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Diese Sammlung von Kurzgeschichten befasst sich mit Angst und Schrecken in den verschiedensten Ausprägungen. Die Erzählungen tauchen ein in den Horror des Erwachsenwerdens, in das Grauen vor übermächtigen Technologien, in die Qualen der Einsamkeit, in den Abgrund des Massentourismus, in den Terror toxischer Beziehungen und die allgemeinen Verwerfungen des Alltags. Die Hauptfiguren dieser Geschichten kämpfen dagegen an mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, doch nicht immer wird das genug sein ... Fünf packende, blutige und beklemmende Geschichten, die gleichermaßen gruseln und nachdenklich stimmen - für die dunklen Stunden des Tages
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2025
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John Greed
IN DEN SCHATTEN
Fünf unheimliche Geschichten
Inhalt
JULI
KATARA
JOHNNY GEHT IN DEN WALD HINEIN
DAS KICHERN IN DEN SCHATTEN
ENDIE
JULI
Die Novembersonne senkte sich schon gegen den Horizont, als Patrick seine kleine Tochter bei den Anderssons ablieferte. Er hatte sie heute etwas früher vom Kindergarten abgeholt, denn Kira Andersson feierte ihren fünften Geburtstag. Patrick war froh, dass er den Nachmittag für sich haben würde; nach dem ganzen Stress von vorhin wäre ein Nickerchen wohl genau das Richtige. Sie beide hatten sich seit dem Umzug noch nicht wirklich heimisch in der neuen Umgebung fühlen können. Als seine Mutter vor fast vier Wochen ins Pflegeheim gekommen war, stand für ihn fest, dass er ihr Haus nicht verkaufen würde. Es war zwar nicht das Haus seiner Kindheit – seine Eltern hatten es erst vor etwa fünfzehn Jahren in einem ruhigen Viertel als „Altersruhesitz“ gekauft – aber er wusste, wie sehr seine Mutter noch immer daran hing. Sie hatte bei jeder Gelegenheit betont, wie gern sie dort lebte. Unvorstellbar, ihr ins Gesicht zu sagen, dass plötzlich fremde Menschen darin wohnen würden. So waren sie schließlich in dem in die Jahre gekommenen Haus eingezogen. Er hatte sich mit Clara so gut eingerichtet, wie es eben ging, nachdem der meiste alte Krempel verschwunden war und Patrick mit der Hilfe eines alten Schulfreundes oberflächlich renoviert hatte. Clara war über das neue zu Hause nicht besonders glücklich, aber das würde sich schon irgendwann geben.
Als er den Wagen durch die kleinen, baumbestandenen Straßen steuerte, in Gedanken schon fast mit einem Tee auf dem Sofa, stahl sich der Schatten einer unliebsamen Erinnerung in sein Bewusstsein. Erst jetzt merkte er, dass er nicht die übliche Route genommen hatte, und mit einem Mal fuhr er über die Kreuzung direkt am Einkaufscenter. Davor lag ein großer Parkplatz, an der Ecke eine Apotheke … Das Bild, das in seinem Kopf aufblitzte, kam zu plötzlich; er riss das Lenkrad rum und brachte den Wagen unsanft auf dem Parkplatz zum Stehen. Hier war es passiert, vor fast elf Monaten, und doch fühlte es sich gerade jetzt an, als müsste er die ganze schlimme Geschichte noch einmal durchleben. Juli.
Er hatte seine Frau vor fünf Jahren bei einem Betriebsausflug seines damaligen Arbeitgebers kennengelernt; sie war als Begleitung eines Kollegen mitgekommen. Diese Art von Veranstaltung hatte er immer gehasst, die aufgesetzte Fröhlichkeit, ein Chef, der sich „locker machte“ und eine zweifelhafte Musikauswahl. Man stand in unfreiwillig entstandenen Grüppchen herum und am Ende gab es doch kein anderes Thema als die Arbeit. Juli hatte ihm auf Anhieb gefallen, weil sie irgendwie anders wirkte, ohne künstliche Feierlaune, keine Fragen nach dem Job, mit ihrer Art immer geraderaus. Und wenn sie lächelte, verspürte er ein warmes Gefühl in der Magengegend. Natürlich hatte er sie auf der Feier nicht angegraben, sie war ja in Begleitung dort. Aber sie hatten sich wunderbar amüsiert, fast den ganzen Abend miteinander geredet, während ihr Freund sich woanders vergnügt hatte. Am Ende blieb es nicht aus, dass sie ihm ihre Nummer gab, und einen Kuss auf die Wange, der etwas länger und intimer als angemessen war. Patrick hatte nicht vorgehabt, bei ihr anzurufen, jedenfalls nicht so bald, obwohl er ständig an sie denken musste und in den letzten Jahren ohnehin häufiger einsam als in glücklicher Zweisamkeit gelebt hatte. Matthias, sein Kollege, schien sich allerdings nicht viel aus der Beziehung zu machen und kam irgendwann mit einer aus dem Büro zusammen; damit war es dann erledigt. Patrick rief bei Juli an und eines führte zum anderen. Sie verbrachten eine aufregende Zeit, zumindest für ihn, weil er so eine Beziehung vorher nicht gekannt hatte. Juli kam ihm manchmal wild und ungebändigt vor, sie hatte ständig verrückte Ideen – einen nächtlichen Freibadbesuch, Sex in der hintersten Ecke eines Kinosaals, ein Wochenende im Sommerhaus irgendwelcher Fremden – und war selten zufrieden, wenn sie nichts unternahmen. Es machte ihm Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Aber bald fand er heraus, dass es da noch die andere Seite gab, die unberechenbare, dunkle Seite – Wutausbrüche, unmögliche Anschuldigungen, Eifersucht. In solchen Momenten wusste er nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Juli hatte ihn bald völlig in der Hand, obwohl ihm das erst viel später bewusst wurde; er konnte ihrem energiegeladenen, starken Wesen einfach nichts entgegensetzen. Als es für ihn immer unerträglicher wurde, versuchte er sich freizukämpfen. Juli konnte erstaunlich zärtlich sein, und seine Vorsätze zerstreuten sich jedes Mal. Bis eines Tages ein wirklich großer Streit losbrach, bei dem er sich alle Mühe gab, am Ende nicht den Schwanz einzuziehen. Diesmal stand es tatsächlich auf der Kippe. Dann wurde sie schwanger, obwohl sie nie über Kinder gesprochen hatten. Das fühlte sich zunächst an wie ein Schlag ins Gesicht; noch nie hatte er sich so verzweifelt gefühlt. Aber es war erstaunlich: Nachdem sie sich irgendwie wieder zusammengerauft hatten, schien das kleine Wesen, das aus ihnen hervorgegangen war, ein Segen zu sein. Solche mütterliche Fürsorge hätte er ihr nie zugetraut, wo nahm sie das plötzlich her? Doch auch diese Phase währte nicht lange, und die postnatale Depression wurde bei ihr zu postnatalem Zorn. Er fand heraus, dass sie ständig irgendwelche Pillen nahm und stellte sie zur Rede. Das gab natürlich wieder Krach. Manchmal schlug sie nach ihm. Einmal sogar nach Clara. Er machte sich Sorgen, wie Clara aufwachsen würde, was für traumatische Erlebnisse sie prägen könnten. Schließlich war die Scheidung der einzige Ausweg, ein furchtbar zermürbender, endloser Prozess, an dessen Ende er das Sorgerecht bekam, und mit Clara in ein Apartment auf der anderen Seite der Stadt zog. Plötzlich war eine riesige Last von ihm abgefallen. Am ersten Morgen in der neuen Wohnung schien das Leben plötzlich wieder voller Möglichkeiten. Von Juli hörte er keinen Ton. Nicht lange nach der Scheidung bekam er ein verlockendes Angebot für einen besseren Job und wechselte die Firma. Für einige Monate lief alles bestens. Bis zu dem Tag, als alles auseinanderfiel.
An jenem Tag war er mit Clara zur Apotheke beim Einkaufszentrum gefahren, um für sie ein Kindermedikament zu besorgen; sie hustete ständig. Als er mit Clara zum Wagen zurückging, den er auf dem großen Parkplatz geparkt hatte, stockte ihm der Atem. Juli stand neben der Fahrertür und sah ihnen entgegen. Sie hatte eine Hand locker in die Hüfte gestemmt. Er fasste die Hand seiner Tochter etwas fester. „Da is Mama“, sagte sie leise. Diese Sache würde er schnell und schmerzlos über die Bühne bringen, Clara sollte hier kein Drama erleben. Festen Schrittes erreichte er den Wagen. Juli grinste ihn an, es lag keine Bosheit in ihrem Ausdruck – alles bestens, sagte ihr Gesicht. Mit ihren kurzen Haaren, dem engen Top und der Cargohose sah sie ein wenig martialisch aus.
„Juli“, begann er.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Hey, ich wollte mal sehen, wie ihr beiden so zurechtkommt.“ Unbeschwerter Tonfall. „Was hast du denn da, ist das ein Hustenmittel für unsere Kleine?“
Unsere Kleine. In ihm regte sich leise Anspannung.
„Bist du krank, meine Süße?“ Clara blieb an seiner Seite, schüchtern wie sie war.
„Juli“, sagte er nochmal, aber sie fiel ihm ins Wort.
„Ich dachte doch nur, wir drei verbringen mal wieder einen schönen Tag zusammen, wie früher. Wie wär das?“ Ihre Stimme klang etwas zu laut.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.“ Er fühlte den Wagenschlüssel in der Hosentasche.
„Was soll das denn heißen?“ Jetzt klang sie eine Spur fordernder, aggressiver. „Findest du nicht, dass ich auch mal das Recht habe, die Kleine zu sehen?“
„Nein Juli, das finde ich nicht. Ich habe das alleinige Sorgerecht für sie bekommen. Du hast keinerlei Ansprüche, und du weißt ganz genau, warum das Gericht so entschieden hat.“ Das war vermutlich nicht besonders schlau, aber die Sätze hatten seinen Mund verlassen, bevor er sich bremsen konnte.
In ihren Augen flammte etwas auf, nur kurz, aber unübersehbar. „Fängst du jetzt wieder damit an? Mit dieser ganzen … Scheiße?“ Das letzte Wort hatte sie voller Hass ausgespuckt. „Ist das echt dein Ernst? Du kommst mir hier mit einem Gerichtsbeschluss? Das da ist meine Tochter.“
„Ich glaube, das ist jetzt genug“, sagte er. „Lass es bitte nicht eskalieren. Denk doch mal an Clara.“
„Was glaubst du, was ich die letzten beschissenen Monate gemacht habe? Was meinst du wohl?“
„Juli, hör zu, ich weiß, dass es sehr unglücklich gelaufen ist, und vielleicht können wir ja irgendwann einmal darüber reden. Wenn Zeit vergangen ist. Aber jetzt …“
„Unglücklichgelaufen?“, äffte sie ihn nach. „Verdammte Scheiße, du blödes kleines Arschloch, du hast mich allein in der Hölle schmoren lassen!“
Clara begann zu weinen. „Das reicht, mach bitte Platz. Wir fahren“, sagte er so beherrscht, wie es ihm möglich war.
Plötzlich stieß Juli einen schrillen Schrei aus, der kaum noch menschlich klang; sie stürzte sich auf ihn. Das traf ihn so unerwartet, dass er hintenüberfiel und mit dem Kopf auf die Betonplatten schlug. Ein dröhnender Schmerz explodierte in seinem Schädel, aber auch noch etwas anderes: glühende Wut. Als er sich halb aufrichtete, war sie wieder über ihm.
„Du blöder Wichser!“ Ihre Gesichtszüge waren ein ständiges krampfhaftes Wechselspiel, die Augen blitzten. Doch jetzt war er auf sie gefasst. Trotz der tanzenden Sterne packte er sie an den Schultern und schleuderte sie von sich herunter. Sie knallte hart gegen die Wagentür. Clara schrie wie am Spieß. Sein Blick fuhr zu seiner Tochter herum, er sah die Tränenströme auf ihren geröteten Wangen. Er musste das schnell beenden. Claras Anblick war kaum auszuhalten. Er wollte Juli vom Wagen wegziehen, um endlich losfahren zu können, fort von diesem kranken Albtraum, da spürte er einen schmerzhaften Stich im Oberschenkel.
Juli hockte noch halb am Boden, mit einer Hand vom Wagen abgestützt. Die andere schien sich in sein Bein verkeilt zu haben. Der plötzliche Schmerz ließ Wahrnehmung und Denkvermögen langsamer arbeiten, und so dauerte es einige Bruchteile länger, bis er erkannte, dass sie etwas – ein Skalpell? – in seinen Oberschenkel gerammt hatte, dessen Griff sie noch in der verkrampften Faust hielt. Es war tatsächlich ein Zeitlupeneffekt, wie er sonst nur in Filmen vorkam – wie sie ihn mit einer Mischung aus Trotz und Genugtuung von unten her anstarrte, zu allem entschlossen, wie er im Augenwinkel Clara wahrnahm, die sich halb hinter das Auto gekauert hatte und ihre Augen zuhielt, während ihre Schreie nur schwach zu ihm durchdrangen.
Dann war der Eindruck vorüber, und alles ging im Gegenteil sehr schnell, aber nicht weniger schmerzhaft weiter. Er schaffte es, sie abermals von sich wegzustoßen, taumelte zurück. Sofort war sie wieder bei ihm. Er schlug nach ihr, traf sie jedoch nicht richtig. Sie prallte mit voller Wucht gegen ihn. Sein linkes Bein gab nach, er ging zu Boden, und nun bearbeitete sie ihn mit dem verdammten kleinen Messerchen, hackte wild nach seinem ganzen Körper. Sie war zwar kein Schwergewicht, aber enorm drahtig, vielleicht sogar noch durchtrainierter als früher, und er selbst nicht gerade eine Sportskanone. Ihr Körper, den er immer so bewundert hatte, wurde zu einer fürchterlichen Waffe. Sein wildes Aufbäumen konterte sie geschickt wie eine Rodeoreiterin. Das Überraschungsmoment hatte ihn geschafft – jetzt war es zu spät, er konnte nur noch versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Überall brannten Wunden, vor allem an den Händen und Armen, mit denen er das Gesicht zu schützen suchte. Blut lief ihm in die Augen, in den Mund, in die Ohren, während die Welt um ihn herum zu einer unwirklichen Hölle aus Schmerzen und Geschrei wurde. Lauf weg Clara, lauf schnell weg, dachte er immer wieder. Er wusste später nicht mehr, ob er es geschrien hatte.
Nach einer Ewigkeit von Minuten oder Stunden wurde Juli plötzlich von ihm weggezerrt, und statt der wütenden Fratze strahlte ihn ein trügerischer Sommerhimmel an. Dann beugte sich eine Polizistin über ihn.
Als der Arzt nach der medizinischen Erstversorgung mit ihm sprach, drückte der schwere Schleier der Schmerzmittel auf seine Sinne, und alles blieb verschwommen und diffus. Es roch nach Jod und Verbandszeug. Er vermied es, in den kleinen Spiegel zu blicken, der in einer Ecke an der Wand hing. Der Arzt bemühte sich, ein Lächeln zustande zu bringen. Patrick wollte nach Clara fragen, aber nichts kam über seine verschorften Lippen, die geschwollene Zunge lag dick und schwer wie ein gestrandeter Wal in seinem Mund. Beruhigende Worte sickerten in seinen Gehörgang – Clara gehe es gut, zum Glück sei er nicht lebensbedrohlich verletzt worden. Vielleicht meinte der Arzt auch jemand anderen, denn er selbst konnte sich nicht vorstellen, diese Dinge wirklich erlebt zu haben. Nach einer Weile ließ der Mann ihn allein in seinem Zimmer zurück, das einen traurigen Ausblick auf den Innenhof des Krankenhauses bot. Patrick dämmerte zwischen Albträumen und Selbstvorwürfen durch den Rest des Tages.
Beim zweiten Mal war es besser, was immer das auch unter diesen Umständen heißen konnte. Der Arzt, Dr. Jacob, erklärte ihm, er habe trotz allem noch eine große Portion Glück gehabt. Das Messer – tatsächlich ein Skalpell – hatte seine Augen mehrmals nur knapp verfehlt, außerdem die Halsschlagader nur angeschnitten. Eine besonders geistesgegenwärtige Polizistin hatte die gefährlichen Blutungen gestoppt, während ihr Kollege die Angreiferin in Schach gehalten hatte, bis endlich der Krankenwagen vorfuhr. Wie es Clara ginge? Wohl den Umständen entsprechend. Da sie keine Kontaktdaten bei ihm gefunden hatten, war sie vorübergehend in der Kinderstation untergebracht worden. Äußerlich fehle ihr jedenfalls nichts. Sie waren noch einmal davongekommen.
Als Patrick nun mit laufendem Motor auf dem Parkplatz stand, überkam ihn ein Zitteranfall, und kalter Schweiß lief ihm in den Nacken. Die größeren Narben an Armen und Gesicht begannen, fürchterlich zu jucken. Eine einzelne Träne lief ihm aus dem Augenwinkel. Dann ging es wieder besser. Er stellte den Motor ab und ging rüber zum Coffeeshop, der neben der Apotheke aufgemacht hatte. Ein Whisky wäre jetzt wohl das Beste, dachte er, aber Espresso tut’s auch. Es war das erste Mal, dass er so intensiv von der Erinnerung an Julis Angriff überwältigt worden war. Der Arzt hatte ihm damals angeboten – sogar dazu geraten –, neben der medizinischen auch psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, worauf er allerdings nicht eingegangen war. Dr. Jacob hatte gemeint, ein solches Erlebnis könne auch später noch unerwartet posttraumatische Schockzustände auslösen. War es das hier, wovon er da gesprochen hatte? Patrick stürzte das bittere Heißgetränk herunter, kaufte beim Rausgehen noch eine Tageszeitung und setzte sich wieder in den Wagen. Alles war gut. Kein Grund zur Sorge. Vielleicht war es sogar positiv, dass er sein Erlebnis ein zweites Mal an diesem Ort durchlebt hatte, er fühlte sich jetzt irgendwie besser, leichter. Er sah auf die Uhr: 16:40. Noch immer Zeit für eine Stunde Entspannung.
Juli war nach der Tat festgenommen worden und vor Gericht gekommen. Der Richter hatte seinen Spielraum im Falle schwerer Körperverletzung und versuchtem Totschlag voll ausgenutzt und sie zu drei Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Weil sie bereits vor der Tat unter psychologischer Behandlung gestanden hatte, wurde sie in eine geschlossene Abteilung für psychisch kranke Gewalttäter eingewiesen. So seltsam es auch war, Patrick verspürte, nachdem das Schlimmste vorüber war, keinen Hass mehr auf Juli. Er hatte beschlossen, damit abzuschließen und mit Clara neu anzufangen. Die Kleine war mittlerweile vier geworden und zeigte erstaunlich wenig Folgeschäden; sie hatte er natürlich zu einer Kinderpsychologin geschickt, die behutsam herausfinden sollte, wie viel von dem ganzen Mist sich in Claras Psyche festgesetzt hatte. Das Ergebnis war jedenfalls relativ beruhigend gewesen, nur in manchen Nächten wachte seine Tochter von Albträumen geplagt auf und konnte nicht mehr einschlafen. Das sei vollkommen normal, versicherte ihm die Psychologin, wichtig sei nun vor allem, dass sie sich gegenseitig so viel Geborgenheit und Zuwendung gaben, wie möglich, zugunsten des beiderseitigen Heilungsprozesses. Seine Narben waren mittlerweile leidlich gut verheilt, nur die tiefen Schnitte an seiner Brust und dem rechten Unterarm hatten wulstige, fettig glänzende Hügel hinterlassen. Manchmal taten sie weh, wie jetzt, nachdem das Jucken vorüber war. Es pochte und glühte.
Er ließ das Auto auf dem Parkstreifen vor dem Haus zum Stehen kommen; dort hatte früher immer der Minivan seiner Eltern gestanden, bis sein Vater gestorben war – seine Mutter hatte nie einen Führerschein machen wollen. Das ohnehin ruhige Viertel lag in nachmittäglichem Schlummer. Er schloss die Tür auf und hängte die Jacke an die Garderobe. Als er den Vorraum durchquert hatte, stockte er kurz. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, ohne dass er wusste, woher es kam. Alles ist in Ordnung, sagte er sich nochmal, wie vorhin auf dem Parkplatz. Juli wird nicht mehr hier auftauchen. Eigentlich kein Wunder, überreizt zu sein, wenn man gerade das schlimmste Erlebnis seines Lebens ein zweites Mal durchgemacht hatte. Wie immer in solchen Momenten tauchte die Frage auf, warum er sich nicht viel früher von Juli hatte lösen können. Aber da war seine Tochter, Clara, sein Ein und Alles, und mehr gab es dazu nicht zu sagen.
In der Küche setzte er den Kessel für einen starken, chinesischen Tee auf. Es war der schwere, altmodische Kessel seiner Mutter, den sie schon von ihrer Mutter übernommen hatte. Noch so ein Relikt, dessen er sich nicht entledigen konnte oder wollte. Ihn störte die Stille im Haus, von draußen war nicht mal ein Auto zu hören und ohne Clara rührte sich auch im Inneren nichts. Er machte das Radio im Wohnzimmer an und ließ sich in den Sessel sinken. Der Rest einer Nachrichtenmeldung zog an ihm vorbei.
… im Grünberg Institut wieder unter Kontrolle. Etwas Derartiges würde sich nicht mehr wiederholen. Die Polizei bittet weiterhin um die Mithilfe der Bevölkerung. Nun zum Wetter …
Sein Herz machte einen Sprung, als er den Namen hörte: Grünberg Institut. Das war die Anstalt, in der sich Juli befand. Was war dort geschehen? Was war mit der Polizei? Er griff hektisch nach der Zeitung, die er vorhin gekauft hatte, blätterte sich zum Lokalteil. Fast hätte er einen Schrei von sich gegeben, als er direkt in die Augen von Juli sah. Es war ein wenig vorteilhaftes Schwarz-Weiß-Foto, wahrscheinlich nach ihrer Einlieferung aufgenommen. Der leere Blick, ihr Mund zu einem dünnen Strich reduziert. Wie hatte diese Frau einmal ein Lächeln zustande bringen können, das ihm das Herz erwärmt hatte? Jetzt wurde ihm heiß und kalt zugleich. Konnte das wirklich sein? Was war das heute für ein verfluchter Tag? „Drama in geschlossener Anstalt für Psychopaten“ lautete die wenig subtile Überschrift, darunter nur ein kurzer Bericht. Insgesamt drei Personen waren ausgebrochen, dabei hatten sie einen Wärter getötet und drei weitere schwer verletzt. Eine der Frauen war auf der Flucht erschossen, eine weitere kurz darauf gefasst worden. Auf freiem Fuß befände sich nur noch Juli Schwarz, 31, äußerst gefährlich. Erschreckend sei die kaltblütige Brutalität der drei Frauen gewesen, mit der wohl keiner in der Anstalt gerechnet habe, so der Reporter. Das Pfeifen des Kessels ließ Patrick zusammenfahren. Das Zittern hatte wieder begonnen. Mit einem Mal wusste er, was ihn beim Betreten des Hauses gestört hatte. Ein bestimmter Duft – ein Parfum, das er lange nicht mehr gerochen hatte. Julis Parfum. Vom Flur her, wo eine Treppe in den ersten Stock führte, hörte er ein leises Geräusch, nicht mehr als das Knarren einer Holzdiele. Schweiß lief ihm nun in Bächen übers Gesicht. Besonders schlimm pochte die Stelle am linken Oberschenkel. Er konnte nicht aufstehen. Aber natürlich bildete er sich alles nur ein. Juli würde es nicht wagen, einfach herzukommen. Mit großer Anstrengung rutschte er langsam an die Sesselkante. Sein Blick fiel auf den Sofatisch. Dort lag ein Foto. Er wusste sofort, dass er es dort nicht hingelegt hatte. Es zeigte ihn mit Juli Arm in Arm, im Hintergrund das Panorama von Zelten und Buden – ein Jahrmarkt im Sommer. Sie grinsten beide breit und etwas blöd in die Kamera, die Aufnahme mussten sie selbst mit vor sich gehaltener Kamera gemacht haben. Die beiden Personen auf dem Foto grinsten ihn an; fassungslos starrte er darauf, während ihre Gesichter immer mehr verzerrten Fratzen glichen, deren Münder langsam zerflossen.
„Schön, dass du zu Hause bist.“ Das war von der Tür zum Flur gekommen. Mit aller Macht zwang er sich, aufzustehen und drehte sich herum. Da stand sie, der Kopf war glattrasiert, die Gesichtszüge etwas eingefallen, aber dennoch unverkennbar: Juli. Sie wirkte größer, als er sie in Erinnerung hatte, wie sie da im Türrahmen stand, gerade aufgerichtet, in gespannter Haltung. Ihre Stimme war ruhig und glatt. „Auf diesen Augenblick habe ich gewartet, mein Liebling. Jeden Tag habe ich ihn mir mehr herbeigesehnt. Du glaubst gar nicht, wie einen die Hoffnung am Leben halten kann. Wo ist denn unsere Kleine geblieben?“
„Scher dich aus dem Haus, ich warne dich.“ Das klang sehr viel schwächer als geplant. Sein Hals hatte sich zusammengezogen. „Clara ist nicht hier. Geh jetzt, oder ich rufe die Polizei.“
„Wie unhöflich du mich empfängst. Willst du nicht mal fragen, wie es mir geht? Du siehst eigentlich ganz gut aus.“ Das Telefon stand im Flur. Er kalkulierte die Möglichkeit durch, sie zu überwältigen. Sie sah fit aus, hatte ein geradezu breites Kreuz und federte leicht auf den Fußballen. Sicher hätte er eine Chance, doch nachdem er den Zeitungsbericht gelesen hatte, kam ihm die Vorstellung, sich auf einen Kampf mit ihr einzulassen, zumindest riskant vor. Seine ganze Erfahrung auf dem Gebiet des Nahkampfs erschöpfte sich in einer harmlosen Rangelei während der Grundschulzeit. Er hatte einen Bauchansatz, der seit seinem dreißigsten Geburtstag erstaunlich rasch – wie unliebsamer Besuch – gekommen und geblieben war. Dann erst merkte er, dass sie ihre linke Hand hinter dem Rücken verbarg wie ein Schulmädchen, das ihr Versprechen durch überkreuzte Finger aufheben will. Vielleicht ging es auch anders. Er musste sie überraschen, wie sie ihn damals überrascht hatte. „Du siehst … auch gut aus“, sagte er.
„Danke, sehr aufmerksam von dir. Ich habe jeden verdammten Tag an mir gearbeitet, mich vorbereitet.“
„Worauf?“
„Darauf, dich wiederzusehen, Dummerchen. Ich habe mich fit gehalten, meinen Körper trainiert, auf den du immer so scharf warst. Jeden Morgen nach dem Aufstehen. Jeden Mittag. Abends nach dem Essen. Jeden einzelnen Tag.“
„Gut“, sagte er zögerlich, als ihm nichts Besseres einfiel. Der Kessel in der Küche pfiff heiser im Hintergrund weiter. Ein Gedanke kam ihm, den er aussprach, bevor er sich beherrschen konnte. „Hast du … den Wärter getötet?“
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, kaum merklich. Der Blick blieb ausdruckslos. „Wärter klingt irgendwie nach Zoo, findest du nicht? Weißt du noch, wie wir damals in der Nacht über den Zaun geklettert sind und uns die Tiere angesehen haben? Wie wir im Mondschein Liebe gemacht haben? Ficken war dir ja immer zu vulgär.“
Die Art, wie sie diese Erinnerung hervorholte, verursachte Übelkeit in seinem Magen, doch er ließ sich nichts anmerken. Er machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu.
„Du konntest nicht genug von mir kriegen“, sagte sie, „und jedes Mal, wenn wir später mit Clara durch den Zoo gegangen sind, hast du mir einen verschwörerischen Blick zugeworfen, an der Stelle, wo wir es getan haben.“
Patrick machte noch einen Schritt auf sie zu, hielt dabei ihrem Blick stand.
„Warum hat sich alles so verändern müssen? Was ist passiert? Es war doch alles perfekt – mach noch einen Schritt, du kleiner Penner, und ich schneide dir deine Eier ab!“ Plötzlich war ihr bis dahin so leeres, emotionsloses Gesicht eine Wüste des Zorns. Es gab kein Zurück mehr, er musste handeln. Er stürmte auf sie los, war mit zwei Sätzen bei der Tür. Aber Juli war schnell. Geschickt trat sie einen Schritt nach hinten, in den Flur hinaus. Sie riss den Ellbogen hoch, als er ihr entgegenkam. Der Schlag traf ihn an der Schläfe. Sie gab ihm einen Tritt, durch den er gegen das Treppengeländer flog. Er hielt sich daran fest, bevor er zu Boden sacken konnte. In seinem Mund schmeckte er Blut. Dieses Mal nicht, du Schlampe, dachte er verbissen. Neben ihm stand eine alte Vase auf einem Tischchen, die griff er sich und schleuderte sie nach Juli. Wieder war sie etwas zu flink für ihn, sie wich elegant zur Seite aus, so dass die Vase sie nur an der Schulter traf, bevor sie am Boden in tausend Stücke zerbarst. Juli schien es kaum gespürt zu haben. Eine Hand packte ihn hart am Hals, er wurde über das Geländer gebogen. Er dachte an ihre hinter dem Rücken verborgene Hand. Sie hat wieder ihr verdammtes Skalpell dabei. Wenn sie ihn damit erwischte, war es vorbei. Er schlug ihr hart in die Seite, und als sie daraufhin kurz den Griff am Hals lockerte, stieß er sie mit einem Schrei und der ganzen Kraft der Verzweiflung von sich. Sie stolperte zurück ins Wohnzimmer und fiel rücklings auf den Tisch, der durch den Aufprall zusammenbrach. Keuchend griff er sich das Telefon in der Diele. Wählte den Notruf. Von hier konnte er nicht ins Wohnzimmer sehen. Es war nichts zu hören, außer dem Kesselpfeifen und leiser Radiomusik aus dem Zimmer. Endlich meldete sich eine Stimme am Apparat. Er verhaspelte sich dreimal, bevor er die Adresse und den Vorfall übermittelt hatte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung bat ihn, dranzubleiben, bis Hilfe eintraf. Er sollte sich am besten an einen sicheren Ort begeben, wo man die Tür verriegeln könne. Hier, am Flurende, gab es nur noch die Tür unter der Treppe, die zum kleinen Keller des Hauses führte. Er hielt sie immer abgeschlossen, damit Clara auf ihren Abenteuerspaziergängen im Haus nicht auf die Idee kam, die steile Kellertreppe hinunterzufallen. Jetzt verfluchte er sich dafür. Aus dem Wohnzimmer kam ein dumpfes Geräusch, als sei etwas auf den Boden gefallen. Er tastete fieberhaft nach dem Schlüssel, der immer oben auf dem Türrahmen lag. Gott sei Dank war er noch dort. Mit zittrigen Fingern schob er ihn ins Schloss. Da spürte er eine Bewegung. Er wirbelte herum. Mit einem Satz sprang Juli auf ihn zu, und jetzt sah er, was sie die ganze Zeit in ihrer Rechten gehalten hatte: eine Spritze. Mit seiner Linken hielt er ihr Handgelenk umklammert, aber er hatte ihre Kraft unterschätzt. Die Nadel näherte sich unaufhaltsam seinem Hals. Einen Moment lang spürte er, wie die feuchte Metallspitze seine Haut kitzelte, dann grub sie sich widerstandslos in seinen Hals. Er gab ein schwaches Stöhnen von sich. Zweimal schlug er sie hart in den Bauch, doch sie ließ ohnehin von ihm ab. Er wankte den Flur entlang, weg von ihr, aber schon auf der Hälfte spürte er die einsetzende Wirkung des Teufelszeugs, das sie in ihn gepumpt hatte. Die Spritze steckte immer noch im Hals, er warf sie fort. Als er plötzlich in der Küche stand, war alles verschwommen, er fühlte sich betrunken und verkatert zugleich. Juli trat hinter ihn, er hörte ihren ruhigen Atem. Noch präsenter war hier jedoch das unablässige Pfeifen des Kessels, der vor ihm auf dem Herd stand. Er merkte, dass seine Beine jeden Augenblick nachgeben würden. In einer einzigen Bewegung griff er nach dem heißen Kessel und schwang ihn mit einer Drehung des ganzen Körpers herum. Aufs Geratewohl. Er traf sie hart am Kopf, das spürte er, ohne es sehen zu müssen. Sie ging sofort zu Boden. Das heiße Wasser schwappte heraus und lief ihm über Hand und Arm, doch der bestialische Schmerz wurde schnell ausgeblendet, als er selbst kollabierte. Der Kessel polterte auf den Linoleumboden – das letzte Geräusch, das er wahrnahm, bevor es schwarz wurde.
Der Polizist, der die Aussage aufnahm, stand offenbar kurz vor dem Ruhestand und schien in Gedanken auf den Bahamas oder sonst wo zu sein, jedenfalls nicht bei der Sache. Patrick konnte nur mühsam sprechen – eine Nachwirkung des Nervengifts, das Juli ihm gespritzt hatte, wie Dr. Jacob ihm mitgeteilt hatte. „So bald möchte ich Sie nicht wieder sehen, das müssen Sie mir schon versprechen! Aber wir kriegen Sie auch diesmal wieder hin.“
Jetzt saß er dem ältlichen Polizisten gegenüber, der lustlos an seinen Nägeln kaute, wann immer Patrick intensiv nachdenken musste, weil alles so verdammt verschwommen war, klebrige Erinnerungsfäden, die man nur mühsam entwirren konnte. Unter den Verbänden an der rechten Hand juckte es unangenehm. „Ich hoffe, Sie finden sie bald“, sagte er, als die Aussage fertig war.
Der Polizist nickte beruhigend. „Wir tun unser möglichstes.“ Das klang so glaubwürdig, als hätte er gesagt, er würde sich nachts als schwarzer Rächer verkleiden und selbst auf die Jagd nach ihr gehen. Bei dem Gedanken musste Patrick allerdings grinsen, woraufhin ihn der Polizist irritiert ansah. Patrick erhob sich und verließ die Polizeiwache. Draußen wartete Clara mit seinem alten Schulfreund Thomas und dessen Frau. Thomas startete den Motor des klobigen Lada, als er einstieg und seine Kleine fest in die Arme schloss. „Soll es losgehen?“, fragte Thomas.
„Ja“, sagte er, „es kann losgehen.“ Der Wagen rollte langsam vom Kantstein und ordnete sich im Verkehr ein.
„Die Adresse hast du doch noch, oder?“, fragte Thomas‘ Frau ihren Mann.
„Klar, die steht auf einem Kärtchen von der Immobilienfirma, liegt mit hinten bei den Unterlagen. Aber ich finde das schon, hab’s mir auf der Karte angeschaut.“
„Du und dein untrüglicher Orientierungssinn“, gab Thomas‘ Frau zurück.
Patrick zog das Adresskärtchen aus der Mappe und sah es an. Er wusste die Adresse auswendig, aber es tat gut, den Namen der Straße zu lesen. Frühlingsweg. Das klang verheißungsvoll. Er stellte sich das Haus vor, in dem sie leben würden. Ein anderer Ort, ohne Vergangenheit, ein echter Neuanfang.
„Mama“, sagte Clara plötzlich. Patrick fuhr zu ihr herum. Sie hielt das Foto von ihm und Juli auf dem Jahrmarkt in den kleinen Händen und sah ihn fragend an. „Kommt Mama bald wieder?“
„Nein, meine Kleine, wir fahren jetzt weit weg.“
„Krieg ich dort ein Eis?“
„So viel du essen kannst“, sagte er lächelnd. Er nahm ihr sanft das Foto aus der Hand, zerknüllte es langsam und warf es aus dem Fenster, als sie gerade an einem Park vorüberfuhren. Hinter der übernächsten Kreuzung lenkte Thomas den Wagen auf den Zubringer zur Autobahn und trat das Gas durch. „Nicht so schnell mein Lieber“, sagte seine Frau, „Wir haben genug Zeit.“
Der Novemberwind fegte durch den Park, spielte mit dem zusammengeknüllten Foto, jagte es über eine Wiese, bis es schließlich im Gestrüpp hängenblieb. Ein kleines Kärtchen war mit dem Foto zusammengeknüllt worden. Sonnenberg Immobilien stand darauf, darunter eine Adresse.
DER MANN blickte sie aus kleinen, tiefliegenden Augen an. Sein faltiges Gesicht sah aus, als wäre die dünne Haut mehrfach zusammengeknüllt und anschließend wieder über den kleinen Schädel gezogen worden. Sein Lächeln entblößte einen fast zahnlosen Mund und wirkte nicht besonders freundlich.
„We want to go hiking“, sagte Robert bemüht deutlich. Julia rollte innerlich mit den Augen über seine ständigen Bemühungen, mit den Einheimischen Englisch zu sprechen, das sie in dieser kaum touristischen Gegend selten verstanden – vor allem die alten Menschen. Genau das hatten sie ja gewollt, nach den ersten Tagen unten an der Küste, wo sich Restaurants und Hotels aneinanderreihten und die Touristen sich dichtgedrängt auf ihren Strandliegen bräunten. Wo es abends niemals still wurde, aber nicht im Sinne einer City, that never sleeps – sondern aufgrund von besoffenen Typen mit Bierbauch, die so voll waren, dass sie sich selbst bei einem Blick in den Spiegel noch für unwiderstehlich hielten, und aufgrund einander überlagernder Schlagersongs mit zweifelhaften Texten, grölenden Menschen in knappen Outfits, die Bierdunst, Schweiß und Erdbeerparfum verströmten. Julia war froh, dass ihr Freund es genauso wenig aushielt, mehr als zwei oder drei Tage im heißen Sand herumzuliegen. Dass er ebenso wenig Interesse am vorherrschenden Abendprogramm hatte wie sie, verstand sich von selbst. Also hatten sie beschlossen, sich ein neues Quartier oben in den Bergen zu suchen.
Der kleine Mietwagen hatte sich die immer engeren, schlecht ausgebauten Serpentinenstraßen hinaufgemüht, anfangs noch zusammen mit anderen Autos, die ein viel zu halsbrecherisches Tempo anschlugen. Später waren sie nahezu allein gewesen. Nur hin und wieder begegnete ihnen ein Pick-up, dessen Fahrer die Olivenernte einfuhr, oder einige Schafe, die von einem seelenruhig auf der Straße laufenden Schäferhund zusammengetrieben wurden. Die Ausblicke über den Talkessel und das im Licht glitzernde Meer waren immer spektakulärer geworden und sie hatten mehrmals angehalten. Schließlich verkündete ein handgemaltes Schild „free room