In den Iran. Zu Fuß. Ohne Pass. - Mehdi Maturi - E-Book
SONDERANGEBOT

In den Iran. Zu Fuß. Ohne Pass. E-Book

Mehdi Maturi

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sein Leben lang dachte Mehdi Maturi, seine Mutter sei tot. Als er erfährt, dass er kurz nach seiner Geburt vom Vater nach Deutschland entführt wurde und sie noch lebt, will er sie unbedingt kennenlernen. Doch die beiden trennen über 4.000 Kilometer und acht Länder. Und damit nicht genug: Mehdi darf nicht legal zu ihr in den Iran reisen. Also schmiedet er einen verrückten Plan. Er macht sich mit seinem Wanderrucksack auf den Weg von Stuttgart nach Teheran und folgt der Flüchtlingsroute in die entgegengesetzte Richtung, über Gebirge und Flüsse, auf Schmuggelwegen und Schotterpisten, durch Schnee und Geröll. Er hat keine Ahnung, wie hart der Weg werden wird und wie er wieder zurückkommen soll. Für ihn zählt nur eins: das Lächeln seiner Mutter. »Ich habe kaum jemandem erzählt, was ich vorhatte. Ich wollte nicht, dass sich jemand sorgt. Oder mich aufhält.« Mehdi Maturi

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 352

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehdi Maturi | Kerstin Greiner

In den Iran. Zu Fuß. Ohne Pass.

Auf der Suche nach meiner Mutter

FISCHER E-Books

Inhalt

[Vorbemerkung][Widmung][Karte]1 In Deutschland: Stuttgart, Januar 20182 Von Deutschland nach Griechenland: Stuttgart – Feres, 17.–18. Januar 20183 Im Griechischen Grenzgebiet: Feres – Alexandroupoli, 19.–25. Januar 20184 Durch die Türkei: Istanbul – Doğubeyazit, 25.–31. Januar 20185 In der Türkei: Doğubeyazit, 30.–31. Januar 20186 Von der Türkei in den Iran: Doğubeyazit – Manschahm, 31. Januar–1. Februar 20187 Im Iran: Manschahm, 1. Februar 20188 Im Iran: Manschahm, 1.–8. Februar 20189 Im Iran: Sirabia – Teheran, 8. Februar–6. Mai 201810 Im Iran: Teheran, 20. April–6. Mai 201811 Im Iran: Tiskaria – Sirabia, 6. Mai–10. Juli 201812 Im Iran: Grenzstadt Bazargan, 10.–12. Juli 201813 Zurück in die Türkei: Bazargan – Doğubeyazit, 13.–14. Juli 201814 In der Türkei: Doğubeyazit, 14.–27. Juli 201815 In der Türkei: Ağri – Samsun, 27.–28. Juli 201816 Über den Grenzfluss: Tekirdağ – Alexandroupoli, 31. Juli–1. August 201817 In Griechenland: Alexandroupoli – Thessaloniki, 1.–3. August 201818 Von Griechenland nach Spanien: Thessaloniki – Barcelona, 3.–8. August 201819 Zurück in Deutschland: München, 8. August 2018Nachwort von Mehdi MaturiNachwort von Kerstin Greiner

Dies ist eine wahre Geschichte. Zum Schutze der Beteiligten wurden Personen, Orte und Ereignisse zum Teil verfremdet.

Für meine Mutter

1In Deutschland: Stuttgart, Januar 2018

Nachtsichtgerät, wasserfeste Stirnlampe, GPS-Empfänger, Laptop, Smartwatch mit GPS-Funktion, Smartphone, Powerbank, Kopfhörer. Spiegelreflexkamera, Solar-Lade-Panel, Kompass. Sturmstreichhölzer, Jagdmesser. Multifunktionsjacke, Strickjacke, Thermoshirt, Thermo-Kapuzensweatshirt, Thermohose, Jeans. Zwei T-Shirts.

Damenbinden, extra saugfähig. Ich würde mich viele Tage nicht waschen können, so viel wusste ich. Aber verlottert wollte ich auf dieser Route auch nicht aussehen oder stinken, sonst würde ich aufgegriffen werden. Bei denen, die besonders verwahrlost aussahen, schöpften sie Verdacht – auch das wusste ich. Darum die Damenbinden. Die würde ich mir unter die Achseln kleben und wegwerfen, wenn sie nassgeschwitzt waren. So könnte es funktionieren, war ich mir sicher.

Zwei lange Unterhosen. Zwei Paar Skisocken, drei Paar normale Socken. Sieben Boxershorts. Zwei Paar Handschuhe. Doc-Martensstiefel, Air-Max-Turnschuhe. Gelsohlen, Fellsohlen, Blasenpflaster. Sonnenbrille, Mütze. Rucksack mit Regenschutz, wasserfester Beutel. Aufblasbare Isomatte, Schlafsack für extreme Niedrigtemperaturen. Parfüm, Elektrorasierer, neunzig weiche Tageskontaktlinsen, ein paar weiche Monatslinsen, Kontaktlinsenlösung, Zahnbürste, Zahnpasta, Feuchttücher. Erste-Hilfe-Set. Wiederbefüllbare Trinkflasche, Energieriegel.

Eine Plastikplane, sechs Heringe und Seile zum Spannen für die Plane. Ein Zelt wäre zu schwer gewesen. Ich hatte zwar schon eins gekauft, aber wegen den Stangen wäre es ziemlich unhandlich für jemanden, der sich schnell bewegen, vielleicht rennen, fliehen musste.

Nur ein Buch: Wie man Freunde gewinnt von Dale Carnegie. Ich hatte es mal gelesen und fand die Tipps gut, wie man Leute überzeugt, einem zu helfen. Oder wie man Konflikten aus dem Weg geht.

Und drei Armbanduhren. Zum Bestechen. Falls ich Hilfe brauchen würde. Oder ich mich freikaufen müsste. Was wusste ich schon zu diesem Zeitpunkt? Auf jeden Fall schienen mir diese drei Uhren eine gute Idee; dazu 580 Euro in bar und mein Pass, der mir auf dieser Reise nicht viel helfen würde.

 

Ich saß auf dem Boden in der Wohnung meines Jugendfreundes Olek in Stuttgart, bei dem ich die letzten Wochen untergeschlüpft war, hatte alles um mich herum ausgebreitet, was ich auf meine Reise mitnehmen wollte. Drei Mal nacheinander hatte ich ausgesondert. Pullis weg, eine Lederjacke, Hosen, alles zu viel. Dann saß ich vor dieser letzten Auswahl und fühlte mich gut vorbereitet. Das war es. Ich fühlte mich gewappnet, mit allen Wassern gewaschen, ein bisschen wie dieser Typ aus der Serie Ausgesetzt in der Wildnis auf DMAX, ein ehemaliger Soldat, der sich durch Regenwälder und Sümpfe kämpfen muss. Im Sommerferienlager hatte ich als Kind den Umgang mit dem Kompass gelernt, auch das Schnitzen und wie man eine Hütte baut. Eigentlich konnte doch gar nichts mehr schiefgehen, dachte ich. Ich wäre so gut wie im Iran. Im Nachhinein war das natürlich vollkommen blauäugig. Ungefähr so, als würde es genügen, ein gutes Paar Turnschuhe zu kaufen, schon kannst du einen Marathon laufen. Aber das wusste ich an diesem Tag noch nicht.

Mein Plan war, von Stuttgart nach Teheran der Flüchtlingsroute in die entgegengesetzte Richtung zu folgen, mehr als 4000 Kilometer, durch neun Länder, zwei Klimazonen, über Gebirge und Flüsse, Schmugglerwege, Schotterpisten, Trampelpfade, durch Gestrüpp und Geröll, Schnee und Eis. Ich hatte über die Satellitenbilder von Google Maps eine Route ausgewählt, die ich plausibel fand: in der Europäischen Union hoffte ich, noch fliegen zu können – über Wien in die am weitest östlich gelegene griechische Stadt mit Flughafen, Alexandroupoli. Von dort würde ich loslaufen und über den Evros-Fluss schwimmen, der die griechisch-türkische Grenze bildet. Danach müsste ich mich einmal durch die Türkei und über ein Gebirge in den Iran kämpfen.

Ich hatte mich auf den Weg, nicht auf das Risiko konzentriert: Ich verdrängte, dass ich beraubt, verschleppt, verprügelt, verletzt, krank, in Gefängnissen verschwinden, von Grenzern misshandelt oder erschossen werden könnte. Die einzige echte Hürde schien mir in diesem Januar nur der eiskalte und reißende Fluss zu sein. Der Rest würde sich zeigen.

 

Vom Deutschland illegal in den Iran – dafür packte ich meine Sachen. Weil ich endlich meine Mutter finden wollte. Fast mein ganzes Leben hatte ich geglaubt, sie sei tot. Das hatte mein Vater immer behauptet. Zu Fuß war er Ende der 1980er Jahre vor dem Regime aus dem Iran geflüchtet, meine Geschwister an der Hand, eineinhalb und zweieinhalb Jahre, ich auf seinem Arm, vier Monate alt. 1988 kamen wir in Deutschland an. Unsere Mutter habe uns immer vernachlässigt, erzählte unser Vater: »Sie hat euch allein in ein Zimmer mit vollen Windeln und rotzigen Nasen gesperrt, ihr wart ihr eine Last. Sie war eine Rabenmutter! Am liebsten hätte sie euch auf der Straße ausgesetzt. Die Scharia-Polizei hat sie ins Gefängnis geworfen, wo sie starb.«

Wenn mein Vater über unsere Mutter sprach, dann nur schlecht. Wie wussten nicht mal, wie sie hieß. Ich glaube, ich habe meinen Vater zum letzten Mal nach meiner Mutter gefragt, als ich sechs Jahre alt war. Er war ein Tyrann, der unangefochtene Obermufti der Familie. Er erzog uns mit eiserner Faust. Man fuhr besser, wenn man ihn nicht auf unsere Mutter ansprach.

Der Tag, der Jahrzehnte später mein Leben verändern sollte, begann wie jeder andere. Am Morgen des 22. Februar 2010 klappte ich in meiner Fünfer-WG in München wie jeden Tag meinen Laptop auf. Ich hatte über Facebook eine Mail bekommen, von einem Absender, den ich nicht kannte – von einem Mahan Kharzi.

Er schrieb, er sei der Bruder meiner Mutter und sie suche seit dem plötzlichen Verschwinden ihrer drei Kinder 1988 seit über zwei Jahrzehnten sehnsüchtig nach ihnen; deren Verschleppung sei die grausame Rache eines Despoten an seiner Ehefrau, die sich trennen wollte. Seine Schwester hätte seitdem nie aufgehört, uns zu suchen, lebe aber allein, ohne Zugang zu Internet oder Computern. Sie habe nie wieder geheiratet und war noch nie im Ausland. Eigentlich würde unser Nachname anders geschrieben, deswegen habe er uns immer unter anderen Schreibweisen gesucht, Matauri, Matouri, Matoori, Matauori. Jetzt aber glaube er, uns endlich gefunden zu haben.

Ich war wie versteinert. Geschockt. Verwirrt. Ich wusste nicht, was ich mit der Mail anfangen sollte. Als ich mich wieder gesammelt hatte, antwortete ich:

Ihre Nachricht überrascht mich. Ich habe andere Informationen über meine Mutter. Sie sind der Bruder meiner Mutter? Das heißt: Mein Onkel, oder?

Er schrieb, ja, er sei mein Onkel und Ende der achtziger Jahre aus dem Iran nach Deutschland emigriert, lebe in Köln. Meine Mutter aber wohne im Iran und versuche seit Jahrzehnten ihre entführten Kinder zu finden. Jetzt, mit Hilfe von Facebook, sei es endlich gelungen: Sie würde sich nichts sehnlicher wünschen, als ihre Kinder zu sehen. Ich erfuhr zum ersten Mal ihren Namen: Nada Kharzi.

Das Verhältnis zu meinem Vater war zu dieser Zeit schon so zerrüttet, dass ich ihn nicht fragen wollte. Man stellt einen Despoten nicht zur Rede und überführt ihn einer Lüge. Damals, 2010, hatte er auch schon Leukämie, Lungenembolien und einige Schlaganfälle hinter sich. Er lebte zurückgezogen und allein in einer Wohnung in Stuttgart. Ich vermied den Kontakt zu ihm. Als ich ihn, ein paar Wochen später, doch zur Rede stellte, herrschte er mich an, die Familie meiner Mutter seien Lügner und schlechte Menschen.

Nach der Nachricht meines angeblichen Onkels rief ich jedoch meine Geschwister Biana und Attila an. »Hast du auch diese Mail bekommen?«, fragte ich meine Schwester Biana. »Ja, und ich habe diesem Mann geantwortet, er soll uns in Ruhe lassen.« Zu groß war der Hass auf die Rabenmutter.

»Aber sie lebt!«

»Für mich ist sie gestorben, wie für unseren Vater auch.«

Mein Bruder Attila meinte nur, er habe nicht geantwortet und auch kein Interesse, Weiteres zu erfahren, er wollte nichts mehr mit meinem Vater zu tun haben, er hatte mit ihm gebrochen.

 

Nach diesem Tag im Februar, als die Mail kam, schrieb ich noch ein paarmal mit meinem Onkel hin und her – bis ich wusste, dass die Geschichte wirklich stimmte: Wir waren als Kleinkinder ohne das Wissen unserer Mutter verschleppt worden. Denn mein Onkel schickte mir ein Foto meiner Mutter, auf dem sie in ihren Dreißigern war: Meine Schwester sieht der Frau auf dem Foto wie aus dem Gesicht geschnitten aus.

Trotzdem vergingen sieben volle Jahre, bis ich etwas unternahm. Ich haderte, zögerte, und obwohl ich oft nachts wach lag, versuchte ich das alles zu verdrängen. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass mein Vater nicht nur über den Tod meiner Mutter gelogen hatte, sondern auch über ihren Charakter.

Als mein Vater 2014 unter ungeklärten Umständen starb, nahm er seine Lügen mit ins Grab. Er war in seiner Wohnung erstochen worden, vielleicht von einem Bekannten: Die Polizei suchte nach einem flüchtigen Afghanen oder Iraker, mit dem er noch gesehen wurde, konnte die Tat aber nie aufklären. Vielleicht hatte mein Vater seine Lügen einem Menschen zu viel aufgetischt; wir wissen es bis heute nicht.

Nach seinem Tod wollte ich wie mein Bruder mit meinem Vater und meinen iranischen Wurzeln abschließen, nur meine Geschwister sollten meine Familie sein. Wir überführten die Leiche in den Iran zur Schwester meines Vaters und ihrem Mann, den einzigen uns bekannten Verwandten, mit denen mein Vater Kontakt gehalten hatte. Als Kinder hatten wir sie einmal in einem Urlaub in der Türkei getroffen. Mein Vater wollte immer neben seinen Eltern im Iran begraben liegen. Dafür mussten wir auf dem Konsulat Papiere unterschreiben, ohne mit ihnen persönlich Kontakt zu haben. Sie organisierten die Beerdigung. Danach versuchte ich nicht mehr an meinen Vater, meine angebliche Mutter und überhaupt an unsere seltsame, verschrobene Familiengeschichte zu denken. Ich kappte meine Wurzeln zum Land meiner Herkunft, dem Iran.

Dann stieg ab 2015 die Zahl der Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten, und Angela Merkel sagte ihr berühmtes »Wir schaffen das«. Ich dachte immer öfter über unsere Flucht nach, über Vertreibung und entwurzelte, zerrissene Familien, so wie meine. Ich spürte, dass ich mich irgendwann meiner Geschichte stellen musste.

Der Sog zu meiner Geistermutter im fernen Iran wurde stärker. Ich spürte, dass da so etwas wie Sehnsucht war: Ich wollte sie kennenlernen. Was für ein Mensch wäre sie?

Ein Freund, Dariusch, Iraner mit britischem Pass, den ich bei einer Party auf Ibiza im Juni 2017 kennenlernte und dem ich meine Geschichte erzählt hatte, sprach mir immer wieder ins Gewissen: »Du musst deine Mutter kennenlernen, das ist dir klar, Mehdi, oder? Familie ist das Wichtigste im Leben! Du musst doch wissen, wo du herkommst, wer du bist!«

Nachdem Dariusch mir den entscheidenden Ruck gegeben hatte, fasste ich mir ein Herz: Ich würde mich entgegengesetzt der Flüchtlingsrouten auf den Weg in den Iran machen, entgegengesetzt der Richtung, aus der die Menschen auf gefährlichen Routen vor Krieg und Terror in die EU flüchteten. Damals hatte jeder in Deutschland, jeder in Europa, von Flüchtlingsrouten gehört: Magere Gestalten in zerschlissenen Jacken versuchten mit Schleppern irgendwie in ein anderes Leben zu gelangen als das, was sich in ihrer Heimat bot. Ich sah sie im Fernsehen, auf YouTube oder in Schlangen vor dem Münchener Kreisverwaltungsreferat vor dem Wegweiser stehen mit der Aufschrift »Asyl«: Menschen aus Syrien, Pakistan, Bangladesch, Irak, Afghanistan, Libyen, Libanon. Auf einer Karte von Europa sahen ihre Routen aus wie Blutzuflüsse in ein Organ. Manchmal wurden Routen geschlossen, wie die Balkanroute, als Ungarns Präsident Orban die Grenzen seines Landes dichtgemacht und damit die ganze Route lahmgelegt hatte. Auf anderen Routen über das Meer sanken immer wieder überfüllte Gummiboote mit Hunderten von Menschen; und wenn Kinderleichen an die Badestrände Griechenlands oder Spaniens gespült wurden, hörte die Welt kurz auf zu atmen.

Aber die Schlepper suchten immer neue Wege. Schlepper sind wie Logistiker für Menschenleben, wie Dealer der Freiheit. So viel wusste ich damals; ich wusste, dass ihnen egal war, wer am Ende eines Weges ankommt und in welchem Zustand, Hauptsache, das Geld stimmt; ich wusste, dass sie nur darauf warteten, so viele Menschen wie möglich auf für sie lukrative Weise ins Ungewisse zu schicken. Aber ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass auch ich auf sie angewiesen sein würde.

Heute war für lange Zeit meine letzte ruhige Nacht in Stuttgart. Ich dachte daran, was mein Vater über unsere Flucht vom Iran nach Deutschland erzählt hatte: nicht viel. Nur, dass er uns drei Kinder mit Schlaftabletten ruhigstellen musste, als es mit einem Schlepper in einem Laster über die deutsche Grenze ging. Meine Geschwister packte er in eine Kiste mit alten Kleidern, die er auf die Ladefläche stellte, mich legte er in der Fahrerkabine in Lumpen gewickelt auf den Boden. Als er die Altkleiderkiste öffnete, dachte er, die beiden Kinder seien erstickt. Panisch warf er meine Schwester in den Schnee, um sie wieder zu beleben: Durch die Kälte wachte sie auf und schrie. Wir konnten uns daran natürlich nicht erinnern. Aber ich habe mir diese Kiste mit den Altkleidern oft vorgestellt, in der meine mit Schlaftabletten sedierten Geschwister schliefen. Wie sie da liegen: wie Wachsfiguren, wie eine Dekoration aus einer schlechten Geisterbahn. Das Bild lässt mich nicht mehr los: Obwohl ich sie nie bewusst gesehen habe, ist diese Kiste immer in meinem Kopf geblieben: als Symbol für das Grauen von Flucht und Vertreibung.

Und jetzt würde ich den gleichen Weg wieder zurückgehen, den gleichen Weg wie vor dreißig Jahren, als mein Vater mit uns illegal über die Grenzen kam. Denn mit meinem Pass blieb mir keine andere Wahl: ein deutscher Reisepass mit Bundesadler darauf, aber mit blauem Einband, nicht mit bordeauxrotem. Unter dem Wort »Reiseausweis« steht in Klammern klein der Zusatz: »Abkommen vom 28. Juli 1951«, das Datum der Genfer Konvention. Ich bin anerkannter Flüchtling in Deutschland. Dieser Pass ist eine große Chance für Menschen auf der Flucht, wie wir es 1988 waren.

In Europa kommt man mit dem blauen Pass gut zurecht, außerhalb der Schengen-Staaten aber braucht man für viele Länder Visa, die ein Flüchtling oft nicht bekommt. Ich habe einmal ein Visum für die USA beantragt: Die Frau im Konsulat stempelte vor meinen Augen den roten »Declined«-Stempel auf meinen Antrag und zuckte nur mit den Achseln, als ich sie fragte, warum ich nicht einreisen dürfe.

Sogar innerhalb der EU hat mir einmal ein British-Airways-Mitarbeiter trotz gültigem Ticket grundlos den Flug nach London verweigert. Außerdem ist der blaue Pass nur gültig mit einer Aufenthaltskarte, auf der der Wohnsitz eingetragen ist. Man muss ihn alle drei Jahre verlängern, wofür man den Nachweis des Wohnsitzes mit einer Bestätigung des Wohnungseigentümers braucht. Das war für mich immer schwierig, weil ich viel bei Freunden oder in Wohngemeinschaften gewohnt habe, wovon die Eigentümer nicht unbedingt etwas wussten. Unter der Zeile »gültig bis« stand bei mir: 2016. Er war schon zwei Jahre abgelaufen. Als ich ihn aber 2013 das letzte Mal verlängern ließ, meine Wohnsitze jedoch kaum nachweisen konnte, drohte mir die Frau im Einwohnermeldeamt, mir keinen Meldenachweis zu geben, sollte ich die fehlenden Wohnungsnachweise nicht erbringen: Aber ohne Meldenachweis gibt es keine Verlängerung des Passes, ja, es wäre sogar Grund genug, ihn einzuziehen. Dieses Mal drückte sie noch ein Auge zu, das nächste Mal nicht mehr. Das wollte ich nicht riskieren. Außerdem würde ich wieder nicht die Wohnungsnachweise bringen können. Und wollte nicht Gefahr laufen, ganz ohne Pass dazustehen. Ich dachte: Ein abgelaufener Ausweis ist immer noch besser als ein eingezogener.

Als ich mich entschlossen hatte, meine Mutter zu finden, versuchte ich erst auf legalem Weg in den Iran zu reisen. Im Sommer 2017 war ich innerhalb weniger Wochen viermal beim iranischen Konsulat in München sowie bei der iranischen Botschaft in Berlin. Die iranischen Beamten musterten mich und meinen blauen Pass. Sie hatten beigefarbene Hemden ohne Krawatte an, die obersten Knöpfe offen. Mein Vater hatte mir erzählt, dass die Krawatte nach der iranischen Revolution 1979 als Zeichen westlicher Dekadenz sogar verboten war. Ich schätze, sie sind bei iranischen Gesetzestreuen bis heute verpönt.

In der Schalterhalle der Botschaft roch es nach Männerschweiß, meine Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum. Dem Mann am Schalter schien nicht zu gefallen, dass ich meine Haare lang und zum Zopf gebunden trug, das spürte ich an seinem Blick. Ich fühlte mich fremd. Ich hatte nicht das Gefühl, bei Menschen aus meiner Heimat vorzusprechen.

Die Beamten machten mir klar, dass ich ohne roten, deutschen Reisepass keine Chance auf ein Visum für den Iran hatte. Also wollte ich einen iranischen Pass beantragen. Schließlich stand in meinem blauen Flüchtlingspass unter Staatsangehörigkeit: »Islamische Republik Iran«.

Bisher hatte ich nicht viel mit iranischen Behörden zu tun gehabt. Meine Geschwister und ich kannten den Iran kaum. Ich wusste, dass der Iran ein Staat vieler Völker ist, in dem neben Persern noch andere Ethnien wie Türken, Kurden, Araber leben: Jeder Perser ist Iraner, nicht jeder Iraner Perser. Mein Vater war immer stolz darauf, Perser zu sein. Die Perser betrachten sich als eine Art auserwähltes Volk, als besonders alte und weise Hochkultur. In Deutschland hatte mein Vater zwar gern persisch gekocht, Tschelo Kebab, persische Hackspieße, oder Ghormesabsi, Fleischeintopf mit Kräutern und Limetten, und manchmal auch einen Schafskopf, vor dem wir Kinder uns nicht gruselten, weil wir oft Schafsköpfe gegessen haben. Das war es aber auch an persischer Kultur in unserer Familie. Meine Geschwister und ich waren noch nie in einer Moschee gewesen, wir sprachen kaum ein Wort der persischen Sprache, die Farsi heißt, wir hielten kaum Kontakt zu Verwandten, und in den Iran waren wir nie gereist. Wir feierten Neujahr nicht im März wie die Perser, sondern wie alle Deutschen an Silvester, wir spielten Fußball im Verein in Schwäbisch Hall, wo wir aufwuchsen, und lebten auch sonst wie ganz normale deutsche Jugendliche. Außer vielleicht, dass auf den Klingelschildern unseres Mietshauses ausschließlich Namen standen, die die meisten Deutschen nicht mal versuchsweise aussprechen konnten, und wir Jungs in der Pubertät anfingen, diese komische selbst erfundene Kanaken-Sprache zu sprechen, wie es alle ausländischen Jugendlichen irgendwann mal tun und dann vielleicht auch wieder bleiben lassen, so wie wir.

Bei jedem meiner Besuche in den Konsulaten und der Botschaft musste ein Übersetzer geholt werden, weil mein Farsi ungefähr so schlecht war wie das Deutsch der Mitarbeiter dort. Ein Wort aber habe ich immer verstanden: Shenosnome? Geburtsurkunde? »Habe ich nicht«, sagte ich immer wieder, »ich war erst vier Monate, ein Baby, als mein Vater mit uns hierherkam.« Er hatte vor unserer Flucht einfach keine für mich beantragt. Ohne Geburtsnachweis aber gibt es keinen iranischen Pass.

Bei meinem letzten Besuch ließ der Mann im Münchner Konsulat meinen blauen Flüchtlingspass auf die Schreibtischunterlage seines Schalters fallen und sagte: »Mit Ihren Papieren werden Sie niemals in den Iran fliegen!« In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung antwortete ich: »Dann laufe ich eben!« Der Mann lachte. Er dachte, ich hätte einen Witz gemacht.

 

Ich kenne meine Wurzeln nicht, meinen Stammbaum, meine Verwandten. Ich kenne auch keine Familienriten und -geschichten. Ich weiß noch nicht mal, wie alt ich bin. Wahrscheinlich um die dreißig. In meinem Pass steht, ich wäre am 15. Mai 1987 geboren worden. Keine Ahnung, ob das mein echtes Geburtsdatum ist. Mein Vater sagte immer, »drei Jahre, jedes Jahr ein Kind, 1985, 1986, 1987«, mehr nicht. Doch das kann nicht stimmen. Mein Bruder ist im September geboren, ich im Mai, dann hätte ich acht Monate nach ihm zur Welt kommen müssen. Vielleicht wurde ich 1988 geboren. Trotzdem wurde festgelegt, dass unsere Geburtsjahre 84, 85, 87 sind. Mit meinem Vater konnten wir über so etwas wie unsere Geburt nicht sprechen. Wir konnten mit unserem Vater sowieso über kaum etwas reden. Wir haben es auch nur selten versucht, denn wir wussten, was uns sonst drohte. Er war hartherzig und streng, der unangefochtene Patriarch der Familie. Wir sprachen auch nie über seine Familienangehörigen oder die Gründe seiner Flucht. Er wäre als politisch verfolgter Journalist und Fotograf andauernd im Gefängnis gelandet, gefoltert und von der Geheimpolizei gejagt worden, nur so viel. Er duldete keine Widerrede. Es galt als ungeschriebenes Gesetz, unsere Mutter unsere ganze Kindheit lang totzuschweigen.

An den Geburtstagen meiner Freunde erzählten die Mütter gern, was für ein süßes Baby das Geburtstagskind gewesen war oder wie sich die Krankenschwester über die vielen Locken gefreut habe. Ich wusste nichts über meine Geburt und kenne kein Babyfoto von mir. In meinen Kindheitserinnerungen kommen keine Cousins oder Cousinen vor, mit denen ich persische Kinderlieder gesungen habe, oder Onkel und Tanten, die mir persische Süßigkeiten zugesteckt haben. Die andere, die persische Hälfte meines Lebens ist ein Rätsel für mich.

Ich schaute auf das Foto in meinem Pass. Was habe ich von ihr? Die Augen? Was für ein Mensch ist sie? Und wie würde sie reagieren, sollte ich es wirklich zu ihr schaffen? Sie ahnte ja nicht, was ich vorhatte. Und was würde ich zu ihr sagen, wenn ich plötzlich vor ihr stand, in einer kleinen Stadt im Iran, von der der Onkel schrieb, dass sie dort noch lebe: »Hallo, ich bin es, dein Sohn?«

Seit Wochen hatte ich mich auf meine Abreise vorbereitet. Ich hatte alle Verbindungen gekappt: Ich antwortete nicht mehr auf SMS oder Mails und ging bei Anrufen nicht an mein Handy. Die letzten Tage wohnte ich bei Olek in Stuttgart, mit dem ich in Schwäbisch Hall zur Schule gegangen war und auf dessen Zimmerboden ich jetzt saß. Mein WG-Zimmer in München, wo ich die letzten Jahre lebte, hatte ich aufgegeben. Bei meiner Arbeit in einer Münchener Tagesbar hatte ich nicht um neue Schichten gebeten. Ich habe damals als Barkeeper und im Eventmanagement für Partys und Clubs gearbeitet, Organisation, Auf- und Abbau, solche Dinge. Wenn man arbeiten will, sagt man Bescheid. Wenn nicht, fällt das auch nicht weiter auf. Ich hatte nur drei Freunden erzählt, dass ich länger weg sein würde und was ich vorhatte. Ich wollte nicht, dass sich jemand sorgt. Oder mich aufhält.

Seit ich neunzehn Jahre alt bin, habe ich in Bars und Clubs gearbeitet. Ich hatte keine Lust mehr aufs Gymnasium, wo ich nur zufällig gelandet war, weil es nach meinem eher dürftigen Realschulabschluss einen Test gab, der ermittelte, wer aufs Gymnasium gehen sollte. Ich war darunter. Aber ich wollte keinen Lehrplan mit Stoffen abarbeiten, die ich niemals mehr brauchen würde, also brach ich ab und zog von Schwäbisch Hall nach München, wo ich sofort im Sausalitos anfangen konnte, in der 089 Bar und in der Bar Lehel. Von dort bin ich immer wieder woanders hin, nach Mallorca, Ibiza, Kitzbühel, Zürich. Meine Reisen finanzierte ich durchs Pokern. Eigentumswohnung, Autos, Uhren interessierten mich nie. Ich wollte immer mit möglichst wenig Besitz durchs Leben gehen.

Ich konnte meinen Besitz gut auf das Nötigste reduzieren. Das sollte mir auf dieser Reise helfen. Ich wollte unter dem Radar segeln, verschwinden, unbemerkt durch die Maschen der Kontrollen schlüpfen. Mein abgelaufener blauer Pass würde mir nicht viel helfen, das wusste ich. Die Aufenthaltskarte mit einer alten Adresse darauf hatte ich am Ende noch dazu bei meinem Freund vergessen. Egal jetzt, dachte ich. Die, die mir entgegenkommen werden, haben gar keine Pässe.

2Von Deutschland nach Griechenland: Stuttgart – Feres, 17.–18. Januar 2018

Am Morgen des 17. Januar, einem kalten Mittwoch, ging die Reise los, von der ich nicht ahnte, wie sehr sie mein Leben verändern würde. Ich trug einen großen Rucksack mit meiner Kleidung auf dem Rücken und einen kleinen mit meinen technischen Geräten vor der Brust. Mein Kumpel Olek umarmte mich und wünschte mir Glück.

Über die App Blabla-Car für Mitfahrgelegenheiten hatte ich eine Fahrt nach München gebucht, von dort weiter nach Wien. Ich wollte nicht mit meinem abgelaufenen Flüchtlingspass von einem deutschen Flughafen abfliegen: Aus Erfahrung wusste ich, dass im Ausland nicht so genau auf den deutschen Flüchtlingspass geschaut wird, weil ihn viele Flughafenmitarbeiter nicht kennen. Oft reichte es ihnen, dass der blaue Pass ein offizielles Dokument der Bundesrepublik Deutschland mit einem Bundesadler darauf war. In Wien schlief ich in einer Jugendherberge in der Nähe des Hauptbahnhofes. Am 18. Januar flog ich in einer Maschine der Aegean Air nach Athen, dort stieg ich um und landete in der Hafenstadt Alexandroupoli, deren winziger Flughafen der östlichste Flughafen Griechenlands ist.

Es war schon dunkel, als ich ankam: eine Dunkelheit, die man nur von Orten kennt, deren Himmel nicht vom Licht einer Großstadt verschmutzt wird. Die Nacht verschluckte mich. Ich trat in die Kälte, mein Atem bildete Nebel. Dann sah ich das erste Mal auf mein Handy, auf Google Maps. Tausend Mal würde ich noch auf dieses Handy und das braungrüne Relief des Satellitenbildes starren. Wo war ich?

Ich sah mich selbst als blauen, pulsierenden Punkt an Europas Ostgrenze: im Norden Bulgarien und Rumänien, die Türkei im Osten nur 43 Kilometer entfernt. Der Flughafen von Alexandroupoli lag weit außerhalb der Stadt, schon in Richtung des griechisch-türkischen Grenzgebietes. Ich entschied, direkt vom Flughafen in Richtung Grenze zu fahren, zu dem Fluss, den die Griechen Evros nennen und die Türken Meriç.

 

Wahrscheinlich war es gut, dass ich damals nicht viel über diese Gegend wusste. Hätte ich nämlich zu viel gewusst, wäre ich vielleicht nicht losgegangen. Was ich hingegen damals wusste: 180 Kilometer des Evros bilden die östlichste Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Wie ich auf den Satellitenbildern sah, ist der Fluss nicht sehr breit, höchstens 150 Meter. Das müsste machbar sein.

Ich hatte gegoogelt, dass es schon Tausende Flüchtlinge über diesen Fluss geschafft hatten und von Griechenland über die Balkanroute in ein weiter nördlich gelegenes europäisches Land wie Deutschland oder Schweden kamen. Noch in Stuttgart hatte ich in einem Artikel im Internet gelesen, dass griechische Dorfbewohner in Klappstühlen vor ihren Häusern saßen und zusahen, wie Flüchtlinge in großen Gruppen über die Felder zu ihnen in die Dörfer rannten. Die Griechen warteten mit Wasserflaschen auf sie, die sie ihnen schenkten.

Ich dachte: Wenn Menschen von der türkischen Seite über den Fluss kommen, kann ich es auch von der griechischen Seite versuchen. Ich hatte noch keine Idee, wie ich das alles schaffen sollte: durch den Evros schwimmen, die Türkei durchqueren bis zum Zagros-Gebirge, das die Grenze zum Iran bildete. Und dann irgendwie da drüber. Aber es würde sich schon fügen, war ich mir sicher. Mir fiel das Sprichwort ein: Wege entstehen beim Gehen.

Heute weiß ich: Bisher starben schon Hunderte Menschen bei der Überquerung des Evros. Oft finden Grenzschützer Seile von Schleppern zwischen den Ufern gespannt, an denen sich die Flüchtlinge in windigen Schlauchbooten über den Fluss ziehen wollten. Wenn die viel zu leichten und mit Menschen überfüllten Boote kentern, ertrinken viele. Dann hängen die Leichen manchmal tagelang in den Ästen der Bäume am Ufer des Flusses, bis jemand sie findet. Griechische Grenzschützer haben Fotoalben von Wasserleichen in ihren Computern angelegt: Sie fotografieren die Toten, vielleicht suchen Angehörige eines Tages nach ihnen. Die Ertrunkenen liegen in Gräbern ohne Namen, markiert mit einer Nummer auf einer weißen Plakette.

All das wusste ich nicht an diesem Abend, als ich aus dem Flugzeug stieg. Ich ging zu einem Taxi – in Griechenland sind sie kanariengelb. Eine Frau saß am Steuer, Anfang dreißig, mittellange braune Haare, ein freundliches »Yassas«, »Hallo« auf Griechisch. Ich nannte ihr den Namen des griechischen Dorfes, das sich mir auf dem Satellitenbild am nächsten zur Grenze anbot: Feres.

Im Lichtkegel des Taxis sah ich Kieswege, abgeerntete Felder, Gestrüpp. Feres lag düster und wie ausgestorben da. Ich zeigte der Fahrerin mit einer Handbewegung, dass sie noch weiterfahren sollte, raus aus dem Dorf, Richtung Grenze. Sie schaute in den Rückspiegel und beobachtete mich. Ich konnte mir denken, was in ihrem Kopf vorging: Was wollte dieser dunkelhäutige, langhaarige, bärtige Typ in dieser Gegend? Ich hatte auf dem Satellitenbild auf Google Maps eine Haltestelle an einem Bahngleis ausgemacht, dort wollte ich hin. Ich wusste nicht, dass von dieser Haltestelle keine Züge mehr fuhren. Kein Wunder also, dass die Taxifahrerin sich nicht erklären konnte, was ich dort wollte.

Ihre Augen huschten immer wieder zum Rückspiegel und sahen mich fragend an. »No worries, keine Angst«, sagte ich zu ihr, dann »Stopp«, und »Thank you«. Ich stieg an dem unbeleuchteten Wartehäuschen aus und gab ihr drei Euro Trinkgeld. Sie wuchtete meinen großen Rucksack auf den Kiesweg, den kleinen behielt ich immer nah bei mir. Dann stand ich da. Allein. In der Dunkelheit.

 

Weil ich vor Kälte schlotterte, zog ich neben dem Wartehäuschen meine warme Kleidung an: Skiunterwäsche, lange Unterhose, Unterhemd, Skisocken, Thermopulli, Jeans, Mütze, Handschuhe, Stiefel. Ich klebte mir das erste Mal die Damenbinden unter die Achseln, setzte die Stirnlampe auf, sah auf mein GPS-Gerät und auf mein Handy. Ich wollte heute Nacht noch durch den Fluss schwimmen: Er war vielleicht vier Kilometer entfernt – aber ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gelangen sollte.

Ich lief viele Stunden. Schilf schlug mir ins Gesicht. Der Boden war sumpfig. Unter meinen Stiefeln klebte der Matsch, so dass sich dicke Klumpen bildeten. Ich kämpfte mich durch Felder, Gestrüpp und Wald und schwitzte in meiner Skiunterwäsche. Aus Angst, entdeckt zu werden, wollte ich die Stirnlampe nur selten anschalten. Immer wieder sah ich durch mein Nachtsichtgerät, um mich zu orientieren; leider war es umständlich zu bedienen und nur für ein Auge konzipiert.

Ich malte mir aus, ein Floß zu bauen, wenn ich es zum Fluss geschafft haben würde, auf das ich meinen großen Rucksack legen könnte. Seile hatte ich dabei. Dann würde ich mich bis auf die Badehose ausziehen, ein paar Kleidungsstücke in dem wasserfesten Sack verstauen und alles auf dem Floß ans gegenüberliegende Ufer bringen.

Aber ich schaffte es nicht, zum Fluss zu kommen. Ich konnte ihn auf Google Maps gut sehen, einmal lief er nur 100 Meter von mir entfernt. Ich geriet immer wieder in Sackgassen aus dichtem Gestrüpp und musste umdrehen. Einmal war ich dem Fluss ganz nah, ich konnte das Wasser schon hören und riechen. Aber es war alles voller Schilf, so dicht, dass ich nicht durchkam. Ich musste wieder umdrehen. Dann stand ich an einer Stelle, an der das Wasser knöcheltief stand. Ich wusste nicht, ob es das Ufer des Flusses oder ein anderes flaches Gewässer am Fluss war. Weil ich nicht sicher war, ob ich es durch das niedrige Wasser zum Fluss schaffen würde, drehte ich um; bei der Kälte wollte ich nicht unnötig nass werden.

Plötzlich hörte ich Rascheln im Schilf und Stimmen, vielleicht fünf Meter von mir entfernt. Ich erschrak und horchte. Augenblicklich wurde es still. Die anderen Menschen hatten mich auch bemerkt. Ich machte das Licht meiner Stirnlampe aus. Mein Herz klopfte. Ich ordnete meine Gedanken: Soldaten waren es sicher nicht, wenn sie sich vor mir versteckten und nicht gehört werden wollten. Wenn es aber Flüchtlinge sein würden und sie die Flussüberquerung geschafft haben sollten, könnten sie mir vielleicht sagen, welche Stelle sich gut eignet. Vielleicht jedoch dachten sie, ich sei ein Soldat, und versteckten sich deshalb vor mir? Obwohl das Schilf dicht und die Nacht stockdunkel war, mussten meine Umrisse wie die eines Soldaten ausgesehen haben. Wir belauerten uns. Dann rief ich in die Dunkelheit: »Hello! I am a friend! I am not police!«

Ich erschrak vor meiner eigenen Stimme. Natürlich war mir klar, dass sie nicht aus ihren Verstecken springen und mich mit einem coolen Faustcheck begrüßen würden, um dann ein Bierchen am Lagerfeuer mit mir zu trinken. Und plötzlich fand ich die Vorstellung gar nicht erstrebenswert, dass vielleicht gleich vier, fünf Männer aus dem Schilf springen und sehen würden, dass ich allein und gut ausgerüstet war. Wagten nicht besonders oft Gruppen von jungen Männern die gefährliche Flucht? Ich malte mir aus, dass sie lange unterwegs wären, hungrig, müde, und bereit, alles für ihren Traum vom Paradies Europa zu tun. Schnell drehte ich um und suchte meinen Weg aus dem matschigen Schilf.

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich allein auf dieser Reise war und ausgeraubt oder überfallen werden könnte. Immerhin zeigte mir diese Begegnung, dass ich auf dem richtigen Weg war.

Dann verlor ich einen meiner Handschuhe. Ich hatte mir für die Bedienung des GPS-Gerätes und des Handys Handschuhe mit display-freundlichem Daumen und Zeigefinger gekauft, mit denen man die Touchpads jedoch nur sehr umständlich bedienen konnte. Handschuhe aber waren für meinen Weg wichtig. Ein zweites Paar hatte ich schon im Flugzeug liegen lassen. Mit Hilfe meiner GPS-Daten verfolgte ich meinen Weg ein Stück zurück und fand den Handschuh.

Schließlich kam ich an einem roten Schild mit weißer Schrift vorbei: »Restricted Area«, »Sperrgebiet«. Ich dachte, wenn dies hier militärisches Sperrgebiet ist und man in dieser Gegend nicht herumlaufen darf, kommen hier bestimmt viele Flüchtlinge über den Fluss. Also lief ich genau in diese Richtung. Ich drehte das Schild noch um – falls mich jemand aufgreifen würde. Dann hätte ich gesagt, »Schild? Habe ich keins gesehen!« Das war natürlich eine Übersprunghandlung und ziemlich unsinnig, weil sicher kein Polizist mit mir zu diesem Schild laufen würde, um zu beweisen, dass es tatsächlich dort steht. Ich ging über eine kleine Brücke über einen Bach, dann etwa eine Stunde an einem Feldweg entlang.

Plötzlich blinkten von weitem die Lichter eines Lasters auf.

Eine Sekunde rasten meine Gedanken: Verstecke ich mich? Renne ich weg? Oder gehe ich ganz normal weiter, als wäre nichts? Ich entschied mich, ganz normal weiterzugehen, noch hatte ich nichts Verbotenes getan. Ich lief im griechischen Grenzgebiet herum, na und? Der Militärlaster rumpelte mir entgegen und hielt mit laufendem Motor zwei Meter von mir entfernt. Ein Soldat fragte mich aus dem Fenster etwas auf Griechisch. »English!«, rief ich zurück. Er zeigte mir mit einer Handbewegung, dass ich zu ihm kommen soll. Ich trat an sein Fenster. Der Soldat war vielleicht Mitte dreißig, dunkelhaarig, Dreitagebart. Was ich hier wolle, fragte er auf Englisch.

»Ich wandere hier!«

Er schaute auf seine Uhr, 22.15 Uhr, und runzelte die Stirn. »Wohin wollen Sie denn?«

Ich hatte mir schon zu Beginn einen Plan gemacht, was ich für den Fall, dass ich aufgegriffen werde, sagen würde:

»Ich will nach Kipoi.« Das Dorf lag nah an der Grenze.

»Sie sind hier komplett falsch«, sagte der Soldat, und dass es verboten sei, sich hier herumzutreiben: militärisches Sperrgebiet. Ich solle sofort umdrehen.

»Ah okay, sorry, das wusste ich nicht«, und wollte gehen, da rief er: »Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit!« Mir blieb nichts anderes übrig, als zu dem Soldaten in den Laster zu steigen.

Als ich auf den Beifahrersitz kletterte, sagte der Soldat: »Ihren Pass bitte!« »Ich bin deutscher Tourist«, antwortete ich und gab ihm meinen abgelaufenen blauen Flüchtlingspass. Der Soldat sah ihn verwirrt an, schien sich aber damit zufriedenzugeben, dass das ein deutscher Pass war – zumindest zeigte er den Bundesadler auf dem Umschlag. Weil er das Dokument nicht zu kennen schien, blätterte er ein bisschen darin herum. Das ist mir besonders unangenehm, weil ich ein paar Seiten aus dem Pass herausgetrennt hatte. Ich habe meinen Pass einmal im Call me Drella, einem Club in München, verloren. Irgendein Spaßvogel fand ihn und dachte, es wäre witzig, mit schwarzem Edding ein großes Kreuz über zwei Seiten zu schmieren und das Wort »abgeschoben« quer über die Seiten zu schreiben. Haha, wie lustig. War bestimmt ein Betrunkener. Ein befreundeter Barkeeper aus dem Club fand den Pass und gab ihn mir zurück. Aber ich bekäme natürlich Probleme mit Grenzern, Polizisten, Soldaten, würden sie diese zwei vollgeschmierten Seiten sehen. Also habe ich die Seiten vorsichtig mit einem Teppichmesser herausgetrennt. Man merkte es nur, wenn man den Pass durchblätterte und die Seitenzahlen nachprüfte.

Zum Glück fiel dem Soldaten nichts auf, und er gab ihn mir zurück. Wir fuhren aus dem Sperrbezirk in Richtung des Dorfes, das ich ihm genannt hatte: Kipoi. Der Ort liegt nur ein paar hundert Meter von der Grenze entfernt, und es gibt einen offiziellen Grenzübergang. Wir fuhren etwa fünfzehn Minuten und unterhielten uns. Er erzählte mir von Hunden, die in der Gegend wilderten, gefährliche, aggressive Rudel. Ich sollte auf der Hut sein.

Wir kamen an eine Kreuzung kurz vor dem Dorf Ardani, etwa 12 Kilometer vor Kipoi. Der Lichtkegel des Lasters erfasste einen Polizisten, der eine Familie kontrollierte, Vater und Mutter mit zwei kleinen Kindern. Vermutlich Syrer. Sie hatten ihr Hab und Gut in Plastiktüten wasserfest verschnürt. Vielleicht waren sie gerade mit einem Schlauchboot über den Fluss gekommen?

Der Mann trug kurze Hosen. Die ganze Familie war nicht für den Winter ausgerüstet: Die Mutter hatte nur eine dünne Windjacke an. Ihre Haare steckten unter einem hellen Kopftuch. Sie hielt an der rechten Hand einen Jungen, an der linken ein Mädchen mit struppigen Haaren. Das Mädchen umklammerte mit seiner freien Hand ein rotes Plastikauto.

Das waren die ersten Flüchtlinge, die ich auf meiner Route sah. Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist. Vielleicht kamen sie ins griechische Auffanglager Fylakio, in das die meisten Illegalen zur Erstaufnahme gebracht werden.

Immer wieder werden auch Flüchtlinge, die es nach Griechenland geschafft haben, zurück in türkische Lager abgeschoben. Ich weiß, dass schon die griechischen Lager nicht angenehm sind – aber die Lager in der Türkei sind menschenunwürdig. Die Türken haben weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen und sind über jeden froh, der ihr Land wieder verlässt. Die Flüchtenden schlagen sich irgendwie in der Türkei durch – wenn es sein muss, versuchen sie den Grenzübertritt wieder und wieder, mit nichts anderem im Gepäck als ihren zu dünnen Jacken und großen Hoffnungen, dass ihnen die Flucht eines Tages glückt.

Der Laster hielt etwa 100 Meter weiter am Straßenrand. Ich stieg aus und ging los. Weil ich meine Stirnlampe im Laster vergaß, rannte ich zurück und holte sie. Dabei sah mich der Polizist, der bei den Flüchtlingen auf der Straße stand.

Er rief mich zu sich: »Passport, Passport.« Langsam ging ich in seine Richtung. Wenn jemand meinen Pass sehen will, stehe ich immer wie unter Schock. Andere Menschen werden stark durch ihren Pass. Ich fühle mich unsicher.

Der Mann war ein wenig älter als der Soldat im Laster und trug eine griechische Polizeiuniform. Er blätterte in meinem Pass hin und her, doch auch er konnte nichts mit dem deutschen Flüchtlingspass anfangen. Den haben sie hier noch nie gesehen, dachte ich. Hier kommen nur Flüchtlinge mit ausländischen oder gar keinen Pässen an. Der Polizist entließ mich kopfschüttelnd und zeigte mir mit einer Handbewegung, dass ich gehen solle. Ich lief zurück in die Dunkelheit. Ich hatte noch mal Glück gehabt.

Wieder wanderte ich durch die Nacht, immer mit Blick auf den Verlauf des Flusses und den blauen leuchtenden Punkt auf meiner Navigations-App. Immer in der Hoffnung, einen Ort zu finden, an dem ich zum Fluss vorstoßen und ihn überqueren könnte. Und wenn ich die ganzen 180 Kilometer der griechischen Flussseite ablaufen müsste: Ich wollte über diesen verdammten Fluss. Um 3 Uhr morgens wurde ich müde. Vor mir lag eine Anhöhe. Ich kletterte hoch und sah stoppelige Felder. Raureif lag über dem harten Boden. Mitten auf dem Feld stand ein einziger Baum. Ich konnte seine Umrisse in der Dunkelheit erkennen. Dort würde man mich von dem Feldweg unten nicht sehen können.

Ich lief zu dem Baum, legte meine Plastikplane aus und pumpte meine Luft-Isomatte auf. Das Aufpumpen mit dem mitgelieferten Pumpsack dauerte ewig. Das hatte auf dem YouTube-Video des Herstellers viel einfacher ausgesehen. Ich legte mich in den Schlafsack, zog die andere Hälfte der Plane über mich. Trotz Isomatte und Schlafsack spürte ich die Kälte, besonders im Gesicht.

Ich war kaputt. Der erste Tag, die schweren Rucksäcke, meine Füße brannten. Ich hörte den Wind in den winterkahlen Ästen des Baumes pfeifen. Ich freute mich über diesen einsamen Baum, der mit seinen Wurzeln die Erde unter mir festhielt. Er gab mir ein Gefühl von Schutz – obwohl wir als Kinder oft nur ungern in den Wald gingen.

Mein Vater fuhr mit meinem Bruder oft in den Wald, wenn er ihn verprügeln wollte. Niemand sollte ihn schreien hören. Die Prügelei wäre in unserer Wohnung zu laut gewesen. Die Nachbarn sollten nichts mitkriegen. Die Bäume schluckten seine Schreie. Vor den Gewaltausbrüchen meines Vaters durfte sich mein Bruder aussuchen, mit welcher Art Stock er verprügelt werden wollte, aus dem Wald oder von unserem Balkon, auf dem immer ein paar Stöcke lagen.

Eine schlechte Note oder eine Rauferei in der Schule – und ab ging es in den Wald. Ich habe auch oft Schläge bekommen, meistens in der Wohnung. Ich versuchte mehr unter dem Radar zu segeln und meinem Vater wenig Anlässe für seine Prügeleien zu geben. Er steckte uns Kindern auch oft Stifte zwischen die Finger und drückte so heftig zu, bis die Gelenke krachten. Das tat höllisch weh, hinterließ aber kaum Spuren. Die Hand schwoll nur augenblicklich an, weshalb er immer unsere linke Hand nahm. Mit der rechten mussten wir in der Schule schreiben können. Mein Vater achtete penibel darauf, dass wir nicht zu viele blaue Flecke bekamen. Ins Gesicht schlug er nie.

 

Als Kind betrat ich einmal die Wohnung mit schmutzigen Winterstiefeln. Ich lief ins Bad, um die Schuhe sauber zu machen – machte aber alles noch schlimmer. Der Boden, das Waschbecken, alles war schmutzig. Die Wut übermannte ihn: Er prügelte mich durch die ganze Wohnung. Meine Schwester schlug er seltener, uns Jungs fast jede Woche, je nach Vergehen. Er wurde selbst so viel verprügelt, sagte er. Am Sterbebett seines Vaters hätte der ihm noch eine geklatscht.

Er dachte, man müsste Kinder so erziehen, anders funktioniere Erziehung nicht. Er erzählte uns, wie die Leute im Iran nach dem Schah-Sturz 1979 mit Stöcken und Peitschen auf offener Straße von den Sittenwächtern verprügelt wurden, wenn sie etwas falsch gemacht hatten. Prügeleien und Gewalt gehörte zur DNA meines Vaters, seiner Familie und zum politischen System des Iran der 1980