In der Stille der Polarnacht - Greer Macallister - E-Book
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In der Stille der Polarnacht E-Book

Greer Macallister

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Beschreibung

Dreizehn wagemutige Frauen brechen im Frühjahr 1853 in die Arktis auf, um eine Gruppe verschollener Forscher wiederzufinden. Zuvor sind einige männliche Expeditionen gescheitert – nun sollen die Frauen unter der Leitung von Virginia Reeve ihr Können beweisen. Von Buffalo aus machen sie sich auf den Weg. Es ist eine Reise voller Gefahren – und nicht alle kehren zurück. Virginia Reeve wird dafür verantwortlich gemacht – und des Mordes angeklagt … Der Prozess jedoch ist geprägt von Lügen, Intrigen und Bestechung und scheint weniger die Wahrheitsfindung als die Hinrichtung Virginias zum Ziel zu haben …

Die amerikanische Bestsellerautorin Greer Macallister gibt abwechselnd Einblicke in die Expedition und in den Prozess; die Leserinnen und Leser erleben die dramatischen Ereignisse fast hautnah mit.

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Seitenzahl: 564

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Titel

Greer Macallister

In der Stille der Polarnacht

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Arctic Fury. Sourcebooks Landmark, Naperville, Illinois 2021.Copyright © 2021 by Greer Macallister

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4945.

Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4945Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln, unter Verwendung des Originalumschlags von Chelsea McGuckin, Abbildungen: Magdalena Russocka/Trevillion Images; Getty Images

eISBN 978-3-458-77501-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Großmutter

Motto

Wir können nicht sagen, wie die Frau physisch sein könnte, wenn dem Mädchen die Freiheiten des Jungen gestattet wären.

– Elizabeth Cady Stanton

Die eigentliche Arbeit einer Expedition beginnt mit der Rückkehr.

– Louise Arner Boyd

In der Stille der Polarnacht

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Mitglieder der Frauenexpedition

1

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston

Oktober

1854

2

.

Kapitel

Virginia

.

Tremont House, Boston April

1853

3

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

4

.

Kapitel

Virginia

.

American House, Boston April

1853

5

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

6

.

Kapitel

Virginia

.

Collins House, Boston April

1853

7

.

Kapitel

Virginia

.

Gefängnis Charles Street, Boston Oktober

1854

8

.

Kapitel

Ebba

.

Revere House, Boston April

1853

9

.

Kapitel

Virginia

.

American House, Boston April

1853

10

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

11

.

Kapitel

Siobhan

.

Harborside, Boston April

1853

12

.

Kapitel

Virginia

.

American House, Boston April

1853

13

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

14

.

Kapitel

Virginia

.

Gefängnis Charles Street, Boston Oktober

1854

15

.

Kapitel

Virginia

.

Buffalo, New York April

1853

16

.

Kapitel

Christabel

.

Eriesee, auf der Fahrt von Buffalo April

1853

17

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

18

.

Kapitel

Virginia

.

Sault Ste. Marie, an Bord der

Doris

Mai und Juni

1853

19

.

Kapitel

Elizabeth

.

An Bord der

Doris

Juni

1853

20

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

21

.

Kapitel

Virginia

.

An Bord der

Doris

Juni

1853

22

.

Kapitel

Virginia

.

An Bord der

Doris

Juni

1853

23

.

Kapitel

Virginia

.

Sierra Nevada

1846

24

.

Kapitel

Virginia

.

An Bord der

Doris

Juni

1853

25

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

26

.

Kapitel

Virginia

.

An Bord der

Doris

Juli

1853

27

.

Kapitel

Althea

.

An Bord der

Doris

Juli

1853

28

.

Kapitel

Virginia

.

Gefängnis Charles Street, Boston Oktober

1854

29

.

Kapitel

Virginia

.

Sierra Nevada

1846

30

.

Kapitel

Stella

.

An Bord der

Doris

Juli

1853

31

.

Kapitel

Virginia

.

An Bord der

Doris

Juli

1853

32

.

Kapitel

Virginia

.

Gefängnis Charles Street, Boston Oktober

1854

33

.

Kapitel

Irene

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

34

.

Kapitel

Dove

.

An Bord der

Doris

Juli

1853

35

.

Kapitel

Margaret

.

An Bord der

Doris

Juli

1853

36

.

Kapitel

Virginia

.

Gefängnis Charles Street, Boston Oktober

1854

37

.

Kapitel

Virginia

.

Auf der Expedition Juli

1853

38

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

39

.

Kapitel

Virginia

.

Auf der Expedition Juli und August

1853

40

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

41

.

Kapitel

Virginia

.

Auf der Expedition Oktober und November

1853

42

.

Kapitel

Virginia

.

Sierra Nevada

1846

43

.

Kapitel

Ann

.

Auf der Expedition Januar

1854

44

.

Kapitel

Caprice

.

Auf der Expedition Januar

1854

45

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

46

.

Kapitel

Virginia

.

Auf der Expedition Januar bis April

1854

47

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

48

.

Kapitel

Virginia

.

Auf der Expedition April

1854

49

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

50

.

Kapitel

Virginia

.

Auf der Expedition Mai und Juni

1854

51

.

Kapitel

Virginia

.

Gefängnis Charles Street, Boston Oktober

1854

52

.

Kapitel

Doro

.

Boston Oktober

1854

53

.

Kapitel

Virginia

.

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober

1854

54

.

Kapitel

Virginia

.

Richterzimmer im Obersten Gericht, Boston Oktober

1854

55

.

Kapitel

Virginia

.

Boston Oktober

1854

Nachwort der Autorin

Dank

Informationen zum Buch

Mitglieder der Frauenexpedition

Margaret Bridges, Journalistin

Irene Chartier, Übersetzerin

Caprice Collins, Bergsteigerin

Dove, Krankenschwester

Ebba Green, Ehefrau eines Offiziers der British Royal Navy

Stella Howe, Hausmädchen

Christabel Jones, Zeichnerin

Elizabeth Kent, Kammerzofe

Ann Montgomery, Hundezüchterin und -trainerin

Siobhan Perry, Medizinstudentin

Althea Porter, Ehefrau eines Offiziers der British Royal Navy

Virginia Reeve, Führerin

Dorothea Roset, Kartenspezialistin

1. Kapitel

Virginia

Oberstes Gericht von Massachusetts, BostonOktober 1854

In der ersten Reihe sitzen die Überlebenden.

Virginia kann sie von ihrem Platz auf der Anklagebank deutlich sehen. Selbst wenn sie den Blick von ihnen wendet – hin zum Richter, zu den Geschworenen –, spürt sie weiter ihre Anwesenheit. Fünf Frauen, gebrochen und tapfer, die entgegen aller Erwartungen in diesen Gerichtssaal gekommen sind. Sie fragt sich, ob sie erschüttert sind wie sie selbst, indem sie sich wieder an die Regeln der Gesellschaft halten: darauf achten, was sie tragen, aufpassen, was sie sagen, überlegen, wie ihr Tun auf andere wirkt. Es ist noch nicht lange her, da waren sie von alldem frei. Doch welch hohen Preis haben sie für diese flüchtige Freiheit bezahlt.

Nur fünf. Nicht alle, die überlebt haben, aber immerhin alle, die beschlossen haben, sich als solche zu bekennen. Diejenigen, die nicht da sind, spürt sie ebenso wie diejenigen, die da sind. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie jede einzelne der Verlorenen vor sich. Eine kalt und blau, aufgebahrt wie eine Kornblume. Eine vom Eis verschluckt, sein hungriges Maul gerade groß genug, um sie zu verschlingen. Eine im eigenen Blut gekrümmt. Jede mit ihrer speziellen Tragödie, die Virginia nie vergessen, auf immer bedauern wird.

Sogar denjenigen, die heute hier im Gerichtssaal sitzen, fehlen Teile, die sie nie mehr zurückbekommen werden. Wie viele Finger, wie viele Zehen? Ein Ohr bei Doro. Das rechte, wenn ihre Erinnerung nicht trügt. Wie könnte sie das vergessen? Ebenfalls verloren: ein Schnipsel ihrer Seele, auch bei Virginia.

Fünf Frauen, die anwesend sind und bereit, sich als Überlebende der Expedition zu bekennen, Virginia, die diese Wahl nicht hatte, nicht eingerechnet. Müssten sie gezählt werden – in glücklicheren Zeiten scherzten sie darüber, etwas Willkommenes, den Traum von Optimisten –, dann müssten es elf sein. Virginia die zwölfte. Das war die Größe der geplanten Expedition, wenngleich nicht die, in der sie aufgebrochen waren, schon gar nicht die der Heimgekehrten. Die Zahlen passen nicht, aber gepasst haben sie ohnehin nie richtig. Was Caprice’ Schuld gewesen war. Virginias Zorn auf Caprice sollte inzwischen verraucht sein, doch das ist er nicht. Womöglich würde er es nie sein.

»Erheben Sie sich für den Ehrenwerten Richter Elton Miller«, ruft der Gerichtsdiener.

Der Richter ist jünger, als Virginia geglaubt hätte, wenngleich nicht richtig jung. Keine weißen Haare, sondern dunkle, keine Grausträhne im Pechschwarz. Ihr Blick fällt auf einen rötlichen Streifen am Kinn. Achtlos mit dem Rasiermesser? Im Dunkeln gestolpert? Sie hat es satt, Verletzungen zu analysieren. Dafür sollte Siobhan hier sein. Doch wie so viele andere ist sie es nicht.

»Sie dürfen sich setzen«, sagt der Richter, worauf im Gerichtssaal, ganz wie in der Kirche, alles gehorcht und ein gedämpftes Rumpeln und Scharren anhebt. Virginia erwartet fast schon, dass eine dröhnende Orgel die ersten Akkorde von »All Things Bright and Beautiful« anstimmt.

Stattdessen fährt der nicht alte, nicht junge Richter fort: »Wir sind heute hier, um die Rechtssache des Commonwealth of Massachusetts gegen Miss Virginia Reeve zu verhandeln. Wie bekennen Sie sich, Miss Reeve?«

Vom Tisch der Verteidigung her kommt eine zögerliche, aber dennoch kraftvolle Stimme. Höher, als sie sein sollte. Virginia erschreckt ein bisschen darüber, wie jung sie klingt.

»Herr Richter, die Anklagepunkte«, sagt der Verteidiger, dessen Name Clevenger lautet. Er sieht so jung aus, wie er klingt, Apfelbäckchen, dürre Gliedmaßen. Clevenger ist der größte Mann im Gerichtssaal, aber irgendwie scheint er, wenigstens für Virginia, den kleinsten Raum einzunehmen.

Der Richter blinzelt. »Wie bitte?«

Ihr Verteidiger raschelt mit Papieren, unternimmt einen weiteren Versuch. Wenn Virginia die Anwältin wäre, sagt sie sich, dann wäre ihr Auftritt stärker. Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, hätte Ann dazu gesagt. Arme Ann.

Und arme Virginia. Fünf treue, lebende Frauen bilden im Gerichtssaal eine stumme, geschlossene Reihe, was nicht verstummt, das sind die Stimmen der anderen sieben.

»Ich meine, zuerst sollten doch die Anklagepunkte verlesen werden? Dann sage ich Ihnen, wie sie sich bekennt«, sagt ihr Verteidiger.

»Oh, ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren!«, tönt der Richter, keine Spur von Entschuldigung in der Stimme. »Ich vergaß, Sie als Herr Richter anzureden! Und das noch in Ihrem eigenen Gericht. Wie peinlich.«

Weiteres Zucken, weiteres Papierrascheln. »Euer Ehren, ich bin kein Richter.«

Der Richter sagt genießerisch: »Ganz recht.«

Virginias Verteidiger schweigt.

»Wenn ich nun fortfahren darf?«, fragt der Richter, was jedoch eigentlich keine Frage ist.

»Ja, Euer Ehren.«

»Erheben Sie sich«, sagt der Richter, was Virginia erst hört, als er, nun schärfer, wiederholt: »Erheben Sie sich.«

Virginia erhebt sich.

»Verlesen Sie die Anklageschrift«, sagt er zum Gerichtsdiener.

»Ein Vorwurf der Entführung und ein Vorwurf des Mordes«, sagt der Gerichtsdiener, »welcher zum Tode der Caprice Collins geführt hat.«

Zischeln im Gerichtssaal, eine Handvoll Kiesel auf glattes Eis geworfen. Doch in der Virginia am nächsten Reihe nur eine starke, willkommene Insel des Schweigens. Sie merkt, wie sie sich darauf ausruht. Schock und Überraschung mögen überall sonst überquellen, die Überlebenden aber überrascht nichts. Die Fähigkeit zur Überraschung war ihnen im hohen Norden weggesprengt, weggefroren, weggerissen worden. Dort waren sie steif gefroren. Zwar ist ihnen körperlich jetzt wärmer, aber etwas in ihnen ist nicht getaut.

Der Richter wendet sich von Virginia ab, auch von den Anwälten und den Frauen, die in der ersten Reihe sitzen, und von den unbekannten Gesichtern, die das Publikum bilden für diesen – was? Zirkus?

»Meine Herren Geschworenen«, spricht er sie gewichtig an. »Sie wissen, dass die Gefangene auf der Anklagebank, Virginia Reeve, bislang gesagt hat, sie bekenne sich in jedem Punkt der Anklage nicht schuldig. In diesem Prozess nun überlässt sie sich Ihrem guten Urteil über die Verhandlung des Falles. Ist sie schuldig eines der oder beider Anklagepunkte, so müssen Sie dies sagen, und ist sie nicht schuldig eines der oder beider Anklagepunkte, so müssen Sie dies sagen und nichts weiter. Gute, wahrhaftige Männer – stehen Sie zusammen und folgen Sie Ihrer Evidenz.«

Virginia selbst scheint er gar nicht wahrzunehmen.

Seine dumpfe Gleichgültigkeit, denkt sie, droht sie zu zerstören. Sie darf sich nicht hinabziehen lassen. Sie hat schon Schlimmeres überstanden als die Verachtung dieses Mannes. Und es liegt an ihr, wie sehr sie sich von ihm verletzen lässt. Sie wendet sich von ihm ab und hin zu den einzigen Menschen im Gerichtssaal, die sie wirklich kennt.

Die fünf Überlebenden geben ihr mit ihrem Schweigen Auftrieb. Sie fürchtet die Worte, die sie sprechen könnten, wenn sie später aufgerufen werden – ganz zu schweigen von den Worten anderer, die abträgliche, finstere Dinge sagen werden, wahre und nicht wahre –, vorerst aber beruhigt sie ihr Schweigen. Fürs Erste will sie von ihnen nichts, und genau das können sie ihr noch geben.

2. Kapitel

Virginia

Tremont House, Boston April 1853

Als Virginia den Vorraum von Tremont House betrat, hörte sie nur die ersten drei Schritte. Einer, zwei, drei auf glattem, goldenem Marmor. Der edle tiefe Teppich erstickte den Klang von vier, fünf und allen weiteren.

Lautlos schritt sie im flackernden Schein der vergoldeten Laternen voran, luxuriöse Sofas lockten mit ihren üppigen karmesinroten Kissen, über ihr wölbte sich die höhlenartige Decke. Auf der fernsten Couch saßen zwei Frauen, die Köpfe zusammengesteckt, offenkundig im Gespräch, doch ihre Stimmen waren in einem solch riesigen Raum nicht zu hören. Stumm wie das Grab, dachte sie unwillkürlich. Jahrelang hatte sie sich in offenen Räumen, sei’s draußen oder drinnen, fehl am Platz gefühlt, und sie wehrte sich gegen den Fluchtimpuls.

Hinter dem Empfang saß ein Mann in einem Hemd, das so weiß und glatt war wie frisch gefallener Schnee, und er hob bei ihrem Nahen die Brauen.

»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«

»Ich bin Virginia«, sagte sie, und als die Stille um sie herum ihre Stimme verschluckte, sagte sie es ein zweites Mal, lauter. »Virginia Reeve. Ich werde erwartet.«

Der Kopf des Mannes senkte sich, wahrscheinlich schaute er in eine Liste oder dergleichen. Sie sah kein Signal, doch wie durch Zauberei erschien unmittelbar hinter ihr ein ganz in Schwarz gekleideter, hochgewachsener Mann. In dem Blick, den sie über die Schulter warf, sah er aus wie eine Krähe, wovon sie jäh zusammenfuhr.

Ihr Führer, so gut geschult, dass er die Aufmerksamkeit nicht auf ihren Lapsus lenkte, nickte lediglich und klackte die Absätze zusammen.

»Miss Reeve, es wäre mir ein Vergnügen, Sie zu Mrs Griffins Suite zu geleiten«, sagte er.

Sie lief hinter ihm die Treppe hinauf und durch einen weiteren Flur mit diesem edlen, üppigen Teppich, dessen Weichheit alles dämpfte. Die Meilen, die sie gereist war, um hier zu sein, hatten sie erschöpft. Die grobe Wolle ihres Reisekostüms scheuerte am Hals, und sie sehnte sich danach, sich dort kratzen zu können. Natürlich hatte sie schon viel Schlimmeres durchlebt, das aber erstaunte sie immer noch: Wie der schlimmste Schmerz, egal wie schrecklich, in die Vergangenheit rücken konnte. Irgendwann keuchte er einem nicht mehr ins Ohr wie ein hungriger Wolf. Die kleineren Ärgernisse der alltäglichen Existenz wurden wieder ärgerlich. Leiden blieben Leiden in all ihren zahllosen Formen, all ihren Abstufungen.

Sie wusste, dass sie nicht darüber sprechen sollte, was sie alles durchgemacht hatte. Das wollte niemand hören. Was aber wollte die mysteriöse Mrs Griffin hören? Um das herauszufinden, hatte Virginia den ganzen Kontinent durchquert.

Ihr Begleiter klopfte leise an die Tür von Zimmer 17, neigte das Ohr auf eine Antwort hin und schien auch eine zu vernehmen. Er umfasste den Griff, öffnete weit die Tür und bedeutete Virginia einzutreten.

»Das wäre alles, William«, sagte eine Frauenstimme, mit Akzent, leise, heiser.

»Sehr wohl, Madam«, antwortete der Begleiter, trat in den Flur zurück und schloss mit geübter Sorgfalt ohne ein Geräusch die Tür.

Das gesamte Zimmer schien vergoldet. Das helle Tageslicht spähte durch zarte Vorhänge und entzündete das Weiß und Gold des Zimmers, bis es glühte. Es wirkte, wie ein griechischer Tempel auf Virginia gewirkt haben mochte, wie in fernen Zeiten.

Virginia lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die einzige andere Person im Zimmer. Mrs Griffin hätte gut und gern auch eine Alabasterstatue sein können, so still und blass saß sie da. Ihr nobler Stuhl schmiegte sich anmutig wie ein Thron um ihren Körper.

Zwar hätte ein genauer Beobachter die Anzeichen des Alters auf ihren Handrücken bemerkt, dennoch war Mrs Griffin mit großer Sorgfalt gepflegt. Ihre Wangen waren weich gecremt, ihr verblasstes Haar noch sorgfältig wie das einer Braut modelliert und hochgesteckt. Die extravaganten Falten ihres moiréseidenen Gewands hätten einem Wurf Collies Schutz für die Nacht geboten. Dem Alter nach hätte sie Virginias Mutter oder gar Großmutter sein können, der Erscheinung nach hätte jeder erkannt, dass die beiden niemals vom selben Stammbaum herrühren konnten.

Die ältere Frau sprach, ohne aufzustehen. Sie hatte einen eindeutig britischen Akzent, spröde wie ein gestärktes Laken. »Ich muss mich entschuldigen, Miss Reed. Ich habe unsere Bekanntschaft mit einer List begonnen.«

Virginia war verdutzt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie klammerte sich an das, was sie konnte. »Entschuldigen Sie, Ma’am. Sie meinen wohl Miss Reeve.«

So weich das Gesicht der Frau wirkte, ihre Augen waren hart und scharf.

»Ich weiß, was ich meine.«

»Und dennoch«, sagte Virginia, »ist mein Name, verzeihen Sie, Virginia Reeve. Unter dem Namen haben Sie mir doch auch geschrieben, nicht wahr?«

»Das stimmt«, sagte die ältere Frau, »und dennoch können Namen täuschen. Das ist die List, von der ich spreche. Ich bin nicht – und hier nun bitte ich Sie um Verzeihung, wir wollen ja fair sein – Mrs Delafield Griffin.«

»Aber was ist dann Ihr Name?«

»Meine Güte. Die Amerikaner aus meiner Bekanntschaft sind ja direkt, was zu erwarten war, aber Sie – wie nennen Sie das? Schießen den sprichwörtlichen Vogel ab.« Dies mit trockener Stimme, kühl, gelassen, aber nicht ohne eine Prise Humor. »Meine richtige Anrede ist Lady Franklin.«

Verblüfft platzte Virginia heraus: »Lady Jane Franklin?«

Die Frau lächelte beherrscht, bedacht. Virginia hatte das deutliche Gefühl, dass Lady Jane Franklin ihre Palette Lächeln vor dem Spiegel probte, um dann das schmeichelhafteste zu wählen. »Mir scheint, mein Ruf eilt mir sogar bis an die Westgrenze Ihres wilden Landes voraus.«

»Ein kanadischer Freund hat immer gern Ihr Lied gesungen«, sagte Virginia. Sie wollte es eigentlich gar nicht singen, doch dann öffnete sie den Mund, und heraus kam die Erinnerung:

In Baffin’s Bay where the whale fish blow,

The fate of Franklin no man may know.

The fate of Franklin no tongue can tell,

Lord Franklin alone with his sailors do dwell.

Eine Wärme sammelte sich in ihren Adern – das Lied erinnerte sie so sehr an Ames –, doch als Lady Franklin die Hand zum Schweigen hob, schluckte Virginia die Töne hinunter.

»Ich habe von Ihren vielen Talenten gehört«, sagte Lady Franklin. »Singen zählt jedoch nicht dazu.«

»Ich wollte Sie nicht verärgern.«

»Das haben Sie nicht im Mindesten«, sagte die Frau, auch wenn es in Virginias Ohren wie eine Lüge klang. »Sie sind einfach nur eine sehr schlechte Sängerin. Und es ist nicht mein Lied, wie Sie das nennen. Es ist einfach ein volkstümliches Lied, das behauptet, mit meiner Stimme zu sprechen, wozu ich nicht meine Einwilligung gegeben habe. Aber lassen wir das. Sagen Sie mir doch bitte, wie war Ihre Reise?«

So eingerostet ihr Benehmen in Gesellschaft auch sein mochte, erkannte Virginia einen Themenwechsel doch sofort, und sie richtete sich danach. »Gewiss lange. Aber weit bequemer, als sie es ohne Ihre Großzügigkeit gewesen wäre. Vielen Dank dafür. Hat man auf dem Schiff im Pazifik wie auch im Atlantik eine Kabine Erster Klasse, dann ist die Beförderung in Panama noch das Schlimmste.«

Sie versuchte, die Reise wie nichts Besonderes klingen zu lassen, wo doch eine weniger erfahrene Reisende vielleicht daran zerbrochen wäre. Die Männer, die ihre Habe in Panama getragen hatten, hatten sich mit einem ihrer zwei kostbaren Koffer aus dem Staub gemacht. Auf der Atlantikfahrt verwechselte ein Säufer ihre Kabine mit einer anderen und hämmerte fast die ganze Nacht an ihre Tür, erst brüllend, dann schluchzend. Doch sie beklagte sich nicht. Ihr Nacken juckte wieder. Sie stellte sich den Ausschlag vor, den sie dort vorfinden würde, wenn sie dann endlich das grässliche Wollkleid abstreifte – ein zwei Zentimeter breiter Streifen gleich einem Priesterkragen, rundherum. Sie vermisste die Lederhose und den Kasack, die sie als Führerin getragen hatte, oder auch nur die schlichten, gebrauchten Baumwollkleider davor. So gefährlich die Wildnis jenseits von Amerikas östlichem Ende auch war, bot sie gegenüber der Zivilisation doch manche Vorteile. Im Grenzgebiet konnte eine Frau Mitte zwanzig fast alles machen, solange sie nur tüchtig und schlau war, und wenn sie wollte, konnte sie es in bequemer Kleidung tun.

»Ich hoffe nur, Sie bekommen kein Fieber«, sagte Lady Franklin, wobei ihr abgehackter britischer Akzent das End-r fallen ließ. Fieba. »Das könnte das, was ich mit Ihnen vorhabe, durchkreuzen.«

Virginia lächelte. Offenbar war der Smalltalk nun zu Ende. »In Ihren Briefen stand etwas von einer Reise, einer Expedition. Und da ich nun weiß, wer Sie sind, vermute ich, dass die Reise, die Sie im Sinn haben, weit in den Norden geht.«

Die alte Frau lachte, ein kehliges, heiseres Geräusch, und musterte Virginia von oben bis unten. »Soso.«

»Ihr Mann ist verschollen«, sagte Virginia einfach. »Ich nehme an, Sie wollen ihn suchen lassen.«

»Ja, das sind die Tatsachen. Ich würde sagen, die meisten jungen Frauen – oder achtsamen jungen Leute beiderlei Geschlechts – würden es behutsamer formulieren, mit mehr Rücksicht auf meine Gefühle in der Angelegenheit.«

»Gefühle sind ein Luxus, Ma’am«, sagte Virginia respektvoll, aber fest. Sie glaubte, Lady Franklin würde Nüchternheit schätzen. »Gefühle haben mich nicht hergeführt.«

Lady Franklins scharfer Blick wurde noch kälter, was ihr sagte, dass sie sich verschätzt hatte. »Wie abgestumpft Sie doch sind, und das schon in Ihrem Alter. Gefühle machen uns doch zu Menschen. Was mich bewegt, ihn ungeachtet so vieler Hemmnisse, so vieler Fehlschläge weiterhin zu suchen, ist doch meine tiefe Liebe zu ihm.«

Virginia schlug einen anderen Kurs ein, versuchte, zerknirscht zu erscheinen. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich gestehe, ich kenne nicht alles, was Sie bislang unternommen haben, um ihn zu finden. Westlich von Fort Bridger sind Nachrichten dünn gesät.«

»Und dennoch kennen Sie das Lied, das Sie mir zugeschrieben haben. Man nennt es ja ›Lady Franklins Klage‹.«

»Wie schon gesagt, mein kanadischer Freund mochte das Lied. Er sang besser als ich.«

»Sang?«

Virginia überging die Frage und drängte weiter. Sie war wegen dieser Gelegenheit weit gereist und wollte sie nicht vorübergehen lassen, ohne zu wissen, worin sie wirklich bestand. »Falls es eine Fahrt in den Norden ist, Lady Franklin, die Sie für mich im Sinn haben, so hoffe ich, dass Sie meinen Werdegang nicht missverstehen. Ich habe mich nie im Norden aufgehalten.«

»Ihr Sachverstand besteht darin, Menschen zu führen. Ich habe Leute, die geführt werden müssen.«

»Über Land oder Meer?«

»Eigentlich beides. Und auch Seen, was neu für Sie sein dürfte. Land, See, Meer. Aller guten Dinge sind, wie ich höre, drei.«

»Und auch Tode«, sagte Virginia.

»Wie bitte?«

»Das ist ein Aberglaube«, sagte sie und merkte, wie ihre Wangen erröteten. »Verzeihen Sie. Auch der Tod kommt immer zu dreien, heißt es. Aber ich bitte um Entschuldigung, ich hätte nicht vom Thema ablenken sollen. Sagen Sie, was sind das für Leute, die ich führen soll?«

Lady Franklin richtete sich auf ihrem Stuhl gerade und schlang die Finger um die weichen Armlehnen wie ein Adler die Klauen um einen Ast.

»Ich habe«, sagte Lady Franklin, »bei allen Expeditionen, die bei der Suche nach meinem Mann gescheitert sind – und da brauche ich beide Hände, um sie aufzuzählen –, eine wesentliche Ähnlichkeit festgestellt.«

»Und die wäre?«

»Männer«, sagte Lady Franklin, nicht verbittert, wenngleich sie das Wort scharf betonte. »Jede dieser gescheiterten Expeditionen wurde von Männern geplant, von Männern durchgeführt und hat ausschließlich aus Männern bestanden.«

»Verzeihen Sie meine Unwissenheit«, sagte Virginia, wobei sie das deutliche Gefühl hatte, dass Lady Franklin dies eher nicht wollte. »Aber sind das nicht alle Expeditionen in die Arktis?«

»Doch.« Lady Franklin zeigte ein feines, trockenes Lächeln. »Bislang, ja. Aber ich habe eine Theorie zu Frauen. Möchten Sie sie hören?«

»Natürlich.«

»Frauen können viel mehr, als die enge Sicht der Gesellschaft für schicklich erachtet. Ich vermute, dass es nichts, buchstäblich nichts gibt, wozu Frauen nicht imstande sind.«

Auf den ersten Blick war das eine schockierende Aussage. Doch Virginia sah es genauso.

Lady Franklin fuhr fort. »Ich selbst habe Dinge getan, die nur eine Handvoll Reisender meiner Generation für sich in Anspruch nehmen können, Männer wie Frauen. Den Nil hinabgesegelt. Auf einem Esel nach Nazareth geritten. Eine Quarantänestation auf Malta besucht, den Hafen von Alexandria, die strahlende Akropolis. Kann ein Mann aus Ihrem Bekanntenkreis behaupten, er sei je Janitscharen begegnet? Beduinen? Einem Pascha? Ich aber sehr wohl.«

Virginias Bewunderung war echt. Diese elegante, sorgfältig zurechtgemachte Frau – gewiss sechzig Jahre alt war sie – verriet keinerlei Anzeichen solcher Abenteuer. Ihre weichen Wangen, ihr prachtvolles Kleid, das alles schien der Vorstellung solch ungewöhnlicher Leistungen zu widersprechen. »Sie sind wahrhaft außerordentlich.«

»Sie missverstehen mich!« Lady Franklin beugte sich vor und sah sie durchdringend an. »Es geht mir nicht um meine Außergewöhnlichkeit. Was ich getan habe, könnten Tausende anderer Frauen ebenfalls, bekämen sie nur die Gelegenheit. Ihre Vorstöße nach Westen beweisen es doch. Diese amerikanischen Wagenzüge. Frauen fahren Planwagen oder laufen daneben her, lernen, mit Feuerwaffen zu schießen, schützen sich und einander, überstehen die schlimmsten Stürme und die sengende Sonne, durchstehen alle möglichen Entbehrungen. Über tausende – abertausende! – Meilen hinweg. Diese furchtlosen Frauen. Am Ende haben sie dann Kalifornien erreicht, Oregon oder das Washington Territory.«

»Manche aber auch nicht«, entfuhr es Virginia.

Lady Franklin fixierte sie mit einem scharfen Blick und sagte aus der Behaglichkeit ihres goldenen Stuhls heraus: »Ja, auch. Großes zu versuchen bedeutet manchmal auch zu scheitern. Doch selbst im Scheitern liegt manchmal ein Kern des Erfolgs. Jene Gruppe Siedler, die sich auf dem Weg nach Kalifornien verlief, monatelang auf einem Gebirgspass im Tiefschnee festsaß, am Ende über die Hälfte tot, wissen Sie, wer da überlebt hat?«

Virginia schwieg. So viele mögliche Antworten. Sie wollte die Lady Franklins hören.

Lady Franklin sagte: »Die Frauen. Wenn Frauen das überstehen, wer kann da sagen, dass sie keinen Erfolg haben, wo Männer gescheitert sind, und auch sie mir meinen Gatten nicht wiederbringen?«

»Und wenn der Gatte doch nicht wiedergebracht werden kann?«

»Mädchen«, sagte Lady Franklin, und ihre Stimme wurde wieder rau, »wie ich schon sagte, Sie haben keine Achtung vor Gefühlen.«

Sie hatte zu offen gesprochen, das sah Virginia ein, und sie versuchte, den Fehler wiedergutzumachen, ohne Schwäche zu zeigen. »Ich verstehe Ihre Gefühle, Ma’am. Vollkommen. Dennoch glaube ich, dass sie nicht der einzige Grund sind, weswegen Sie mich gerufen haben. Ich glaube, Sie wollten mir eine Art Anstellung anbieten.«

»Das stimmt.«

»Wenn Sie das weiterhin wollen«, sagte Virginia, »bin ich sehr gern bereit, es mir anzuhören.«

Lady Franklins Pause war lang, doch sie endete mit klaren, festen Worten. »Kurz und gut, schlage ich Ihnen vor, eine Expedition in den Norden zu führen, um meinen Gatten zurückzubringen. Er ist ein großer Mann, und die Welt würdigt seinen Triumph noch nicht. Ist er zurückgekehrt, wird man seinen Namen weit und breit besingen.«

Virginia wollte das Angebot zu gern annehmen, doch zwang sie sich, nicht gleich einzuwilligen. Warum sie? Das musste sie klar sehen, nur für den Fall. »Planwagenzüge über den Pass nach Kalifornien zu führen ist nicht dasselbe wie Menschen zu Fuß durch den eisigen Norden. Dort wusste ich schon, wo das, was wir suchten, zu finden war.«

»Aber wie viele haben Sie sicher hingeführt?«

Nachdem Virginia ihre Karriere als Führerin Knall auf Fall aufgegeben und sich vorübergehend in San Francisco niedergelassen hatte, brachte ein Zeitungsartikel – nur einer – ihre Geschichte. Den musste Lady Franklin gelesen haben, und darin stand auch die Zahl, nach der sie fragte. Es gab keinen Grund auszuweichen. »Nach meiner besten Schätzung 563.«

»Ich glaube, Sie besitzen für das, was ich brauche, die Fähigkeit und die Stärke, Miss Reeve. Das Gelände wird ein anderes sein, dafür ist die Gruppe viel kleiner, als Sie es gewohnt sind. Sie haben mein Vertrauen. Ich brauche nur Ihre Einwilligung.«

Virginia schwirrte der Kopf, aber allmählich wandte sie sich den Einzelheiten zu. »Sie tragen mir an, diese Expedition allein zu führen? Nur ich?«

»Ja. Sie werden die Leitung haben. Gut, verschiedentlich werden Sie eng mit anderen zusammenarbeiten – so mit den erfahrenen Voyageurs mit ihren Kanus und dem Kapitän des Schoners, der Sie durch die Bay nach Norden bringt. Deshalb habe ich ja Sie ausgewählt. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie bei der Führung dieser Gruppen übers Gebirge mit einem Mann zusammengearbeitet.«

Da war der Haken. Sie hätte Ames gar nicht unerwähnt lassen müssen; Lady Franklin wusste offenbar, warum Virginia keine Wagenzüge mehr über den Pass führte. Warum ihre Zahl geretteter Seelen nicht mehr höher als 563 steigen würde. Weil es mit Ames nicht mehr ging und sie allein es auch nicht konnte.

Vielleicht war diese Expedition – diese wahnsinnige, lächerliche Idee einer Expedition – sogar genau das, was sie brauchte.

Und dann fiel ihr wieder die letzte Strophe von »Lady Franklins Klage« ein, sie hörte sie so warm und kraftvoll, als stünde Ames direkt neben ihr und sein kratziger Bariton sänge ihr direkt ins Ohr. Es kostete sie echte Mühe, bei der Erinnerung nicht zu lächeln.

And now my burden it gives me pain,

For my long-lost Franklin I would cross the main.

Ten thousand pounds I would freely give

To know on earth that my Franklin do live.

Es gab einen Lohn. Echtes Geld. Fast würde sie es rein des Abenteuers wegen machen, doch was konnte sie mit dem Geld anfangen, wenn sie es hätte? Alles. Nichts. Sie könnte leben, wie sie wollte, wo sie wollte und nie auch nur den kleinsten Hunger verspüren. Geld würde sie von so vielen Fragen befreien, so vielen Sorgen. Diese Freiheit ließ sich gar nicht mit Geld bemessen. Es gab keine andere realistische Möglichkeit, so viel so schnell zu verdienen – und so frei zu werden. »Und wenn wir ihn finden, ist der Lohn dann unser?«

»Allein Ihrer. Um ihn mit den Übrigen der Expedition nach Ihrem Gutdünken zu teilen. Wie ein Walfangkapitän mit seiner Mannschaft.«

»Und wenn wir scheitern?«

»Ich setze darauf, dass dies nicht geschieht«, sagte Lady Franklin. »Sie sollten dies ebenfalls tun.«

Virginia überlegte. Sie stand auf der Schwelle zu etwas Außergewöhnlichem. Ob es fantastisch oder verhängnisvoll sein würde, wusste sie nicht. Doch es versprach, aufregend und wunderbar zu sein. Und es steckte ein Potenzial darin, wie sie es nie mehr für sich erwartet hätte.

Auf ihr Schweigen hin lächelte Lady Franklin, scheinbar unpassend. »Als ich über Sie las, wusste ich, dass Sie geeignet sind, eines aber wusste ich nicht, nämlich ob Sie an dieser Arbeit Interesse hätten. Nachdem ich Sie nun kennengelernt und mit Ihnen gesprochen habe, bin ich mir absolut sicher, dass Sie die richtige Wahl sind. Und auch, dass niemand sonst es ebenso gut könnte.«

Virginia sagte: »Ich bin … geschmeichelt, Lady Franklin.«

»Aber gewiss. In einer Woche brechen Sie zur ersten Etappe der Reise auf. Wir haben noch über andere Dinge zu sprechen, zum Beispiel über einige Briefe, die Sie für mich mitnehmen sollen. Sehr wichtige Briefe, darunter einen, den Sie meinem Mann übergeben sollen, wenn Sie ihn finden. Wir können die Einzelheiten hier am Schreibtisch besprechen, wenn Sie mögen?« Sie bedeutete Virginia, sich zu setzen.

Virginia blieb stehen. »Ich habe gesagt, ich bin geschmeichelt. Ich habe nicht gesagt, dass ich es mache.«

Die ältere Frau runzelte unwillig die Stirn. »Was könnte Ihnen im Weg stehen?«

»Die Einzelheiten, die Sie erwähnt haben. Die müssen wir vorher besprechen. Wer geht noch mit? Und wie? Wie viel werden Sie bezahlen, wenn wir der Route folgen, aber mit leeren Händen zurückkehren? Was sind die Gefahren und wie werden wir darauf vorbereitet sein?«

Lady Franklins Stirn glättete sich, und sie erwiderte Virginias Blick voller Zuversicht und Gelassenheit. »Ich habe auf alle Ihre Fragen eine Antwort, das versichere ich Ihnen. Allerdings habe auch ich gewisse Bedingungen, die ich Ihnen noch nennen werde. Aber erst müssen Sie sich setzen.«

Virginia wusste nicht, warum es für Lady Franklin so wichtig war, ob sie saß oder stand, aber sie wusste, wenn jemandem etwas so wichtig war und einem selbst nicht, dann konnte man ihm schon auch nachgeben. Guter Wille war ein Gut wie jedes andere, das gehandelt, gehortet und ausgegeben wurde.

Als Lady Franklin nun Virginia erneut bat, sich zu setzen, tat diese ihr den Gefallen und zeigte dabei ihr hübschestes Lächeln. »Fangen wir an.«

3. Kapitel

Virginia

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober 1854

»Nun gut. Fahren Sie fort«, sagt Richter Miller.

Der Ankläger posiert vorn im Gerichtssaal, als wäre Charles Loring Elliott höchstpersönlich engagiert, um sein Porträt zu malen. Der Mann sieht aus wie ein Bilderbuchanwalt: winzige Brille, starre Haltung. Vorstehender Bauch und eine ebensolche Kinnlade. Virginias Urteil wird ein wenig von den Umständen getrübt, doch sie glaubt, dass sie ihn, selbst wenn er nicht fanatisch darauf aus wäre, sie für ein Verbrechen, das er ihr nicht nachweisen kann, an den Galgen zu bringen, nicht mögen würde.

Sie mag ihn noch weniger, als er zu einer Rede ansetzt, die vermutlich sein Eingangsplädoyer sein soll. In ihren Ohren klingt sie viel eher wie die Tirade eines Schulmeisters.

»Die Gesellschaft hat Regeln«, trägt der Ankläger vor, dessen Namen sie nicht mitbekommen hat. »Manche meinen, wir sollten denen gegenüber, welche sie mit Füßen treten, freundlich sein. ›Vergebt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‹, lesen wir in der Bibel. Doch jene, welche nicht der Gesellschaft angehören wollen, sind selten die Prachtstücke, als die wir sie gern sähen. Sie haben den Namen Virginia Reeve noch nie gehört. Zweifellos werden Sie es bedauern, bevor Ihre Zeit in diesem Gerichtssaal um ist, ihn je gehört zu haben. Ebenso wenig wollen Sie die Einzelheiten hören, wie unsere Caprice Collins, eine Tochter Bostons – aufrecht und schmerzlich vermisst –, durch die Hand dieser ausgestoßenen Unbekannten einen grauenhaften Tod erlitten hat. Ich möchte Ihnen für Ihren Dienst danken, so wie ihre Familie Ihnen dankt. Weil Sie sich der unangenehmen Aufgabe unterziehen, Dinge hören, die kein guter Gentleman je hören sollte, könnten Sie verhindern, dass ein Scheusal einen neuerlichen Mord begeht.«

Virginia steht reglos da wie eine Statue. Oder eine Leiche.

»Diese junge Frau behauptet, ihre Expedition sei von Lady Jane Franklin veranlasst und bezahlt worden. Ich aber frage Sie, warum sollte eine hochgeborene britische Dame etwas so Unerhörtes tun? Eine Bande amerikanischer Außenseiterinnen – Frauen und Mädchen! – aufstellen, um zwei Schiffe der britischen Royal Navy zu suchen, die selbst die fähigsten, erfahrensten Seeleute nicht finden konnten? Dem Anschein nach eine törichte Einlassung. Und ich sage Ihnen, wenngleich ich es bedaure, dass es über diesen Anschein hinaus nichts zu erfahren gibt.«

Er zeigt auf sie, ohne sich dabei ganz umzudrehen, ohne den Arm ganz zu heben. Das hat etwas Flüchtiges, subtil Herabwürdigendes. »Die Angeklagte, Virginia Reeve, hat keine Familie. Keine Geschichte. Niemanden, der für sie bürgt, nur diese armen, fehlgeleiteten jungen Frauen« – er zeigt auf die Überlebenden mit einer ausholenden Geste, und Virginia möchte ihn anspringen wie eine Schleichkatze und ihm das Fleisch von den aufgeblasenen rosigen Backen kratzen –, »welche sie eindeutig in eine Art Bann gezogen hat. Ebenso wie ihr Opfer, wie wir beweisen werden.«

Noch vor einem Jahr, einem halben, hätte Virginia gelacht bei dem Gedanken, jemand könne Caprice ein Opfer nennen. Doch die Wirklichkeit des Prozesses, dessen, was auf dem Spiel steht, hat sie sehr wohl begriffen. Ihr ist jetzt überhaupt nicht nach Lachen zumute.

Nach einer gewichtigen Pause fährt der Ankläger mit seiner Ansprache an die Geschworenen fort. »Jede hatte ihre eigenen Gründe, um Miss Reeves Lügen zu glauben. Aber täuschen Sie sich nicht, Sie guten Bostoner Herren. Sie hat jede einzelne dieser Frauen so lange beschwindelt, bis sie ihrer Lüge glaubten, derselben Lüge, die sie Ihnen erzählen wird – falls ihr Verteidiger sie überhaupt sprechen lässt.«

Sosehr sie sich auf ihn stürzen und ihn zerkratzen will, bewahrt Virginia auf der Anklagebank doch ihren leeren, scheinbar teilnahmslosen Blick. Bei all den schrecklichen Dingen, die ihr das Martyrium in der Arktis zugefügt hat, ganz abgesehen von dem davor, hat es doch auch dies eine Gute bewirkt: Ihr Gesicht wahrt viele Geheimnisse. Als sie jung war, hatte sie ein bewegliches Gesicht. Blitzende Augen, rosa Lippen, die gern lächelten, die arglosen Mienen eines Mädchens, das sein Herz auf der Zunge trug. Vorbei.

Und so werden die Leute in diesem Gerichtssaal, dieser Richter, diese Geschworenen keine Spur dessen finden können, was sie im Innern bewegt, wenn sie ihr Äußeres betrachten. Sie werden das saubere schiefergraue Kleid sehen, das ihr Verteidiger ihr kommentarlos durch die Stäbe ihrer Zellentür geschoben hat, nicht billig und auch nicht extravagant, nur makellos schlicht. Sie werden den Tribut sehen, den der kalte Norden ihr Gesicht gekostet hat, die Röte auf ihren Wangen, die nie ganz weggeht, gleich, wie kalt oder warm es ist. Sie werden ihr in der Mitte geteiltes Haar sehen, im Nacken zu einem glatten, festen Knoten gefasst, dem keine Strähne entwichen ist, als wäre sie das gemalte Bild einer Frau und nicht aus Fleisch und Blut.

Was sie nicht sehen werden, ist ihre Wut, die Wut, die jahrelang in ihr gelodert hat, ganz undamenhaft, unstillbar. Auch nicht, wie sie das, was Caprice widerfahren ist, in Wahrheit empfindet, das wilde, quälende Bedauern.

Am wichtigsten aber: Niemals werden sie ihre Angst sehen.

»Danke. So weit vorerst die Anklage«, sagt der Staatsanwalt, und Virginia starrt geradeaus auf einen Knoten im Holz des Zeugenstands jenseits der Richterbank. Als wäre es der interessanteste Knoten auf der Welt.

Vom Tisch der Verteidigung kommt Papiergeraschel. Käme sie bis dorthin, würde sie die Hand auf diese verdammten Papiere knallen, damit sie endlich still sind. Ihrem Verteidiger geht, wo er auch ist, stets ein Rascheln voraus gleich einer aufgeputzten Debütantin, die ihre Röcke plustert, um Aufmerksamkeit zu wecken.

Es hatte genau zwei Gespräche mit Clevenger gegeben. Keines hat sie optimistisch gestimmt. Doch sie versucht, sich zu beruhigen: Clevenger ist kein Dilettant, sondern ausgebildeter Anwalt. Der einzige Zweck seines Berufs ist es, Leute wie sie zu schützen und zu verteidigen, und solange dieser Prozess läuft, besonders sie. Und auch wenn ihr in seinen Händen nicht ganz wohl ist, gibt es keine anderen, in die sie sich begeben könnte.

Sie bleibt äußerlich ruhig, dreht nur das Gesicht in seine Richtung, um ihn zu beobachten, wie er raschelt, sich räuspert und aufsteht. Der versammelte Gerichtssaal hört ihm mit nüchterner Aufmerksamkeit zu.

Clevenger wendet sich an die Geschworenen, das Publikum, die Überlebenden. Mit seiner schnarrenden Stimme sagt er: »Meine Mandantin – Miss Reeve – ist unschuldig.«

Diesen sechs Worten folgt eine lange, lange Pause. Für Virginia erstreckt sich diese Pause gefühlt über Stunden und Tage voll verdrießlicher Möglichkeiten, mit Ängsten und Fäulnis, mit Gletschern und Eisbergen, die an ferne Küsten stoßen, mit einer Sonne, die sich über ihr erhebt, um das Blau des Himmels zu verdunkeln, bis die Ozeane austrocknen, bis das Fleisch eines jeden im Gerichtssaal schmilzt, bis nur noch Knochen übrig sind. So lange währt sie für sie. Und es ist nicht einmal ihr Verteidiger, der sie beendet.

Lange nachdem die Stille beklemmend geworden ist, sagt der Richter: »Und, Herr Verteidiger?«

Clevenger sagt: »Das werden wir beweisen.«

Virginia fleht ihn mit Blicken an, noch etwas zu sagen, irgendetwas. Vorzubringen, was sie ihm über Lady Franklin gesagt hat, über Brooks, über Captain Malcolm. Ist Captain Malcolm überhaupt da?, fragt sie sich. Sie gestattet sich nicht, sich nach ihm umzusehen. Sie erinnert sich an die fünf Überlebenden zu ihrer Rechten, wendet sich an deren Kraft, lässt sich auf ihr ruhen, während sie darauf wartet, dass ihr Verteidiger für sie plädiert. Irgendwie.

Clevenger sagt mit festem und vollkommen grundlosem Stolz zu der Versammlung: »Das ist alles.«

Virginia muss alle Kraft aufwenden, um nicht weinend die Hände vor den Kopf zu schlagen.

4. Kapitel

Virginia

American House, Boston April 1853

Ihr langes Gespräch im Tremont House hatten Virginia und die Engländerin mit einem festen, abschließenden Handschlag beendet. Virginia hatte genug gehört, um zu sagen: Ja, sie werde die Expedition zu der vereinbarten Vergütung unternehmen, und ja, sie werde Lady Franklins Beauftragten in ihrem Hotel erwarten, um mit ihm alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen.

Doch das war schon drei Tage her, Tage, die ihr jäh und unwiderruflich durch die Finger geglitten waren. Außer auf Lady Franklins Bevollmächtigten zu warten, gab es nichts für sie zu tun, und sie merkte, wie ihre Geduld sich auflöste wie Zucker in Tee. Auf dem Trail mit Ames war sie immer in Bewegung gewesen; Aufenthalte in Forts dauerten nicht länger als unbedingt nötig, und da Gruppen, die nach Kalifornien wollten, so häufig kamen, mussten sie selten länger als zwei, drei Tage warten, bis sie wieder angeheuert waren. In einem Raum dieser Größe hätten in Fort Bridger, dachte sie mit einem bitteren Lächeln, zwei Dutzend geschlafen. Angesichts solcher Ungerechtigkeiten wollte sie am liebsten schreien, daher dachte sie am besten gar nicht daran.

Virginias Hotel war zwar nicht so extravagant wie Tremont House, gleichwohl das bei weitem komfortabelste, in dem sie je gewohnt hatte, und gewiss auch das, in dem sie am ungestörtesten war. Im American House hatte sie zwei Zimmer hinter einer abgeschlossenen Tür allein für sich. Welch ein Luxus! Virginia stellte sich vor, wie Lady Franklin auf die relativ kahlen Schlaf- und Wohnzimmer herabsah, nirgendwo auch nur ein Zoll Blattgold. Doch die Erziehung half bei der Definition von Luxus, und für Virginia war nichts luxuriöser als Weite.

Zu Virginias vorübergehenden Unterkünften hatten zwei Bauernhäuser gezählt, drei Planwagen und eine Hütte, an die sie kaum denken durfte, doch in keiner hatte sie einen ganzen Raum für sich gehabt, schon gar nicht zwei. Stocksteif stand sie zwischen all dem Damast und Chintz, der Seide und dem Mahagoni und sog diesen Überfluss auf. Wäre ihre Habe größer gewesen, sie hätte sie überall verstreut. Doch der Mangel sollte bald ein Vorteil werden. Bestimmt würde sie auf die geplante Expedition nicht viel mitnehmen können. In mancher Hinsicht war sie für dieses Unternehmen bestens geeignet, dennoch würde es anders werden als alles, was sie je gemacht hatte.

Schon bebte sie vor Aufregung. Die Arktis! Kälte ertrug sie nicht gut, dennoch steckte in diesem Abenteuer eine Erregung, die sie nicht abschütteln konnte und auch nicht wollte. Diesen verschollenen Mann und seine Mannschaft zu suchen und zu finden, was bisher niemand gelungen war. Gerade die Unmöglichkeit dessen war so verlockend. Der potenzielle Lohn war gewaltig, doch er war nicht das Einzige, was sie anzog. In den Norden zu gehen war wie Schicksal. In so vieler Hinsicht war es wie eine Flucht.

Doch erst einmal musste Lady Franklins Bevollmächtigter im American House erscheinen, und Tag um Tag kam er nicht. So feudal ihre Umgebung auch war, mit jedem vergehenden Tag fühlte sie sich mehr in der Falle. Sie verstand genau, warum das so war. Doch in jenen ruhigen, aber auch beengenden Tagen war es nicht ihr Verstand, der voller Panik scheute und bockte.

Und so schob sie die Furcht weg und sammelte ihre Kräfte, damit sie bereit war. Das einzig Schlimmere als Warten wäre, das wusste sie, den Bevollmächtigten zu verpassen.

Drei Tage lang verließ sie das Hotel nicht, auch nicht für einen Augenblick. Jede Mahlzeit nahm sie in einem Raum namens »Gästetafel« ein, eine neue Erfindung, auf die das Hotelpersonal offenbar recht stolz war. Sie wusste nicht genau, inwieweit sich die Tafel von einem guten Restaurant unterschied, da sie nie in einem gewesen war, doch ihrer Ansicht nach bot sie mehr als genug Komfort. Elegante Kugelleuchten über den Tischen warfen abends weiche, schmeichlerische Schatten; zur Frühstücks- und Mittagessenszeit strömte reichlich Tageslicht durch die Fenster und tauchte die Tischtücher und das Porzellan in warmes Gold. Einen Moment lang dachte sie, es könnte lustig sein zu zählen, wie viele Mahlzeiten sie in ihrem Leben ohne Teller oder auch nur Besteck, ganz zu schweigen von Tisch und Stuhl, gegessen hatte, aber dann verwarf sie den Gedanken. Sie sollte sich darauf konzentrieren, wo sie war und wo sie hingehen würde, nicht, wo sie gewesen war. Gott hatte es für angebracht gehalten, ihr mehr als einen Neubeginn zu gewähren. Es würde ihn nicht ehren, bei den Dingen zu verweilen, die einen Neubeginn erfordert hatten.

Und so konzentrierte sie sich auf die Erscheinung der Gästetafel, ihre üppigen Stoffe, das funkelnde Silber. Wasserperlen hingen außen an ihrem Glas, und sie widerstand dem Drang, sie mit der Fingerspitze wegzuwischen.

Wenn sie sich umschaute, war sie nur von Frauen umgeben, für Virginia ein neues, seltsames Gefühl. Den umgekehrten Fall kannte sie sehr gut – in jedem Fort war sie wahrscheinlich meilenweit die einzige Frau –, hier aber fühlte sie sich deplatzierter. Sie rief sich in Erinnerung, dass jede, die sie anschaute, ihr züchtiges Kleid und ihre ruhige Miene sähe. Nicht das Feuer, das in ihr brannte. Nicht die Gespenster ihrer Vergangenheit, die sie immer noch bedrängten. Das alles blieb, so unauslöschlich es war, zum Glück unsichtbar.

Die Frau, die sie bei den Mahlzeiten bediente, hatte dunkle Augen und einen wachen Verstand und dürfte kaum älter als zwanzig Jahre gewesen sein. Sie stellte sich als Miss Thisbe vor. Nach Virginias beschränkter Erfahrung mit Leuten, die formell angestellt waren, um andere zu bedienen, gab es zwei Typen: diejenigen, die gern bedienten, und diejenigen, die ihren Dienst nur ungern versahen. Thisbe war offenbar ein vollkommen anderer Typ. Sie schien über ihre Rolle geradezu belustigt, war jederzeit fröhlich. Sie nahm Virginias Bestellungen augenzwinkernd entgegen und stellte ihr den Teller grinsend hin, als wäre die Tatsache, dass Virginia sie um Dinge bitten konnte, ein Scherz nur zwischen ihnen beiden.

Manchmal blieb Virginia länger beim Essen sitzen, um ihre Gespräche mit Thisbe auszudehnen, auch das ein Verhalten, das sie von sich nicht kannte. Sie sah sich nicht als eine, die Gesellschaft wollte oder brauchte. Dann wiederum hatte sie so selten die Wahl gehabt, in Gesellschaft zu sein oder eben nicht, vielleicht weil sie nie lange genug von anderen getrennt war, um sie zu vermissen.

Nach dem vierten Abendessen an der Gästetafel sah sie auf dem Weg zu ihren Zimmern im Flur nahe ihrer Tür einen seltsamen Mann stehen. Selbst als sie ihn direkt ansah, wusste sie nicht recht, wie sie ihn jemandem, der ihn in einer Menge suchte, hätte beschreiben sollen. Er war weder besonders groß noch klein, dünn oder dick, dunkel- oder hellhaarig. Er war nicht besonders gar nichts.

»Mr Brooks?«, fragte sie.

»Brooks«, sagte er in einem Akzent, der sich von dem Lady Franklins unterschied. Sie wusste, dass es weder ein amerikanischer noch ein kanadischer war, doch darüber hinaus konnte sie ihn nicht einordnen.

»Brooks? Ist das Ihr Vor- oder Nachname?«

»Brooks genügt, Miss Reeve.« Seine Stimme war sachlich.

Sie musterte ihn genauer. Wie alles andere an ihm war auch sein Gesicht in einer Weise unauffällig, die es ihm, wie sie vermutete, sehr erleichterte, Anordnungen Folge zu leisten.

»Möchten Sie hereinkommen?«, fragte sie. »Das gehört sich zwar nicht, aber unsere Angelegenheit ist ja auch ungewöhnlich, nicht wahr?«

»Es hat alles seine Richtigkeit, Miss Reeve«, sagte er, und der seltsame Akzent straffte seine Worte, seine Kinnlade.

»Aber ist dennoch … ungewöhnlich.«

»Ob es ungewöhnlich ist, können wir doch bitte auf Ihrem Zimmer besprechen.« Er nickte zu der Tür hinter ihr, woraufhin sie ihn einließ.

Beim Eintreten suchte sie seine Gestalt nach einem Merkmal ab, das ihr bei seiner Einschätzung helfen konnte. War er Bevollmächtigter oder Vollstrecker? Unter dem glatten Stoff des Rocks zeichneten sich breite Schultern ab. Seinen Bewegungen eignete eine gespannte Kraft, selbst als er nur die Tür schloss. Virginia fühlte sich in seiner Gegenwart so unbehaglich, dass sie hoffte, nicht herausfinden zu müssen, was er noch alles mit seiner Kraft anstellen konnte, wenn er wollte.

Brooks begann: »Ich bin gekommen, um Ihnen von den Vorkehrungen zu berichten, die getroffen worden sind, und um Ihnen dabei zu helfen, die noch verbliebenen zu treffen.«

»Lady Franklin hat Sie geschickt?«

»Meine Auftraggeberin zieht es vor, dass keine Namen genannt werden.«

»Selbst hier unter vier Augen?«

»Selbst hier.« Zwar hatte er einen anderen Akzent, seine Kadenzen aber schienen die Lady Franklins nachzuahmen, sachlich und formell. »Ab sofort wird alles Geschäftliche in meiner Hand liegen. Meine Auftraggeberin wird keinen weiteren Kontakt mehr mit Ihnen haben. Auch die Finanzierung Ihrer Expedition wird nicht öffentlich gemacht werden. Zu dieser Expedition befragt, wird meine Auftraggeberin, es sei denn, Sie kommen erfolgreich zurück und bis dahin, jede Kenntnis davon und von Ihnen leugnen. Ist das klar?«

Virginia verspürte ein Kribbeln der Enttäuschung, dass sie Lady Franklin vor der Abreise nicht mehr sehen würde, doch es wäre unangebracht gewesen, dies zu zeigen. So zuckte sie nur gleichgültig die Achseln. »Solange sie zahlt, wenn wir tatsächlich erfolgreich zurückkehren.«

»Ich bete darum, dass Sie diesen Erfolg erlangen, Miss.«

Sie fragte ihn nicht, an wen er betete. Stattdessen sagte sie: »Dann fahren Sie fort.«

Seine Stimme war trocken, als er erwiderte: »Sie hat allerdings gesagt, dass Sie recht … direkt sind.«

»Sind das Frauen nicht dort, wo Sie herkommen?«

Sie erkannte an seinem verhaltenen Lächeln, dass er ihren Schachzug verstand.

Etwas herablassend sagte er: »Meinem Verständnis nach wissen Frauen von guter Erziehung, gleich aus welchem Land sie kommen, wie man sich in Gesellschaft benimmt. Nun, Sie waren doch diejenige, die, wie Sie sagten, ›fortfahren‹ wollte, habe ich recht?«

»Ja.«

»Also dann.«

Beide zeigten gleichzeitig auf die leeren Stühle, und beide setzten sich, einander misstrauisch wie fremde Hunde beäugend.

Brooks zog aus einer verborgenen Tasche eine Landkarte und rollte sie auf dem Tisch zwischen ihnen aus. Mit einer stumpfen Fingerspitze zog er die Route nach, und Hunderte unfassbarer Meilen strömten in kaum einem Satz vorbei. »Eisenbahn nach Buffalo, Kanus nach Sault Ste. Marie, Transport über Land nach Moose Factory und mit einem Toppsegelschoner die Westseite der Hudson Bay aufwärts nach Repulse Bay, wo Sie Ende Juli ankommen. Von dort beginnen Sie den Überlandtreck zum Suchgebiet. Das wäre King William’s Land, speziell Victory Point. Das gibt Ihnen vier Monate Zeit für Hinweg, Suche und Rückweg noch vor dem Winter.«

»Ist ja kein Hexenwerk«, sagte Virginia keck.

»Durchaus.« Lautlos rollte er die Karte wieder ein und steckte sie dorthin zurück, wo er sie herausgezogen hatte.

Virginia hätte die Karte gern länger dagehabt, um sie eingehender zu betrachten; sie wollte es genauer sehen. Es war alles so neu. Doch in dem kurzen Blick, der ihr gewährt worden war, hatte sie gesehen, wie in der oberen linken Ecke aus Linien von beruhigender Festigkeit ambivalente, zögerliche Pünktchen wurden. Sie führten direkt ins vage, fleckige Unbekannte.

»Neun der Frauen sind für die Expedition schon ausgewählt«, fuhr Brooks fort, den Blickpunkt wechselnd. »Unsere Dienstherrin meinte, Sie würden vielleicht gern die anderen drei selbst auswählen. Dafür haben Sie eine Woche.«

Ihr schwirrte der Kopf von den neuen Informationen. Es war zu viel auf einmal, dennoch musste sie mit ihren Fragen strategisch vorgehen. »Drei soll ich aussuchen. Binnen einer Woche. Und ich muss unbedingt die neun mitnehmen – also, außer mir acht –, worum sie mich bittet?«

»Ja, worum man Sie bittet«, wiederholte er, eine Steinwand. »Die Expedition wird insgesamt zwölf umfassen. Nicht mehr, nicht weniger.«

»Das ist also auch eine Bedingung, die sie gestellt hat.«

»Ja, auch eine Bedingung«, sagte er, und sie nahm seine Verstimmung wahr, aber nur, weil sie genau hinhörte. Er war wirklich gut. Absolute Selbstbeherrschung. Das war eine seltene Eigenschaft, und sie bewunderte sie. Sie ermahnte sich, darauf bei den Frauen zu achten, die sie, wie man ihr eben mitgeteilt hatte, selbst zu suchen hatte. Binnen sieben Tagen. An einem Ort, wo sie noch nie gewesen war, ohne Freunde, ohne Familie, ohne Kontakte.

Aber das würde sich schon finden. Einstweilen musste sie sich auf Brooks konzentrieren und auf das, was er ihr sagen konnte.

Virginia fragte: »Und was ist mit unserem weiteren Transport? Den Kanus, dem Schiff?«

»Alles zu seiner Zeit.« Er wirkte gekränkt.

»Und wenn diese Zeit jetzt wäre?« Besonders neugierig war sie auf das Schiff, das sie nach Norden bringen sollte. Diejenigen der verschollenen Franklin-Expedition waren damals von der Royal Navy gewesen: gepanzert, solide, bereit. Doch die halbherzigen Versuche der Royal Navy, Franklin zu finden, hatten nichts Neues erbracht, sodass Lady Franklin die Sache entschlossen in die eigenen Hände genommen hatte. Ob sie ein amerikanisches Schiff chartern würde? Ein kanadisches? Was konnte sie mit ihren Mitteln und ihrer Verzweiflung auftreiben?

Er schüttelte den Kopf. »Ich lasse Ihnen eine Akte mit den logistischen Informationen da. Lesen können Sie doch, oder?«

Ohne die leiseste Andeutung ihres Ärgers sagte sie: »Ja. Ich kann lesen.«

»Schön. Aber das Wichtigste zuerst. Unsere Dienstherrin hätte gern, dass Sie sich mit den anderen Mitgliedern der Expedition vertraut machen. Sich mit denen treffen, die hier in Boston sind. Ihre Stärken kennenlernen, bevor Sie den Rest des Teams holen.«

»Wie viele sind hier?«

»Drei«, antwortete er.

»Nur noch eines.«

»Ja?«

Die Spur eines Lächelns schlich sich in ihre Stimme, als sie sagte: »Sie werden mir schon sagen müssen, wer es ist.«

»Althea Porter. Ebba Green. Caprice Collins.« Er befragte keine Liste, kein Papier; die Namen flossen ihm von den Lippen.

»Und sie sind mit den Bedingungen der Expedition vertraut? Sie wurden eingeladen und bestätigt?«

»Ja.«

»Und sie haben erfahren, wie viel Bezahlung sie erhalten?«

»Sie beschäftigen sich mit der Bezahlung weniger als Sie, Miss Reeve.«

Sie wollte das Gesicht verziehen, unterdrückte aber mühsam ihre Reaktion, ballte nur eine Faust. Die erwähnten drei waren bestimmt begütert. Nur Reiche dachten so wenig ans Geld.

»Erzählen Sie mir mehr. Sie haben mir jetzt zwar die Namen genannt, aber wer sind sie?«

»Sie sind ungeduldig«, sagte er. »Ich hoffe, Sie sind geduldiger, wenn es um Ihr Leben geht – und das weiterer elf Frauen.«

»Ich hoffe, Sie geben mir bereitwilliger die Informationen, die mich befähigen, das Leben dieser Frauen zu schützen.« Sie zeigte etwas von ihrem Zorn in der Stimme; sie wollte ihm mitteilen, dass sie kein Fußabtreter war. »Das ist meine oberste Priorität. Gefolgt von der Sorge, dass wir erfolgreich von unserer Reise zurückkehren, also mit voller Kenntnis des Schicksals John Franklins oder, so Gott will, mit John Franklin selbst.«

Unmerklich neigte er den Kopf. »Durchaus, Miss.«

»Also, wer sind sie? Diese drei?«

»Althea Porter und Ebba Green sind die Ehefrauen von zwei Offizieren Franklins, James Porter und Daniel Green, zwei seiner besten Leutnants.«

»Sie sind bestimmt krank vor Sorge.«

»Es sind Ehefrauen der Royal Navy«, sagte er kühl. »Sie wurden vorbereitet.«

Auch wenn sie sich sicher war, dass das mit der Vorbereitung stimmte, bezweifelte Virginia, dass man eine Frau wirklich so weit ausbilden konnte, um das Verschwinden und den wahrscheinlichen Tod des Mannes, den sie liebte, nicht zu betrauern.

»Und diese Damen sind gute Abenteurerinnen?«, fragte sie. »Stark?«

»Das werden Sie sie selbst fragen müssen. Ich gebe Ihnen die Adresse ihres Hotels.«

Das hätte sie wissen müssen. »Nun gut, dann schreibe ich ihnen schnell und setze einen Termin für ein Treffen. So bald wie möglich.«

Er nickte.

»Und Miss Collins – es ist doch Miss Collins, ja, nicht Mrs?«

»Miss.«

»Soll ich auch ihr schreiben?«

»Nein, das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Sie werden in ihrem Haus in Beacon Hill erwartet, in« – er zog eine Taschenuhr hervor, schimmernd poliertes Gold, was gar nicht zu ihm passte – »einer knappen halben Stunde.«

Die Überraschung musste sich auf ihrem Gesicht abgezeichnet haben. Er lächelte, ein unfreundliches Lächeln, die pure Überheblichkeit, eine süffisante Freude am Unbehagen eines anderen.

»Also beeilen Sie sich mal lieber, Miss Reeve.«

5. Kapitel

Virginia

Oberstes Gericht von Massachusetts, Boston Oktober 1854

»Rufen Sie Ihren ersten Zeugen auf«, sagt Richter Miller. Virginia merkt unwillkürlich, wie ihre Neugier wächst. Wer mag das sein? Wer wird der Erste sein, der sie ans Messer liefert, sie zum Verbrecher macht? Sie Mörderin nennt?

Natürlich wurde sie schon Mörderin genannt, in den Zeitungen. Man wird in Boston nicht des Mordes angeklagt, ohne Aufmerksamkeit zu wecken.

Bevor man sie festgenommen und ins Gefängnis Charles Street gesperrt hatte, hatte sie noch nie eine Bostoner Zeitung gelesen. Viel hatte sie ohnehin nie gelesen. Seit man sie dem Haftrichter vorgeführt hat und klar wurde, dass Anklage gegen sie erhoben würde, steckt sie in einer Einzelzelle, wo sie lediglich ihre beiden üblichen Wärter sieht. Der eine heißt Benson, der andere Keeler. Beide lesen ihr regelmäßig aus der Zeitung vor, aber da es zwei verschiedene sind, ist die Wirkung auch eine gänzlich andere. Benson liest ihr zur Beruhigung aus dem Beacon, Keeler als Strafe aus dem Clarion.

Wie auch immer, diese Gesellschaft ist ihr lieber als gar keine. Also hört sie, wie der Clarion sie als »die Borgia des Nordens« und »selbsternannte Königin der Arktis« schmäht – eine Ernennung, die ihr selbst nie über die Lippen gekommen ist, öffentlich wie privat –, dies fast ebenso ehrfürchtig wie der Beacon, der sie als »edle amerikanische Walküre« und »Furie der Arktis« rühmt. Wenigstens sind es Worte. Wenigstens Stimmen.

Und nun, da der Prozess begonnen hat, wird es mehr Stimmen und Gesichter geben, als sie ertragen kann. Sie wird als Buße stumm zuhören. Wäre sie nicht gescheitert, würden sie sie nicht verachten; sie hat es verdient. Wer wird der Erste sein?

Der Ankläger verkündet: »Der Commonwealth ruft Gabriel Bishop in den Zeugenstand.«

Bishop? Sie kennt keinen Bishop. Atemlose Unruhe wabert durch den Raum, als jemand, wer auch immer, vortritt; Gemurmel wie Wind in Ähren folgt ihm. Wieder wird sie an eine Kirche erinnert. Wird sie jemals wieder in eine Kirche dürfen? Sehen, wie Lichtschächte Buntglas illuminieren, den absoluten Seelenfrieden spüren, der nach der Beichte in ihr aufsteigt, das tiefe Grollen der Orgel, das ihre Knochen vibrieren lässt? Wie lange noch, bis sie den Fuß anderswo als in ihre Einzelzelle und – kaum besser – in diesen gruftartigen Gerichtssaal setzen darf? Sie verbietet sich den Gedanken, wo sie sein wird oder wie viel Zeit ihr bleibt, bis sie schuldig gesprochen wird.

Dieser Gabriel Bishop betritt den Zeugenstand. Er hat dünne, rötliche Haare, die quer über die Stirn bis hinab zu einem schmalen, seidig wirkenden, unpassend zarten Brauenpaar gestrichen sind. Bis auf die dünnen Koteletten ist er glattrasiert. Sein Gesicht ist weniger irisch als englisch, keine Sommersprosse ist zu sehen, und es ist ihr gänzlich unvertraut. Was Virginia von seinem Körper sieht, ist eher schlanker als der Durchschnitt und gerade wie ein Gewehrlauf.

Der Gerichtsdiener hält ihm die Bibel hin, und der Zeuge legt ohne Zögern die Hand darauf. Die andere hebt er zum Schwur. Sie weiß noch immer nicht, ob sie sein Gesicht schon einmal gesehen hat. Und sie hat keine Ahnung, was er hier aussagt. Welchen Nagel soll er hier in ihren Sarg schlagen, der schon auf sie wartet?

Der Ankläger beginnt mit der Bitte um seinen Namen und Beruf. Bishops Bedeutung schießt ihr in dem Moment, als er zu sprechen anhebt – zu spät –, ins Gehirn.

Mit fester, harter Stimme sagte er: »Mein Name ist Gabriel Bishop. Ich bin im Haus von Mr Tiberius Collins als Butler beschäftigt.« Die britische Spur in seiner Stimme ist weniger ein Akzent als ein Tonfall. Bat-la.

»Der Tiberius Collins aus Beacon Hill, ist das korrekt? Der Vater von Caprice Collins?«

Der Butler starrt über Virginias Kopf und über die Frauen in der ersten Reihe hinweg in den Saal. »Von ihrer Geburt bis zu ihrem vorzeitigen Tod.«

»Ihrer Ermordung, ja. Möge sie in Frieden ruhen«, sagt der Ankläger mit tiefer, exaltierter Trauer.

Auf Virginia wirkt der Vorgang, der hier abläuft, ebenso sorgfältig geprobt wie eine Theaterszene. Die Schauspieler wechseln ihren Text mit genau gewählten Flexionen. Ihr ist sehr bewusst, dass andere dies mit weniger zynischen Augen betrachten. Und es glauben könnten. Sie will aufspringen. Schreien. Ihrem Leid, ihrem Zorn, ihrer Furcht eine Stimme geben.

Stattdessen sitzt sie schweigend da, nicht einmal ihre Zehen berühren sich in dem umschlossenen Kasten der Anklagebank, sie gibt den Beobachtern nichts zu beobachten.

Die nächste Frage. »Wie lange stehen Sie schon in Diensten des Tiberius Collins?«

»Zweiundzwanzig Jahre in Diensten dieses guten Mannes, Sir, und wenn ich das noch sagen darf, ich war schon vor ihm in Diensten seines Schwiegervaters. Die jetzige Mrs Collins ist eine gebürtige Masterson. Von den Chestnut Hill Mastersons. Ich nehme an, Sie kennen die Familie.«

»Oh, selbstverständlich«, sagt der Ankläger anerkennend.

»Ich gelangte, als sie heirateten, in das Collins’sche Haus als eine Art Geschenk, könnte man sagen.«

»Das könnte man wohl«, sagt der Ankläger und lächelt vertraulich. »Ich könnte mir vorstellen, Mr Collins war hocherfreut, einen Mann Ihrer lauteren Reputation und Ihrer langen hervorragenden Dienste als Butler zu bekommen. Jemanden, auf den er sich verlassen konnte.«