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„Mein Vater, wie er ganz ruhig den Tag beginnt, nicht ausgeglichen, aber stabil. Nie schrie er am Beginn des Tages, er ging mit vorsichtigen Schritten, manchmal etwas Weiches in seinem Gesicht. Als hätte sich erst danach etwas verändert, als führten erst der Mittag und der Nachmittag in eine andere Richtung, und an jedem Morgen hätte es die Möglichkeit zu einem anderen Verlauf der Geschichte gegeben, die ich schreibe.“ Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. Erste unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen Sommersonne. Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwelt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie – alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. Ebenso unaufdringlich wie fesselnd erzählt Janina Hecht von schönen und schrecklichen Tagen, von Ausbruch und Befreiung und vom Versuch, sich im Erinnern dem eigenen Leben zu stellen. "In diesen Sommern" ist die bewegende Geschichte einer Familie auf der unentwegt gefährdeten Suche nach einem stillen Glück.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
JANINA HECHT
In diesen Sommern
Roman
C.H.Beck
Teresas Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend wirkt wie ein behutsames Herantasten, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. Erste unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen Sommersonne.
Es sind unzuverlässige Momente der Unbeschwertheit, die immer wieder eingetrübt werden von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwelt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie – alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. In ebenso unaufdringlicher wie fesselnder Weise erzählt Janina Hecht von schönen und schrecklichen Tagen, von Ausbruch und Befreiung und vom Versuch, sich im Erinnern dem eigenen Leben zu stellen. «In diesen Sommern» ist die bewegende Geschichte einer Familie auf der unentwegt gefährdeten Suche nach einem stillen Glück.
Janina Hecht, 1983 bei Stuttgart geboren, studierte Neuere deutsche Literatur und Linguistik. 2016 und 2018/19 war sie Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens am Literaturhaus München, 2019 Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. «In diesen Sommern» ist ihr Debüt.
Wasser
Blumenkästen
Fahrrad
Experimente
Rennwagen
Italien
Weinberg
Der Pool
Kabel
Türen
Holz
Baumhaus
Senna stirbt
Chlor
Am See
Kaugummi
Tomaten
Torbole
Samstag
Schule
Zimmer
Geburtstag
Raspeln
Ruhe
Drei Wochen
Flaschen
Vierzehn
Die Hütte
Sara
Fliegen
Telefon
Schwimmkurs
Zeit
Regen
August
Wände
Herbst
Weihnachten
Studieren
Cola (Let it be)
Simon
Pfade
Zum Meer
Besuch
Suppe
Auberginen
Im Haus
Kaffee
Schnee
Kisten
Fünf
Ausflug
Schwimmen
Dank
Musiknachweise
für Bernhard und Franz
You search the world for the milk of the pearl
Gregory Alan Isakov
Vier Jahre bevor ich geboren werde, kentert mein Vater mit einem Boot auf dem Rhein. Es ist Spätsommer, September, meine Eltern haben sich wenige Wochen zuvor verlobt. Mein Vater ist mit Freunden in einem Motorboot unterwegs, sie unterschätzen den Wellengang bei einem Überholmanöver, das Boot kippt und sie stürzen ins Wasser. Sie schwimmen quer zur Strömung bis zum Ufer. Als sie ankommen, sind sie völlig entkräftet.
Ich stelle mir vor, wie mein Vater am Abend meiner Mutter den Unfall erzählt, welche Worte er benutzt und was sie in diesem Moment denkt.
Sie war als kleines Mädchen in einen Bach gefallen, hatte mit den Nachbarskindern gespielt und war ausgerutscht, und als sie endlich herausgezogen wurde, geschwächt und am ganzen Körper kalt, konnte niemand sagen, ob sie sich wieder erholen würde.
Ich glaube, meine Eltern hatten ein nahezu identisches Verhältnis zu Wasser. Vielleicht hat sie das mehr verbunden, als ihnen bewusst war. In meiner Kindheit habe ich es nie erlebt, dass sie einfach nur zum Vergnügen gebadet haben.
Mit meinen nackten Füßen steige ich über die Türschwelle vom Wohnzimmer auf den großen Balkon, ich kann das Holz der einzelnen Bretter fühlen, die Wärme. Ich gehe den schmalen Rand entlang, am Ende liegt meine Mutter auf einem Liegestuhl, ihre Augen sind geschlossen.
Ich nehme einen Eimer und tunke ihn ins Regenfass, halb voll trage ich ihn zurück in die Sonne, setze mich auf den Boden und stelle meine Füße hinein. Das Wasser ist kalt, viel kälter, als ich geglaubt habe. Mit den Fingern male ich unsichtbare Zeichnungen auf meine Knie, erst Kreise, dann Blumen, dann einen Elefanten. Ich schöpfe das Wasser mit beiden Händen über mein Gesicht, es fließt an den Ohren herab, läuft auf das Holz und zwischen den Brettern hindurch bis hinunter in den Garten.
Meine Mutter setzt sich auf und blinzelt mich an, ganz schön warm heute, sagt sie, und dann fragt sie, ob ich Hunger habe. Ich schüttle den Kopf und wische mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht. Sie bittet mich, sie einzucremen. Auf einem Brett balanciere ich zu ihr hinüber, sie reicht mir eine kleine Flasche und legt sich auf den Bauch, ich setze mich auf ihren Hintern. Sie lacht und versucht mich zu kitzeln.
Ich rieche das Plastik des Liegestuhls, er ist mit großen gelben und braunen Blumen bedruckt, die neben dem Körper meiner Mutter herausschauen, Blumen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Jahre später hat mich das Muster immer an diese gleißend hellen Tage erinnert, an denen die Zeit vor sich hin tröpfelte und es mir einfach unmöglich schien, dass es irgendwann wieder Winter werden könnte. Ich gieße mir etwas von der braunen Flüssigkeit auf die Hand, meine Mutter summt eine langsame Melodie, während ich sie eincreme. Noch heute kann ich mich an den nussigen Geruch erinnern, an das dickflüssige Öl, das sich in den Rillen meiner Handinnenseiten sammelte, daran, wie weich ihr Rücken war.
Pass auf, dass es nicht auf den Bikini läuft, sagt sie.
Ich weiß schon, sage ich.
Es könnte der Sommer nach meinem ersten Schuljahr gewesen sein.
Meine Mutter fährt den gelben Opel, wir hören die Kinks, sie singt mit und schaut immer wieder zu mir in den Rückspiegel. Vor der Gärtnerei parkt sie, springt aus dem Auto und öffnet mir die Tür. Sie sieht auf die Uhr.
Manuel kommt erst in zwei Stunden aus dem Kindergarten, sagt sie.
Mit einem geflochtenen Korb gehen wir die langen Reihen an den Betontischen entlang, meine Mutter nimmt Töpfe mit Blumen heraus, die ihr gefallen, und hält sie mir hin, sie fragt mich, ob ich sie schön finde. Ich mag die kleinen blauen Blümchen am liebsten, wir kaufen sie, und für Oma noch große rote Blumen, die altmodisch aussehen. Nach dem Einkauf ist der ganze Kofferraum voll.
Weil wir noch Zeit haben, gehen wir Eis essen. Wir sitzen unter einem hellblauen Schirm mit Fransen, meine Mutter hat sich ein Spaghettieis bestellt, vor mir steht ein Pinocchio-Becher. Er hat ein buntes Gesicht aus Smarties und trägt eine umgedrehte Eiswaffel als Hut. Ich esse die Augen und die Nase zuerst.
Wann kommt Papa, frage ich.
Meine Mutter scheint die Frage nicht zu verstehen oder sie muss sich die Antwort erst noch ausdenken.
Wie immer, sagt sie.
Ich schaue sie lange an und dann überlege ich, ob ich sie noch etwas anderes fragen soll, aber ich denke plötzlich, lieber nicht. Meine Mutter rührt in ihrem Becher, aus Weiß und Rot ist rosa Eis geworden.
Bis die Blumen auf dem Balkon stehen, müssen wir viermal vom Auto nach oben laufen, meine Mutter holt noch einen Sack Erde und die Balkonkästen aus dem Schuppen. Dann klingelt es und Manuel kommt zu uns gerannt, er legt sich breitbeinig auf die Liege und verschränkt die Arme. Ich sortiere die Blumen nach Größe, meine Mutter beginnt, die Plastiktöpfchen abzustreifen.
Manuel erzählt vom Kindergarten, Marco hat Geburtstag gefeiert und ihm eines seiner Bonbons geschenkt, Melanie hat ihn aus der Spielecke geworfen.
Warum, fragt meine Mutter.
Ich habe sie gebissen, sagt Manuel.
Na toll, sagt meine Mutter, dann krieg ich später gleich wieder einen Anruf.
Sie schüttet Erde in die Kästen, dann zeigt sie mir, wie ich immer vier Pflanzen nebeneinander einsetze, sie füllt die Zwischenräume und drückt alles fest. Wir bepflanzen acht große Kästen, meine Mutter holt zwischendurch Nachschub, weil die Erde ausgeht.
Ich habe ganz schwarze Fingerkuppen, kleine dunkle Halbkreise unter den Nägeln, die modrig schmecken. Manuel schließt die Augen, ich überlege, ihm den Rest des Wassers aus dem Eimer über den Bauch zu schütten, aber ich lasse es sein, mein Vater kommt bald.
Meine Mutter hängt die schweren Balkonkästen in die Haken ein. Die Nachbarin schaut her und winkt, sie nickt uns zu, wahrscheinlich findet sie es schön.
Mein Vater hält mein blaues Rad am Gepäckträger fest, ich sitze auf dem Sattel, beide Füße auf den Pedalen.
Jetzt, sagt er.
Ich schließe für einen Moment die Augen, dann öffne ich sie wieder, atme tief ein und beginne in die Pedale zu treten. Ich kann spüren, wie mein Vater hinter mir herrennt und das Rad noch immer festhält, wie er irgendwann loslässt. Ich konzentriere mich auf das Treten, aber der Lenker schlenkert zu sehr, ich kippe vom Rad und falle in den Rasen. Mein Vater kommt zu mir, er reicht mir die Hand und zieht mich nach oben.
Macht nichts, Teresa, sagt er, du wirst immer besser.
In meinem Bauch kann ich meine Enttäuschung spüren oder vielleicht ist es auch seine Enttäuschung, die auf mich überspringt. Er schiebt einhändig mein Fahrrad zurück und legt währenddessen den Arm um mich.
Du lernst es irgendwann, sagt er.
Manchmal würde ich gerne einer Version meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier übereinander und versuche zu erkennen, was durchscheint.
In der Schule lerne ich, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Ich sitze am Gartenmäuerchen und stelle meinen Blick scharf, ich will sehen, wie sich die Erde bewegt. Ich mache Experimente beim Hüpfen. Ich stelle mich auf den Weg, umkreise meine Füße mit Straßenmalkreide und hüpfe so weit und so gerade nach oben, wie ich kann, ich prüfe, wo ich gelandet bin. Wenn ich eine Sekunde in der Luft bin, dreht sich die Erde fast zwei Zentimeter unter mir weg.
Wir haben Wasser und belegte Brötchen eingepackt, mein Vater trägt eine Kühlbox. Noch bevor wir durch das Eingangstor gehen, kann ich schon die Motoren hören. Wir setzen uns auf die Tribüne, auf feste Steinbänke, die stufenweise angeordnet sind, mein Vater legt mir ein schmales Kissen unter. Ich erinnere mich an diesen Tag vor allem in einem Bild: wie er, mit ausgestrecktem Finger, den Kurvenverlauf der Rennstrecke nachzeichnet und mir erklärt, worin für die Fahrer die Schwierigkeiten bestehen. Ich kann nicht älter als acht gewesen sein.
Bevor es losgeht, holt er sich noch ein Bier, wir stehen am Imbiss an, ich schaue auf die Fritteuse. Ich traue mich nicht zu fragen, ob wir für mich etwas bestellen können und denke an das knautschige Brötchen in der Kühlbox.
Mein Vater beobachtet mich, er beugt sich zu mir herunter und fragt mich, ob ich Pommes möchte. Ich nicke. Er bestellt zwei Portionen und lässt sich viel Ketchup darauf machen, er kauft noch eine Fanta dazu.
Mit der grünen Flasche in der Hand sitze ich wieder auf der Tribüne. Die Rennwagen sind schrecklich laut. Mein Vater setzt sich hinter mich, er hält mir die Ohren zu, sobald sie vorbeikommen. Die Männer, die um uns herumsitzen, müssen lachen, mein Vater lacht auch, aber ich merke, dass es ihm egal ist, was sie denken.