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Anna von Boetticher

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Beschreibung

"Die meisten von uns limitieren sich selbst, bevor sie überhaupt angefangen haben." Eine zu kleine Lunge und eine Autoimmunkrankheit halten Anna von Boetticher nicht auf: Gegen alle Widerstände wird sie die erfolgreichste Apnoe-Taucherin Deutschlands. Sie schwimmt, frei von störendem Equipment, in den tiefsten Tiefen der Weltmeere mit Haien, Orcas und Mantarochen. Boetticher ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er will. Sie erklärt, wie wir mentale Stärke finden, in extremen Situationen die Ruhe bewahren und ganz bei uns bleiben. Auch wir Landratten können aus jeder Situation unter Wasser etwas mitnehmen: Wie überwinde ich Ängste? Wohin bringt mich Neugier, wenn ich sie zulasse? Wie lerne ich vollkommen zu vertrauen?

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Das Buch

»Die meisten von uns limitieren sich selbst, bevor sie überhaupt angefangen haben.«

Eine zu kleine Lunge und eine Autoimmunkrankheit halten Anna von Boetticher nicht auf: Gegen alle Widerstände wird sie eine der erfolgreichsten Apnoe-Taucherinnen der Welt. Sie schwimmt, ohne Equipment und Hilfsmittel, in den Tiefen der Weltmeere mit Haien, Orcas und Mantarochen. Anna von Boetticher ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er will. Sie erklärt, wie wir mentale Stärke finden, in extremen Situationen die Ruhe bewahren und ganz bei uns bleiben. Jeder kann aus ihren Erfahrungen unter Wasser etwas für sich mitnehmen: Wie überwinde ich Ängste? Wohin bringt mich Neugier, wenn ich sie zulasse? Wie lerne ich, vollkommen zu vertrauen?

Die Autorin

ANNA VON BOETTICHER ist Extremsportlerin. Mit nur einem Atemzug taucht sie über 100 Meter tief. Sie kommt sechs Minuten lang ohne Sauerstoff aus. Mit 33 nationalen Rekorden, dreimal WM-Bronze und einem Weltrekord ist sie die erfolgreichste Apnoe-Taucherin Deutschlands. Seit 2015 trainiert sie zudem Kampfschwimmer, Minen- und Polizeitaucher. Ziel: Stressbewältigung in gefährlichen Situationen unter Wasser.

Anna von Boetticher

IN DIE TIEFE

Wie ich meine Grenzen suchte und Chancen fand

Ullstein extra

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Fotos im Bildteil: © Daan VerhoevenAußer Nr. 2, 3 und 8: © Andrea Zuccari

ISBN 978-3-8437-2055-7

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbRUmschlagabbildungen: © Daan Verhoeven und © privatSatz: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinBildbearbeitung: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

»Die Stille, auf die ich aus bin, ist die Stille in mir.«Erling Kagge, Stille. Ein Wegweiser

INHALT

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Motto

Prolog

Kapitel 1: FaszinationMit Neugierde leben

Kapitel 2: VeränderungNeue Wege in die Tiefe

Kapitel 3: No LimitsEntdecken ohne Grenzen

Kapitel 4: RettungMit innerer Kraft durch die Krise

Kapitel 5: FreundschaftZwei sind dreimal so gut

Kapitel 6: StilleDer Fokus der Tiefe

Kapitel 7: SucheSich in die Welt vertiefen

Kapitel 8: StaunenDie Macht der Erlebnisse

Kapitel 9: ChancenÜber die Grenzen hinaus

Bildteil

Literatur

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Empfehlungen

PROLOG

»Wenn ich ein Buch über dich schreiben würde«, sagte Markus, »würde ich mit einem Geräusch anfangen. Dem Geräusch deines Herzschlags, das alles durchdringt. Das sich verlangsamt, immer weiter, bis die Pausen endlos scheinen.« Er hielt inne. »Aber dann«, sagte er, »würde ich nicht versuchen, die Ruhe zu schildern, die du dabei erlebst, die Entspannung und Schönheit.«

»Nein?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Dann käme der Moment, in dem dir die Lichter ausgehen. In dem du ohnmächtig wirst, 40 Meter unter der Oberfläche, und fast stirbst.«

»Das wäre spannend«, sagte ich, »und es wäre wahr. Aber mein Anfang wird ein anderer sein.«

Ich werde von der Magie der Tiefe erzählen.

Davon, wie es sich anfühlt, so weit unten zu sein, dass die Sonne ein fernes Echo in meiner Erinnerung ist. Davon, dass es mich ins Bodenlose zieht, und davon, dass ich dort die Welt in ihrer ursprünglichsten Form erlebe. Von den Freunden, die ich fand, und den Abenteuern, die wir bestanden. Von der Intensität des Augenblicks. Davon, was mich zur Apnoetaucherin macht, obwohl alles dagegenspricht. Und dann werde ich berichten von dem Moment, in dem es dunkel wurde um mich und in dem ich fast mein Leben verlor.

Apnoetauchen ist das Reduzieren des Daseins auf seine grundlegenden Bestandteile. Es ist die ultimative Pause, das Verharren zwischen Ein- und Ausatmen, ein Stillsein, wie es der Mensch sonst nicht kennt. Es ist das Anhalten der Welt, von dem wir alle manchmal träumen. Es ist Dazwischensein. Zwischen Steigen und Sinken, Bewusstsein und Ohnmacht. Oben und unten. Der Platz zwischen ungreifbarer Tiefe und Luft und Licht, zwei Welten, deren Zusammenspiel unsere Erde bewohnbar macht. Es ist die Balance zwischen Körper und Geist, zwischen Wille und Nachgeben. Wer sich dem Nicht-Atmen ernsthaft stellt, erlebt Gegensätze, die untrennbar miteinander verknüpft sind. Er erlebt Raum. Raum, sich zu fordern und zu entwickeln, und Raum, die unlösbare Verbindung von Mensch und Umwelt zu erfassen.

Mit nichts als einer Lunge voll Luft unterzutauchen, ist ein Urinstinkt, eine Fähigkeit, die uns angeboren ist und die wir mit vielen Lebewesen teilen, vor allem mit Meeressäugern wie Delfinen, Walen und Robben. Wie sie tragen wir den sogenannten Tauchreflex als Anlage in uns, eine Reaktion des Körpers auf das Eintauchen in die Unterwasserwelt. Unser Herzschlag verlangsamt sich, bis die Pausen zu überwiegen scheinen, das Gehirn wird vermehrt durchblutet. Der Stoffwechsel fährt herunter. Wir sind im Sauerstoffsparmodus.

Diese angeborene Reaktion geht im Erwachsenenalter weitestgehend verloren, doch wer Apnoe taucht, passt sich mit Körper und Geist wieder an den geheimnisvollen, aquatischen Lebensraum an und erfährt in ihm eine Rückkehr zum Ursprung des Menschen. Von diesen Momenten möchte ich erzählen. Von der Suche nach Grenzen in der Tiefe des Ozeans, Grenzen, die Möglichkeiten sind. Die unvergleichliche Schönheit der Erlebnisse gehört in gleichem Maße dazu wie die Gefahren, die ich überwand. In den Erfolgen und Rückschlägen des Wettkampfsports entdeckte ich meine ungeahnten Stärken und wurde mit meinen Fehlern konfrontiert. Dabei lehrte mich die Unnachgiebigkeit der Natur, der ich mich aussetzte, diese Teile meines Selbst klar zu sehen und mit Ehrlichkeit zu einem Ganzen zu fügen, das meine Persönlichkeit bestimmt und mich durchs Leben begleitet, über wie unter Wasser.

Während ich an diesem Text arbeite, stürzt mich der plötzliche Abschied eines geliebten Menschen in die größte Herausforderung, die ich je zu bewältigen hatte, eine, der sich jeder von uns früher oder später stellen muss. Wie es möglich ist, mit der Lücke zu sein, werde ich erst mit dem Verrinnen von Zeit langsam herausfinden. Durch die schwierigen Tage, die den unerwarteten Tod umgaben und die in den nächsten Wochen anstehen, hilft mir die enge Verbindung zu meiner Familie und die Kraft im Umgang mit den ursprünglichsten Elementen des Lebens, die ich mir mit jedem Innehalten des Atems aufs Neue erkämpft habe. Während ich versuche, aufs Papier zu bringen, was die Stärke in mir erzeugt, mit der ich Extreme bewältige, wird ein wenig klarer werden, wie sich der Verlust in meine Zukunft einfügt – eine Hoffnung, die mich über das Erzählte hinaus nach vorne trägt.

Mein Buch beginnt mit einem kleinen Abenteuer.

KAPITEL 1:

FASZINATION

Mit Neugierde leben

In meiner Erinnerung ist es Sommer. Das Schwimmbad zu Hause, in unserem wilden Garten, ist kühl. Uns Kindern ist egal, ob wir frieren – wenn wir im Wasser sind, zählt nur der Augenblick. Jede freie Minute verbringen wir im Becken.

Ich weiß noch, wie das Hellblau des Bodens aussah. Eine feste Plane, keine Kacheln, sie ist in Bahnen verschweißt. Die Nähte geben mir einen Anhaltspunkt: Schwimme ich geradeaus? An manchen Stellen ist das Blau ausgeblichen.

Ich trage eine große, orangefarbene Taucherbrille mit rundem Glas, die beinahe mein ganzes Gesicht bedeckt. Bei warmem Wetter nehme ich sie kaum ab, denn ständig bin ich damit unter Wasser. Ich stelle mir vor, der Pool sei der Ozean. In meiner Fantasie ist die Plane dunkel, das Schwarzblau der Tiefe. Bodenlos. Ein Universum von Möglichkeiten.

An diesem Tag konzentriere ich mich. Ich hole ein letztes Mal Luft, dann lasse ich mich unter die Oberfläche fallen und stoße mich vom Beckenrand ab. Ich schwimme mit kräftigen Zügen, denn ich habe mir vorgenommen, tauchend die andere Seite zu erreichen, zwölf Meter weit entfernt. Am Ende der Bahn spüre ich es, das Ziehen im Bauch, das Bedürfnis zu atmen. Es wird stärker, brennt in mir, verlangt nach Luft. Ich denke: umdrehen! Nach der Wende nur ein Schwimmzug, sage ich mir, dann hoch. Mein Zwerchfell zieht sich zusammen, der Bauch fängt an zu pumpen. Rhythmische Kontraktionen. Ein seltsames Gefühl, als versuche mein Körper Luft zu holen, mit Gewalt. Alles in mir will atmen. Jede Zelle. Nur ich will nicht. Ich will die zweite Bahn bis zum Ende schaffen. Ich schwimme weiter.

An der Wand der Stolz: zwei Längen! Bevor ich weiß, was geschieht, drehe ich um. Ein letztes Mal abstoßen, denkt sich etwas in mir. Die Zwerchfellkontraktionen sind intensiv, doch ich ignoriere sie. Meine Arme sind schwer, die Beine ebenso, wie Blei. Während mich dieses neue Gefühl beschäftigt, schwimme ich weiter, wieder sehe ich die Wand, zum dritten Mal. Sie ist nicht weit, gleich bin ich da, wenn ich noch etwas aushalte, erreiche ich sie. Nur funktionieren meine Arme und Beine kaum, das ist seltsam.

Wie aus dem Nichts taucht es auf, das Ende der Strecke, die Plane unter meiner Hand fühlt sich weich an, und warm. Ich wende. Als ich die Füße ansetze, um mich erneut hinauszudrücken, in die Bahn, die offenen Möglichkeiten, erscheinen an den Rändern meines Sichtfeldes schwarze Pünktchen. Eine dunkle Wolke aus Pixeln, die sich zuzieht, ich sehe durch eine lange Röhre, ihr Ende entfernt sich. Der Tunnelblick. Etwas sagt mir, dass hier die Grenze ist. Dass ich jetzt aufhören muss.

Das Durchbrechen der Oberfläche ist wie die Rückkehr in eine Welt mit Licht, Klang, Leben. Die Sonne auf dem Wasser, die unruhigen Schatten der Buchen auf dem Kiesweg. Das Brummen des Rasenmähers im Nachbargarten. Eine Flut von Eindrücken stürzt auf meine Sinne ein, die Lungen füllen sich, verschlingen die Luft mit großen, rettenden Atemzügen, jeder von ihnen wie ein Geschenk. Die Pixelwolke verschwindet, ich bin zurück. Mein erster Gedanke: Wahnsinn! Und: Schaffe ich mehr?

38Meter weit war ich getaucht, mit acht Jahren, entgegen jedem Instinkt, der mich zum Abbrechen zwingen wollte. Ich erinnere mich daran, hinterher lange über das Erlebte nachgedacht zu haben. Dieses Verlangen nach Luft, das so früh kam. Die Entdeckung, dass ich nicht atmen muss. Das merkwürdige Pumpen des Bauches. Die schweren Glieder. Begeistert erklärte ich meinem jüngeren Bruder Patrick, er könne tauchen, bis »es an den Rändern ganz schwarz wird«. Ich wusste nicht, dass ich mich an den Rand der Ohnmacht und damit in Lebensgefahr gebracht hatte. Da ich allein im Wasser war, hätte ein Blackout Ertrinken bedeutet.

In dem blassblauen Schwimmbad unter den großen Bäumen hatte ich eine Entdeckung gemacht, die mich nicht mehr losließ: den Sieg meines Geistes über den Körper. Schon damals trug ich die Sehnsucht nach dem Ungewissen in mir. Ich verspürte eine intensive Neugierde auf die Welt und hatte das dringende Bedürfnis, mich ihren unentdeckten Weiten auszusetzen und mich darin zu erleben. Genährt durch eine von Anregung und Abenteuern bestimmte Kindheit in einem kleinen Dorf am Rande der Alpen, wurde die Faszination des Unbekannten zu einem elementaren Bestandteil meines Lebens.

Mit meinen Eltern, den drei jüngeren Brüdern Patrick, Niklas und Albrecht und einem Haufen Haustiere, darunter eine aus dem Nest gefallene Krähe, die wir gerettet hatten, genoss ich den Luxus des Lebens auf dem Land: uneingeschränkten Platz. Es gab zwar keinen großen Supermarkt in der Nähe, doch auf unserem Grundstück hatte der Vorbesitzer ein Loch gebuddelt und selbst ein Schwimmbad gebaut. Unbeheizt und eiskalt, war es nur ein paar Wochen im Jahr nutzbar. Diese Zeit genossen wir dafür umso mehr. Die großen Buchen, die den Garten überwucherten, verfluchten wir jeden Herbst, wenn wir täglich Unmengen von Laub zusammenharken mussten. Gleichzeitig liebten wir die Bäume von ganzem Herzen, denn sie boten Vögeln und Eichhörnchen ein Zuhause und waren der perfekte Abenteuerspielplatz. In schwindelerregender Höhe hatte ich in einer Astgabel ein Seil hin- und hergewoben und mir damit ein perfektes – wenn auch gefährliches – Leseversteck gebaut, in das ich stundenlang verschwinden konnte.

Wie die meisten Kinder träumte ich mich in die Welt hinaus. Mit vor Aufregung geröteten Wangen folgte ich den Erzählungen von Karl May, in denen Indianer, Trapper und Cowboys durch die Prärie streiften, und versenkte mich in Jack Londons Geschichten über die Wildnis Nordamerikas. Viele dieser Bücher las ich, bis sie auseinanderfielen. Eines davon war Kurt Helds Erzählung »Die rote Zora«, die von einer Bande Waisenkinder am Mittelmeer handelt. An einer Stelle kämpft Branco, der Held des Buches, mit einer riesigen Krake, die versucht, ihn unter Wasser zu ziehen, und die er nach langem Ringen mit seinem Messer besiegt. Die Mischung aus dem mythischen Ungetüm und dem Mut, mit dem Branco die Gefahr überwand und damit das Meer und seine eigenen Grenzen bezwang, übte große Faszination auf mich aus. Wo war die Krake hergekommen? Ob weitere Ungeheuer in der Tiefe lauerten? Ich erörterte diese Dinge intensiv mit meinem Bruder Patrick, der in Abenteuerfragen trotz aller Auseinandersetzung unter Geschwistern immer mein Kamerad war. Wenn möglich übertrugen wir unsere Theorien und Gedanken in unser Spiel, denn wir wollten die Gefahren erleben, anstatt nur darüber zu lesen. So wurde ein Stück altes Hanfseil zur Krake mit ihren langen Armen, die uns in die Tiefe zog, ein Ast das Messer, mit dem wir sie besiegten. Ich empfand die gespielten Geschichten so intensiv, dass ich noch heute weiß, wie sich der Saugarm anfühlte, der sich in meiner Fantasie um mein Bein schlang.

Durch die Mühe, die sie sich gaben, uns zu inspirieren, weckten meine Eltern unsere Neugierde auf die Welt und darauf, sie mit allen Sinnen zu erleben. Einen Sommer lang herrschte zum Beispiel erbitterter Krieg zwischen den Stämmen der Weißfeder- (mein Vater) und Schwarzfeder-Indianer, einem Haufen Kinder. Regelmäßig wurde mein Vater gefangen genommen und an den Baum gebunden. Er brachte uns bei, aus dem Wald die richtigen Zweige zu holen, um Bogen zu bauen, dazu leichte Pfeile aus Schilf, die hinten vorsichtig mit Federn für den geraden Flug versehen und vorne mit etwas Holz ausbalanciert wurden. Nie waren unsere Eltern zu müde oder zu genervt für ein Spiel. Mitten im Winter organisierte meine Mutter spontan ein Picknick im tiefen Schnee an einer geschützten Stelle des Hauses. Sie versorgte uns mit Decken, servierte heißes »Skiwasser« in Bechern mit einer »Skijause«, bestehend aus Schinkenbroten, und gab uns das Gefühl, wir wären im Winterurlaub in einem Schweizer Skiort. Sie verstand es, ein alltägliches Mittagessen in ein Abenteuer zu verwandeln.

Es gibt ein Foto von meinen Brüdern Niklas und Albrecht, sie sind darauf vielleicht acht und vier Jahre alt. Durch den tiefen Schnee im Garten ziehen sie einen braunen Holzschlitten, während Baska, unser Labrador, um sie herumspringt. Sie spielen Amundsen auf dem Weg zum Südpol und empfinden dabei die Mühe, das Elend und die Qual der Expedition ebenso wie die Faszination, widrigen Umständen zum Trotz nach einem Ziel zu streben. Man sieht, mit welcher Intensität sie in dem Abenteuer versunken sind, es ist real, mit allen Sinnen kämpfen sie sich durch einen Sturm in der Antarktis. Wenn man schon als Kind in der Lage ist, sich im Spiel in solchem Maße auf eine Situation einzulassen, begleitet einen diese Fähigkeit ein Leben lang. Sie hilft, die Kraft und das Potenzial neuer Erlebnisse zuzulassen und zu schätzen.

Ein einschneidendes Erlebnis für mich war eine wilde Segelreise mit der ganzen Familie. Ein Bekannter meines Vaters hatte mit der Leidenschaft des Unvernünftigen ein uraltes Boot wieder nutzbar gemacht und war dabei, es zu vermieten. Zusammen mit Freunden stopften wir jede Ecke des Schiffes mit Erwachsenen und einer Horde Kinder voll und machten uns so auf den Weg zu den Ionischen Inseln. Für mich und meine Brüder eröffnete sich eine neue Welt: der Wind in den Haaren, das Wasser, das am Schiff vorbeirauschte, so tiefblau, wie es nur weit draußen auf dem Meer ist, die großen Masten und die verwaschenen Schwimmwesten, die wir tragen mussten. Alles war aufregend.

Ich erinnere mich daran, dass man Niklas, Patrick und mich kaum vom Bug wegbekam, von Seekrankheit keine Spur. Wir klammerten uns an der Reling fest und sahen das Wasser auf uns zusausen. Wenn uns die Gischt erreichte, feierten wir mit Gejohle. Jede Welle war ein Erlebnis, über Stunden hinweg.

In den zwei Wochen auf dem Segelboot war nichts für mich so faszinierend, wie die Unterwasserwelt durch die Taucherbrille zu betrachten. Das Meer um Griechenland war tiefblau und warm, das Wasser klar, die Küste zerklüftet und steil mit einem Gewimmel von Leben. Täglich entdeckte ich neue, seltsame Fische. Abends aßen wir draußen an Deck, nachts schliefen wir dort unter dem Sternenhimmel, denn in den kleinen Kabinen war es schrecklich heiß.

Meine Brüder und ich, allesamt braun gebrannt mit ausgebleichten zotteligen Haaren, tauchten immer tiefer und holten große Muscheln vom Grund hoch. Zum Leidwesen meiner Mutter bestanden wir darauf, sie zuzubereiten und zu essen, obwohl sie reines Kaugummi und praktisch ungenießbar waren. Je nach Laune fühlten wir uns wie Seenomaden, Matrosen oder Tiefseeforscher.

Eines Tages lagen wir in circa 15Meter Tiefe in einer kleinen Bucht vor Anker und hatten wie üblich an Deck zu Mittag gegessen. Patrick war mit dem Abwasch an der Reihe, für den er einen Eimer benutzte. Er holte die Teller heraus und schüttete das dreckige Wasser ins Meer. Ein Blinken in der Sonne und ein klirrendes Geräusch verrieten: Er hatte das Besteck vergessen und es mit Schwung über Bord gekippt. Für mehr als zehn Leute hatten wir nun nur noch einen Löffel übrig. Mein Vater versuchte, das Besteck wieder heraufzutauchen, doch er hatte Probleme mit dem Druckausgleich in den Ohren und schaffte es nicht, sodass er es schließlich mich versuchen ließ. Von oben sah ich das Metall auf dem Grund blitzen, in der gläsernen Helligkeit des Wassers wirkte es zum Greifen nah. Inzwischen war die Taucherbrille zu einem Teil von mir geworden, und ich hatte jeden Tag damit verbracht, länger unten zu bleiben. Endlich gab es einen Grund, meine neuen Fähigkeiten zu nutzen und mich zu testen.

Einen Moment lang konzentrierte ich mich und suchte den Blick zum Meeresboden. An welcher Stelle würde ich anfangen? Mit kräftigen Zügen schwamm ich hinunter. Messer, Gabeln und Löffel lagen verstreut hinter Felsen oder halb im Sand, sie hatten sich überall unter dem Schiff verteilt. »Ach, noch schnell das Messer«, dachte ich, »und da ist ja noch ein Löffel neben dem Stein, den noch, dann wieder hoch!« Mein Vater beobachtete mich und versuchte es ebenfalls weiter, schaffte es aber nie bis zum Grund. Er zog sich dabei ein Barotrauma zu, eine Überdruckverletzung des Mittelohrs, sodass sein Hörvermögen auf dem linken Ohr einige Tage lang eingeschränkt war. Oft ermahnt er mich heute zur Vorsicht – gerne erinnere ich ihn dann daran, dass ich schon immer die Vernünftigere von uns beiden gewesen bin.

Wenn ich zurückblicke, sehe ich, wie meine Eltern die Weichen stellten für abenteuerlustige Kinder. Ich war bei Weitem nicht immer mutig und bin es bis heute nicht. In vielerlei Beziehung war ich ein schüchternes Kind. Ich war einerseits für neue Erlebnisse zu haben, hatte aber andererseits häufig Angst. Angst davor, mit Fremden zu reden. Angst davor, ans Telefon zu gehen. Angst davor, irgendwo herunterzuspringen. Später, als junge Erwachsene, Angst davor, den Führerschein zu machen. Ich fürchtete mich vor allem Möglichen, doch die elementare Freiheit, die unsere Eltern uns nahebrachten, beeinflusste mich zutiefst und machte mich stärker.

In der kleinen Bucht gelang es mir, unter dem Beifall von Familie und Freunden das komplette Besteck zu bergen. Mein Vater überprüfte die Tiefe mit einem Senkblei und verkündete, dass ich 16Meter hinuntergetaucht war – ich konnte den Stolz in seinen Augen sehen. Es war ein Erfolgserlebnis, das mir half, eine Schwelle zu überschreiten. Damals war ich davon überzeugt, vollkommen unsportlich zu sein, und hatte mich innerlich damit abgefunden, es für den Rest meines Lebens zu bleiben. An diesem Tag im klaren Wasser Griechenlands verstand ich zum ersten Mal, dass ich mir meinen eigenen Weg suchen musste, um meine Leistungsfähigkeit zu entdecken, und dass ich zu viel mehr in der Lage war, als ich für möglich hielt. Es war eine Erkenntnis, die mir neues Selbstvertrauen schenkte und die bis heute wichtig für mich ist.

Immer wieder sehe ich beim Unterrichten von Tauchern, wie viele Menschen den festen Glauben an die eigene Schwäche mit sich durchs Leben tragen. Aus Erfahrungen in der Kindheit oder den Teenagerjahren gewonnen, bleibt er haften und ist kaum abzulegen. Wer meint, körperlich zu nichts in der Lage zu sein, der baut sich diesbezüglich seine eigene Wahrheit. Jede Aktivität, die sich als mühsam entpuppt, jedes Scheitern verstärkt seine Überzeugung. »Ich kann das eben nicht, das ist nichts für mich, sieh mich doch an, ich bin nicht der sportliche Typ, ich bin nicht so mutig«, ist der Text, der endlos abgespult wird und in jeder Situation zu passen scheint. Zu erleben, in welchem Maße man sich und seine Fähigkeiten neu entdecken kann, wenn man einen Schritt ins Ungewisse macht, ist eine wichtige Erfahrung, die leider vielen Menschen fehlt – eine, für die es nie zu spät ist.

Meine Neugierde auf das Leben half mir glücklicherweise schon früh, den Glauben an die eigene körperliche Unzulänglichkeit zu überwinden. Schnell wurde deutlich, dass ich aus unerklärlichen Gründen ein Tauch-Gen besaß. Meine Geschwister fühlen sich allesamt im Wasser wohl, doch auch sie betrachten mich, wie die meisten Leute, bis heute mit einem ungläubigen Kopfschütteln, wenn ich ihnen von meinen Unterwasser-Expeditionen erzähle. Schon als Teenager hatte ich nur einen großen Wunsch: das Tauchen mit Flaschen zu lernen und wie Jacques Cousteau in seinen Filmen die Ozeane zu erkunden. Ich sah mich mit einem zerbeulten Schiff durch die Welt fahren, Haie, Rochen und Kraken beobachten und versunkene Schätze entdecken.

Als ich 17 Jahre alt war, bot sich mir endlich die lang ersehnte Chance. Inzwischen ging ich am Bodensee zur Schule, den ich als einen sich ständig wandelnden Hintergrund von unvergleichlicher Schönheit empfand. Bei klarem windstillem Wetter reflektierte er die Wolken, spiegelglatt und endlos. Wenn sich Sturm anbahnte, nahm er die bleigraue Farbe des bedrohlich aussehenden Himmels auf und schlug kurze, aggressive Wellen an das Kiesufer. Unter seiner Oberfläche verbergen sich Reste von Pfahlbauten, versunkene Schiffe und gefährliche, senkrecht in die Tiefe abfallende Steilwände, an denen immer wieder Taucher ihr Leben verlieren.

Mich und ein paar meiner Mitschüler zog diese verborgene Seite des Sees unwiderstehlich an. Mit Einverständnis der Eltern gründeten wir eine Tauch-AG und belegten einen Anfängerkurs beim lokalen Tauchverein. Als nach Wochen Theorieunterricht und Training im Schwimmbad der erste Ausflug in die Tiefe anstand, war ich früh wach. Es herrschte Oktoberwetter, ein feiner Nieselregen schwebte als kalte Nässe in der Luft und kroch uns unter die Kleidung. Der anthrazitgraue See verschwamm mit dem Nebel, der alles bedeckte. Es gab keinen Horizont, keinen Blick in die Ferne über das Wasser, in dem es mit einer Temperatur von unter zehn Grad nicht nur kalt, sondern auch vollkommen dunkel war, eine Düsternis, die mir nicht unheimlich, sondern faszinierend und aufregend erschien.

Der Tauchlehrer schwamm mit einer Lampe vor mir her, während ich mich hinter ihm in der Schwebe hielt und mich fühlte, als wäre ich in eine neue, mysteriöse Welt versetzt worden. Langsam glitten wir an dem steil ins Bodenlose abfallenden Hang entlang, vorbei an Felsen und bleichen Ästen, die neben einem Autoreifen gespensterhaft aus dem graubraunen Schlamm ragten. Als wir auf dem Weg zurück auf einen Aal stießen, der aus einem Loch schaute und sich langsam hin und her bewegte, war ich an die unwirtliche Unterwasserwelt verloren. Wenn auch keine Attraktion im herkömmlichen Sinne, hatte der See doch seine eigene Magie. Ich hatte entdeckt, dass mich nicht nur die lichtdurchfluteten Gewässer von eindeutiger Schönheit faszinierten, sondern auch die Orte, für die man Willen braucht und die Bereitschaft, sie mit offenen Augen zu sehen. Wer sich die Mühe macht, sie zu erobern, spürt ihre urtümliche Anziehungskraft und wird mit unvergesslichen Eindrücken belohnt, die weit über das vergleichsweise leichte Erleben von Postkartenidylle hinausgehen.

Zu meinem Glück konnte ich mich schon als Kind und Jugendliche ausprobieren und einer Leidenschaft nachgehen – eine Art zu leben, die mir erhalten blieb und die mich mit den Jahren immer weiter in die Unterwasserwelt führte. Ich erlebte sie in all ihren Schattierungen, betauchte die dunklen Tiefen von Seen und beobachtete das Gewimmel tropischer Riffe, sah Rochen, Haie und Meeresschildkröten, und es schien mir, als könnte nichts schiefgehen, als sei ich ein Teil dieses einzigartigen Lebensraums. Doch wer sich mit dieser Art von Neugierde in die Welt hinausbegibt und dort seine Grenzen sucht, muss sich irgendwann über seine Sicherheit Gedanken machen und darüber, wie er mit der Suche nach dem Unbekannten umgehen will.

Mein Erwachen kam, als ich mit 23Jahren auf der kleinen, damals kaum erschlossenen Karibikinsel Tobago mit dem Rucksack herumreiste. Ich war mit dem schwedischen Besitzer einer Tauchschule im Wasser, einem Riesen mit langen blonden Haaren, der das Klischeebild eines Wikingers erfüllte. Über die Kante eines prächtigen Riffes segelten wir in den Abgrund, ein unfassbares Gefühl, mühelos frei fallend ging es hinunter ins Nichts. Erst als wir in 50Metern umdrehten, wurde spürbar, was diesen Abstieg so intensiv gemacht hatte: Eine kräftige Abwärtsströmung zog uns an der Steilwand entlang in die Tiefe, mit einem Sog, gegen den anzuschwimmen viel Kraft erforderte. Er bildete eine Gefahr, die wenig zuvor einem anderen Guide mit seinem Kunden zum Verhängnis geworden war. Die bedrohliche Strömung hatte mir bewusst gemacht, dass ich mich nicht mehr einfach so auf das Urteil anderer verlassen würde. Ich wollte Risiken selbst einschätzen und meine eigenen Entscheidungen treffen können.

Es ist ein Merkmal unserer Zeit, dass immer weniger Menschen eine Leidenschaft ganz ausleben. Wir suchen Ablenkung und simple Unterhaltung und haben uns daran gewöhnt, alles sofort zu bekommen. Kaum jemand ist wirklich mit vollem Herzen Bergsteiger, Taucher oder Segler. Wer sich früher als Bergsteiger verstand, der machte sich jedes Wochenende, zu jeder freien Zeit auf den Weg nach oben. Dabei lernte er über Jahre, den Berg, das Wetter und seine eigenen Fähigkeiten einzuschätzen. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, den Everest besteigen zu wollen. Man bewunderte die Messners dieser Welt für ihre Hingabe und ihr außergewöhnliches Können und genoss die Herausforderung der Natur im den eigenen Möglichkeiten angemessenen Rahmen.

Heute möchten die wenigsten von uns die Geduld und Zeit aufbringen, die notwendig sind, um wirklich Bergsteiger zu sein. Wir suchen ein Erlebnis, das auf einer Liste steht, und wir möchten es möglichst schnell. Man meldet sich zu einer Everestexpedition, ohne jemals anspruchsvolle Gipfel erklommen zu haben und ohne Interesse daran, sich das Können, Wissen und die Erfahrung anzueignen, die zu dieser Leidenschaft dazugehört. Auch beim Tauchsport ist dieser Trend spürbar – immer mehr Menschen gehen nur ein einziges Mal tauchen, denn im nächsten Urlaub wird etwas anderes ausprobiert. Auf diese Weise die Welt zu erleben, reicht mir nicht aus, denn mich in etwas zu vertiefen, ist mir ein elementares Bedürfnis.

Ich machte mich also auf den Weg, Tauchlehrerin zu werden, eine Erfahrung, die meinen Horizont auf ungeahnte Weise öffnete und mir überraschend viele Dinge fürs Leben mitgab. In der auf der thailändischen Insel Phuket gelegenen kleinen deutschen Tauchbasis Calypso Divers wurde ich unter Anleitung von Steffen Kochan vom sicheren Taucher zum Profi, der sich um andere kümmert und Verantwortung übernimmt. Durch die Arbeit lernte ich, wirklich zu »sehen«. Ich bekam einen Blick für die Stellen, an denen sich Meerestiere verstecken, erkannte schon aus dem Augenwinkel die Fühler einer winzigen gestreiften Putzergarnele unter einer Koralle. Das silbrige Glänzen eines Haies, der am Rande des Sichtfeldes im Blau kreiste, entdeckte ich ebenso wie die Schildkröte, die langsam zur Oberfläche glitt und dabei einen Schatten auf den weißen Sandboden warf. Die Unterwasserwelt jeweils mit den Tauchern in der Gruppe zu teilen, die ich führte, empfand ich als etwas Besonderes. Gemeinsam erlebt man die Faszination unserer Welt und weiß: Diese Momente sind ein Geschenk.

Wie wichtig es ist, sich seine Begeisterungsfähigkeit zu erhalten, wurde mir vor allem dann bewusst, wenn Gäste an Bord kamen, denen nichts Freude bereitete. Einmal fuhr ein Amerikaner mit uns hinaus, ein erfolgreicher Geschäftsmann Ende dreißig, der in Bangkok lebte. Schon auf dem Weg zum Tauchplatz wirkte er unzufrieden, unsere »Greta«, eines der besten Tauchboote in Phuket, war ihm eindeutig nicht schick genug.

An diesem Tag sahen wir neben dem üblichen Gewimmel am Riff eine goldgesprenkelte Riesenmoräne frei schwimmend durch die Korallen ziehen, begegneten einem Oktopus, der sich aus seinem Loch gewagt hatte, und beobachteten zum Abschluss eine große Schildkröte beim Fressen. Die ganze Gruppe kletterte in Hochstimmung wieder an Bord, alle redeten ununterbrochen über ihre Erlebnisse. Nur der Amerikaner blieb still. Als ich ihn fragte, ob es ihm gefallen habe, antwortete er mit einem Schulterzucken und sagte: »Wir haben ja nichts gesehen.«

Ich war sprachlos. Als erfahrener Taucher sammelt man mit der Zeit viele Eindrücke, unter ihnen Höhepunkte wie Begegnungen mit großen Haien, Walen oder Mantarochen. Nicht jeder Tauchgang ist gleichermaßen spektakulär, manche sind ereignislos, und man kann sich auch schon mal ein wenig langweilen. Doch wer sich über die Begegnung mit einer sanft durch das klare Wasser gleitenden Schildkröte nicht mehr freut, hat etwas verloren. »Wenn ich je so wenig fühle«, dachte ich, als ich mich von diesem Gast verabschiedete, »bin ich auf dem falschen Weg.« Die Fähigkeit, die Vielfalt seiner Umgebung wahrzunehmen und zu schätzen, ist für mich ein elementarer Teil der Lebensfreude, den man sich immer wieder neu erhalten muss und den man besonders in den kleinen und unerwarteten Dingen findet. Vor ein paar Wochen ging ich die Straße entlang, als ich, mitten im üblichen Berliner Dreck, unter einem Baum, an den im Akkord die Hunde pinkelten, ein kleines, selbst gebasteltes Kreuz sah. »Maus« stand darauf in krakeliger Schrift. Offensichtlich hatten Kinder eine tote Maus gefunden und sie ordentlich in der Asphaltlandschaft beerdigt, so wie wir früher die toten Vögel und Eidechsen begruben, die wir manchmal im Garten fanden. Diese kleine Stadtgeschichte brachte mich zum Lächeln und wird mir, ebenso wie viele meiner Erlebnisse unter Wasser, in Erinnerung bleiben. Wenn man möchte, kann man überall die faszinierende Vielfalt des Lebens sehen und lernen, an ihr mit Kreativität teilzunehmen.

Dabei sind es nicht nur Naturerlebnisse, in denen man sich fordern und entdecken kann. Bei allem Fernweh, das mich immer wieder in die Welt hinauszieht, fasziniert mich ebenso, mich dem Dschungel der modernsten Metropolen auszusetzen. Als freiberufliche Produktionsassistentin arbeitete ich einige Jahre in London, das ich mir ebenso erobern musste wie den kalten Bodensee mit seinen undurchdringlichen, schlammigen Tiefen. London war eine Wildnis und eine Herausforderung und sich dort zurechtzufinden, ein einziges, großartiges Abenteuer.

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