat gestimmt, und wir natürlich total stolz. Wir haben gedacht, wenn der in die Schule kommt, wird er extra gefördert: Unser Felix, allein unter Mädchen! Und die Sache mit dem Rotkehlchen war der Beweis, dass er’s draufhatte. Sein Kopf war ja schon immer etwas groß im Verhältnis zum Rest seines Körpers.
Dieses Foto hier, das ist aus dem Sommerurlaub auf Amrum – und ist beinahe schon das letzte glückliche Bild. Felix war drei, und man sieht Charly und mich, wie wir allein die Sandburg bauen. Felix hat das aber nicht fotografiert. Und Selbstauslöser ist es auch nicht, sondern Bine, Charlys beste Freundin. Die war für ein Wochenende hochgekommen. Nach Amrum hatte ich das mit dem Burgenbau voll drauf. Man braucht Geduld, klar, und das haben Kids noch nicht, vor allem Hochbegabte nicht, die viel von der Welt sehen müssen: Fische und Quallen, Seesterne und Leuchttürme. Entwicklungsfenster heißt das, und das bedeutet, dass man die Kids zum richtigen Zeitpunkt die richtige Erfahrung machen lassen muss, sonst ist das Fenster zu. Und das habe ich auch zu Bine gesagt, als sie vollkommen aufgelöst angelaufen kam. Dass das mit den Quallen nicht schlimm ist. Dass das nur Gallertmasse ist. Echter Forschergeist, hat auch Charly gesagt, mit dem Lächeln, das jahrelang ihre Lippen umspielte. Kinder wissen halt noch nicht, wie man richtig Kontakt zur Umwelt aufnimmt. Und Felix sollte das selbst lernen dürfen und nicht von uns gleich zurechtgewiesen werden. Jedenfalls waren Charly und ich uns einig, dass wir Sabine nicht noch einmal in einen Urlaub mitnehmen.
Und hier ist Felix mit vier, mit Minka, die uns im Winter zugelaufen war. Wir haben im Erdgeschoss gewohnt, winziger Garten, Vogeltränke, und da ist sie uns zugelaufen. Wir hätten sie nicht füttern sollen, schon klar, aber Felix hat sie gemocht. Dachten wir. Und wir dachten, dass die toten Vögel was mit Minkas Jagdtrieb zu tun hätten. Katzen bringen dir die Vögel als Geschenk; in der Schnauze tragen sie die halbtot durch die Gegend und legen sie neben deiner Liege ab. Wobei, Minka hat das nie gemacht. Ich weiß das nur von Bine, die damals auf der »Intensiv« gearbeitet hat und selbst Katzen hatte, und deswegen dachten wir: die Katze!
Wann das Lächeln von Charlys Lippen verschwunden ist, kann ich euch nicht genau sagen. Es kann daran liegen, dass Felix zu reden begann. Und das waren dann nicht mehr so fein komponierte Sätze wie der mit dem Pipsi, sondern es war die Befehlsform. Er hatte eine schnarrende Stimme bekommen, wie Oskar aus der Blechtrommel. Nicht schön. Aber wir wollten seinen Willen nicht brechen, wie das Charly von ihrer Mutter her kannte. Wir wollten Freunde von ihm sein, mit ihm auf den Knien rutschen, nicht so wie das in meiner Fake-Familie mit meinem Fake-Vater war, der genau einmal im Jahr kniete, und zwar, wenn er den Tannenbaum in der Halterung verankerte. Und weil wir viel im Wohnzimmer waren, war es nur konsequent, dass das Felix’ Kinderzimmer wurde. Das ist in anderen Kulturen auch so. Da gibt es wenig Raum und die Kinder okkupieren den, und die Mutter ist in der Küche und der Vater in der Bar, was ich natürlich nicht war. Charly war, als wir uns kennenlernten, MTA, und ich war in der Umschulung zum SoftwareEntwickler. Aber das war dann doch nicht das Richtige für mich.
Es kann also sein, dass ihr Lächeln mit Felix’ dauernden Ansagen verschwunden ist. Oder, als wir die Schaufel fanden. Wir mussten Felix ja immer erst fragen, ob wir in den Garten dürfen, weil die Türe nach draußen in seinem neuen Zimmer lag. Er hat das aber fast immer erlaubt. Er war kein Vollzeittyrann, nur launisch. Und wir waren die Erwachsenen und konnten uns auf ihn einstellen. Erwachsene sind vernünftig, bei Kindern kommt das erst mit der Zeit, dachten wir. Und dann fanden wir die Schaufel. Auch in einem kleinen Garten muss man mal was umgraben und durchs Wurzelwerk schneiden. Und da war’s dann klar, dass das nicht Minka gewesen sein konnte. Weil die keine Schaufel benutzt hätte. Und ich weiß nicht, ob ihr das mal gesehen habt, bevor ihr ruhiggestellt worden seid, aber der Kopf von einer Taube sitzt auf dem Rumpf auf wie auf einem Stiel, als hätte man eine IKEA-Bastelanleitung neben sich liegen und müsste nur wieder den Kopf festkleben, dann flöge sie davon. Wir haben die Taube sofort entsorgt und die Schaufel noch dazu, weil man die nicht mehr hätte anfassen können, ohne daran zu denken.
Und Charlotte war dann nochmal schwanger und Felix viereinhalb. Und sie war mit Bine in Holland, auf einem Mädels-Trip. Die Dritte, die auch mitkommen wollte, hatte kurzfristig abgesagt. Und Bine und Charly sind also an den Grachten lang und haben das Konzertgebäude besucht und die Nachtwache, und das war offenbar zu viel für Charly. Und sie hatte die Fehlgeburt. Und Sabine hat sich super um Charlotte gekümmert, die dann auch ins Krankenhaus musste, wegen der Blutung. Fehlgeburt ist Fehlgeburt, da kann man nichts machen ... Was grinsen Sie denn da so doof, Frau Doktor? Und das bei einem so traurigen Thema! Und überhaupt hatten wir noch Minka mit den Tigerstreifen. Das reichte uns völlig. Hat auch Charly gesagt und mich getröstet, weil wir eigentlich vier Kinder gewollt hatten, vor Felix.
Charlotte und ich haben immer gedacht, dass Liebe das Geheimnis ist. Liebe und Nähe und den Willen des Kindes respektieren. Kinder gelten allgemein als grausam, das hat mit Felix gar nichts zu tun. Viele Kinder töten zum Beispiel Insekten. Sie rupfen Grashüpfern die Hinterbeine und die Vorderbeine aus. Und zuletzt packen sie den Kopf mit ihren kleinen, speckigen Fingern und sagen: »Schwups«! So zumindest hat das Felix immer gemacht, in der Reihenfolge. Und trotzdem haben wir uns nach der Sache mit der Schaufel gesagt: Vielleicht wäre Kindergarten doch eine gute Idee! Und auch Bine hat zugeraten, weil Minka immer die Haare zu Berge standen, wenn Felix in ihre Nähe kam. Aber wir haben ihr Minka trotzdem nicht überlassen. Das war ein Fehler. Hinterher weiß man es immer besser. Und wegen dem Kindergarten, da hat Felix geschrien. Tagelang. Wir konnten das aber der Polizistin erklären, von wegen Kindeswohlgefährdung. Die war lebensnah, die Polizistin. Und verrückt: Das war dann dieselbe, die Jahre später wieder bei uns auftauchte, weil sie sich mittlerweile aufs Internet spezialisiert hatte
Und dann war Felix im Kindergarten, und es war kurz Ruhe. Und dann war Elternsprechtag. Und ich musste hin, weil Charlotte nicht mehr wollte. Nach Minkas Tod, meine ich. Und ich saß vor dem Gruppenraum, und es roch nach Tomatensoße, Putzmitteln und Erbrochenem. Dafür aber war alles schön bunt gestrichen. Und eine Mutter von einem Mädchen war auch schon da und fragte mich irgendwann: Kennen Sie einen Felix? Und ich sagte: Nein! und bin aufgesprungen und hab mich entschuldigt, weil mir plötzlich übel war. Und ich habe eine Runde durch den Park gedreht und mich dort übergeben. Das war übrigens derselbe Park, in dem ich das Foto von Pipsi geschossen hatte. Und zu Charly habe ich zuhause gesagt: Alles in Ordnung! Und die Anrufe vom Kindergarten habe ich erst ignoriert. Aber dann bin ich doch rangegangen, damit Charly es nicht tut.
Und das ist ein Bild von der Einschulung. Mit Schultüte. Felix immer nur: Handy! Handy! Handy! – Ja, was soll man da machen? Wir haben Süßes in die Tüte gepackt und ein erstes Smartphone, was wir nochmal umtauschen mussten, weil er ein größeres wollte, mit besserer Kamera und mehr Datenspeicher.
Ich hätte ihn wohl nicht so oft mit meinem Handy spielen lassen sollen. Aber ich wusste auch nicht, was tun, wenn Charly sich mal wieder eingeschlossen hatte, keinen Mucks von sich gab und ich mit Felix über Stunden allein war. Und in der Grundschule lernt man Rechnen, Lesen und Schreiben.
Und es hat bis zur vierten Klasse gedauert, bis das mit den Chatnachrichten rauskam. Und es ist nur ans Licht gekommen, weil diese Victoria nicht mehr in die Schule wollte, und die Mutter so lange gebohrt hat, bis das Mädchen ihr alle Nachrichten gezeigt hat. Obwohl in denen stand, sie müsse sterben, wenn sie petzt.
Da gab es natürlich den Aufschrei und die Versammlung, zu der ich dann doch hin bin, mit den Beruhigungsmitteln, die Bine mir zugesteckt hatte. Und alle Eltern akzeptierten, dass Smartphones aus dem Schulalltag verschwinden. Und die Direktorin sagte, dass auch bei Kindern schon Datenschutz gelte. Und ich natürlich wahnsinnig erleichtert.
Das konnte er also auch schon. Und weil sie nicht ermitteln konnten, wer hinter der Sache steckte, hat er die Gymnasialempfehlung bekommen. Blöd war Felix nicht. Das war er nie. Und da fällt mir ein, dass es eine Lappenente in Australien gibt, die sprechen kann. Ich habe mir die Aufnahme angehört, in einer Wissenschaftssendung, und die Ente sagt dort: You bloody fool! Und das ist das Einzige, was je ein Tier zu einem Menschen gesagt hat.
Und also war ich nicht verwundert, als die Polizistin wieder vor unserer Tür stand. Da war Felix in der siebten Klasse. Und von dem Tag, einem zehnten November, habe ich ein Foto aufbewahrt, das die Polizistin bei uns vergessen hat. Auf dem Foto sieht man ein rothaariges Mädchen aus der Parallelklasse, festgebunden an eine Reckstange. Auf einem Trimm-Dich-Pfad. Im Wald. Genauer gesagt sieht man auf dem Bild ihren nackten Rücken. Und das Foto ist ein Standbild aus einem gesperrten youtube-Film, den uns die Polizistin gezeigt hat. Und das Mädchen hat erst um Gnade gefleht, wie ihr das jemand in perfekter Artikulation befohlen hatte. Und dann fing das Mädchen an zu schreien, weil sie trotzdem mit Dornen und Brennnesseln ausgepeitscht wurde, und da hatte die Kommissarin dann irgendwann ein Einsehen mit uns und hat den Film abgestellt. Aber sie hat gesagt, dass der Film noch länger gehe, viel länger, weil es ja auch noch andere Körperteile gibt. Auch vorn. Und dann sitzen wir da. In der Küche. Am Tisch. Und Felix. Grinst. Und dann habe ich erzählt, was er mit dem Mädchen im Kindergarten angestellt hatte. Und dann war wieder Stille, und ich habe die Küchenuhr ticken gehört, was seltsam war, denn die ist extrem leise.
Und die Polizistin hat gesagt, Felix sei noch nicht strafmündig, aber etwas müsse geschehen, und zwar dringend, und sie würde wiederkommen. Und dann war sie weg, und dann hat Charlotte geschrien wie das rothaarige Mädchen mit der sensiblen Haut. Und als sie fertig war, hat Felix gesagt: Eine Millionen Klicks, das ist die neue Währung! Und er hat gesagt, ich wiederhole das nur, damit Sie verstehen, Frau Doktor, warum wir ihn weggegeben haben, er hat in perfekter Artikulation gesagt: Ihr seid so blöd. Mutti, du bist so blöd. Und du, der »liebe« Vati, du bist noch viel blöder als sie. Ich wünschte, ihr wäret tot und ich hätte die Wohnung und das Geld!
Und da haben wir Charlottes Mutter um Hilfe gebeten. Das hat uns Überwindung gekostet, aber so konnten wir das Institut bezahlen, wo Geld alle Fragen beantwortet. Hier, das Foto, so sieht’s da aus, bisschen wie Schwarzwaldklinik, ich weiß, nur dass diese Villa versteckt im Wald liegt. Und es steht Schule über dem Eingang. Und wenn man da anruft, melden sie sich auch so. Aber natürlich ist das eine Verwahranstalt. Und die nächste Bushaltestelle ist sieben Kilometer entfernt und der nächste McDonald’s fünfzehn. Damit nichts passiert oder wenigstens nichts nach außen dringt. Und dann habe ich mir einen Job im Service gesucht, in der Gastro. Mit Bedienen kannte ich mich schließlich bestens aus. Und Charly hatte ihre Entziehung, weil: ohne Entziehung kein neuer Job! Und die anderen Fotos zeig ich jetzt nicht mehr, weil die Sache ja auch so klar geworden ist.
Und das ist das letzte Bild, das vom Anfang. Wir wollten nach Umbrien, und ich weiß nicht, wie Felix Wind davon gekriegt hat, jedenfalls wollte er mit. Wir wollten das nicht. Andererseits wollten wir ihn doch irgendwie wiedersehen, nach gut zwei Jahren. Da war so eine wilde Hoffnung, etwas könnte sich geändert haben. Wie von Zauberhand. Ein bisschen so, als wäret ihr hier nicht mehr gaga, und unser Karl würde nicht jedem anbieten, er könnte für ihn mit Gott konferieren. Die Hoffnung stirbt zuletzt heißt ein Film, wo sich die Schauspielerin am Ende den Kopf wegballert, was man aber nicht sieht, sondern nur mitkriegt, weil die Tür aufschlägt, und man weiß, dass sie von innen mit dem durchlöcherten Kopf gegen sie geknallt sein muss. Wo war ich gerade? Ach ja, es war Pfingsten und Felix hatte Ferien und durfte raus. Und es gab keinen Grund, hinter dem wir uns verstecken konnten. Er also hinten eingestiegen mit einer Bemerkung, für seinen Chauffeur sei ich nicht angemessen angezogen. Felix hatte schon bessere Sprüche gebracht, aber es war mir egal, weil wir beschlossen hatten, uns nicht provozieren zu lassen. Und er saß dann hinten, ohne ein Wort zu sagen, aber ich hatte das Gefühl, er beobachtet uns. Ich habe das im Nacken gespürt, als wäre ich Minka.
Und er hatte eine komplette Kameraausrüstung dabei. Zwei Stative, Mikro und so weiter, wo ich mich schon fragte, wie er das alles finanziert. Und Charly hat das Schweigen irgendwann nicht mehr ausgehalten und gefragt, wo er denn hinwolle.
Er drauf: Geschäfte. Auf dem Balkan.
Und dann war’s wieder still, und ich bin gekurvt, links der Berghang mit den entwurzelten Föhren und Haltenetzen, rechts schwindelnd tief das Tal, und da hat Charly gefragt: Was denn für Geschäfte?
Geht dich nix an, Muttchen, hat Felix gesagt, und ich habe gesagt: Wie redest du mit deiner Mutter?
Und er gelacht und sie geweint.
Und ich habe gedacht, wir kommen aus der Situation nie raus, solange wir leben nicht! Und ich habe mir klargemacht, was ich über Felix alles wusste, über seine Filme und fiesen Spielchen, und ich hab an seinen Ruf im Netz gedacht und an die jungen Mädchen auf dem Balkan, auf die keiner achtgibt und die spurlos verschwinden und höchstens nochmal in einem Film im Darknet auftauchen.
Und das war der Moment, wo ich dachte, jetzt schaffe ich das Problem aus der Welt. Das war so mein Impuls. Und ich dachte, das wäre auch in Charlys Sinn. Nicht, was ihr Rechtsanwalt später geschrieben hat, erweiterter Selbstmord und so weiter. Unfug! Ich wollte Felix töten. Aber wir waren, wie gesagt, zusammen in der Situation. Und da kommst du nicht mehr raus, aus so einem Astra.
Ich habe also den Wagen in der Kurve von der Straße gelenkt, und ich bereue wirklich, dass ich nicht mehr Gas gegeben habe. Denn leider, man sieht es auf dem Foto, wir stecken in den Bäumen fest, zwischen den Bergen, und es ist wahnsinnig viel Luft um uns rum und unter uns das tiefe Tal. Wir hätten mausetot sein sollen, aber da hängen wir.
Vielleicht hatte ich nicht genug Speed drauf oder die Leitplanke hat uns gebremst. Oder der Teufel persönlich hatte seine Hand im Spiel. Denn Felix tut jetzt weiter, was er tut, während Charlotte wieder an der Flasche hängt. Und ich bin hier bei euch gelandet. Dabei war das die rationalste Entscheidung, die ich in sechzehn Jahren getroffen habe.
Autorenvita:
Lars Peters, Jahrgang 68, verheiratet, keine Kids, lebt und schreibt in Hamburg. Mitbegründer einer Deutschschule für Flüchtlinge in Ottensen. Seit 2015 festangestellt am Gymnasium Christianeum.
Kleinere Erfolge:
Shortlisted beim Zeit-Essaywettbewerb zum Thema Krise, Seiteneinsteiger-Förderpreis für ein Krimiprojekt mit Kids.
Hier und da Veröffentlichungen, auch mal im Hessischen Rundfunk. Die Schublade birst, der Durchbruch fehlt! Vorliegende Story stammt aus dem Erzählzyklus Elementargefühle.
Reaktionen gerne an: [email protected]
Kaia Rose
»Lass gut sein.«
Lina legte ihrem Mann, der in sich zusammengesunken über dem Tresen lehnte, eine Hand auf die Schulter.
»Es ist weit nach Mitternacht, jetzt kommen keine Gäste mehr. Längst Sperrstunde. Machen wir dicht!«
Unverständlich vor sich hin murmelnd stierte er weiter in sein Glas, ohne seine Position zu verändern.
Seufzend stand sie auf und machte sich daran, die Tür abzusperren.
Sie zuckte zusammen, als Ludwig unvermittelt auffuhr und sie anherrschte: »Lass das! Wir warten noch auf Tobias!«
Lina hatte sich sofort wieder im Griff. Ohne Hast wandte sie sich ihm zu.
»Ludwig: Es hat keinen Sinn. Lass uns schlafen gehen.«
In ihrer Stimme lag keine Aggression, sondern ausschließlich Mitgefühl. Aus den tief in ihre Gesichtszüge gegrabenen Falten und ihrer gebeugten Haltung sprachen Müdigkeit und Resignation.
Ihr Ehemann löste sich vom Tresen. Leicht schwankend stand er in der Mitte der Stube, die Brauen streng zusammengezogen. Ungeachtet seines unsicheren Standes klang seine Stimme fest, als er bestimmte: »Du wirst diese Tür nicht abschließen, bevor Tobias zurück ist! Es ist spät, und er hat sich nicht gemeldet. Womöglich ist ihm etwas zugestoßen!«
Lina seufzte abermals.
»Lass ihn doch. Er hat einen Schlüssel. Er wird schon kommen. Gehen wir ins Bett!«
Jetzt redete sich Ludwig in Rage.
»Wie kannst du so etwas sagen, ausgerechnet du? Tobias ist unser Ein und Alles, unsere ganze Hoffnung! Und auch die einzige Hoffnung für den Betrieb, das weißt du genau! Ich bin alt, und mein Rücken macht mir schwer zu schaffen. Aber bald ist unser Junge so weit, das Wirtshaus zu übernehmen. Und was für ein Prachtkerl er ist, so talentiert und geschickt im Umgang mit Menschen! Unter ihm wird Der Weinstock einen Aufschwung erleben, von dem wir Alten nur träumen können!«
»Ja, natürlich.« Lina nickte ergeben. »Trotzdem nützt es nichts, hier zu sitzen und auf ihn zu warten.«
Innerlich betete sie, dass Ludwig nicht wieder die Polizei alarmieren würde. Zwei Mal hatte er das getan in den letzten Wochen. Das erste Mal war es Lina gelungen, durch einen weiteren Anruf klarzustellen, dass die Anzeige nicht ernst zu nehmen war. Beim zweiten Mal versah ein junger Beamter Dienst, der offenbar noch nicht über Ludwigs wiederholte Notrufe Bescheid wusste. Eilfertig meldete er sich zur Stelle, um die Fakten aufzunehmen: Wann war ihr Sohn zuletzt gesehen worden? Welche Kleidung hatte er getragen? Welche körperlichen Merkmale kennzeichneten ihn besonders? Als Lina ihn darüber aufklärte, dass sie Tobias vor drei Jahren begraben hatten, war der arme Kerl restlos verwirrt. Erst ein Anruf bei seinem Vorgesetzten schuf Klarheit. Zum Abschied drückte er, nach Worten ringend, Linas Hand. »Ich … Mein herzliches Beileid … nachträglich«, stotterte er, den Blick zu Boden gerichtet. Sie erwiderte wohlwollend seinen Händedruck. Schließlich war es nicht seine Schuld.
⁂
Lina hatte schon lange gewusst, dass Tobias anders war. Bereits als kleines Kind hatte er eine Vorliebe für rosa Farbtöne gezeigt. Beim Spielen schlüpfte er gerne in die Stöckelschuhe seiner Mutter,
behängte sich mit ihrem Schmuck und nannte sich »Michelle«. Damals dachte sich Lina nicht viel dabei. Etliche ihrer Freundinnen wussten von einer »rosa Phase« ihrer Söhne zu berichten – eine ganz normale Etappe in der Entwicklung kleiner Jungen also. Auch als die »rosa Phase« bei Tobias kein Ende fand, blieb sie gelassen. Was hatten die farblichen und geschmacklichen Vorlieben ihres Sohnes schon für eine Bedeutung? Der Bub war zweifellos intelligent, brachte gute Noten nach Hause, und auch wenn er nie zu den beliebtesten Kindern in der Klasse gehörte, galt er doch nicht als Außenseiter. Er war eben ein wenig anders als die anderen. Wer sollte daran Anstoß nehmen?
Doch sie hatte die Rechnung ohne ihren Mann gemacht.
Als Ludwig zum ersten Mal rote Farbe auf den Lippen seines Sohnes erblickte – Tobias war noch ein Teenager –, stellte er ihn rasend vor Zorn zur Rede. Ob er »eine verdammte Schwuchtel« sei, wollte sein Vater wissen. Der Junge dementierte eingeschüchtert, woraufhin sich Ludwig schlagartig beruhigte. Dröhnend klopfte er Tobias auf die Schulter.
»Ich habe es immer gewusst: Mein Sohn ist ein richtiger Mann!«
Lina registrierte den unsicheren Blick, den ihr Sohn ihr zuwarf, und senkte den Kopf. Die Situation überforderte sie.
Genauso tat sie es später, als Ludwig fassungslos bemerkte, dass sich Tobias die Nägel zartrosa lackierte, und als er einen dunklen Lidstrich unter seinen Augen entdeckte. Lina waren diese Dinge längst aufgefallen, aber sie hatte nichts gesagt und still gebetet, ihr Mann möge die subtilen Veränderungen am Aussehen ihres Sohnes nicht wahrnehmen.
Ein aussichtsloser Wunsch.
Jedes Mal, wenn er ein neues, vermeintlich weibliches Attribut an seinem Sohn ausmachte, raste Ludwig vor Wut; er brüllte, dass es bis auf die Straße zu hören war, und warf mit Stühlen um sich, wobei etliche zu Bruch gingen.