In den letzten Stunden der Dunkelheit - Peter Klisa - E-Book

In den letzten Stunden der Dunkelheit E-Book

Peter Klisa

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Beschreibung

Der Krieg ist fast vorüber. Doch im Verborgenen hat der nächste längst begonnen.

1936 ist das letzte gute Jahr für Frederic Carvis. In Berlin studiert er bei dem angesehenen Physiker Paul Bergmann und erhält Einblick in die höchsten Kreise der Wissenschaft. Und er lernt Anna kennen, seine große Liebe, mit der er die Zukunft plant. Doch dann kommt alles anders …

Im April 1945 ist Carvis Dolmetscher für die US-Army und gezeichnet von den Schrecken des Kriegs. Das Ende des Naziregimes scheint zum Greifen nah, als er einen letzten Marschbefehl erhält: Als Teil einer kleinen Kommandoeinheit fliegt er in einer Nacht- und Nebelaktion nach Berlin, um Paul Bergmann zu entführen. Das Wissen über das deutsche Atomprogramm soll auf keinen Fall den Russen in die Hände fallen. Außerdem hofft Carvis darauf, Anna wiederzufinden …

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Seitenzahl: 436

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Das Buch

April 1945. Der Zweite Weltkrieg neigt sich dem Ende entgegen. Frederic Carvis, Dolmetscher der U.S. Army, will mit seinen Kameraden den bevorstehenden Sieg über Nazideutschland feiern. Da erhält er überraschend einen letzten Marschbefehl: Gemeinsam mit einer Handvoll Soldaten soll Carvis in einer Nacht- und Nebelaktion den deutschen Atomphysiker Paul Bergmann aus Berlin entführen. Die Rote Armee steht vor der Stadt, und Bergmanns Wissen soll auf keinen Fall den Russen in die Hände fallen. Die Mission ist brandgefährlich. Doch Carvis hat gute Gründe, das Risiko einzugehen: Er hofft seine große Liebe Anna wiederzufinden, die vor dem Krieg spurlos in Berlin verschwunden ist.

Der Autor

Peter Klisa, 1970 in Frankfurt am Main geboren, lebt im äußersten Südwesten Deutschlands, im Dreiländereck zu Frankreich und der Schweiz. Er ist Chemiker und produziert raffinierte Einsatzstoffe für die Bau- und Automobilindustrie. Für seinen ersten Roman »In den letzten Stunden der Dunkelheit« hat er viele Jahre recherchiert.

Peter Klisa

IN DENLETZTENSTUNDENDERDUNKELHEIT

Thriller

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 02/2023

Copyright © 2023 by Peter Klisa

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Hintau Aliaksei, Irina_QQQ, Husjak, hxdbzxy), stock.adobe.com (Sergei, travelwitness) und Arcangel/Tim Robinson

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber,Germering

ISBN: 978-3-641-28414-5V001

www.heyne.de

ERSTER TEIL

I

LONDON, 21. April 1945, 08:33 Uhr

Die Hauptstadt an der Themse swingte. Von King’s Cross bis Southwark, von Kensington Gardens bis Whitechapel erhob sich ein melodisches Summen, das seinen Weg in jedes Herz, in jede Seele fand. Von Menschentrauben umringt, musizierten Orchester, Big Bands und Militärkapellen, was die Taktstöcke der Dirigenten hergaben. Männer und Frauen fanden sich spontan zum Tanz, und selbst der eiligste Passant vergaß die Zeit über Glenn Miller, Duke Ellington oder dem »King of Swing«, Benny Goodman. Bürgermeister und Militärverwaltung hatten alles aufgeboten, jeden Musiker und jeden Soldaten ausgeschickt, der ein Instrument tragen konnte, um die Tristesse des sechsten Kriegswinters zu vertreiben.

Carvis hatte London während des Krieges mehrmals besucht. Ungebrochen hatte die Stadt dem »Blitz« getrotzt, doch Rationierung und Verdunklung, Sirenengeheul und Luftangriffe forderten ihren Tribut. Die Gesichter der Londoner waren so grau wie die Staubschichten, die sich nach jedem Raketeneinschlag neu auf Bäume und Häuser legten.

In diesem Frühjahr allerdings hatte sich London verwandelt. Die Menschen auf den Gehsteigen gingen aufrecht, mit erhobenem Kopf und durchgedrücktem Kreuz. Kinder tobten durch die Ruinen, junge Paare drängten ins Freie, Soldaten und Offiziere platzten vor Selbstbewusstsein. Uniformknöpfe funkelten in der Sonne, und messerscharfe Bügelfalten hätten jeder Paradeinspektion standgehalten. Die ganze Stadt atmete auf, als hätte sie die letzten Jahre keine Luft gekriegt. Der Krieg war noch nicht gewonnen, doch der letzte Luftangriff lag Wochen zurück, und London wollte nicht länger auf den Neuanfang warten.

Captain Frederic Carvis schloss die Augen und spürte den Fahrtwind über sein Gesicht gleiten. Er fühlte sich wie die Stadt. Befreit. Euphorisch. Seit Private Maronnelli ihn in Stratford im Lazarett abgeholt hatte, durchströmte ihn eine grenzenlose Erleichterung. Der Krieg war für ihn vorbei, er hatte es überstanden. Wenn auch nur knapp. Mit dem Zeigefinger tastete er über sein khakifarbenes Hemd und spürte den wulstigen Knubbel, der sich unter dem Stoff auf seiner Brust abhob. Andenken an einen diesigen Herbsttag im norditalienischen Viareggio.

»Allies crushed German troops!«

Irritiert öffnete Carvis die Augen.

Maronnelli, im Privatleben Taxifahrer aus Queens, zeigte auf einen Zeitungsjungen, der auf dem Bürgersteig die LondonTimes in die Höhe reckte.

»Leipzig fell to 1st U.S. Army.«

Wie ein Siegesfanal verkündete er die fett gedruckte Überschrift wieder und wieder, während ihm Passanten die Zeitungen aus den Händen rissen. Der Stapel unter seinem Arm schmolz wie der letzte Schnee im Frühling.

»Halten Sie mal an!« Carvis winkte dem Jungen zu.

Maronnelli brachte den Jeep mit der Kaltschnäuzigkeit seines Berufsstandes in einem schwungvollen Bogen an der Bordsteinkante zum Stehen und ignorierte das wütende Hupen eines Doppeldeckerbusses, der nur mit einem abrupten Schwenk einen Zusammenstoß verhindern konnte.

Der Zeitungsjunge, der Carvis sein letztes Exemplar entgegenstreckte, war keinesfalls älter als acht. Dafür aber so beängstigend dünn, dass er seinen viel zu weiten Mantel mit einem schmalen Lederriemen um die Hüfte festgeknotet hatte. Eine Mischung aus Dreck und Sommersprossen bedeckte sein Gesicht, wobei der Unterschied nicht so genau zu erkennen war.

»Behalt den Rest«, sagte Carvis und warf dem Knirps einen Shilling zu. Das gelbliche Zeitungspapier war so grob, dass er einzelne Papierfasern erkennen konnte. Als Maronnelli den Gang einlegte und ruckartig anfuhr, bemerkte Carvis aus dem Augenwinkel plötzlich Anna in ihrem roten Kleid auf der anderen Straßenseite. Die schulterlangen Haare wippten im Takt ihrer Schritte, und der Frühlingswind spielte mit einzelnen Strähnen, die sie unbewusst mit der linken Hand wieder einfing und hinters Ohr schob. Carvis drehte den Kopf und sah sie zwischen den Passanten verschwinden.

»Stopp!« Er sprang aus dem bremsenden Jeep und schlängelte sich durch den Verkehr. Sie ist es nicht, schoss es ihm durch den Kopf, als er auf dem Bürgersteig in beide Richtungen schaute. Sie kann es gar nicht sein. Sie war es weder die beiden Male in Vermont, noch in New York oder Neapel und auch nicht in dem italienischen Dorf im letzten Sommer. Vierzig Meter entfernt entdeckte er das rote Kleid zwischen grauen Anzügen und braunen Uniformjacken, der blonde Hinterkopf zeigte sich kurz zwischen Kappen, Offiziersmützen und Frühlingshüten. Carvis nahm die Verfolgung auf. Wach auf, ermahnte er sich. Hör auf zu träumen. Aber das war ihr Gang, ihre Art sich zu bewegen. Nur sie ging mit diesem federnden Schritt, angetrieben von einem Hauch von Eile. Warum sollte sie nicht in England sein, widersprach er seiner eigenen Skepsis. Vielleicht hatte sie Deutschland verlassen, bevor es zu spät war. Wie viele andere auch.

»Stell dir die Ironie vor«, sagte er laut zu sich selbst. »Dieses Mal ist sie es, und ich beachte sie nicht, weil ich glaube, dass sie es nicht sein kann.«

Carvis stürzte zwischen den Fußgängern hindurch, schob eine protestierende ältere Dame beiseite und blieb mit dem linken Arm an einem Matrosen hängen. Schmerz explodierte in seiner Schulter, raubte ihm den Atem, ließ ihn noch einige Schritte taumeln, bevor er keuchend stehen blieb. Andenken Nummer zwei, fluchte er innerlich und rieb sich den linken Oberarm. Ein glatter Durchschuss als Resultat seines ersten und einzigen Einsatzes in erwähnenswerter Nähe zur Front in knapp drei Jahren Krieg. Carvis atmete tief ein und lief weiter.

Als sie an einer Kreuzung auf eine Lücke im Verkehr wartete, holte er sie ein. Mit den Fingerspitzen berührte er ihren Arm.

»Anna.«

Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen von oben bis unten. Carvis spürte, wie ihr Blick über sein von wochenlanger Bettruhe ausgebleichtes Gesicht wanderte. Über die braunen Haare, die vom Rennen an der Stirn klebten, und die schwarzen Ringe unter den dunklen Augen, die eine Geschichte von Schlaflosigkeit und Schmerz erzählten. Sie war wunderschön, und die Enttäuschung traf ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube.

»Sir?«

Er murmelte eine lautlose Entschuldigung und ging mit gesenktem Kopf zum Wagen.

Der Jeep schwamm zügig durch den Innenstadtverkehr südlich des Regent’s Park. Carvis starrte schweigend auf die verkrusteten Dreckspritzer auf der Frontscheibe und ärgerte sich. Selbst nach acht Jahren verging kein Tag, an dem er nicht an Anna dachte. An dem ihn nicht die Erinnerung heimsuchte, die Ungewissheit quälte oder er sich fragte, was zum Teufel damals überhaupt passiert war. Carvis schüttelte den Kopf, und Maronnelli sah ihn mit hochgezogener Augenbraue von der Seite an. Der Fahrer hatte nicht weiter gefragt, als Carvis etwas von einer Verwechslung stotternd wieder in den Jeep gestiegen war. Aber sein Großvater hatte recht: Dieser Wahn musste endgültig ein Ende haben. Auf einmal freute sich Carvis auf die Zukunft. Der Krieg würde beendet sein, bis er wieder in Italien war. Dann bekam er endlich sein Leben zurück, und er würde es sich weiß Gott nehmen. Er würde endlich einen Schlussstrich ziehen und Anna beerdigen. Egal, ob sie noch am Leben war oder nicht.

»Paddington Station, Sir.« Maronnelli präsentierte die Stahl- und Glasfassade des Bahnhofs mit einer bühnenreifen Armbewegung. Er bremste und platzierte den Jeep direkt vor der Sandsackbarrikade am Haupteingang.

Paddington Central Station hatte die ersten Angriffe 1940 unbeschadet überstanden. Doch im April 1941 explodierte eine Luftmine in der benachbarten Eastbourne Terrace und beschädigte den Südflügel des Bahnhofs. Zwei Monate später riss eine 500-Kilo-Bombe ein scheunentorgroßes Loch in das Dach, fiel auf die Gleise – und explodierte nicht. Immer noch türmten sich Sandsäcke vor den Fenstern, und eine mit Maschinengewehren gespickte Barrikade sicherte den Haupteingang, als würden die Landungsboote der Wehrmacht in diesem Moment den Ärmelkanal überqueren.

Ein älterer Sergeant der Home Guard salutierte stramm vor Carvis und schnauzte Maronnelli in bestem Kasernenhofton an.

»Sie können hier nicht parken, Private. Verschwinden Sie mit dem Jeep!«

Ungerührt lud Maronnelli Carvis’ Segeltuchtaschen aus.

»Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck, Sir? Ich könnte Ihre Taschen zum Zug tragen.«

»Nein danke«, antwortete Carvis, während der Sergeant durch weit geöffnete Nasenflügel schnaufend Luft holte. »Ich nehme die Taschen selbst.«

Maronnelli salutierte lässig, sprang in den Jeep und verschwand im dichten Verkehr.

»Sir, könnte ich Ihren Marschbefehl sehen?«, fragte der Sergeant, nachdem seine Gesichtsfarbe wieder zu einem fahlen Beige zurückgekehrt war.

»Natürlich.« Carvis zog das gefaltete Dokument aus seiner Brusttasche und reichte es dem Sergeant.

»Mit dem Zug nach Bristol und von dort mit dem Truppentransporter Aberdeen nach Livorno«, erklärte er, während der Sergeant den Marschbefehl überflog. »Dann weiter zur 5. US-Armee in Norditalien. In Ordnung?«

»Ja, natürlich, Sir.«

»Gut. Kann ich dann zum Zug?«

»Selbstverständlich, Sir. Gute Reise, Sir. Vielleicht haben wir Glück, und die verfluchten Krauts kapitulieren endlich. Lange kann es nicht mehr dauern.«

Der Bahnhof vibrierte vor Aktivität. Hunderte Stimmen, zischende Dampfkessel und quietschende Bremsen vereinten sich zu einem infernalischen Lärm, der Carvis wie ein wildes Tier anfiel, sobald er die dämmrige Bahnhofshalle betrat. Aus ankommenden Zügen ergossen sich Menschenströme in das wogende Meer aus Köpfen und Hüten, durch das hin und wieder eine lange Doppelreihe Armeehelme pflügte.

Mitten im Gewühl stellte Carvis fest, dass er gar nicht wusste, wo sein Zug abfuhr. Er sah sich nach einem Bahnbeamten um und entdeckte nahe Gleis 7 die blaue Uniform des Gleisvorstehers. Er packte seine Segeltuchtaschen, als ihn jemand an der Schulter berührte.

»Captain Carvis?«

Überrascht drehte Carvis sich um, setzte die Taschen wieder ab und blickte in das jugendliche Gesicht eines amerikanischen Lieutenants, der grüßend die Hand an die Mütze legte.

»Ja?«

»Lieutenant Paul Davies, Sir. Ich bin froh, dass ich Sie noch erwische. Leider habe ich Sie im Lazarett knapp verpasst und hatte schon befürchtet, dass ich Sie bis nach Livorno verfolgen muss.«

Carvis’ Erstaunen wuchs. Davies war Anfang zwanzig, schmal, fast schmächtig, und trug mehr Ordensbänder und Auszeichnungen an der Uniform, als Carvis überhaupt kannte.

»Und warum?«

»Sir, Sie sind ab sofort Colonel Pash unterstellt. Ich bringe Sie in sein Hauptquartier. Hier ist Ihr Marschbefehl.«

»Moment.« Carvis hob abwehrend eine Hand. »Ich habe einen Marschbefehl inklusive der dazugehörigen Transportscheine. Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht verwechseln?«

»Sie sind Captain Frederic Carvis, geboren am 3. Mai 1911 in Burlington, Vermont. Dolmetscher im Stab der 5. US-Armee. Richtig?«

»Ja, das ist richtig, aber …«

»Ich habe sogar ein Bild von Ihnen, Sir.« Davies hielt Carvis ein Passfoto unter die Nase, das aus seiner Militärakte stammte und ihn in ziemlich abgekämpfter Verfassung am Ende der Offiziersausbildung zeigte.

»Natürlich bin ich Frederic Carvis. Aber mit Sicherheit nicht die Person, die Sie suchen.«

»Ich denke doch, Sir.« Der Lieutenant drückte Carvis das Dokument in die Hand. »Die Daten sind korrekt, das Foto stimmt, und der Befehl wurde von General Eisenhower persönlich unterzeichnet.«

Carvis las das Schreiben mit dem Briefkopf des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte in Europa, General Dwight D. Eisenhower. Der Marschbefehl enthielt nur einen einzigen Satz, nämlich dass sich Carvis unverzüglich seinem neuen Kommandeur, Lieutenant Colonel Boris T. Pash, zur Verfügung zu stellen hatte. Er betrachtete die Unterschrift in königsblauer Tinte und blickte Davies ratlos an.

»Machen Sie sich nichts draus, Captain.« Davies grinste. »Jeder, der diesen Befehl zum ersten Mal in der Hand hält, ist völlig überrumpelt. Ist aber immer wieder schön anzusehen.«

»Und zu welcher Einheit komme ich?« Carvis stellte fest, dass Davies außer »U.S. Army« keine weitere Bezeichnung an der Uniform trug.

»Das erfahren Sie am Ziel unserer Reise.« Der Lieutenant bückte sich, nahm Carvis’ Segeltuchtaschen und marschierte Richtung Ausgang.

»Kommen Sie. Der Colonel ist ein ungeduldiger Mensch.«

»Wo geht es denn überhaupt hin?« Carvis beeilte sich, Davies einzuholen.

»Nach Deutschland.«

II

WESTDEUTSCHLAND, 21. April 1945, 12:27 Uhr

Carvis schreckte hoch, als die olivgrüne Douglas C-47D unsanft aufsetzte. Stöhnend ließ er den Kopf hängen und massierte seinen Nacken. An der gegenüberliegenden Bordwand schälte sich Lieutenant Davies aus den Gurten seines Sitzes und streckte sich gähnend. Die Maschine hatte südlich von London abflugbereit auf die beiden Männer gewartet und war sofort gestartet. Davies hatte es sich noch im Steigflug in seinem Ledersitz bequem gemacht und war trotz des ohrenbetäubenden Lärms der beiden Pratt & Whitney-Motoren innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen.

Carvis dagegen war hellwach. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum man ihn – ausgerechnet ihn – in aller Eile nach Deutschland fliegen ließ. Als Dolmetscher hatte er sich so gut es ging aus dem Krieg rausgehalten. Gedrückt, würden andere sagen, aber selbst das hatte ihn fast das Leben gekostet. Wieso hielt die U.S. Army ein Flugzeug für ihn bereit, wo doch Transportkapazitäten immer knapp waren? Während des Fluges hatte er die unter ihnen vorbeigleitende Landschaft betrachtet und kein Auge zugemacht.

»Wo sind wir?« Carvis versuchte die Flugzeugmotoren zu übertönen und kletterte hinter Davies auf die Landebahn aus platt gedrücktem Gras. Ohne zu antworten, zog Davies ihn neben die Piste. Der Pilot gab Vollgas und beschleunigte, das Flugzeug hob wieder ab. Überrascht sah Carvis sich um. Vier Landebahnen reihten sich aneinander, Flugzeuge starteten in dichter Abfolge. Auf einer Wiese umringten Lkw zweimotorige Transportmaschinen, Soldaten wuchteten Holzkisten und Fässer in die Laderäume, während ein dickbäuchiges Tankfahrzeug von Maschine zu Maschine holperte und die Flugzeuge befüllte. Ein Mechaniker lag auf einer Tragfläche und schraubte mit ölgeschwärzten Händen an einem Motor, dessen Abdeckung im Gras lag. Einige Kilometer entfernt ragten die spitzen Doppeltürme einer Kathedrale oder eines Doms aus einer zerstörten Stadt. In den Gestank der Abgase mischte sich der süßliche Geruch von Flugbenzin. Carvis begann in seiner Uniformjacke zu schwitzen.

»Wo sind wir denn nun?«, fragte er ein zweites Mal.

»In Aachen.« Davies winkte einem Jeep, der auf die beiden Männer zufuhr.

»In Aachen?« Schlagartig wurde Carvis bewusst, dass er seit acht Jahren das erste Mal wieder in Deutschland war. Er knöpfte seine Uniformjacke auf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Seit dem verhängnisvollen Mai 1937 drehte sich sein Leben nur noch um Anna und den Krieg. Aber deutschen Boden hatte er nie wieder betreten.

»Wieso Aachen?«

»Gute strategische Lage, kurze Distanz zu den Häfen an der Atlantikküste. Nach der Eroberung hat die Army den Flugplatz zum zentralen Versorgungsstützpunkt ausgebaut. Unsere Truppen rücken so schnell vor, dass der Nachschub nicht mitkommt. Darum versorgen wir sie aus der Luft.«

»Das meine ich nicht«, erwiderte Carvis. »Was machen wir beide hier?«

»Von diesem Flugplatz starten wir unsere Operation.« Davies stieg in den Jeep, der vor ihnen bremste.

»Was für eine Operation?«

»Tut mir leid, Captain. Das darf ich Ihnen nicht sagen. Kommen Sie, steigen Sie ein.«

Carvis kletterte in das Heck des Wagens, ließ sich auf einen Sitz fallen und fragte sich, was der ganze Zirkus sollte.

Die Fahrt zeigte das riesige Ausmaß des Stützpunktes. Der Jeep fuhr an Dörfern aus olivgrünen Mannschaftszelten vorbei, passierte eine Schießanlage für Bordwaffen, Werkstätten und Landebahnen. Studebaker-Zweieinhalbtonner schlängelten sich wie auf einer Ameisenstraße zu Treibstoff- und Versorgungsdepots, wurden entladen und verschwanden wieder Richtung Westen.

»Da sind wir«, rief Davies, als der Jeep vor einer Ansammlung graugrüner Wellblechhütten hielt. Er sprang aus dem Wagen, nahm Carvis’ Taschen und verschwand durch eine Metalltür. Carvis folgte ihm, so schnell er konnte. Hinter der Tür saß ein weißhaariger Corporal in einem Vorzimmer und malträtierte an einem Klapptisch eine Schreibmaschine. Wie Habichte auf der Jagd kreisten seine Zeigefinger über der Tastatur und stießen auf die Tasten nieder.

Krack, knallte ein Buchstabe gegen die Walze.

»Corporal Banks, lassen Sie die Schreibmaschine am Leben.« Davies ging ungeniert um den Tisch und sah Banks über die Schulter.

»Formular 17B.« Davies überflog das Blatt und deutete auf den Text. »Das stimmt aber nicht, Corporal. Wenn Sie Fahrzeuge anfordern, gehört die Begründung in das Formblatt SA23 und nicht in 17B. Das müssen Sie wohl noch mal tippen.«

Krack.

»Wie ich sehe, Sir, sind Sie wohlbehalten von Ihrer Mission zurückgekehrt. Willkommen zu Hause.« Banks studierte mit neutraler Miene Formblatt 17B.

Krack.

Der Klapptisch schwankte unter der Wucht, mit der ein »e« in das Papier gestanzt wurde.

»Ich war in London, Corporal. Völlig ungefährlich«, erwiderte Davies. »Ist Colonel Pash da?«

»Jawohl, Sir. Er ist mit Dr. Goudsmit in seinem Büro«, antwortete Banks mehr zu sich selbst, denn Davies hatte bereits an die Tür zum Nachbarraum geklopft und war eingetreten, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Das ist übrigens Captain Carvis, Corporal.« Davies steckte den Kopf noch einmal durch den Türrahmen. »Für ihn brauchen wir die Standardausrüstung: neutrale Uniform, Erste-Hilfe-Paket, Thompson-MP, Sie wissen schon. Danke.«

Davies verschwand, bevor er ausgeredet hatte.

Corporal Banks erhob sich, sah Carvis an und salutierte.

»Willkommen bei Alsos, Sir.«

»Danke. Eine Frage, Corporal. Was ist Alsos?«

Banks setzte sich wieder und starrte feindselig auf die Schreibmaschine.

»Nun kommen Sie schon, Captain«, rief Davies aus dem Nebenzimmer.

»Vor allem eine lange Geschichte, Sir«, sagte Corporal Banks, ohne aufzusehen.

Krack.

III

AACHEN, 21. April 1945, 12:51 Uhr

Colonel Pashs Büro glich einem Archiv. Einem ziemlich unaufgeräumten Archiv, um genau zu sein. Carvis salutierte vor den beiden Offizieren, die sich von ihren Stühlen erhoben, als er durch die offene Bürotür trat. Sein Blick wanderte über den massiven Konferenztisch, der wie eine Trutzburg die Mitte des Büros beherrschte und auf dem sich Fotos, Akten und Karten stapelten. Maschinengeschriebene Protokolle lagen neben ordentlich sortierten Heftern, kaum lesbare Notizzettel bildeten zwischen Luftaufnahmen und technischen Zeichnungen kleine Haufen. Akribisch auf Deutsch beschriftete Aktenordner füllten Holzregale, türmten sich an den Wänden und nahmen jede freie Sitzgelegenheit in Beschlag. Lieutenant Davies lehnte an einem Fenstersims, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

An der Wand gegenüber verdeutlichte eine abgenutzte Europakarte die Kriegslage. Der Frontverlauf im Westen, reduziert auf einen banalen blauen Bindfaden, sprang von Stecknadel zu Stecknadel, von Holland bis zur Elbe, und zerteilte, was ursprünglich tausend Jahre währen sollte. Carvis’ Blick suchte automatisch Berlin, das durch eine weitere, von Osten kommende Schnur – diesmal in passendem Rot – bedrohte wurde. Das Großdeutsche Reich bestand nur noch aus ein paar von Bindfäden umzingelten Flecken.

»Captain, ich bin Colonel Pash«, stellte sich der größere der beiden Offiziere vor. »Das hier neben mir ist Dr. Samuel Goudsmit. Lieutenant Davies kennen Sie ja schon. Schön, dass Sie endlich hier sind. Nehmen Sie Platz.«

Der Colonel war riesig. Ein Baum von einem Mann mit Schultern, für die das Wort »breit« nicht annähernd ausreichte. Die großen Ohren und die dominante Nase verliehen seinem Gesicht einen etwas einfältigen Charakter, aber Carvis merkte sofort, dass dieser Anschein täuschte. Goudsmits Züge wirkten dagegen sanft, geradezu weich. Ein Eindruck, den das schwarze gewellte Haar verstärkte. Seine Offiziersuniform wirkte fehl am Platz, wie eine Verkleidung.

Pash nahm einen Stapel Aktenordner von einem Holzstuhl, warf die Papiere auf den Besprechungstisch und schob Carvis den Stuhl zurecht.

Carvis setzte sich und spürte ein deutliches Unbehagen. Er hatte sich im Stab der 5. Armee eingerichtet, um dem Krieg und seinen inneren Dämonen zu entgehen. Doch er war sicher nicht hier, damit das so blieb.

»Ich hoffe, Ihre Verletzungen sind gut verheilt? Sind Sie wieder voll einsatzbereit?« Pash setzte sich Carvis gegenüber und legte einen hellbraunen Hefter mit dem Aufdruck Geheime Reichssache vor sich auf den Tisch.

»Jawohl, Sir, danke der Nachfrage. Ich bin wieder gesund und munter.« Zumindest fast, schoss es ihm durch den Kopf, als er an den Schwächeanfall während der Verfolgung der blonden Frau in London dachte.

»Also, Sir, warum bin ich hier und nicht auf dem Truppentransporter nach Livorno?« Carvis sah zu, wie Pash fünf Fotografien aus dem Hefter nahm.

Pash antwortete nicht. Stattdessen blätterte er die Fotos vor Carvis auf die Tischplatte, als würde er ein Full House beim Pokern aufdecken.

»Kennen Sie diese Männer?«

»Sir, Sie haben mich nicht ernsthaft von England hierhergebracht, um mir Bilder zu zeigen?«

»Doch. Bevor wir Ihnen Ihre Aufgabe erklären, müssen wir prüfen, ob Sie uns überhaupt helfen können. Also, wer sind diese Männer? Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

Pash nahm das erste Foto und drückte es Carvis in die Hand. Carvis sah es sich gar nicht erst an, sondern warf es wieder auf die Tischplatte.

»Nein, Sir. Ich habe genug von Ihrer Geheimniskrämerei. Sie haben mich hierhergeschleppt, und ich will wissen, warum.«

»Vorsicht, wenn Sie nicht kooperieren, werden Sie zur Küstenwache nach Alaska versetzt.« Davies lachte.

»Captain, wenn Sie uns nicht helfen können, fliegen wir Sie nach Italien, und Sie können die Kapitulation der Nazis mit Ihren Kameraden feiern«, meldete Goudsmit sich erstmals zu Wort. Seine Stimme hatte den gleichen sanften Ausdruck wie sein Gesicht. »Und natürlich werden Sie vergessen, dass Sie hier waren. Bitte betrachten Sie die Bilder.«

Carvis warf einen Blick auf die Fotos. Männer mittleren bis höheren Alters lächelten in Gruppen vor altehrwürdigen Backsteingebäuden in die Kamera. Graue, blaue und schwarze Anzüge wechselten einander ab, einige ihrer Besitzer hatten ein rotes Filzstiftkreuz neben dem Kopf. Carvis erkannte sie sofort. Die Gesichter stammten aus einer Zeit, als Politik für ihn noch keine Rolle gespielt hatte. Obwohl sich schon damals Berge dunkelster Wolken am Horizont aufgetürmt hatten. Er hätte nur hinsehen müssen.

»Diese Herren kenne ich.« Er schob vier Fotos zur Seite.

»Sicher?«, fragte Goudsmit.

»Ja, absolut.«

»Gut, wer sind die Männer?«

»Werner Heisenberg«, Carvis tippte mit dem Zeigefinger auf das erste Foto. »Der beste theoretische Physiker weltweit – falls er noch am Leben ist. Erhielt 1932 den Nobelpreis für die Entdeckung der Quantenmechanik. Auf dem zweiten Bild ist Carl Friedrich von Weizsäcker, Heisenbergs Schüler und eine Kapazität in Atomphysik. Beide habe ich bei Vorträgen im Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik getroffen, als ich in Berlin studierte.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen warf Goudsmit Pash einen Blick zu.

»Okay, weiter.«

»Nummer drei ist Kurt Diebner, Professor für Physik«, fuhr Carvis fort. »Universität Leipzig, glaube ich. Zumindest vor dem Krieg. Ihn habe ich nicht persönlich kennengelernt.«

Carvis nahm das vierte Bild und betrachtete es intensiv.

»Dafür kenne ich diesen Herrn sehr gut. Paul Bergmann, Professor für Angewandte Physik an der Universität Berlin. 1936/37 habe ich seine Vorlesungen gehört. Einmal im Jahr gab er in seinem Haus am Wannsee ein Fest für ausländische Studenten und Gastprofessoren. Eine tolle Party.«

Carvis machte eine Pause und sah Goudsmit an.

»Und da Sie, Doktor, auf dem ersten Bild in dem weißen Anzug links neben Heisenberg stehen, fällt mir jetzt auch wieder ein, woher ich Ihren Namen kenne. Sie haben mit siebenundzwanzig Jahren den Elektronenspin entdeckt und passen daher sehr gut in diese Riege. Wenn Sie diese Männer persönlich kennen, Doktor, was wollen Sie dann von mir?«

Goudsmit rieb sich mit der flachen Hand über die rechte Wange, die mit schwarzen und weißen Bartstoppeln bedeckt war, und verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Bitteres gebissen.

»Natürlich kenne ich Werner Heisenberg, Captain«, erwiderte er. »Und auch von Weizsäcker. Wir waren vor dem Krieg befreundet. Aber darum geht es nicht. Entscheidend ist, wie gut Sie Bergmann kennen, denn ihm bin ich nie begegnet.«

»Was ist mit dem Mann auf dem fünften Bild?«, fragte Pash.

Carvis kniff die Augen zusammen und sah sich das letzte Foto noch einmal genau an. Im Gegensatz zu den anderen war es aus großer Distanz aufgenommen und stark vergrößert worden: Es zeigte einen Wehrmachtsoffizier, der in kniehohem Gras neben einem zerstörten T34-Panzer stand. Sein Gesicht war in der groben Körnung kaum auszumachen, aber er schien zu lachen. Auf der Rückseite stand in schwarzer Tinte WalterHeinrich,Kursk, 1943.

»Diesen Mann kenne ich nicht. Allerdings ist das Gesicht auch ziemlich unscharf. Das ist kein Physiker, oder?«

»Captain«, fragte Goudsmit, »glauben Sie, dass Sie Paul Bergmann wiedererkennen würden? Nach den vielen Jahren? Sicher hat er sich im Krieg verändert.«

Carvis sah die buschigen Augenbrauen und den weißen Kinnbart vor sich. Das pausbäckige Gesicht und den mit gutem Essen verwöhnten Bauch, der über den Gürtel quoll und in der Vorlesung bebte, wenn Bergmann vor der Tafel dozierte. Seine im Schritt grundsätzlich zu eng geschnittenen Anzughosen hatten ihm in Studentenkreisen den Spitznamen »Kneifzange« eingebracht.

»Ich denke schon«, antwortete Carvis. »Ich habe Bergmann über ein Jahr fast täglich gesehen, war mit seinem Sohn Anton und seiner Tochter Lotte befreundet.« Und mit Lottes bester Freundin Anna sogar mehr als das, schoss es ihm durch den Kopf.

»So, aber nun reicht es.« Carvis schlug mit der Hand auf den Tisch. »Jetzt sind Sie dran! Warum bin ich hier?«

»Davies, holen Sie Major Kelley«, sagte Pash, ohne auf Carvis einzugehen. Der Lieutenant stieß sich vom Fenstersims ab und verschwand durch die Bürotür.

»Captain, entschuldigen Sie die Fragerei«, begann Goudsmit. »Aber wir mussten sicherstellen, dass Sie Professor Bergmann wirklich erkennen, wenn Sie ihm begegnen.«

»Begegnen? Wo denn? Ist er auch hier?«

»Nein. Paul Bergmann ist in Berlin, und wir möchten, dass Sie ihn dort abholen.«

»Abholen?«, fragte Carvis. »In Berlin?«

»Ja, und zwar morgen Abend.«

IV

BERLIN-SCHÖNEBERG, 21. April 1945, 13:03 Uhr

»Wir sind schon wieder zu spät.« Paul Bergmann erboste sich in der ihm eigenen, pikierten Entrüstung. »Der Führer hasst Unpünktlichkeit. Wie oft muss ich das noch sagen?«

Major Walter Heinrich starrte den Professor wortlos von der Seite an und wartete auf den nächsten Satz. Endlose Reihen vier- bis fünfstöckiger Appartementhäuser flogen vorbei. Die rauschende Fahrt mit offenem Verdeck übertönte für den Moment das herankriechende Wummern der Front. Fast wie ein normaler Frühlingstag vor dem Krieg, dachte Heinrich. Fast.

»Wenn deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit und Fleiß nicht mehr geachtet werden«, sagte Bergmann, »dann ist es keine Überraschung, dass das Reich …«

In diesem desolaten Zustand ist, vollendete Heinrich den Satz in Gedanken und rutschte schon mal auf dem Rücksitz der Mercedeslimousine ein Stück nach vorne. Jeden Tag das gleiche Theater.

»… in diesem desolaten Zustand ist. Major Heinrich, wenn wir zu spät sind, werde ich Sie persönlich beim Führer verantwortlich machen.«

Heinrich beugte sich vor und legte dem Fahrer die Hand auf die Schulter.

»Fahren Sie schneller, Reske, wir sind spät dran. Wissen Sie, der Führer hasst Unpünktlichkeit.«

»Ewiges Gequengel«, erwiderte Reske kaum hörbar. »Gestern waren wir pünktlich, und Bergmann musste zwei Stunden warten. Genau wie vorgestern.«

Trotzdem trat er das Gaspedal durch, sodass der schwarze Mercedes ohne Verzögerung beschleunigte. Heinrich klopfte Reske auf die Schulter und lehnte sich wieder in die dunklen Lederpolster. Neben ihm verschränkte Professor Paul Bergmann – die letzte Hoffnung des Führers – triumphierend die Arme vor der Brust und nickte selbstgefällig.

»Sehen Sie, Major, geht doch.«

Aufgeblasener Wichtigtuer, dachte Heinrich. Unsere Welt stürzt in Trümmer, und er sorgt sich um Pünktlichkeit. Aufpasser, Kindermädchen und Chauffeur für diesen bornierten Physikprofessor zu spielen, ihn durch die Gegend zu kutschieren und abends praktisch zuzudecken, kostete einige Nerven. Aber immer noch besser als ein Frontkommando in einem Kellerloch am Stadtrand. Und glücklicherweise war Martin Reske mit von der Partie.

Heinrich kannte Reske seit dem Tag im Juni, an dem sich der schlaksige Gefreite bei ihm als Fahrer und Offiziersbursche gemeldet hatte. Zwei Tage später hatten sie vor dem Morgengrauen als erste deutsche Soldaten die russische Grenze überschritten. Ohne Einladung, aber mit drei Millionen Mann im Rücken und einem Kameramann der Wochenschau an der Seite. Doch die Euphorie der ersten Monate Blitzkrieg war irgendwo in Weißrussland im Schlamm versunken oder in der Ukraine im Schnee erfroren. Heinrich wusste es nicht mehr so genau. In den Jahren danach hatte er zuerst eine Infanteriekompanie kommandiert, dann ein Panzergrenadierregiment und auf dem eisigen Rückzug im Winter 1944 noch eines. Und alle bis auf den letzten Mann verloren. Mit Ausnahme von Reske.

»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, riss ihn der Gefreite aus seinen Tagträumen und zeigte auf einen Konvoi auf der Gegenfahrbahn. Reskes penetrantes Überleben militärischer Katastrophen hatte in ihm einen gewissen Zynismus gegenüber Hierarchien und Kommandostrukturen geweckt. Abgesehen von Heinrich, lösten Vorgesetzte jeden Dienstgrades bei ihm eine destruktive Grundhaltung aus, die er gerne auf Bergmann ausdehnte. Der Professor war zwar Zivilist, aber in diesem Fall machte Reske eine Ausnahme.

Angeführt von einem weißen Opel-Cabrio, standen drei Krupp-Lkw auf der anderen Straßenseite am Fahrbahnrand. Aus der aufgeklappten Motorhaube des ersten Lasters quirlte weißer Dampf, während Soldaten flache Holzkisten von der Ladefläche hievten und auf die beiden anderen Lkw verteilten.

»Das ist schon der dritte Konvoi für heute«, bemerkte Reske und bremste. »Sieht aber so aus, als ob sich zumindest der erste Laster diesem strategischen Rückzug verweigert.«

Im Schritttempo rollte der Mercedes auf die Kolonne zu. Im Fond des Opel stand ein Funktionär in brauner Parteiuniform und ermahnte zwei Soldaten, die umständlich eine lange Teppichrolle auf den Beifahrersitz schoben.

»Ein Fernmeldetrupp des Propagandaministeriums.« Heinrich zeigte auf den Wimpel am Kotflügel des Opel.

»Mit kriegswichtigem Gerät«, ergänzte Reske und nickte der jungen Blondine zu, die neben dem Parteibonzen auf dem Rücksitz saß und konzentriert die schwitzenden Soldaten um sie herum ignorierte.

»Wer hat eigentlich gesagt, dass Sie langsamer werden sollen, Gefreiter?«, bellte Bergmann. »Hören Sie auf zu glotzen, und fahren Sie weiter, Mann!«

»Zu Befehl, Herr Professor.« Reske bremste noch mehr und winkte im Vorbeirollen der Blondine zu, die schnaubend den Kopf herumwarf und in die andere Richtung starrte. Der Parteibonze riss entrüstet die Augen auf und gab einen spitzen Ton von sich. Heinrich wusste, dass es Zeit war zu verschwinden.

»Fahren Sie schneller«, befahl er. »Sofort!«

Reske beschleunigte. Der Mercedes sprang vorwärts und rauschte an dem letzten Lkw vorbei.

»Das war ein ganz unerhörtes Verhalten«, zeterte Bergmann. »Absolut inakzeptabel. Major, ich bin äußerst verwundert, dass Sie diese Frechheiten tolerieren.«

Reske öffnete den Mund und holte Luft.

»Schon gut, Gefreiter«, sagte Heinrich, bevor Reske sich um Kopf und Kragen reden konnte. Man darf das Glück nicht unnötig herausfordern, dachte er und sah die vielen Kellerlöcher vor sich, die im Osten Berlins zu besetzen waren.

»Der Führer«, hob Bergmann an, »hat Ministerien und Stäben die Erlaubnis erteilt, Berlin zu verlassen. Obwohl er natürlich festen Glaubens ist, dass die Bolschewiken die Hauptstadt niemals, aber auch niemals einnehmen werden. Dass er den Kommunisten überhaupt erlaubt, so weit vorzudringen, ist Teil seines genialen Plans, die Rote Armee tief in die Stadt zu locken. Um sie dann im Häuserkampf und mit den neuen Vergeltungswaffen ohne Gnade zu vernichten. Je mehr uns in die Falle gehen, desto besser.«

»Woher haben die Ministerien denn den Treibstoff zum Evakuieren?«, fragte Heinrich, obwohl er die Antwort kannte. »Unsere Panzer laufen mit Holzvergaser, und die Feuerwehr löscht mit Handpumpen. Aber Goebbels’ Fernmeldefritzen haben genug Benzin, um Teppiche und Bilder aus der Stadt zu schaffen.«

Der Professor zögerte kurz und sah Heinrich irritiert an. Doch wie ein Tänzer, der nur kurz aus dem Takt gekommen war, fing er sich und fand in sein altes Muster zurück.

»Auch wenn Sie es nicht verstehen, Major, der Führer weiß, was er tut. Wichtig ist, dass dieser Ballast, diese nutzlosen Anhängsel für die finale Schlacht um Berlin aus dem Weg sind. Nur Kampftruppen bleiben in der Stadt und fügen den Kommunisten ihre größte, die vernichtende Niederlage zu.«

Bergmann sah Heinrich überlegen an und nickte zufrieden. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

Der Mercedes nahm wieder Geschwindigkeit auf und folgte der Potsdamer Straße bis zu einer Bombenschneise, die sich wie eine offene Wunde durch die Appartementhäuser zog. Als wäre einem Riesen ein übergroßer Hammer aus der Hand gerutscht und auf die Gebäude gefallen. Auf Blumenkästen, schmiedeeiserne Balkongitter und weiße Gardinen, die aus offenen Fenstern wehten, folgten pulverisiertes Mauerwerk und zerfetzte Existenzen. Rauchschwaden trieben ziellos über Berge aus Schutt, und ein staubiges Kratzen verdrängte die Frühlingsluft im Hals. Als würden die Trümmer bluten, strömte graues Wasser auf die Straße, sammelte sich in einer Kuhle und lief über den Rinnstein davon. Suchmannschaften wimmelten über den Schutt und gruben mit Schaufeln und Eisenstangen nach Überlebenden. Eine hellgrüne, mit Sonnenblumen bemalte Kinderkommode lag verkehrt herum auf dem Asphalt, die dünnen Füßchen in die Luft gestreckt, als hätte sie jemand hastig abgestellt und vergessen.

»Verdammte Luftterroristen«, stieß Bergmann hervor. »Aber ihr kriegt eure Lektion, wenn wir mit den Bolschewiken fertig sind.«

»Achtung, Straßensperre«, warnte Reske.

Dort, wo eine eingestürzte Hausfassade die Fahrbahn verengte, blockierte ein mobiler Kontrollpunkt der SS die Durchfahrt. Stacheldrahtverhaue kanalisierten den Verkehr, zwängten Fahrzeuge und Fußgänger in Warteschlangen, und die SS schwärmte durch den Rückstau. Ein Junge in schwarzer Uniform rannte die Schlange entlang und blieb neben dem Mercedes stehen, den rechten Arm demonstrativ auf der umgehängten Maschinenpistole. Heinrich schätzte ihn auf fünfzehn, maximal sechzehn Jahre.

»Soldbücher, Ausweise, Passierschein. Wohin geht’s?«

»In die Wilhelmstraße, zur Reichskanzlei. Können Sie nicht grüßen?«, pflaumte Heinrich ihn an.

»Natürlich, Herr Major. Heil Hitler.«

»Heil Hitler«, antwortete Bergmann.

Heinrich klappte eine schwarze Ledermappe mit vergoldetem Hakenkreuzemblem auf und nahm einen Papierbogen heraus.

»Unser Passierschein.«

»Vom Führer persönlich unterzeichnet«, ergänzte Bergmann.

»Aha. Trotzdem will ich beide Soldbücher und Ihren Ausweis sehen.« Der Junge überflog den Passierschein. »Wir suchen Deserteure, die sich unter die Flüchtlinge aus dem Osten gemischt haben. Drückeberger, die sich ihrer Pflicht am Führer entziehen. Und wir sammeln Männer für den Endkampf.«

»Wir sind spät dran, und der Führer verabscheut Unpünktlichkeit«, murmelte Bergmann, als er seinen Ausweis aus der Innentasche seines Jacketts zog. »Sie werden sehen, dass er …«

»Ihr Passierschein ist nicht gültig!«

»Was? So ein Blödsinn!«, brauste Heinrich auf. »Natürlich ist er das. Schauen Sie sich doch die Unterschrift an.«

»Ihr Schein ist fünf Tage alt und damit nicht gültig! Sie brauchen einen tagesgültigen Passierschein mit einem Ausstellungsdatum von heute. Zu welcher Einheit gehören Sie?«

»Natürlich ist der Schein ein paar Tage alt«, antwortete Heinrich. »Ausgestellt von Generalfeldmarschall Keitel zur freien Bewegung in Berlin, unterschrieben vom Führer und unbefristet gültig. Was wollen Sie mehr?«

»Herr Major, Militärpersonal braucht Passierscheine mit aktuellem Tagesdatum. Befehl von heute Morgen. Wohin wollen Sie, und wo steht Ihre Einheit?«

»Wir sind direkt dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellt und fahren …«

»Wieso haben Sie dann keinen gültigen Passierschein? Steigen Sie aus dem Wagen!«

Der Junge winkte einem Scharführer zu, der auf der anderen Straßenseite neben einem Kübelwagen stand.

»Scharführer, wir haben noch einen!«

»Major Heinrich, wieso wissen Sie das nicht?«, zischte Bergmann. »Das ist Ihre Aufgabe, und jetzt kommen wir endgültig zu spät.«

»Seien Sie still.« Heinrich beobachtete, wie der SS-Unteroffizier mit drei Mann die Fahrbahn überquerte. Langsam zog Reske die auf dem Beifahrersitz liegende Maschinenpistole näher heran.

»Reske, nicht«, flüsterte Heinrich.

»Franz, was ist los?«, fragte der Scharführer.

»Kein gültiger Passierschein, keine Einheit.«

»Gut, sofort alle aussteigen!«

Die SS-Männer umstellten den Mercedes, ihre Maschinenpistolen im Anschlag.

»Jetzt reicht es!« Heinrich schob den Lauf der MP zur Seite, die Franz ihm ins Gesicht hielt. »Der Schein ist gültig! Sehen Sie sich den Stempel an, lesen Sie …«

»Das interessiert mich überhaupt nicht«, brüllte der Scharführer. »Was glauben Sie, wie viele feine Offiziere hier durchkommen. Auf dem Weg nach Westen. Natürlich mit wichtigen Sonderaufträgen und Befehlen, direkt vom Führer, nie um eine Ausrede verlegen. Aber ihr wollt euch nur zum Ami verpissen. Zwei haben wir heute schon erwischt. Wer keinen Passierschein hat, hängt. Und euch Burschen hängen wir gleich daneben. Aussteigen! Aber sofort!«

In einer fließenden Bewegung zog der Scharführer seine Pistole und zielte direkt auf Heinrichs Stirn. Als der Major sich nicht rührte, spannte er mit einem trockenen Klicken den Hahn.

»Wir fahren nach Osten, Scharführer. Nach Osten! Sehen Sie sich den Passierschein an!«

Die Waffe weiter auf Heinrich gerichtet, riss der Scharführer Franz das Dokument aus der Hand und warf einen Blick darauf. Dann sah er von Franz zu Heinrich, von Heinrich wieder zu Franz und ließ die Pistole sinken.

»Du Vollidiot«, raunzte er den Jungen an. »Kannst du nicht lesen? Das ist der Stempel für eine unbefristete Sondererlaubnis.«

Franz schielte auf den Schein. »Aber ich dachte, Befehl von heute Morgen, da dachte ich, alle …«

»Ist schon gut«, sagte der Scharführer. »Hätte sowieso keinen großen Unterschied gemacht. Tut mir leid, Herr Major.« Der Scharführer wandte sich Heinrich zu. »Unser Franz ist manchmal etwas übereifrig.«

»Können wir jetzt weiter?«, erwiderte Heinrich knapp.

Der SS-Unteroffizier zuckte mit den Schultern und ging zur Sperre. »Lasst sie durch!«

Reske fuhr an und passierte den Stacheldrahtverhau. Auf der Gegenfahrbahn stauten sich hoch bepackte Leiterwagen, Pferdefuhrwerke und Handkarren. Dazwischen Frauen und Kinder zu Fuß mit Taschen, Koffern und klobigen Rücksäcken auf dem Rücken. Erschöpfung und Angst klebten an der Menge, wie ein Brandgeruch, der nicht mehr aus den Kleidern geht. Heinrich sah eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, die einen Säugling in einem Tuch umgebunden hatte und einen Bollerwagen mit Koffern und Hausrat zog. Ein vielleicht zwölfjähriger Junge stemmte sich gegen die hölzerne Rückwand. SS-Männer durchkämmten die Menge, wühlten sich auf Fuhrwerken durch Koffer und Bettzeug und sammelten am Straßenrand einen traurigen Haufen Pimpfe und Greise. Entweder weiße Barthaare oder gar keine, dachte Heinrich. Am gusseisernen Tor einer Einfahrt baumelten einige Soldaten und zwei Offiziere mit verdrehtem Genick, die Pappschilder um den Hals penibel mit »Vaterlandsverräter« beschriftet. Die Sonne glänzte auf dem polierten Leder der zusammengebundenen Schaftstiefel eines Hauptmanns. Als ein SS-Mann den Knaben hinter dem Bollerwagen wegzerrte, hielt die junge Frau seinen Ärmel fest. Der SS-Mann drückte sie weg, bis sie mit einem Schrei zu Boden stürzte. Heinrich streckte sich, drehte den Kopf und verlor sie im Gewühl aus den Augen.

Plötzlich schoben sich zwei graue Stabswagen hupend durch die Menge. Wie Eisbrecher drückten sie Menschen und Karren zur Seite. Ein heruntergefallener Koffer platzte wie eine überreife Melone unter einem Vorderrad. Geblümte Frauenkleider und Unterwäsche quollen auf den Asphalt, wurden überrollt und blieben verdreckt und unbeachtet liegen. Auf dem Rücksitz des Führungsfahrzeugs wedelte ein SS-Brigadeführer mit einem Papier aus einer Ledermappe, verziert mit vergoldetem Hakenkreuzemblem, und wurde an der Sperre durchgewunken.

Reske fuhr die Betonrampe zur Tiefgarage der Reichskanzlei hinunter und bog mit Schwung auf die Parkebene ein. Obwohl viele Stäbe und Ministerialabteilungen Berlin mit Hitlers Erlaubnis verlassen hatten, belegten immer noch etliche Stabs- und Kommandofahrzeuge die einzelnen Parkbuchten. Der Gefreite schwenkte auf einen freien Platz, bremste und stellte den Motor ab. Wortlos stieg er aus und knallte die Fahrertür zu.

Heinrichs Schritte hallten hohl durch das Betongewölbe, als er mit Bergmann zum Durchgang lief. Zwei schwarz uniformierte SS-Wachen rahmten die massive Stahltür ein, die von der Tiefgarage in die Reichskanzlei führte. Hinter einem Stehpult sah ein Sturmbannführer Heinrich und Bergmann entgegen. Der erste Sicherheitskreis.

»Major Walter Heinrich mit Professor Paul Bergmann zum Führer.« Heinrich legte sein Soldbuch und Bergmanns Ausweis auf das Pult. »Professor Bergmann hat einen Termin.«

Der SS-Offizier fuhr mit dem Zeigefinger eine Liste entlang, nickte und hakte zwei Namen ab.

»In Ordnung«, sagte er. »Sie können durch. Direkt hinter der Tür ist eine Garderobe, dort geben Sie Ihre Waffe ab. Ihre Taschen werden durchsucht.«

»Ich weiß.« Heinrich winkte Bergmann.

»Sie können sich Zeit lassen«, sagte eine Stimme von der Seite. Einige Meter neben dem Pult stand ein weißhaariger Oberst und zog an einer verschrumpelten Zigarette. »Drinnen ist dicke Luft. Die Lagebesprechung läuft noch, und der Führer ist wieder mal am Toben. Das wird noch dauern.«

»Mein Termin ist um 13:30 Uhr.« Bergmann schaute auf seine Armbanduhr. »Das ist in sieben Minuten. Der Führer hasst Unpünktlichkeit.«

»Ich sollte dem Führer schon vor einer Stunde über die Aufstellung neuer Volkssturmeinheiten berichten«, erwiderte der Oberst. »Tut mir leid, Sie werden wohl warten müssen.«

V

AACHEN, 21. April 1945, 13:49 Uhr

»Nach Berlin?« Carvis sah Goudsmit an, als wäre der Doktor plötzlich grün und hätte mit einer langen Zunge die Fliege am Fenster geschnappt, die mit selbstmörderischem Elan gegen die Scheibe knallte.

Goudsmit und Pash nickten gleichzeitig.

»Das ist ein Test, oder?«, fragte Carvis. »Ich meine, wer will freiwillig nach Berlin?«

»Nein, Captain. Dies ist kein Test«, antwortete Goudsmit. »Wir möchten, dass Sie Paul Bergmann in Begleitung einer Kommandoeinheit aus Berlin rausholen.«

»Aber warum zum Teufel ist Bergmann so wichtig?«

»Wussten Sie, dass die Nazis an einer Atombombe arbeiten?«

»Nicht direkt«, antwortete Carvis, »aber es liegt auf der Hand.«

»Wieso?«

»Weil Deutschland am Anfang des Krieges die besten Voraussetzungen für ein Uranprojekt hatte. Ich war 1936/37 am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und habe dort die internationale Ausnahmestellung der deutschen Naturwissenschaftler miterlebt.«

»Sie waren damals an der Universität eingeschrieben, richtig?«, fragte Goudsmit.

»Ja. Ich habe als Gaststudent Physik-Vorlesungen besucht und Praktika gemacht. Das erste Mal hat mich Paul Bergmann ans Kaiser-Wilhelm-Institut mitgenommen. Dort gab es regelmäßige Vortragsreihen, auch für Gäste. Die haben wir uns angehört. Später habe ich zusätzlich Seminare und Kolloquien am KWI belegt.«

»Warum?«

»Waren Sie schon mal dabei, wenn sich zwei Nobelpreisträger streiten? Das ist unglaublich, da kriegen Sie Gänsehaut. Ich habe drei Reihen hinter Max Planck gesessen, als er mit Werner Heisenberg über die Berechnung von Quantenenergien diskutierte. Da lagen zehntausend Volt in der Luft. Das waren Diskussionen auf allerhöchstem Niveau. Berlin war vor dem Krieg eine weltweit anerkannte Hochburg für Kernphysik, der Kontakt zu diesen Wissenschaftlern hat mich unheimlich begeistert.«

»Das klingt ja fast wehmütig.« Pash runzelte die Stirn. »Wie können Sie so fasziniert gewesen sein, Captain? Das waren doch Nazis. Die haben zugesehen, wie ein paar Jahre vorher ihre jüdischen Kollegen verjagt wurden. Forscher mit höchsten Auszeichnungen, Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg, vom braunen Mob aus ihren Büros geprügelt.«

Carvis rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ich will niemanden verteidigen, Colonel Pash, aber Politik wurde unter den Wissenschaftlern nicht diskutiert. Da herrschte extreme Zurückhaltung. Alle waren sehr vorsichtig, viele hatten Angst.«

»Und etliche haben mitgemacht und sich parteitreu einen schönen Institutsposten gesichert, als ihre langjährigen Freunde und Weggefährten rausgeschmissen wurden«, warf Pash ein. »Wir haben mit Albert Einstein, Hans Bethe und anderen emigrierten Wissenschaftlern gesprochen. Die Empörung über das Vorgehen der Nazis gegen die jüdischen Physiker hielt sich bei den nicht betroffenen Kollegen in Grenzen. Aber gut für uns. Viele sind in die USA geflohen und haben den Krieg auf unserer Seite gegen Deutschland unterstützt.«

»Ich sage nur, dass es sehr anregend war, mit diesen Spitzenforschern zu diskutieren, ihnen zuzuhören, ihren Gedankengängen zu folgen. Das war eine extrem produktive Atmosphäre. Dauernd präsentierte jemand neue Ergebnisse. In einem Kolloquium referierte Otto Hahn über chemische Elemente aus radioaktiven Zerfallsreihen. Als er auf Strahlungseffekte einging, sagte Lise Meitner in ihrem österreichischen Akzent: ›Hähnchen, das ist Physik. Davon verstehst du nichts.‹ Stellen Sie sich das mal vor. Ich war so dicht dabei, ich hätte sie an den Haaren ziehen können. Zwei Jahre später entdeckten beide die Kernspaltung und veränderten damit die Welt.«

»Da waren Sie allerdings nicht mehr in Berlin, korrekt?« Goudsmit blätterte in einer Akte und sah hoch.

»Ich bin im Sommer 1937 an die Universität in Vermont zurückgekehrt. Aber natürlich habe ich Fachjournale gelesen und die Entwicklung in Berlin verfolgt. Ich wäre gerne dabei gewesen, das muss ein ganz besonderer Moment gewesen sein.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Carvis fort. »Na ja, danach kamen Schlag auf Schlag immer neue Entdeckungen. Frédéric Joliot-Curie fand heraus, dass bei der Spaltung eines Uranatoms Neutronen entstehen, die weitere Kernspaltungen auslösen können. Jeder Atomphysiker, der bis drei zählen konnte, erkannte sofort die fantastischen Energiemengen, die bei einer solchen Kettenreaktion frei werden. In den Publikationen wurde viel über die mögliche Nutzung der Kernspaltung in Maschinen oder Waffen nachgedacht. Da ist doch ganz klar, dass viele Regierungen – auch die deutsche – Forschungsprojekte aufsetzten, um zuerst über diese neue Waffe zu verfügen.«

»Richtig«, sagte Goudsmit. »Und wie ist das Uranprojekt der deutschen Physiker ausgegangen?«

Carvis zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Doktor. Wie denn?«

»Genau das war unser Problem bei Ausbruch des Krieges«, erwiderte Goudsmit. »Wir wussten es nicht. Die Deutschen, die Russen, wir alle starteten ein Atomprogramm, und man tauschte sich über Fachzeitschriften und Konferenzen aus. Doch mit Kriegsbeginn war das vorbei, und wir tappten im Dunkeln. Wie weit waren die Nazis mit ihrer Uranbombe? Wer ist an dem Programm beteiligt? Wir waren uns nur sicher, dass die Deutschen einen Vorsprung haben mussten, weil sie die Kernspaltung entdeckt hatten und über die besten Chemiker und Kernphysiker verfügten. Das war ein Wettlauf, bei dem man nicht weiß, wie nah der Gegner am Ziel ist. Die Atombombe hat eine enorme Detonationskraft. Wer sie zuerst einsetzt, gewinnt den Krieg. Und wir wussten nicht, wie weit die Deutschen waren. Jedoch befürchteten wir das Schlimmste.«

Carvis wurde bleich. »Wollen Sie mir sagen, dass die Nazis die Bombe haben?«

»Nein«, antwortete Goudsmit. »Aber sie wissen, wie man sie konstruiert.« 

Geschockt starrte Carvis den Physiker an und wagte nicht zu atmen. Totenstille verlieh dem Büro die Atmosphäre einer Grabkammer. Carvis packte die Angst. Sie drängte jeden rationalen Gedanken zur Seite und hinterließ eine Leere, von der sofort etwas anderes Besitz ergriff: Panik. Ein Flugzeug donnerte über die Wellblechhütte. Scheiben und Regale wackelten, und Carvis widerstand nur mühsam dem Impuls, unter den Konferenztisch zu springen. Er presste seine feuchten Hände auf die Oberschenkel und spürte die unangenehme Kälte durch den Stoff dringen.

»Sie wissen, wie man sie baut?« Er konnte kaum die stickige Luft atmen. »Sind Sie sicher?«

»Absolut.« Pash erhob sich, nahm einen Aktenstapel vom Fensterbrett und zog beide Flügel auf. Die kühle Luft strich Carvis über das Gesicht. Die Fliege an der Scheibe nutzte die Gelegenheit und entkam in die Freiheit. Carvis schaute ihr nach, bis sie im Grün der Wiese verschwand. Für eine Sekunde sah er sich aufstehen und ihr folgen. Natürlich nicht durch das Fenster, sondern an Private Banks vorbei, aus der Hütte, über das Flugfeld und raus aus dem Stützpunkt. Weit weg. Aber so einfach würde es wohl nicht werden.

»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte er stattdessen.

»Damit wir nicht erst erfahren, wie weit die Nazis mit der Uranbombe sind, wenn sie eine über London oder Moskau abwerfen, haben wir Alsos gegründet. Das ist eine gemischte Einheit der U.S. Army aus Wissenschaftlern und Elitesoldaten. Alsos ist der griechische Ausdruck für ›grove‹, ein Wortspiel unseres Kommandeurs Major General Leslie Groves.«

Pash zuckte mit den Schultern und grinste. »General Groves liebt Wortspiele. Dr. Goudsmit ist der wissenschaftliche, ich bin der militärische Leiter von Alsos. Seit 1943 tragen wir Informationen über den Uranverein zusammen. So nennen sich die deutschen Wissenschaftler, die an Instituten und Universitäten am Atomprogramm forschen. Zuerst war unsere Arbeit wenig ergiebig, doch seit der Invasion haben wir immer mehr Laboratorien der Deutschen eingenommen. Zuerst in Frankreich, dann im Deutschen Reich. Unsere Kommandoeinheiten operieren direkt hinter den Fronttruppen und manchmal auch im feindlichen Hinterland. Lieutenant Davies und seine Männer haben die Universitäten von Heidelberg und Straßburg eingenommen, lange bevor sich reguläre Fronteinheiten zu ihnen durchschlagen konnten.«

»Und dabei haben Sie herausgefunden, dass die Deutschen mit ihrem Bombenprogramm Erfolg hatten?«, fragte Carvis.

»Nein.«

»Nein? Wieso denn nun doch nicht? Sie sagten doch …«

»Ja und nein«, antwortete Goudsmit. »Die Nazis sind mit ihrem Bombenprogramm gescheitert und haben das selbst erkannt, bevor wir auch nur einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt hatten. Letztes Jahr haben wir in Paris französische Physiker befreit, die zur Kooperation mit den Nazis gezwungen worden waren. Nach ihrem Bericht hat Heisenberg persönlich entschieden, das Bombenprogramm aufzugeben.«

»Wir waren natürlich erleichtert und dachten, es bestünde keine Gefahr mehr«, ergänzte Pash.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Carvis. »Woher wissen die Deutschen dann, wie man eine Atombombe baut?«

»Das Deutsche Reich braucht Energie für seine Wirtschaft. Daher wurde das Bombenprogramm in ein Energieprogramm umgewandelt. Energiegewinnung durch Kernspaltung. Ende 1943 arbeiteten Heisenberg und von Weizsäcker im Physikinstitut der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an einem Atomreaktor, in dem eine kontinuierliche, sich selbst tragende Kettenreaktion ablaufen sollte, bei der Unmengen von Energie erzeugt werden.«

»Wegen der Luftangriffe verlegte der Uranverein den Versuchsreaktor in einen Bergwerksstollen im Schwarzwald, nach Haigerloch«, fuhr Goudsmit fort. »Die Experimente wurden fortgesetzt, allerdings ohne Erfolg. Zu Beginn dieses Jahres unterlief einem Techniker ein Fehler bei der Versuchsplanung, und es gab eine Explosion. Ein Teil der Anlage wurde zerstört, der Techniker starb. Aber Heisenberg und von Weizsäcker fanden die Ursache, reparierten die Anlage und wiederholten den Versuch unter kontrollierten Bedingungen – und erzielten einen fundamentalen Durchbruch. Sie bestätigten das Experiment ein zweites Mal und entwickelten es weiter. Anfang April hielten sie das Konzept für den Prototyp einer Atombombe in den Händen.«

Carvis dachte nach. »Wer hat Ihnen das alles so genau erzählt? Haben Sie Haigerloch eingenommen?«

»Nein. Vor drei Tagen haben wir in Leipzig die Arbeitsgruppe von Kurt Diebner interniert, die Teil des Uranvereins ist. Diebner schweigt und sagt kein Wort, aber Wilhelm Fromm, ein Laborant, hat uns bereitwillig alles erzählt.«

»Und Sie glauben ihm?«, fragte Carvis. »Warum sollte er Ihnen helfen? Vielleicht ist alles nur Feindpropaganda?«

»Machen Sie sich mal keine Sorgen«, erwiderte Pash. »Fromm kooperiert. Er hat einen Bruder in der Waffen-SS, der letztes Jahr in Belgien an einem Massaker an amerikanischen Kriegsgefangenen beteiligt war und jetzt selbst in Gefangenschaft ist. Er wird vor ein Militärgericht kommen und zum Tode verurteilt. Wir haben Wilhelm Fromm zugesichert, dass es sich für seinen Bruder positiv auswirken wird, wenn er uns hilft. Seitdem redet er ohne Punkt und Komma.«

»Haigerloch ist also noch in deutscher Hand«, ergänzte Goudsmit. »Von Weizsäcker und Heisenberg haben wir bisher nicht gefasst, sie sind noch dort.«

»Und arbeiten weiter an dem Prototyp?« Die Panik, die kurzzeitig etwas nachgelassen hatte, sprang Carvis wieder an und tobte durch seinen Kopf. Er sah einen deutschen Bomber, eine Dornier, in großer Höhe durch die Wolken fliegen. Unbemerkt. Geschützt von einem Dutzend Jagdflugzeuge. Dem letzten Aufgebot, das die Luftwaffe noch zu bieten hatte. Hoch motiviert, zu allem entschlossen, die Mission wichtiger als die Rückkehr. Und er sah eine einzelne Bombe – DIE Bombe – aus dem Bauch der Dornier taumeln und auf Antwerpen stürzen. Oder London. Oder Rotterdam. Carvis kniff die Augen vor dem imaginären Blitz zusammen und meinte die Hitze der Druckwelle am ganzen Körper zu spüren.

»Wie lange wird es dauern, den Prototyp zu bauen?«

»Etwa sechs bis neun Monate«, antwortete Goudsmit. »So genau können wir das nicht sagen. Das hängt von …«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Die Last, die Carvis empfunden hatte, fiel ab.

Er atmete laut aus und setzte sich aufrecht hin. Der Bomber würde nie starten.

»Die Deutschen haben keine sechs Monate mehr«, sagte er. »Nicht mal vier Wochen, der Krieg ist vorbei! In ein paar Tagen nehmen Sie Heisenberg, von Weizsäcker und den ganzen Verein fest, zerstören den Versuchsreaktor, und der Spuk hat ein Ende. Es wird keine deutsche Atombombe geben. Sehen Sie das denn nicht?«

»Natürlich, Captain«, antwortete Pash. »Danke für den Hinweis. Die Deutschen machen uns keine Sorgen. Darum geht es gar nicht.«

Carvis sah den Colonel verständnislos an. »Worum geht es dann? Sie könnten mir auch einfach alles erzählen und mich nicht ständig raten lassen!«

»Es geht um die Russen, Captain. Die Russen.«

Carvis rollte die Augen und betrachtete Pash, als ob er den Verstand verloren hätte.

»Was haben denn die Russen damit zu tun?«

»Russland und der Kommunismus sind der Feind von morgen.«

»Sind Sie ganz bei Trost? Die Russen sind unsere Verbündeten.«

»Noch. Und nur, weil wir einen gemeinsamen Feind bekämpfen. Wir haben nichts mit den Russen gemeinsam, und wir sind schon gar nicht befreundet. Im Gegenteil. Je näher das Ende der Nazis rückt, umso dünner wird das Band, das uns mit Stalin verbindet. Am Tag der deutschen Kapitulation wird es zerreißen. Glauben Sie mir, Captain. Der nächste Krieg steht schon bevor, und der Gegner wird Russland heißen.«

»Entweder sind Sie verrückt oder ich, aber einer von uns ist es ganz bestimmt.« Carvis schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, was er gerade gehört hatte.

»Sie wollen mir erzählen, Colonel, dass Sie bereits den nächsten Krieg planen, während in diesem noch Menschen sterben?«