In 11 Tagen zur perfekten Story - Lutz Herrschaft - E-Book

In 11 Tagen zur perfekten Story E-Book

Lutz Herrschaft

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Beschreibung

Fünf Menschen sind verschwunden, doch dem Kommissar fällt dazu nichts ein; statt weiter zu ermitteln, tut er das, was er wirklich kann: Texte schreiben und sich in Frauen verrennen. Zwei Frauen haben sich gefunden und wieder verloren. Die eine verweht, die andere zieht es durch, bis zur totalen Auslöschung. Elf Tage in drei Jahrzehnten und parallelen Welten. Aber der Kommissar ist nicht blöd; er klärt uns darüber auf, wie man Menschen rückstandsfrei löscht. Allerdings tut er das viele Jahre, bevor die Verbrechen geschehen. Außer Stories gibt's nix.

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Immer wieder verschwinden Menschen spurlos, nachdem sie zuletzt an Raststätten entlang der A45 gesehen wurden. Welches Geheimnis verbindet sie? Wird es dem Kommissar gelingen, das Rätsel der Todesautobahn zu lösen?

I’m afraid, he would prefer not to …

Jolifanto bambla! (Hugo Ball)

Endlich Starke Frauen! (Gerda)

Was für ein irrer Kommissar! Die „Tatort“-ErmittlerInnen mit ihren wohlfeilen Mainstream-Marotten dürfen sich warm anziehen (Der Hooligan)

Посвящается Илоне

Inhalt

30. APRIL 1982: PROLOG

30. APRIL 2010: LEUTE RESIGNIEREN

3. MAI 1991: BECAUSE YOU’RE YOUNG

3. DEZEMBER 2009: LEUTE VERWEHEN

30. AUGUST 1993: ES WIRD SEXY

30. AUGUST 2008: TATORT

15. JULI 1994: LEUTE WERDEN AUFFÄLLIG

14. MAI 2006: GOTT SCHAUT VORBEI

30. JULI 1995: FLEISCH UND FUßBALL

29. APRIL 2002: EIN RUMÄNE BAUT SCHEIßE

11. AUGUST 1999: SCHWARZE SONNE

DRAMATIS PERSONAE

30. April 1982

Prolog

Nachrichtenwelt

Im schottischen Faslane-on-Clyde läuft ein U-Boot der Cromwell-Klasse, HMS „Strangler“, aus und nimmt Kurs auf den Südatlantik. An Bord sechzehn „Polaris“-Mittelstreckenraketen, mit insgesamt achtundvierzig nuklearen Sprengköpfen bestückt. Acht Raketen für Mendoza, acht für Cordoba. Die nukleare Option gilt der britischen Regierung als ultima ratio – für den Fall einer kritischen Entwicklung des Falklandkriegs.

Lebenswelt

Das Land ist schwarz. Irina sitzt auf der Bank vor der Hexenkapelle und hat, wie man so sagt, ihr Leben vor sich.

Nachdem ihre Mutter ihr die Zukunft eines Stücks Dreck skizziert hat (in der üblichen Manier, also beiläufig, pointiert, rotzbesoffen), ist Irina den Berg hochgerannt, zur Kapelle. Dort läßt es sich nachdenken, zum Beispiel über den Incubus. Sie hat dieses Wort aufgeschnappt, versteht es nicht, sie ist Dreizehn, aber mit dem Wort könnte dieses Dings gemeint sein, das dahinten, beim Fernwalderhof, Geräusche macht. Vielleicht ist das gar kein Kettenhund.

Kommissarwelt

Eines dieser Dreckskäffer in Nordrhein-Westfalen, es könnte Bochum sein, Duisburg oder Ruhrstadt. Wo auch immer die Wichser ihre Auswärtsspiele austragen – der Kommissar und seine Leute sind da. Vor Tagen haben sie das Stadionumfeld gründlich erkundet.

Lebenswelt

Der Hund, ruhig atmend, sein Fell unter Irinas nackten Waden. Ein Freund in der Nacht, die Nacht ist ein Freund, das Land weit und still. Menschen gehen nicht zur Hexenkapelle, aber die Tiere wissen nichts davon.

Kommissarwelt

Die Wichser stehen rum und warten, sie kennen sich nicht aus. Der Kommissar hat einen Totschläger dabei und eine mit Benzin gefüllte Wasserflasche, die Kumpels haben Schottersteine organisiert. Der Kommissar hasst sein Zittern, es ist nicht Angst, es ist der nahende Kontrollverlust, ein biochemischer Scheiß geht in ihm vor, er hat Bilder im Kopf von Männern, die ohne Zorn und Eifer den Menschen das ihnen Gemäße zuteilen, vielleicht mit einem sanften Kopfschütteln, er weiß, daß er das nie lernen wird, er kann Kampf nur als Raserei, oft muß er vor Wut heulen, während er zuschlägt. Doch er gilt als „Guter“ und hat Befehlsgewalt. Er wirft einen Kanonenschlag in die Wichser, seine Kumpels skandieren An-ti-sozial! An-ti-so-zial! und lassen es Steine regnen. Es wird ein großer Tag (Lost the game, won the fight, hope it’s on the box tonight). Der Kommissar verbrennt Schals, tritt in Wichserschädel, zündet einen Streifenwagen an, weswegen ihn die Kumpels seit diesem Spieltag „Kommissar“ nennen. Irgendwie schaffen sie es auf die Autobahn.

Lebenswelt

Einer tritt den Hund, der schreit, und die Nacht ist eine Garotte. Die Männer reden auf Irina ein. Der eine sitzt neben ihr, der andere steht zunächst hinter ihr und stützt sich auf die Lehne. Irina ruft ein Klangbild ab, ein Stück Klaviermusik, sie hat es bei einem Schulfreund gehört, dissonante Akkorde wie Faustschläge. Einer drückt ihr den Zeigefinger in den Mund, er schmeckt bitter. Sie ruft weitere Akkorde ab, der Vortrieb eines Bergbauhammers in Endlosschleife, das Stück heißt „Unstern“, sie sieht die Zukunft der Männer, mit dem ganzen Familiendreck. Die gefällige Zukunft, wie sie unter dem Hammer zu einem Blutbrei wird.

30. April 2010

Leute resignieren

Nachrichtenwelt

Auf dem Brocken feiern Neonazis und Feministinnen gemeinsam die Walpurgisnacht; die Rechtsradikalen geben sich als Anhänger alternativer Heilmethoden aus. Gegen ein Uhr löst die Polizei die Versammlung auf; verstörte Teilnehmerinnen hatten angerufen und berichtet, daß in mehreren Reden Heinrich Himmler gerühmt worden sei, da dieser auf die Bedeutung der heilkundigen "weisen Frauen" hingewiesen habe, um dem Kulturkampf gegen die patriarchalischen und somit ipso facto repressiven Strukturen der katholischen Kirche neue Impulse zu geben – im Sinne eines völkischen Feminismus und der Geschlechtersolidarität.

Lebenswelt

Cleo und Ludwig sitzen vor dem Angelteich, es ist eine mondhelle, verfrühte Sommernacht. Sie sind froh, dem Fröhlichkeitsterror der Dörfer entkommen zu sein, wo junge Männer Türen aushängen, Autos mit Leim oder Senf beschmieren und andere Scheiße, Brauchtum genannt, besser: gelallt, rund um die blöden Feuer. Am Teich Stille wie im Schachtelhalmwald, über das Wasser segelt eine Riesenlibelle, Flügelspannweite ein Meter achtzig.

Ludwig ist 25 und hat Frau und Kinder verlassen, schließlich waren sie Cleo im Weg. Sie hat das nicht verlangt, erinnert er sich, ruft es sich zum wiederholten Mal ins Gedächtnis, sie hat mir sogar davon abgeraten. Doch es war richtig. Sie hat mich alles gelehrt, was ich über das Leben und die Menschen weiß. Sie hat mich Respekt gelehrt.

Daß du dich für nichts Besonderes hältst, hebt dich aus dem Dreck raus, sagt Cleo. Nach zwei Stunden die ersten Wörter am Teich. Du willst nichts sein, du hast eine naturgegebene Güte wie ein, versteh es nicht falsch, sanftes Tier, du hast gute Augen. Ich mach dich kaputt. Bitte hau ab.

Cleo hat viel erlebt, denkt Ludwig. Und daher weiß sie viele Dinge über die Menschen, aber sie redet nicht einfach daher, sie gibt mir diese Dinge zu verstehen. Es ist sehr schön, wenn sie in die Ferne schaut. Vielleicht denkt sie dabei nichts, aber ich denk mir was. Über die Angeberei auf der Arbeit und im Verein, Urlaub, Kommunion, Goldene Hochzeit, über die Menschen mit ihrem Gitter, das sie übers Leben legen. Diese Typen immerzu, es muß aufhören. Zwei Landkreise stehen Schlange, um Cleo zu ficken. Es ekelt mich an. Ich geh mit ihr weg, in einer großen Stadt reden sie nicht blöd über einen Mann mit einer 15 Jahre älteren Frau. Und beurteilen Cleo als Mensch, nicht als ein Dings, von dem es heißt: Na, du weißt schon.

Kommissarwelt

Mein Bullauge unter dem Dach lädt zu Präzisionsschüssen geradezu ein, denkt der Kommissar und beobachtet den glatzköpfigen Mann gegenüber, der sich aufs Geländer seines Balkons stützt. Der Kerl lebt auf dem Balkon, er lebt von Zigarettenrauch, der nährt ihn, wohingegen ihm der Kindergeruch drinnen eher nicht zu bekommen scheint. Der Kommissar tippt mit dem rechten Zeigefinger ein weiteres Fragment des Projekts „Wiedergewinnung“ in das von ihm „Dreckslaptop“ genannte Dings. Warum nicht mal ein Gedicht oder ein songtext, die Reflexion auf Dauerfeuer zu stellen bringt ja nichts, sie sollte Insel bleiben, Insel in dicker, dunkler Sprachsauce. Insel im ... Leeeben!! (der Kommissar tremoliert das Wort "Leben" in der albernen Intonation des alternden Barden Konstantin Wecker vor sich hin und bekommt gute Laune).

Chapel of blood

the raging winds won't find you

red, white and black

worth hating

be a carcass, nailed into the dark

Black sun, blind me

rip the web of light, we're captured

enlightened forever

be my cure, black sun

House in a tree

bear a child, smash it on a tree

red, white and black

worth killing

dogs of war in green pastures

Black sun, blind me

rip the web of light, we're captured

enlightened forever

be my cure, black sun

City of dreams

slag, liana, butchers hooks

red, white and black

worth despising

you're broke on the wheel of sun

Black sun, blind me

rip the web of light, we're captured

enlightened forever

be my cure, black sun

Lebenswelt

Aber es kotzt mich schon auch an, sagt Cleo, das haben gutartige Tiere wohl so an sich, daß sie einen irgendwann ankotzen. Irgendwann langweilen sich die Menschen und schlagen ihre Esel, ihre Maultiere, weil diese stummfreundliche Dienstbereitschaft, diese Sanftheitsinseln im Nichts plötzlich grell, obszön aufscheinen. Man will nur noch draufschlagen. Laß mich in Ruhe, wann kapierst du's endlich. Wenn ich einem besoffenen Arschloch von Anwalt in seinem Scheißauto einen blas – was geht's dich an? Es wird nix, geh heim zu Mutti und deinen blöden Gören. Könnt ihr auch wieder ins Fantasialand fahren und den neuen Van abstottern, ist ein Stück Lebensqualität.

Ludwig kennt diese Wutausbrüche, bildet sich ein, an ihnen gewachsen zu sein. Mit Cleo ist etwas passiert, das weiß er, er glaubt auch zu wissen, was, und er hat ja auch entsprechend gehandelt. Und eben deshalb fällt ihm jetzt nichts mehr ein.

Warum jetzt? Warum ist mir bei dreihundert vergleichbaren Ausbrüchen etwas eingefallen, jetzt aber nicht? Er muß an einen Film denken, im Kinopalast der regionalen Metropole, mit Cleo. Der Blick eines Befehlshabers, dessen Truppen rebellieren und Zivilisten erschießen. Dieser Blick, als der Mann sagt: Ich muß versuchen, das Morden zu beenden. Ein unendlich müder, sanfter Tierblick. Der Mann steht auf, tritt entschlossen vor seine Kommandantur und wird sofort von den Marodeuren erschossen. Ludwig steht auf und will etwas sagen, doch dann erinnert er sich, daß Cleo ihn gelehrt hat, nicht lauthals und bedeutsam daherzureden, wenn man nicht auch für alle, das heißt: alle Konsequenzen aufzukommen bereit ist. Also auch für die, die einen nicht selbst betreffen. Statt etwas zu sagen, beschließt er, ins Eisen zu gehen.

Kommissarwelt

Also songtext, denkt der Kommissar, na ja, bißchen gruftiemäßig, und schaut in die giftrote Sonne, der Nachbarsbalkon ins Schwarz getaucht, ausgelöscht. My bullauge is westbound, kalauert er leise vor sich hin und schaltet Dreckslaptop aus.

Es ist dilettantisch, was ich mache, es sind fünf Menschen verschwunden, ich leite eine Sonderkommission, die seit Jahren ihre Ratlosigkeit verwaltet. Ich trete öffentlich auf, verwende öffentliche Sprache und schäme mich vor den Angehörigen. Vielleicht sollte ich durchsickern lassen, daß ich diese und andere Scheiße nur deshalb noch ertragen und weiter funktionieren kann, weil ich diesen Mist in Dreckslaptop hacke, das würde m-e-n-s-c-h-l-i-c-h wirken und ... ach laß doch deinen Zynismus von der Stange, brabbelt der Kommissar halblaut vor sich hin, und versucht, einen weiteren Grauburgunder zu entkorken. Es braucht eine Zeit, bis er die dumpfen Schläge wahrnimmt, ja, da hämmert jemand. So spät noch.

Als er draußen nachschauen will, stellt er fest, daß irgendwelche Trottel seine Haustür zugenagelt haben.

3. Mai 1991

Because you're young

Nachrichtenwelt

Die thüringische Gemeinde Werderoda und das oberfränkische Töglitz gründen einen gemeinsamen Schützenverein. Schirmherr ist der Staatssekretär des bayerischen Kultusministeriums.

Lebenswelt

Vor der Immatrikulationsanstalt findet Irina Platz auf einem Mäuerchen, dreht sich eine Zigarette und zündet sie an. Genau genommen hat Irina zwei Plätze gefunden, es jedoch versäumt, daraus einen zu machen. Da sie ihren Hintern zu nah an eine unbekannte Kommilitonin plaziert hat, setzt sich ein zotteliger Jungmann neben Irina. Er macht keine großen Umstände und gibt sich durch Akzent und Begehr sofort als Ami zu erkennen. Wanna talk? I wanna talk about Jesus! Jesus? What a disgrace, the man's name is Brian, you oughta know that, for fuck's sake, sagt Irina und rennt weg von der Anstalt, über eine rote Ampel, es ist ziemlich knapp und wird von Gehupe und dem unvermeidlichen "Du ... " aus offenen Autofenstern begleitet (in Autos ist man mit jedem per Du, hat mal einer geschrieben), sie setzt sich auf eine Grünanlagenbank, raucht weiter und schreibt auf einen Zettel Wörter, die in den anstehenden Jahren vermutlich mehrfach ihre Bedeutung ändern werden. Seele (Scheißdreck), Bewußtsein (trübungsanfällig), Störung (Konstrukt), Familie (Geburt der Gewohnheit aus dem Geist des Gemetzels).

Gesellschaft, wie wäre es damit, sagt eine Frauenstimme, und schon wieder hat Irina einen fremden Hintern neben sich.

Hi, ich bin Cleo, stellt sich die Frau vor. Hab dich eben vor der Uni gesehen, hast dich gerade eingeschrieben, oder?

Nee, ich hab meine Stütze abgeholt, und meine Ration Doppelkorn; den hab ich aber schon auf dem Klo gesoffen. Kann dir nicht weiterhelfen, Schwester.

Ich kauf uns zwei neue. Geiler Iro übrigens, sieht man ja heute kaum noch. Wie heißt du eigentlich?

Brunhild, sagt Irina. Zweitname Chloe - oder Chole? Ach nee, Cholera, irgendso ein Parfumdings halt.

Machst du auch Psycho, fragt Cleo.

Du nervst, Schwester. Es heißt Psy-cho-lo-gie, der logos von der psyche, das ist nix, wofür man sich schämen und wovon man sich durch einen zwanghaft gelassenen Jargon distanzieren müßte.

Jetzt hält sie die Schnauze, mal sehen, wie lange, denkt Irina, die bislang in die Grünanlage geschaut hat. Nun scannt sie Cleo aus dem Augenwinkel. Kein böses Gesicht, gute Augen. Geht fürs erste als arglose Natur durch.

Ich schäme mich überhaupt nicht für mein Studienfach, das wäre ja komplett blöd, ein Fach unter zig verschiedenen frei zu wählen, obwohl oder am Ende noch weil man sich dafür schämt. Wenn mir nichts anderes übrig bliebe als Klos zu reinigen, könnte ich mich eventuell schämen, aber selbst das wäre doch blöd, weil es muß ja einer tun und viel eher sollten sich die schämen, die so eine Klofrau von oben herab ...

Ist ja gut, Schwester. War nicht so gemeint, war gar nicht gemeint. Wir reden einfach, oder?

Cleo erkundigt sich nach Irinas Alter; zwar habe sie, Brunhild, sich heute immatrikuliert, wirke aber nicht wie Achtzehn oder Neunzehn. Sie habe sicher ein paar Jahre gejobbt. Na, ich kann mich beherrschen, sagt Irina. Jobben, was ne Scheiße. Nee, man kann seine Zeit auch anders totschlagen. Mit Zeug zum Beispiel, ist ein Philosophenwort.

In der öffentlichen Grünanklage (geiler Kalauer, denkt Irina) wird es lebendig. Zwei ältliche Frauen, Hautlappen unter dem Kinn, verhauene Figur (Körpermittenfett zwischen ausgelaufenen Titten und Fladenarsch), böse Augen unter Brillen Marke Scheißegal, führen ihre Rudel zusammen. Jede beaufsichtigt sieben oder acht Köter, je mehr von den Viechern, desto artgerechter, das trägt man seit einiger Zeit, das haben die aus der Glotze, denkt Irina, seid gut zu euren Kötern, sonst hauen die euch auch noch ab, obwohl ihr sie gerade erst aus Kreta oder Teneriffa befreit habt (früher habt ihr eure Stecher aus Gambia oder Tunesien befreit, ihr öden Fotzen). Frauen, die Prosecco trinken, lachen wild und gefährlich, das Viehzeug plärrt, gauzt und scheißt, daß es eine Lust ist. Irina murmelt unphilosophisches Zeug und steht auf.

Wart mal, Brunhild, wart mal kurz, ich würd gern mit dir saufen, Doppelkorn steht ja noch aus, heute abend um neun zum Beispiel, da gibt's eine Immatrikelparty in der Franconia.

Franconia klingt scheiße, was ist das? Eine Kneipe? Eine Disco?

So ähnlich, auf jeden Fall gute Leute.

Was heißt so ähnlich? Was ist denn so ähnlich wie eine Kneipe oder Scheißdisco?

Ist ne ... Verbindung. Aber keine von den ... du weißt schon. Die sind in Ordnung. Gute Typen, guter Alk. Sogar dope, die sind nicht so.

Verbindung? Telefonkontakt oder was? Mit Alk und dope? Wie sind die nicht?

Sag mal, weißt du wirklich nicht, was eine Verbindung ist? Eine Studentenverbindung?

Was ist es denn?

Ja ... nicht leicht zu erklären, wenn man das noch nie gehört hat. Erstmal ist es ... Tradition, manche dieser Verbindungen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Achtzehnhundertirgendwas, eine Revolution, daher kommt das glaub ich.

Scheiß drauf. Was noch?

Für manche ist das so eine Art Ersatzfamilie ...

Fuck.

Ach komm, es geht wirklich nur um Spaß haben, Leute kennenlernen, sind auch ein paar ganz hübsche Kerlchen dabei. Du bist doch neu hier, sieh's doch pragmatisch.

Ich hasse fremde Männer.

Die sind ja nur kurz fremd. Wenn's dich beruhigt: es sind auch genug Frauen da.

Wie die wirbt, fast bettelt, denkt Irina. Um jemanden von einer Parkbank. Aber es hat etwas freundliches, kindliches. Spiel mit mir! Diese Cleo geht weiterhin als arglose Natur durch, bis zum Beweis des Gegenteils.

Wo findet sie denn statt, diese Verbindung?

Schmidtstraße 11, das ist auf dem Hügel dahinten, der mit den vielen Villen, direkt neben dem Botanischen Garten.

Mal sehen. Schönen Tag noch, Schwester. Und denk dran: Es heißt Psychologie.

Irina rennt in Richtung Straße, sie will schnell zu ihrem Fahrrad, das sie vor der Immatrikulationsanstalt abgestellt hat. Da huschen drei Hündchen über den Weg und Irina stürzt über drei Langlaufleinen, die sich plötzlich, kaum sichtbaren Stolperdrähten gleich, zwischen den Bäumen aufspannen. Irina verheddert sich in den Leinen, was ein erhebliches Geplärre zur Folge hat. Von allen Seiten kommen jetzt Hunde, zwei brüchige Altstimmen scheinen die Tierflut in eine Art Diskussion verwickeln zu wollen. Ficktölen, sagt Irina und befreit sich aus dem Knäuel.

Wie reden Sie mit meinen Hunden?

Ein Wort noch und es gibt auf die Fresse.

Irina geht weiter. Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere, sagt die eine Hundefreundin zur anderen, woraufhin diese wissenden Blickes nickt.

Irina fährt in ihr Dorf. Natürlich ist es nicht "ihr" Dorf, sie wohnt erst seit zwei Wochen dort und hat ihr früheres Leben rund 300 Kilometer weiter nördlich verbracht, in einem anderen Dorf. Das neue Dorf hat Irina sofort überzeugt. Es gibt die gleichen inzestuösen Schläger und Säufer wie daheim (zumindest ist das eine vernünftige Hypothese, es gibt ja keinen Grund, andere Strukturen zu unterstellen, nur, weil das hier kein Bauern-, sondern ein Maurerdorf ist), doch diese Leute rühren ihren Dorfbrei offenbar nach einem anderen Rezept an, die wichtigste Zutat scheint eine Art Grundfreundlichkeit zu sein, was an den nahen Weinbergen liegen könnte, es gibt sogar einen Hobbywinzer im Dorf, hauptberuflich ist er Maurer. Die Leute grüßen Irina, bieten ihr an, sie in die Stadt zu fahren (so ein verregneter Frühling, das hat es ja schon lang nicht mehr gegeben, und Ihre, nun ja, aufwendige Frisur ... nein, das mit dem Fahrrad ist keine gute Idee, ich bring Sie zur Uni), kurzum, Irina fühlt sich wohl. Sie wohnt bei einem alten Ehepaar, eine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoß, im oberen Stockwerk leben die Vermieter. Sie sind sehr christlich und von einer gelassenen, oft verschmitzten Gleichgültigkeit. Gegenüber Irinas Optik, ihren Ansichten, gegenüber der Welt. Sie müssen sich keine jungen Menschen ins Haus holen, es gibt genügend Kinder, Enkel und Urenkel. Diese toben an den Wochenenden durchs Obergeschoß, was bei Irina als eine Art rollender Donner ankommt. Da die Familie den Namen Rind trägt, nennt Irina den Donner der Rinderkinder "Stampede". Der Mietpreis ist ein Witz; 250 Mark für 50 Quadratmeter. Beim Vorstellungsgespräch hatte Irina gefragt, ob es möglich sei, nur eines der beiden Zimmer zu mieten, woraufhin Herr Rind sagte: Dann zahlen Sie halt 150 Mark weniger, dann wird es doch gehen. Sie brauchen doch Platz zum Lernen, und sie wollen doch sicher auch mal ihre Freunde einladen.

Sie steht vor dem Spiegel. Der Iro nervt. Nicht, weil er anachronistisch, sondern pflegebedürftig ist wie ein kleines krankes Tier. Ein filigraner Federbusch wie auf Römerhelmen oder Wattie Buchans Soldatenschädel. Keine schwarzen Dornen, kein beschissenes Gothiczeugs, dafür hoffnungsgrün, steif, an den Spitzen flaumweich. Das macht Arbeit, und Irina denkt schon länger darüber nach, ob ein feather cut nach Art der skinhead renees nicht einfacher wäre, zudem genauso anachronistisch wie der Iro, das Image aber noch mehr antisocial ...