In die Nacht - Rudolf von Waldenfels - E-Book

In die Nacht E-Book

Rudolf von Waldenfels

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Beschreibung

Der Ich-Erzähler dieses autobiographischen Romans erfährt, dass er nur noch kurz zu leben hat: Krebs, fortgeschrittenes Stadium. Er bricht zusammen. Doch dann, nach einer weiteren Operation, ist der Krebs überraschend verschwunden. Allerdings, so muss er bald feststellen, ist er zwar körperlich davongekommen, nicht aber seelisch. Diese Krise findet erst ein Ende, als er eines Herbstabends einen kleinen Rucksack schultert, sich robuste Schuhe anzieht – und in die Nacht hinauswandert. Was folgt, sind Wochen und Monate, in denen er immer wieder durch nächtliche Wälder oder Städte streift, manchmal bis zum Morgengrauen. Als er, ein knappes Jahr später, am Ende seiner letzten Wanderung, im Morgengrauen nach Hause kommt, hat er sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. „In die Nacht“ ist v. Waldenfels’ dritte Buchveröffentlichung. Der Bayerische Rundfunk urteilte: „Aufwühlend.“

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Seitenzahl: 207

Veröffentlichungsjahr: 2025

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1. Auflage

© 2025 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

Bernburger Straße 2, 06108 Halle (Saale)

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Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: © Eychenko Yury – shutterstock.com

ISBN 978-3-68948-026-4

INHALT

In Die Nacht

Licht. Ich öffnete die Augen. Ich war wach. Ich setzte mich auf: Tatsächlich, ich befand mich im Haus.

Aber wo kam das Licht her? Und wo kamen die Stimmen her? Ich kroch aus dem Schlafsack raus und ging auf nackten Füßen rüber zum Fenster. Ich trat vorsichtig auf, nicht nur, weil ich weder gehört noch gesehen werden wollte, sondern auch, weil hier überall Scherben lagen. Auf der Lichtung neben dem Haus stand ein Auto. Seine Scheinwerfer leuchteten direkt gegen die Hauswand und damit in das Zimmer hier im ersten Stock hinein. Das war das Licht, das mich aufgeweckt hatte. Um das Auto standen junge Männer und redeten laut. Sie lachten. Sie schubsten sich gegenseitig an. Sie hatten Flaschen in den Händen.

Wie war das möglich?

Seit Monaten kam ich immer wieder hierher, um hier zu schlafen. Dies war die erste Nacht, in der mich jemand aufstörte.

Ja, wie war das möglich? Ich war der festen Überzeugung gewesen, dass ich hier immer alleine bleiben würde, ungestört, in meinem Refugium jenseits von Raum und Zeit – und jetzt war die Lichtung, auf der das Gebäude stand, voll mit Besoffenen.

Was, wenn sie hier reinkamen? Wenn sie die Treppe hochstiegen? Ich duckte mich vom Fenster weg. Ich war schutzlos. Die nächste Ortschaft, eine kleine Stadt unten im Tal, war fünf Kilometer entfernt – für mich fünf Kilometer Fußweg, also ungefähr eine Stunde. Ich war hier mitten im Wald, mitten in der Nacht. Niemand würde mir zu Hilfe kommen. Niemand würde überhaupt wissen, wo ich zu suchen war, da ich keinem von diesem Ort erzählt hatte, nicht einmal meiner Frau. Er hatte ja mein Geheimnis bleiben sollen, mein ganz persönliches Eigentum, bis ich ihn nicht mehr brauchte. Dies war mein Ort der Heilung, des Wieder-zu-mir-selber-Kommens. Ich hatte ihn im Winter auf einer meiner Nachtwanderungen entdeckt. Schon da, also in der ersten Nacht, hatte ich gleich ein paar Stunden hier geschlafen. Ich nannte dieses verlassene Gebäude, in dem wahrscheinlich einmal ostdeutsche Grenzer kaserniert gewesen waren, „das Haus der vergessenen Träume“, weil ich in den Nächten hier tatsächlich viele Träume gehabt, die ich aber beim Aufwachen gleich wieder vergessen hatte. Es war mir nur immer das Gefühl verblieben, und dies manchmal den ganzen Tag lang, in der Nacht ein intensives und irgendwie bedeutsames Erlebnis gehabt zu haben.

Diesen Träumen verwandt, auf seltsam stiefgeschwisterliche Weise, waren die Graffitis, mit denen vor allem im Erdgeschoss die Wände bis hoch an die Decke besprüht waren. Wohin man blickte, sah man Penisse, Totenköpfe, Vulven, urbane Ruinenlandschaften, Atompilze, dazu die bunten und äußerst kunstvoll verschlungenen Namenszüge von „Kävn“, „Tommmm!!!!“, „Killer“ und so weiter. Unter anderen Umständen hätten mich die Graffitis bedrückt; hier und jetzt aber gaben sie mir ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Geborgenheit sogar.

„Ort der Heilung“ – das klingt ein bisschen aufgeblasen, ich weiß. Es ist mir aber ganz ernst damit.

Im Spätsommer, also rund zehn Monate zuvor, war mir nach einer Operation mitgeteilt worden, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit nur noch ein Jahr zu leben hätte. Die Ärzte hatten einen aggressiven Krebstumor aus meiner Blase herausgeschnitten. Einen Monat lang brach ich immer wieder heulend zusammen, schlug buchstäblich meinen Kopf gegen die Wand, riss mir sogar einmal die Kleider vom Leib. Dann, nach einer weiteren Operation, kam die überraschende Wendung. Man hatte sich getäuscht, der Krebs hatte ein wesentliches Stadium doch noch nicht erreicht, ich würde doch mehr oder minder unbeschadet aus der Sache rauskommen. Ich müsste mich nicht einmal einer der gefürchteten Strahlen- oder Chemotherapien unterziehen.

Ich war wie ein Angeklagter, der mit der Todesstrafe gerechnet hatte, doch überraschend freigesprochen wurde. Man nahm mir die Handschellen ab, trat zur Seite und sagte, so als sei gar nichts gewesen: Bitte schön, Sie können den Gerichtssaal verlassen.

Ich fühlte mich, buchstäblich, wie neugeboren. Doch schon nach einigen Wochen wurde klar, dass ich zwar körperlich davongekommen war, nicht aber psychisch. In jenen Tagen, in denen ich gegen meinen so plötzlich bevorstehenden Tod angeheult, angeschrien, angewütet hatte, war irgendetwas in mir zerbrochen; irgendetwas war kaputtgegangen, von dem ich nicht genau wusste, was es war, das ich aber dringend wieder in Ordnung bringen musste. Ich befand mich in einer schweren psychischen Krise.

So ungewöhnlich ist das nicht. In der Regel wird Krebspatienten, sobald die rein medizinische Behandlung hinter ihnen liegt, von den Krankenkassen eine mehrwöchige Kur bezahlt. Teil des Programms dort sind immer auch psychotherapeutische Sitzungen. Der Schock über die oft ja tödlich verlaufende Erkrankung wirft viele seelisch aus der Bahn.

Doch auf Kur wollte ich nicht, ebenso wenig wie ich psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollte, gegen die im Übrigen nichts zu sagen ist. Ich wollte erstmal nur meine Ruhe haben, körperlich wieder zu Kräften kommen und vor allem möglichst viel zeitlichen Abstand zwischen mich und jene traumatischen Wochen bringen.

Krise – was bedeutete das in meinem Fall? Es bedeutete, dass ich mich wie ausgehöhlt, wie ausgekratzt fühlte. In mir war nichts mehr drinnen, so schien es, kein Interesse, keine Anteilnahme, auch keine Libido mehr. Alles ließ mich kalt, unbeteiligt. Wenn meine Kinder nach Hause kamen und mir zum Beispiel eine gute Note zeigten, dann tat ich so, als freue ich mich. In Wirklichkeit war es mir egal. Wenn meine Frau intim mit mir werden wollte, dann musste ich mich dazu zwingen, ihre Zärtlichkeiten zu erwidern. Ich war wie eine Maschine. Nach außen hin funktionierte ich noch, nach innen hin aber war ich tot. Nicht einmal die Literatur, nicht einmal Kunst oder Musik erreichten mich noch. Auch in den schwierigsten Lagen meines Lebens – oder gerade in den schwierigsten Lagen meines Lebens – hatte ich dort immer eine Zuflucht gefunden: eine Stimme, die zu mir sprach, ein Bild, das mich wieder lebendig werden ließ. Jetzt aber legte ich jedes Buch schon nach wenigen Seiten weg. Was soll das Ganze?, dachte ich. Warum all der Aufwand, das zu schreiben, das zu drucken, das unter die Leute zu bringen?

Warum überhaupt sich um irgendetwas bemühen?

Die Nachrichten waren voller Menschen, die etwas machten. Sie führten Krieg, sie retteten andere aus Seenot, sie erfanden neue Medikamente. Mörderinnen, Nobelpreisträger, Heilige, Passanten, Totengräber, Wirtschaftswissenschaftlerinnen – weiter und weiter und weiter und weiter. Eine Riesenmaschine, die sich unter unglaublichem Lärm durch die Zeit wälzte. Ich begriff nicht mehr, warum. Ich lag da, der einzig stille Punkt im Universum, und sah dabei zu, wie sich alles andere rasend um mich drehte.

Ich stand morgens auf, ging in mein Arbeitszimmer und legte mich dort aufs Sofa. Der Tag begann, erreichte seinen Höhepunkt und sank wieder in die Nacht, vor den Scheiben wurde es erst grau, dann schwarz. Der Sommer ging vorüber, der Herbst brach an; die Tage wurden kürzer, die Abende kamen früher und früher. Ich konnte mich nicht einmal darüber erregen, dass meine Lebenszeit, von der ich ja jetzt wusste, wie schnell sie zu einem Ende kommen konnte – dass die so leer und sinnlos verstrich.

Ich trieb weiterhin jeden Tag Sport, so wie früher auch, aber ich tat es nicht aus Lust, sondern aus Angst. Die Ärzte hatten mir nämlich gesagt, dass körperliche Bewegung eine der wichtigsten Vorbeugemaßnahmen gegen Krebs sei. So egal mir alles andere geworden war – ins Krankenhaus, auf die Krebsstation, wollte ich unter keinen Umständen zurück. Also zwang ich mich einmal am Tag von meinem Sofa weg, quälte mich durch Regen oder Sonnenschein, und nahm mir aber danach nicht einmal die Zeit, mich zu duschen, sondern legte mich verschwitzt, wie ich war, wieder auf mein Sofa. Auch sonst wusch ich mich nur noch selten. Das lag daran, dass mir der Anblick meines nackten Körpers unangenehm geworden war. Er, der ja eigentlich mein treuer Diener hätte sein sollen, hatte sich gegen mich gewendet und diesen Krebs ausgebrütet. Er hatte mich verraten. Ich sah ihn im Spiegel nicht mehr mit Zuneigung, sondern mit Misstrauen an …

Wo führt das alles hin?, fragte ich mich manchmal. Aber anstatt nach einer Antwort zu suchen, drehte ich mich auf meinem Sofa nur von der rechten auf die linke Seite, und starrte dann eben nicht zum Fenster raus, sondern gegen die Wand.

Da nach den verschiedenen Operationen die Blase noch überempfindlich war, musste ich nachts in der Regel mindestens einmal aufstehen, um aufs Klo zu gehen. Es war irgendwann Ende Oktober, dass ich nicht gleich wieder ins Bett ging wie sonst, sondern noch einen Moment im dunklen Badezimmer stehen blieb. Die Spülung verrauschte, der Spülkasten füllte sich plätschernd wieder mit Wasser. Ich trat ans Badezimmerfenster und sah hinaus. Vor mir erstreckte sich die dunkle Landschaft, mit ihren schwarzen Bergen und dem bewölkten Himmel, in dem sich irgendwo der Mond verborgen hielt. In der Ferne blinkten rote Lichter. Das waren die Windräder, die man vor ein paar Wochen neu aufgestellt hatte. Ich trat noch näher heran. Unten im Tal – unser Haus stand auf einem Berg oben – konnte man die Scheinwerfer eines einsamen Autos sehen, das zwischen den Bäumen langsam die Straße heraufkam. Ich folgte ihm mit den Augen, bis es hinter einer Bergkrümmung verschwunden war. Der Anblick gab mir einen Stich ins Herz. Ich wäre jetzt auch gerne da draußen, dachte ich, unterwegs in der Dunkelheit.

In den darauffolgenden Wochen musste ich oft an jenes Auto denken, an die dunkle Straße, an den schwarzen Wald. Immer wieder stand ich jetzt nachts am Fenster und blickte hinaus. Ich sah den Wolken dabei zu, wie sie über den Mond zogen … Ich wollte, ich musste da raus, in diese Dunkelheit, und nicht nur für fünf Minuten, sondern für eine Stunde, für die ganze Nacht. Irgendetwas Großartiges, Spannendes, unendlich Abenteuerliches wartete auf mich da draußen. Was auch immer es war – eines stand fest: Meine Sofazeit war an ihr Ende gekommen.

Nun bin ich eigentlich ein ängstlicher Mensch. Ich fürchte mich zum Beispiel vor Spinnen, und wenn ich abends einen Krimi sehe, muss ich vor dem Schlafengehen unter das Bett schauen, ob sich da nicht doch ein Mörder versteckt hat. Ich bin leicht durch laute Geräusche zu erschrecken, ein Umstand, den meine Kinder gerne ausnutzen, indem sie sich hinter der Tür verstecken und „Hu!“ rufen, wenn ich ins Zimmer komme – um dann schallend über mich zu lachen. Zudem geht meine Fantasie schnell mit mir durch. Ich höre irgendwo die Bremsen eines Autos quietschen, und schon sehe ich Blut und Knochen vor mir, und das erschöpfte Gesicht eines Chirurgen, der aus dem Operationssaal kommt und mit resignierter Stimme sagt: „Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“ Ein Streichholz fällt mir beim Kerzenanzünden aus den Fingern, und schon lodert der Tisch, greifen die Flammen auf das Wohnzimmer über, springen wir alle in höchster Not aus den Fenstern … Rein äußerlich führe ich eine ruhige, sichere Existenz; doch innerlich wanke ich sozusagen von Katastrophe zu Katastrophe.

Sosehr ich also da raus in die Nacht wollte, so sehr fürchtete ich mich auch vor ihr. Zudem war es inzwischen November, demnach kalt und nass, ein Wetter, bei dem man auch tagsüber nicht einmal den sprichwörtlichen Hund vor die Tür setzt. Und überhaupt – warum trieb es mich eigentlich da raus? Was wollte ich dort? Warum diese Sehnsucht? Hatte die nicht auch etwas verdächtig Morbides? Je länger ich über diese Fragen nachgrübelte, desto deutlicher wurde natürlich, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Antworten auf sie zu finden.

Ende November also zog ich die Haustür hinter mir zu und ging in eine Nacht hinaus, die aufgrund des herbstlichen Nebels gar nicht so dunkel war, wie ich gefürchtet hatte. Die Dunstpartikel fingen das Licht der Straßenlaternen ein und gaben dem Abend insgesamt ein weiches, freundliches Leuchten. Auf dem Rücken trug ich einen kleinen Rucksack mit etwas Proviant und Ersatzkleidung. Draußen schlafen wollte ich nicht, dazu war ich körperlich noch zu schwach. Irgendwo unterwegs würde sich schon eine Unterkunft finden, ein Zimmer oder eine Pension. In dieser ersten Nacht wollte ich sowieso nicht länger als zwei, drei Stunden laufen, also vielleicht bis halb elf oder elf.

Nach wenigen Minuten lag das Städtchen hinter mir, in dem ich mit meiner Familie wohnte. Ich kam auf das offene Land hinaus. Die schmale Teerstraße schimmerte feucht, als sei sie mit Glanzlack bestrichen. Auf beiden Seiten erstreckten sich dunkle Wiesen, aus denen da und dort die schwarzen Silhouetten von Bäumen oder Waldstücken aufragten. Rechts sah man die Lichter der nächsten Dörfer.

Der Weg führte sanft in die Höhe. Alle paar Minuten drehte ich mich grundlos um, wie unter Zwang. Egal, wie oft ich mir sagte, dass Deutschland ein sicheres Land sei, dass die wenigen Morde, die hier passierten, vor allem in den Städten passierten, dass diese Morde in der Hauptsache von Bekannten oder Verwandten der jeweiligen Opfer begangen werden – egal, wie oft ich mir das selber sagte, ich konnte eine gewisse Grundangst nicht unterdrücken. Ich wurde sie einfach nicht los. Allerdings musste ich ihr auch dankbar sein. Sie sorgte nämlich dafür, dass ich intensiver wahrnahm und fühlte als sonst. Jeder kennt das: Angst schärft die Sinne. Oft sind es ja gerade die Momente im Leben, in denen wir große Angst gehabt, die sich uns gleichzeitig am tiefsten eingeprägt haben. Wir alle sehnen uns nach Abenteuern. Aber bestehen Abenteuer über weite Strecken nicht aus Angst?

Wie dem auch sei – jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war das Panorama, das sich unter mir erstreckte, wieder ein Stück großartiger geworden. Links unten im Tal sprühte die Fabrik, die dort lag, ihr Licht wie ein Vulkan gegen die niedrige Wolkendecke. Rechts davon wölbte sich der Lichtdom der kleinen Stadt auf, in der ich lebte. Ihre mittelalterliche Silhouette hob sich dunkel vor dem bernsteinfarbenen Dunst ab. Und rechts davon wiederum erstreckte sich eine tiefschwarze Fläche, auf der sich winzige weiße Lichter bewegten. Die Welt, so wie ich sie kannte – ich war diesen Weg tagsüber schon unzählige Male gegangen –, diese Welt hatte sich in etwas Mysteriöses und Wunderbares verwandelt.

Der Weg hatte den höchsten Punkt erreicht und verlief nun auf dem Hügelkamm. Die Bäume rückten links und rechts immer näher heran, und schließlich kam der Moment, vor dem ich mich insgeheim schon seit Tagen fürchtete, seitdem ich nämlich beschlossen hatte, jetzt endlich ernst mit meinem Vorhaben zu machen.

Dort vorne, nur wenige Schritte entfernt, verschwand die Teerstraße im Wald. Ich blieb stehen. Das Waldstück war nicht groß, ich würde es in wenigen Minuten durchschritten haben – und doch grauste mir vor ihm.

Ich gab mir einen Ruck, holte aus – und schneller, als ich geglaubt hatte, war ich wieder im Freien. Die Bäume lagen hinter mir. Die Tatsache, dass ich diese erste Hürde so ohne Weiteres genommen hatte – ach was: dass ich sie überhaupt überlebt hatte! –, ließ mich euphorisch werden. Im Überschwang folgte ich nicht der Straße weiter zu dem Aussiedlerhof, dessen Lichter ich unten in der Senke sehen konnte, sondern bog gleich nach rechts ab, in den Wald hinein. Warum sich nicht mittenrein stürzen! Warum nicht einfach vorwärtsstürmen! Warum überhaupt irgendwelche Rücksichten nehmen!

Ich hielt die Arme vors Gesicht, um die Augen vor Ästen und Zweigen zu schützen. Es ging steil bergab. Immer wieder stolperte ich, stürzte sogar – und machte dabei einen Lärm wie eine Rotte Wildschweine. Dann war ich unten angekommen, in einem schmalen Bachtal. Hier war es wieder heller, und ich konnte die hohen Silhouetten der Pappeln sehen, die am Bachufer wuchsen. Das Wasser rauschte viel lauter als tagsüber. Der Boden unter meinen Füßen gab weich nach. Ich überquerte den Bach von Stein zu Stein und geriet dabei einmal mit dem linken Fuß unter Wasser. Die nasse Kälte traf mich wie ein elektrischer Schlag. Dann kam ich auf einen Plattenweg, einen ehemaligen Grenzweg, und bog nach links auf ihn ab.

Eine Stunde später betrat ich eine kleine Ortschaft. Die Einfahrten lagen still im gelben Licht der Laternen. Auf den Klingelschildern standen Namen, die mir als typisch für unsere Gegend eigentlich vertraut waren, die jetzt aber etwas seltsam Fremdartiges hatten. In der Ortsmitte leuchtete das Plakat des Fußballvereins rot durch den Dunst. Ich folgte einem Schild mit der Aufschrift „Zimmer“, klingelte an einer Tür, deren Milchglasfenster sich kurz danach aufhellte, und saß schließlich mit nassem Fuß, aber glücklichem Herzen auf einem Bett in einer Dachkammer.

Am nächsten Morgen war ich vor der Dämmerung wieder unterwegs. Der Nebel war noch dichter als am Abend, so dass die Laternen selber gar nicht mehr zu sehen waren, sondern nur ihre Leuchtfäden, die körperlos drei Meter über dem Erdboden schwebten. Ich war ein paar Minuten gelaufen, als ein Schäferhund stumm aus dem Nebel heraus auf mich zuschoss und an mir hochsprang. Ich musste vor Schreck geschrien haben, denn im selben Moment hörte ich die wütenden Rufe eines Mannes durch den Nebel. Der Hund ließ von mir ab und verschwand. Es war eigentlich nichts passiert, aber ich fühlte mich trotzdem innerlich zutiefst getroffen, weit über den eigentlichen Anlass hinaus. Der Grund dafür lag auf der Hand.

Draußen war ein lautes Klirren zu hören, gefolgt vom Lachen der Männer. Das Klirren wiederholte sich. Es kam von unterhalb meines Fensters. Ich wusste, dass dort eine Eisenstange etwa einen Meter weit aus dem Mauerwerk ragte, ohne ersichtlichen Grund. Sie war mir in der Vergangenheit öfters aufgefallen. Die Stange war leicht nach unten gebogen, was ihr ein bisschen das Aussehen eines halb erigierten Penis gab. Dem Klang ihres Lachens nach zu urteilen, hatten die jungen Männer draußen eine ähnliche Assoziation gehabt und deshalb die Stange zu ihrer Zielscheibe gemacht. Flasche nach Flasche klirrte gegen die Fassade. Wenn die Stange getroffen wurde, gab sie ein kurzes Brummen von sich, dessen Vibration ich auch im Fußboden fühlen konnte, auf dem ich neben dem Fenster hockte. Eine Flasche allerdings verfehlte ihr Ziel gänzlich: Sie flog in das Zimmer hinein, zerschellte aber nicht auf dem Linoleum, sondern landete wohlbehalten bei der zertrümmerten Zimmertür. Dort lag sie, dunkelgrau und bedrohlich.

Die Begegnung mit dem Schäferhund hatte mich deshalb so verstört, weil sie mich daran erinnert hatte, wie abrupt der Schrecken in unser Leben einbrechen kann.

Es waren die Sommertage vor der Krebsdiagnose. Ich war mit meiner Frau und unseren beiden Söhnen durch die Prärie Süddakotas gewandert, eine Landschaft, die in mir die Ahnung von etwas Ewigem hervorruft. Der Blick geht ungehindert über braungelbes Grasland, das sich in sanften Bodenwellen bis zum Horizont erstreckt. Immer scheint ein starker Wind zu wehen, dessen Böen man von Weitem heranziehen sieht, über die Hügelkuppen, über die tiefgrünen Senken mit ihrem Gras, das sich dunkel beugt. Im Winter kann es hier so kalt werden, dass die ersten weißen Siedler nur dadurch überlebten, dass sie sich wie Tiere in den Erdboden gruben. Im Sommer wiederum sind Temperaturen bis zu vierzig Grad keine Seltenheit. Es gibt Präriefeuer, die mit der Geschwindigkeit von Schnellzügen heranrasen; es gibt Wolkenbrüche, die innerhalb von Minuten die sandigen Canyons mit Springfluten füllen.

Mein älterer Sohn war am Tag zuvor einer Klapperschlange begegnet. Er hatte uns aufgeregt herangerufen, und wir hatten einen Schatten gesehen, einen braunen, sich windenden Muskel, der Sekunden später im Gras verschwunden war.

Heute liefen wir also eng zusammen, besonders da der Pfad, dem wir durch das hohe Gras folgten, überraschende Haken schlug: Man konnte nicht sehen, was einen hinter der nächsten Kehre erwartete. Die Morgensonne glänzte auf den Grasspitzen und gab unseren Schatten eine orangefarbene Umrandung. Im Süden erhoben sich die Badlands, ein altes Gebirge, das den Prärie-Indianern als letzte Zuflucht gedient hatte, ehe sie von den Weißen ausgelöscht worden waren. Hierhin hatten sie sich zurückgezogen, um die sogenannten Geistertänze aufzuführen, Riten, von denen sie sich Unverwundbarkeit versprachen. In den knielangen Hemden, in denen sie getanzt hatten, traten sie unbewaffnet vor die Mündungsrohre der amerikanischen Infanterie. „Wir mussten nicht einmal zielen. Nach wenigen Sekunden befand sich kein lebendes Wesen mehr vor uns, ob Krieger, Squaw oder Kind“, schrieb ein weißer Augenzeuge später.

Von den Gipfeln der Badlands waren nach Jahrmillionen der Erosion nur noch runde Hügel geblieben. Sie hatten in der Morgensonne eine gelbe Färbung angenommen. Später, gegen Mittag, würden sie im grellen Licht verschwinden, um dann erst am Nachmittag wieder sichtbar zu werden.

Ich blieb ein paar Meter zurück, um zu urinieren. Das Gras besprenkelte sich rot-braun. Ich dachte an eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Morgensonne. Doch als ich die Grasspitzen mit meinem Zeigefinger berührte, blieb die rote Färbung an ihm haften.

In Amerika gibt es eine Spieleshow, bei der ein als Märchenzwerg verkleideter Mann hinter den Studiokulissen hervorspringt und ein riesiges Rad in Drehung versetzt. Auf dem Rad sind Bilder der verschiedenen Preise befestigt, die die Teilnehmer gewinnen können. Da sieht man Kühlschränke, Autos, Bohrmaschinen. Die Trommeln wirbeln; das Glücksrad dreht sich. Wenn es zum Stillstand kommt, springt der Zwerg hinter die Kulissen zurück. Der Showmaster tritt vor die Kamera, ein hagerer, weißhaariger Mann. Mit donnernder Stimme verkündet er den Gewinn. Die Teilnehmer kreischen und fallen ihm um den Hals.

Mein Glücksrad hing in jeder urologischen Praxis in Deutschland. Es handelte sich um die schematische, kreisrunde Darstellung der menschlichen Blase. Anstelle von Staubsaugern waren Tumorstadien auf ihm abgebildet, im Uhrzeigersinn von harmlos zu tödlich, von leichter Rötung der Blasenschleimhaut hin zum hässlichen, die Muskelwand durchdringenden, die umliegenden Organe zerstörenden Krebsgeschwür.

Bei welchem Krebsstadium würde mein Glücksrad, mein Todesrad am Ende wohl stehen bleiben?

Ich befand mich noch im Nebel der abklingenden Narkose, als der Chefarzt mit anderen Ärzten an mein Bett trat und mir mitteilte, dass mein Tumor doch deutlich größer und aggressiver sei als zunächst angenommen; zunächst angenommen habe er auf der Tumorskala – die nur vier Werte kennt – den niedrigsten. Nun aber müsse er vom höchsten ausgehen, dem finalen.

In der Nacht, als meine Frau gegangen und die Narkose vollständig abgeklungen war, überkam mich Todesangst. „Gottverlassen“ ist ein Wort, das man schnell in den Mund nimmt, wenn man von einem dunklen Stadtviertel oder einer abgelegenen Landschaft spricht; doch „Gottverlassenheit“ ist vielleicht die schlimmste Empfindung, die es für uns gibt. Sie bedeutet nichts anderes, als dass wir vor dem nackten Nichts stehen; da ist nichts mehr, was uns hält, nichts mehr, was uns bindet, da ist nichts mehr, was uns trösten oder retten kann. Es ist die totale Einsamkeit, in der der Tod als eine Verheißung erscheint. Ja, die Todesangst kann Sehnsucht nach dem Tod erwecken, denn nur er verspricht ein Ende des Entsetzens.

Nach drei Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen mit der Aufforderung, in der folgenden Woche wieder vorzusprechen, um dann vom Chefarzt das Ergebnis der pathologischen Untersuchung zu erfahren. Er – der Showmaster – hatte in meinem Innern bereits mythische Züge angenommen als jemand, der den Schlüssel zu meinem Schicksal in den Händen hielt. Ich hatte mehrfach von ihm geträumt, sogar schon während der Operation.

Der Chefarzt war ein schlanker, hagerer Mittfünfziger mit glatt rasiertem Gesicht und überraschend kleinen Händen. Der Sprachfärbung nach stammte er aus dem Ruhrgebiet. Auffallend an ihm war sein volles, grau meliertes Haar, das er sich gerne mit einer herrisch-stolzen Kopfbewegung aus dem Gesicht warf. Überhaupt hatte er etwas leicht Kränkbares, Empfindsames an sich; es passte so gar nicht zum Klischee des Chirurgen, der seiner Kollegin während der Operation einen schmutzigen Witz erzählt. Man hätte ihn sich auch als Pianisten oder Psychotherapeuten vorstellen können.

Mit psychologischem Geschick denn auch, mit seelsorgerischer Einfühlung, legte er mir die Ergebnisse der pathologischen Untersuchung dar. Er sprach mit beschwichtigend erhobenen Händen; jeder Satz, jedes Wort sollte mich beruhigen.

Doch beruhigend war es nicht, was er mir zu sagen hatte. Die wahre Bedeutung seiner Ausführungen begriff ich aber erst Stunden später, als ich wieder zu Hause war. Kaum war die Haustür hinter mir ins Schloss gefallen, brach ich auf dem Fußboden zusammen und fing an, aus Leibeskräften zu brüllen.

Sollte ich hier im Haus bleiben, oder sollte ich meine Sachen packen und verschwinden? Das war die Frage. Ich kauerte nach wie vor auf dem Boden direkt bei dem Fenster, durch das auch weiterhin das Scheinwerferlicht des Autos schien. Allerdings hatten die Männer mit ihren Schießübungen aufgehört. Wahrscheinlich waren ihnen die Glasflaschen ausgegangen. Aufgrund des Gelächters vorhin wusste ich, dass sich sehr viel mehr von ihnen da draußen befanden, als ich angenommen hatte. Zwanzig? Dreißig? Wahrscheinlich standen noch weitere Autos auf der Lichtung, die ich vorhin, bei meinem Blick aus dem Fenster, nicht gesehen hatte.