In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. - Gabriele Riedle - E-Book
SONDERANGEBOT

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. E-Book

Gabriele Riedle

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als schreibende Reporterin war die Erzählerin auf allen Kontinenten der Erde unterwegs. In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. Nun verabschiedet sie sich von einer Welt, die einmal die eigene war.

Aus dem Radio erfährt Gabriele Riedles Erzählerin vom gewaltsamen Tod des berühmten britischen Kriegsfotografen Tim H. in Libyen. Nicht lange zuvor war sie mit ihm als schreibende Reporterin unterwegs im Bürgerkriegsland Liberia. Anlass für sie, von ihm zu erzählen, von seinem Leben und von seinem Sterben, aber auch von ihren eigenen Erfahrungen in allen möglichen Winkeln der Erde, in Afghanistan und im Dschungel von Papua-Neuguinea, im Inneren der Mongolei und im Kaukasus, von den Höhen des Himalaya und der Reise nach Liberia.

In ihre Erzählung fließen die Bilder und Beschreibungen der Welt, die die internationalen Berichterstatter den Medienhäusern in Hamburg und in Manhattan liefern – diejenigen, die unsere globale Gegenwart deuten. Ihre Berichterstattung in Bildern und Texten unterliegt ästhetischen und ökonomischen Zwängen, die vom Zustand der Welt und der Krise der westlichen Zivilisation künden.

Gabriele Riedle hat selbst über 20 Jahre Erfahrung als Reporterin. In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. Ist jedoch originäre Prosa, eine kunstvolle Literatur, die zu ihrer eigenen Stimme kommt, weit weg vom Reportage-Realismus, voller eindrucksvoller Bilder. Das Nachdenken ihrer Ich-Erzählerin und ihr persönlichstes Erleben kombiniert sie in einem mäandernden Bewusstseinsstrom in weit ausschwingenden musikalischen Sätzen.

Und die Autorin hieße nicht Gabriele Riedle, wenn die Reisen durch Raum und Zeit nicht auch durch die Zettelkästen der Weltliteratur führten, durchweht vom »Hegelschen Weltgeist«. Sie nennt ihr Buch »eine Art Abenteuerroman« und knüpft damit spielerisch an eine Tradition an, die sie jedoch zugleich hinter sich lässt.

In In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. lässt Gabriele Riedle eine Frau sprechen in einem durch und durch männlichen Genre. Das weltumspannende Romanabenteuer ist hochaktuell nicht nur im Blick auf die Mechanismen, die zu den Fälschungen des Spiegel-Reporters Relotius führten, sondern auch angesichts der Verunsicherung des Westens nach dem Rückzug aus Afghanistan, mit dem der Roman endet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Gabriele Riedle

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg.

Eine Art Abenteuerroman

Als bloßer Beobachter der Geschicke und Abenteuer anderer Menschen kommt es mir vor, als spielten sie ihre Rollen in einem unserer Theater. Täglich höre ich neueste Nachrichten und landläufige Gerüchte über Kriege, Seuchen, Feuer, Überschwemmungen, Diebstähle, Morde, Massaker, Meteore, Kometen, Geister, Wunder, Erscheinungen, über belagerte und eroberte Städte in Frankreich, Deutschland, der Türkei, Persien, Polen, von Ausbeutungen und Kriegsvorbereitungen, Schlachten und Gefallenen, über Zweikämpfe, Schiffsuntergänge, Piraterie und Seeschlachten, von Friedensschlüssen, Bündnissen, Kriegslisten und neuen Mobilmachungen, wie sie diese stürmischen Zeiten erzeugen. Ein großes Durcheinander von Schwüren, Wünschen, Klagen, Edikten, Petitionen, Prozessen, Gesetzen, Proklamationen und Beschwerden kommt uns täglich zu Gehör. (…)

Was aber jene anderen Fehler angeht – die Barbarismen, das Dorisierende und Extemporierende, meine Tautologien, Nachäffereien, diese Rhapsodie der von allen möglichen Abfallhaufen zusammengeklaubten Lumpen, die tolle Mischung der Ausscheidungen fremder Schriftsteller mit Tand und Ziererei ohne Kunst, Geist, Originalität, Urteil, und Bildung, grob, ungehobelt, roh, aberwitzig, absurd, anmaßend, unverschämt, zusammengeschustert, unverdaut, eingebildet, skurril, nutzlos, langweilig und trocken –, so gestehe ich das alles ein, und kein Leser kann schlimmer von mir denken, als ich selbst es tue.

ROBERT BURTON, ANATOMIE DER MELANCHOLIE,OXFORD, 1621

Wo gehn wir denn hin?

Immer nach Hause.

NOVALIS, HEINRICH VON OFTERDINGEN, BERLIN, 1802

EINS

I. So weit sind wir also

II. Ich saß

III. Es blühten die Bäume in

IV. Soundso viele Erdumdrehungen später

V. Der Chefredakteur hingegen

VI. Heldentum wohin man

VII. Denn es warteten dort draußen

VIII. Kurz nachdem sämtliche Helden

IX. Wo sich Tim schließlich

X. Die Herren Taliban wiederum

XI. In Hamburg und in Manhattan wiederum

ZWEI

I. Bisher ist alles

II. Die Selbstverpflichtung des

III. Das ist natürlich schwierig

IV. Die Stimmen, die wir

DREI

I. Bis wohin die Musik

II. Weil man immer irgendwo zufällig

III. Wo du irgendjemanden ansprichst

IV. Letztlich trafen wir

VIER

I. Es muss nun aber schleunigst

II. Was war denn

III. Bis zum Ende dieser

IV. Lange ist das alles

EINS

I.SO WEIT SIND WIR ALSO

Weit sind wir gekommen, so dachte ich ein ums andere Mal, weit sind wir gekommen, in Dschungeln, in Wüsten, im Krieg, und immer wieder sind wir einander über den Weg gelaufen, in Absteigen und in Nobelherbergen, in Flüchtlingslagern und in den marmorglatten Hotelfoyers diktatorischer Regime, und manchmal hatten wir Glück und es gab nach deutschem Reinheitsgebot gebrautes Bier.

Wir hatten Aufträge zum Schreiben oder zum Fotografieren, aus Hamburg, aus Manhattan sowie von sieben anderen wichtigen Orten der westlichen Welt, oder vielleicht waren es sogar acht, und wir schritten, wie man so sagt, stets mutig voran, während unsere Schönheit langsam schwand und unsere Gelenke allmählich immer vernehmlicher knirschten, wobei Tim H****, einer der schönsten der Männer, an den ich noch immer jeden Tag denke, das Knirschen seiner Gelenke sowie das Schwinden seiner eigenen und unser aller Schönheit nicht mehr erlebte, denn in der Blüte seiner Jahre, wie man ebenfalls zu sagen pflegt, hatte er eines Tages dagelegen in seinem Blut, der Fotoapparat neben ihm auf dem Asphalt. Er lag in seinem Blut in Libyen, mitten auf einem offenen Platz im Zentrum der von Rebellen eroberten Küstenstadt Misrata, als diese schon zwei Monate unter Belagerung der Truppen des Oberst Gaddafi stand, so weit war Tim schließlich gekommen, und dann reiste sein inzwischen ausgebluteter Körper nur noch ein einziges Mal, ein Fischerboot brachte ihn mitten in der Nacht hinaus aus Misrata über das Meer nach Malta, und von dort flog ihn ein britischer Militärtransporter zurück in irgendeine Heimat in Europa, aus der Tim, zuletzt zumindest zeitweise wohnhaft in Brooklyn, New York, schon Jahre zuvor weggelaufen war, er war geflohen nach Afrika, Amerika, Asien, Australien, nun jedoch wollte Tims seit dessen Flucht halb beleidigte, halb immer wieder beeindruckte Verwandtschaft ihn endlich repatriieren und anschließend reintegrieren, und zwar zwei Meter tief in der heimischen Erde, der Erde Englands übrigens, und natürlich werde ich von Tim noch mehr erzählen, berichten, rhapsodieren, delirieren, tremolieren, je nachdem.

Tim in seinem Blut hat uns natürlich erschreckt, aber eine Sekunde später machten wir uns wieder auf den Weg.

Der Abenteuerroman, den wir unser Leben nennen durften, sollte ja noch lange nicht zu Ende sein, schon weil jede Reise das Spießbürgerliche und Kleinstädtische in unserer Brust in etwas Weltbürgerliches und Göttlichstädtisches verwandelt, wenn ich einmal eine Kalenderweisheit von Jean Paul zitieren darf, schließlich waren wir die Urgroß-Bastarde der deutschen Romantik, auch wenn wir nicht wussten, wer oder was Jean Paul und wer oder was die deutsche Romantik war, aber immerhin wussten wir, dass wir weitermussten, mit knirschenden Gelenken oder ohne, und auch wenn unsere Schönheit schwand, aber wen interessierte das schon außer uns selbst, schon zwei, drei Jahrzehnte waren wir immer wieder unterwegs, wenn nicht den Sternen folgend, dann doch irgendeiner Sehnsucht, einem Weh, einem Drang, weil anderenfalls irgendetwas nicht auszuhalten gewesen wäre, worüber wenigstens uns selbst Rechenschaft abzulegen sich jedoch niemand von uns bequemte, jedenfalls sind wir fremd eingezogen und fremd zogen wir wieder aus, und fast überall heulten Hunde vor ihrer Herren Haus, aber natürlich folgten wir auch den Gesetzen des Marktes, der zumindest im Moment noch dringend nach dem verlangte, was wir günstig in die Häuser liefern konnten: Ferne, Fremdheit, Erschütterungen, die Dramen, die sich jenseits des Horizonts abspielten, irgendwo draußen in der Welt, und wir dachten: umso besser, wenn der Markt es so will, dann können wir noch eine Weile weiter auf unseren Fußsohlen aus Wind, wobei diese Formulierung natürlich nicht von mir ist, vielmehr fand sie Paul Verlaine für seinen Freund Arthur Rimbaud, der im Namen des Kaffee- und des Pelzhandels sowie der Alchemie des Wortes auf seinem trunkenen Schiff bis nach Aden und dann sogar bis nach Somalia gekommen war, aber dann war auch er tot lange vor der Zeit, und zwar wegen eines schmerzenden Knies, wir jedoch konnten noch immer weiter und weiter, auch wenn wir wussten, dass wir irgendwann enden würden, ungünstigenfalles in unserem Blut und günstigenfalles auf dem Arbeitsamt, falls die Auflagen früher oder später schwanden, und schließlich humpelte ich mit meinen schmerzenden Knien noch einmal durch Tripolis, bis wohin auch die Milizen aus dem nicht allzu weit entfernten Misrata es inzwischen geschafft hatten, und dann schleppte ich mich auch noch einmal durch Kabul.

Tim hingegen war damals nur bis Misrata gekommen, kurz bevor sich sowohl die Gaddafi-Getreuen als auch die Rebellen mit ihren Granatwerfern am frühen Morgen auf den Dächern um den Hauptplatz postiert hatten, um wen auch immer sie töten konnten zu töten, und am späten Vormittag töteten sie dann eben auch Tim, in Kabul wiederum muss er einige Male Station gemacht haben auf dem Weg in den Krieg oben in den Bergen, eine weitere Schleife auf seiner langen Reise ins Nichts, längst lag, was von Tim übrig geblieben war, jedoch in der Erde Englands, aber ich war noch immer unterwegs mit meinen schmerzenden Knien. Ich humpelte durch Tripolis und später humpelte ich auch durch Kabul, und inzwischen war mein Körper mir selbst fast so fremd, wie er den Afghaninnen gewesen sein mochte, die, als ich ihre Wege kreuzte, mitten auf der Straße stehen blieben, weil sie wissen wollten, was wohl los war mit dieser Ausländerin und mit ihrem merkwürdigen Gang, ja, was war los mit mir? und was war mit den Afghaninnen und mit der ganzen Stadt Kabul?, das hätte auch ich gerne gewusst, wir hatten ja alle bessere Tage gesehen, als der Zeiger der Ewigkeit das einundzwanzigste Jahrhundert erreicht hatte, um noch einmal Jean Paul zu bemühen, natürlich mit dreihundert Jahren Zugabe, wobei die guten Tage der Afghaninnen ebenfalls schon sehr, sehr lange her waren, falls es solche überhaupt jemals gegeben hatte, womöglich höchstens im vorigen Leben, und jetzt, dachte ich, während die Afghaninnen mich unverhohlen musterten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als, ebenso wie Tim in seinem ewigen englischen Nichts, auf das nächste Leben zu warten, ob sie und Tim an ein solches geglaubt haben mochten oder nicht, und dann humpelte ich weiter durch Straßen, die diese Bezeichnung auch nicht mehr verdienten, weil sie zu Schluchten verkommen waren, zu Schluchten zwischen vor den Hausfassaden zusätzlich aufgestellten Sprengwänden aus Beton, zum Schutz vor Bomben, Granaten und durch die Lüfte fliegenden Gliedern, so weit war es gekommen mit Kabul, so weit war es gekommen mit uns, und dann hörte ich von ferne –––

II.ICH SASS

Ich saß. Ich saß und saß und saß, und erst erholte sich der Atem, dann erholten sich die Knie, die Leber regenerierte sich und auch das Denken, und irgendwann war ich fast wie neugeboren, so kam es mir jedenfalls vor, und bevor ich meine Verirrungen fortsetzte, nachdem Tim ja sozusagen schon zerschellt war, but actually, he had been shelled, that’s what had happened to him, saß ich weiter und saß und saß, auch wenn das meine Erzählung jetzt erst einmal nicht viel weiter bringt, aber so viel Zeit muss sein, und bevor wir die Einheit des Ortes und womöglich auch der Zeit endgültig hinter uns lassen, bedarf es jetzt, wie vor jeder neuen Reise, noch eines letzten Blicks auf die Karte, genauer gesagt auf die 171. Auflage des Diercke-Weltatlas von 1973 mit braunem Leineneinband und goldener Prägung, in dem die Stadt, in der ich saß, noch immer Berlin (West) hieß, und dieselbe Stadt, die gleiche Stadt, die andere Stadt gleich rechts daneben hieß für alle Ewigkeit, oder wenigstens, solange ich diesen Atlas benutzte, Berlin (Ost).

Der Diercke-Weltatlas war das Kartenwerk aus meiner Schulzeit, ein neueres besaß ich nicht, die Grundlage meines Wissens über die geographischen Gegebenheiten und die Zusammenhänge der physischen Welt, braun, grün, blau, Höhen, Tiefen, Wasser, Ackerbau, Tundra, Sümpfe, Wald, Erdgasleitungen in Form von Linien, die aussahen wie Stacheldraht. Steinkohle, Nickel, Jade, Gold, Eisen- und Stahlwerke, Buntmetallhüten, Maschinenbau, für alles gab es farbige Symbole, die Fischkonserven in Neufundland, die Textil-, die Chemie- und die Holzindustrie im Ferganabecken südöstlich von Taschkent, es hatten, so dachte ich damals, die Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgisien und Tadschikistan, die hier zusammentrafen, offenbar auch so einiges zu bieten, und natürlich war die UdSSR intakt, jetzt und für alle Zeiten, egal, was weitere Auflagen des Diercke-Weltatlas eines Tages einmal behaupten würden, während etwa die Rub al-Khali, das Leere Viertel, die größte Sandwüste der Welt auf der Arabischen Halbinsel zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen, sogar so leer war, dass sie auf den Karten noch nicht einmal existierte, obwohl dort eine Familie ihre Heimat hatte, deren berühmtester Sohn Osama hieß, was nichts anderes bedeutete als Löwe, auch wenn in dieser Wüste ebenso wenige Löwen zu finden waren wie Straßen und Gesetze, Islamisten dafür umso mehr.

Ansonsten gab es in der Ausgabe von 1973 Reichtum und Vielfalt fast auf jeder Seite, Sprachen wurden gesprochen, Schafe wurden gezüchtet, es regnete wenig oder viel, und dort, wo die Menschen wohnten, war auf den Karten alles rot, und neben Indoeuropäern waren allerlei interessante Völkerschaften verzeichnet, unter anderem lediglich imaginierte Ethnien wie Hottentotten, Buschmänner, Sudan-N-Wort sowie Bantu-N-Wort, oder hieß es vielleicht sogar Sudan-N-Wörter und Bantu-N-Wörter, schließlich handelte es sich jeweils um den Plural, wobei auf den Karten natürlich ein ganz anderer, inzwischen völlig unaussprechlicher Plural stand, denn 1973 hatte sich das Ende des Kolonialismus noch nicht bis nach Braunschweig und bis zum Diercke-Atlas herumgesprochen, und auch Rassismus war damals nichts als ein Wort, aber inzwischen vermied, wer Wert auf den Erhalt seiner Reputation legte, tunlichst, die Braunschweiger Bezeichnungen von 1973 auch nur zu zitieren.

Doch auch wenn der Diercke-Atlas sich bemüht hatte, sogar Völkerschaften zu verorten, die es nie gegeben hatte außer in gewissen Phantasien, so fehlten auf den Karten Komödien, Dramen oder gar der Tod, ebenso wie die Überwältigungen, mit denen die Natur die Menschen gleichzeitig strafte und verführte, denn dafür, von alldem zu berichten, war man bei Diercke in Braunschweig nicht zuständig, zuständig waren viel mehr wir und natürlich auch soundso viele andere, die dieses erforschten und jenes und dann mit Geschichten und mit Berichten durchaus nicht geizten, aber jedes Mal, wenn der Chefredakteur oder sein Stellvertreter auf Erden anrief, um mich loszuschicken, zu den Überwältigungen und den Dramen in fernen Jademinen oder in abgelegenen Sümpfen, zog ich sogleich diesen Atlas von 1973 zu Rate mit seiner abgelaufenen Weltordnung und einer Sowjetunion, die noch intakt war, vielleicht war sie sogar nie so intakt wie auf diesem hübschen bunten Papier, und intakt waren auch die Ergebnisse eines Krieges mit unfassbar vielen Toten und den anschließenden Verhandlungen von Mitspielern aus verschiedensten Teilen der Welt, namentlich der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs, die, nachdem das Deutsche Reich kläglich dabei gescheitert war, die Karten nach eigenem Geschmack neu zu schreiben, dafür gesorgt hatten, dass alles so wurde, wie 1973 in meinem Atlas dargestellt. Unter anderem erschien deshalb mitten in dem sozialistischen Ozean, der sich Ostblock nannte, der Ort, an dem ich seit langer Zeit lebte und immer wieder saß und saß und saß, diese eine Insel namens Berlin (West) als Schaufenster des Kapitalismus, die glücklich war und hochsubventioniert, auch wenn von diesem Glück und dem investierten Geld auf den Karten nichts zu sehen war, obwohl der Diercke-Atlas an der entsprechenden Stelle problemlos Hundertmarkscheine in Form von kleinen blauen Rechtecken hätte verteilen können.

In einem anderen Atlas, der mir im Januar 1990 aus der Erbmasse der untergehenden DDR zugefallen war, gab es zwar Berlin, Hauptstadt derDDR – der Ort, wo ich lebte, schien jedoch einfach nicht zu existieren, und an den Stellen, an denen er hätte dargestellt werden sollen, war auf den verschiedenen Karten nur ein weißer Fleck zu sehen, der ebenso leer war wie das Leere Viertel auf der Arabischen Halbinsel, nur dass auf diesem weißen Fleck das Kürzel WB verzeichnet war für die Selbständige politische Einheit Westberlin, die identisch, aber nicht zu verwechseln war mit Berlin (West). Ersteres war sozialistischer Realismus, Letzteres eine Frage der Selbstbehauptung der sogenannten Freien Welt, und unbemerkt von den sozialistischen Realisten gab es dort, wo der weiße Fleck war, auf historisch und geographisch unsicherem Terrain eine Goethestraße in einem Stadtteil namens Charlottenburg, mit Hundehaufen, Ampeln, Bäckereien, Apotheken und einem Postgebäude, von dem aus, wer wusste wann, einmal die Rohrpost unter den Häusern und unter den Füßen der Bewohner durch die Stadt gesaust war, wobei ich nicht sagen konnte, auf welchen Karten das nun wieder verzeichnet respektive verschwiegen worden war, und kaum zweihundert Meter weiter querte die, im Gegensatz zur recht langen Goethestraße, sehr kurze Herderstraße, die schon dem Namen nach offenbar zu wilden Natursöhnen führte und in die fernsten Fernen in Zeit und Raum, und es wohnten dort höchstwahrscheinlich lauter Übersetzer, die seit zweihundert Jahren Tag und Nacht über die Urpoesie der Völker sowie über deren Gleichwertigkeit & Mannigfaltigkeit nachdachten, und gewiss grübelten sie auch immer wieder über die Mächte der Geschichte. Überdies gab es natürlich auch noch den Hegelplatz, nicht in Berlin-Charlottenburg, sondern drüben in Berlin, Hauptstadt derDDR, wo eine Bronzebüste von Hegel als jugendlicher romantischer Held mit ungekämmtem Haar und nacktem Schlüsselbein auf einem Sockel aus Muschelkalk stand und wo sich die vornehmsten Gebäude der Humboldt-Universität befanden, während der Hegelplatz in Hegels und meiner Heimatstadt Stuttgart seit 1911 die Adresse des Linden-Museums für Völkerkunde war, ehemals Handelsgeographisches Museum der Kolonialgesellschaft zur Förderung deutscher Interessen im Ausland, und an diesen Hegelplätzen ging es nicht wie in der Herderstraße nur um die Mächte der Geschichte im Allgemeinen, sondern um nichts weniger als um den Fortschritt der Vernunft und um das Walten des Weltgoischts, wie Hegel, beziehungsweise Hägel, in breitester schwäbischer Diktion zu sagen pflegte, weshalb man ihn leider fast nirgendwo richtig verstand, und dennoch setzte sich der Weltgeist als eine Art metaphysischer Entwicklungshelfer gnadenlos immer weiter durch und durch und durch und durch.

Physisch recht fern von Charlottenburg war wiederum auch die Karl-May-Straße, denn diese befand sich in Radebeul, also in einem Ort mitten im Ozean des Sozialismus, wobei die Karl-May-Straße auf den Karten dieses Atlas aus der Erbmasse der DDR natürlich Karl-Marx-Straße hieß, aber wen interessierten schon solche Kleinigkeiten, denn sowohl die Karl-May- als auch die Karl-Marx-Straße führte bis in die Schluchten des Balkans und ins wilde Kurdistan, und es wohnten dort neben einigen versprengten Titoisten, die nicht zu verwechseln waren mit Touristen, sowie zahlreichen weiblichen Peschmerga unter anderem die Herren Kara Ben Nemsi sowie Winnetou 1, und die Geschichte des Letzteren begann bekanntlich damit, dass ihrem Verfasser, immer wenn er an den Indianer dachte, der Türke einfiel, womit dann auch in Radebeul Zeit und Raum die interessantesten Konstellationen eingingen, und da schon im allerersten Satz der Einleitung zu Winnetou 1 der Türke der kranke und der Indianer der sterbende Mann war, hätten Karl May oder von mir aus Karl Marx sich hinsichtlich der Mächte der Geschichte auch mit den Leuten aus der Herderstraße bestens verstanden.

Ich selbst wohnte Jahr um Jahr in der Charlottenburger Goethestraße unter dem Dach und mit Blick auf die Post, den Küchenschrank voll mit Fischkonserven aus Neufundland und mit kleinen afghanischen Pistazien, im Wohnzimmer ein akkurat in Himmelsrichtung aufgestellter west-östlicher Divan, der so durchgesessen war, dass die Sprungfedern schon den Boden berührten. Überdies kann ich erwähnen, dass die Indianer in der Verfilmung von Winnetou 1 von 1963 tatsächlich wie die damaligen türkischen Gastarbeiter sprachen und dass das kleine Mädchen, das ich zu dieser Zeit war, genau solche Zöpfe hatte wie Winnetous Schwester Nscho-tschi, die die Haare in Kinnhöhe rechts und links zusammengebunden, aber nicht geflochten hatte, und manchmal nannte mich meine Mutter deshalb Tschutschi. Später, als ich begonnen hatte, dieses zu beobachten und jenes, wollte ich allerdings lieber so eine flotte 60er-Jahre-Frisur wie die Spionin Emma Peel mit kühner Außenwelle am schulterlangen Haar, eine Art weibliche Version des Es-ist-erreicht-Bartes von Kaiser Wilhelm, dem Zweiten, von dem ebenso wie von Kaiser Wilhelm, dem Ersten, später noch die Rede sein wird, wobei Emma Peel natürlich nicht nur ein paar Fitzel nach oben zwirbelte, sie wickelte ihre Haarspitzen vielmehr in ganz großem Stil.

Die Goethestraße war dank der Zufälle, die, neben Geld, Gold, gepflegtem Auftreten oder welchen sogenannten Assets auch immer, den Erfolg auf dem Wohnungsmarkt bestimmten, meine physische Adresse, auf der Insel, auf dem weißen Fleck, in der Selbständigen politischen Einheit Westberlin, im Schaufenster des Kapitalismus, in der Hauptstadt eines Landes, das, wiederum dank der Mächte der Geschichte, plötzlich überall den Ton angab. Indessen gab es längst andere Ozeane und andere Inseln, die allerdings meist weniger glücklich und womöglich überhaupt nicht subventioniert waren, sondern vielmehr ihrerseits den Rest der Welt subventionierten, mit Tropenholz etwa oder mit schmutzigem Gold, zum Beispiel aus Papua-Neuguinea, wovon ich später vielleicht auch noch erzählen werde, je nachdem, wie sich die Wörter fügen, wenn der Chefredakteur oder sein Stellvertreter auf Erden nicht über sie wacht, jedenfalls war kaum, dass der Ozean des Sozialismus wundersamerweise verschwunden war, bekanntlich auch schon ein neuer entdeckt worden, nämlich der der Globalisierung, und wer wusste, was wir noch alles finden würden, wo die Freie Welt sich nun so sehr behauptete, dass sie inzwischen so gut wie überall war, wodurch wiederum die Anderen, wer immer die nun wieder sein mochten, beträchtlich viel verloren hatten, die Freiheit zum Beispiel und allerlei materielle Güter ohnehin. Und obwohl der Weltgoischt vom Hegelplatz nun angeblich an sein Ziel gekommen und das Ende der Geschichte sowie der Sieg der Vernunft längst verkündet worden waren, änderten sich die Dinge unaufhörlich, sodass sich sämtliche Fernrohre immer wieder als Kaleidoskope entpuppten.

Und die Buntmetallhütten, die Apotheken, die Fischkonserven, die Schafe, die Sprachen, die Verkehrsampeln, die Indianer, die jetzt natürlich Native Americans hießen, die Türken, die immer noch die Türken waren, die Löwen, die sich als Islamisten entpuppten, die Feuchtgebiete, die jetzt manchmal so taten, als wären sie Trockenzonen, während die Trockenzonen so taten, als wären sie Sümpfe, und am Ende auch die Überwältigungen sowie die Komödien und die Dramen fielen in diesen Kaleidoskopen ständig durcheinander wie Steinchen aus farbigem Glas, ob das den sozialistischen und allen anderen Realisten, inklusive des Chefredakteurs, der stets nach Klarheit verlangte und nach Perspektive, passte oder nicht.

Ich wiederum saß und saß und saß eine ganze Weile mit geschlossenen Augen auf meinem west-östlichen Divan in dem Gebäude gegenüber der ehemaligen Post. Die Rohrpost war lange schon stillgelegt, also lauschte ich auf meine Leber und auf meine Knie sowie auf die Geräusche aus der Goethe-, der Herder- sowie der Karl-May- beziehungsweise der Karl-Marx-Straße in Radebeul und natürlich auf die vom Hegelplatz in Stuttgart und vom Hegelplatz drüben in Berlin-Mitte, wo sie wahrscheinlich noch immer den ganzen Tag in ihren Schlafröcken herumsaßen, während sie an den Weltgeist zu Pferde dachten, der bekanntlich niemand anderer war als Napoleon. Dann schlug ich die Augen wieder auf, und schon waren Menschen, Güter, Länder und Grenzen wieder neu verteilt, und es waren neue Landkarten gezeichnet, neue historische Horizonte eröffnet, neues Gold gefunden, und manche Karten warnten vor gefährlichen Gebieten, hic sunt leones!, hic sunt dragones, denn die Löwen und die Drachen waren jetzt –––

Die Hottentotten und die Bantu-N-Wort waren inzwischen jedoch endgültig aus dem Spiel, was sich sogar bis zum Diercke-Weltatlas in Braunschweig herumgesprochen haben durfte, und wer weiß, was jetzt auf den Karten stand und welche Völker nun offiziell welche Gebiete bewohnten. Indessen blieb Tim verschwunden im englischen Nichts, noch immer, für immer, wie man so sagte, aber für immer war schließlich auch einmal die Sowjetunion auf den Karten von 1973, also warum sollte ich hier im Schaufenster des Westens auf dem ehemaligen weißen Fleck nicht auf irgendetwas hoffen jenseits der geographischen Gegebenheiten und der Zusammenhänge der physischen Welt.

III.ES BLÜHTEN DIE BÄUME IN

Es blühten die Bäume in Europa, in Nordamerika, im Osten Asiens, in Brandenburg blühten Äpfel, Birnen und Pflaumen, Dogwood in Virginia, der Götterbaum am Gelben Fluss, ganz Japan saß unter blühenden Kirschen, nur in Hamburg und in Manhattan, da blühte wahrscheinlich wie immer nichts, und wie konnte, dachte ich immer wieder, wie konnte ein Mensch dort in Hamburg oder in Manhattan nur längere Zeit bleiben, selbst in Libyen blühten die Mimosen, ausgerechnet die, sie blühten, bedeckt von Staub und Sand, in den grauen Städten zwischen Meer und Wüste, geschützt vor kalten nächtlichen Winden durch Trümmer aus Beton, und wahrscheinlich zitterten die Mimosen hin und wieder unter den Einschlägen von Geschossen und unter allerlei Schreien und Flüchen, als ich, als ich –––

Als ich in Berlin im Radio hörte, was Tim widerfahren war.

Es war ein Morgen voller Licht Ende April, und eine Stimme sagte etwas von der Stadt Misrata und von einem englischen Fotografen, dessen Nachnamen ich zunächst nicht erkannte, weil die Stimme ihn auf merkwürdige Weise ausgesprochen hatte. Es fiel dann auch noch das Wort Tod, oder vielleicht war es auch das Wort Opfer, und noch bevor mir klar wurde, von wem und wovon genau die Rede war, folgte auch schon das Wetter. Morgen wieder 22 Grad und Sonne, ein äußerst angenehmer Tag, an dem wir allerdings nicht mehr wussten, wie weiter und warum, während die Radiostimme einfach nicht aufhörte zu sprechen, auch nachdem der Wetterbericht längst vorbei war, immer wieder hörte ich dieselben Worte, die ich jedoch niemals richtig verstand, die Radiostimme sprach und sprach, und am liebsten wollte ich –––

IV.SOUNDSO VIELE ERDUMDREHUNGEN SPÄTER

Bald, oder soundso viele Erdumdrehungen später, oder nachdem dies geschehen war oder jenes, oder vielleicht war auch einfach gar nichts geschehen und die Erde hatte still gestanden, wir hatten es nur nicht bemerkt, egal, jedenfalls mahnte auch der Chefredakteur wieder zum Aufbruch, der Chefredakteur in Hamburg, der Chefredakteur in Manhattan sowie der Chefredakteur an sieben oder acht weiteren Orten der westlichen Welt, obwohl wir ohnehin schon wieder in der Tür standen, und der Chefredakteur rief, dass die Kirschblüten Kirschblüten und die Toten tot waren und wir endlich weitermussten, so schnell wie möglich sollten wir wieder los.

Trotz allem müssen wir weiter!, rief Hamburg und rief auch Manhattan, als wären wir alle Pilger auf endloser gemeinsamer Fahrt, und tatsächlich waren wir schon bei der soundsovielten Runde, von Hamburg oder von Manhattan über Helsinki nach Hanoi, und irgendwann kamen wir auch über Kabul und über Misrata, aber dann reisten wir hinunter nach Aden, wo wir mit unseren Fußsohlen aus Wind stets im völlig heruntergekommenen betongrauen Hotel Rambo logierten, der arabischen Version von Rimbaud, und über Johannesburg und Lagos erreichten wir dann wieder Hamburg oder auch Manhattan, und dann so ähnlich wieder von vorne, Hauptsache, wir zogen weiter unsere Schleifen und standen niemals längere Zeit still, und falls wir zum Beispiel gerade in Tibet waren, umkreisten wir sogar den Mittelpunkt der Welt, immerhin.

Der Mittelpunkt der Welt war für Tibeter ebenso wie für Tibeterinnen der heilige Berg Kailash, ein gigantischer schneebedeckter Diamant, dessen Spitze kein Sterblicher erklimmen darf, denn es wohnen dort oben die Götter, und wenn die Tibeter den Berg deshalb umrunden statt ihn zu besteigen, werfen sie sich nieder, den Körper lang auf dem Boden, die Stirn im Staub nach jedem einzelnen Schritt, und nach einhundertacht Runden erreichen sie den Zustand der Erleuchtung, denn einhundertacht ist eine heilige Zahl, und auch wir hegten selbstverständlich keinerlei Zweifel an der Heiligkeit des Berges Kailash sowie der Zahl Einhundertacht und auch nicht am Eintritt der Erleuchtung nach so vielen mühseligen Runden. Allerdings glaubten wir, woran die Tibeterinnen und Tibeter glaubten, natürlich nur dann, wenn wir uns gerade in Tibet aufhielten, denn wie hätten wir glauben können, woran sie glaubten, wenn wir in Hamburg waren oder in Manhattan? Schon von Berufs wegen glaubten wir heute an dieses, aber bereits am nächsten Tag an jenes, denn entgegen den Behauptungen wackerer Kulturpessimistinnen und Kulturpessimisten, die nicht müde werden, die Entzauberung und Profanisierung der Welt zu beklagen, gibt es nun keineswegs zu wenige Götter, sondern deren viel zu viele, hinter jeder Grenze warteten neue auf uns und an der nächsten ließen wir sie wieder sterben, denn wir konnten sie unmöglich alle mitnehmen in unserem leichten Gepäck, über diese Grenze und über die nächste, und womöglich würden sie zu Hause in unseren Städten und auch in unseren Seelen Unheil anrichten wie heimlich mitgebrachte junge Krokodile oder andere exotische Tiere, aber während die Tiere am Ende die städtischen Abwassersysteme bevölkerten und dort heranwuchsen zu Monstern, würden sich die mitgebrachten Götter breit machen im Dickicht unserer Gedanken und unseres Geistes.

Aber when in Rome do as the Romans do, und was willst du in Tibet, wenn du nicht glaubst, dass der Kailash das Zentrum der Welt ist?, und so ging ich dort schließlich eine sehr kurze Strecke neben einer jungen tibetischen Pilgerin, die seit Wochen unterwegs war, und nach jedem Schritt warf sie sich nieder auf Steine und Eis, zum tausendsten, zum zehntausendsten, zum hunderttausendsten Mal, und mit geradezu römischer Entschlossenheit warf auch ich mich nieder aufs Geröll, nach dem ersten gemeinsamen Schritt, nach dem zweiten und sogar noch nach dem dritten, doch dann blieb mir die Luft weg, die vermaledeite Höhe!, während die Tibeterin neben mir rief, dass wir nun wohl Freundinnen würden, wenn nicht in diesem, dann sicher im nächsten Leben, ja, antwortete ich, Freundinnen, das werden wir ganz bestimmt, aber da schritt schon wieder jede für sich alleine und beide gingen wir unserer Wege, und was mich betraf, so sprengte mir nach weiteren zwei Tagen auf meiner Wanderung um den heiligen Berg die Höhe beinahe den Kopf, und am liebsten wäre ich hinuntergerannt, durch Schnee und Eis, nach Rom oder in die Hölle oder ins nächste Leben, jedenfalls weiß ich nicht, wie ich am Ende dann doch wieder auf so etwas Ähnlichem wie einer Straße gelandet bin, und erst viel später fand ich mich schließlich inmitten von Geldwechslern, Gepäckträgerinnen, Prostituierten, Lastwagenfahrern in einer bläulichen Dieselwolke auf der Brücke der Freundschaft, in diesem Fall über dem Abgrund zwischen dem chinesischen Herrschaftsgebiet und dem damaligen Königreich Nepal. Es gab dort tatsächlich ein Eisentor mit einigen verbogenen Stäben, als lägen auf der jeweils anderen Seite nicht die felsigen Abhänge des Himalaya und die unwirtlichen und von schiefen Häusern bewachsenen Ränder der beiden unterschiedlichen Reiche, sondern der Betriebshof der städtischen Müllabfuhr in Münster, und kaum hatten Uniformierte das Tor geöffnet und hinter mir wieder geschlossen, da waren der Kailash, seine Herausforderungen, sämtliche seiner Bedeutungen sowie die dort residierenden Götter, der kurze Atem und auch die Tibeterin wieder verschwunden, nicht aber die Zahl Einhundertacht, die nicht nur in Tibet, sondern in der göttlichen Mathematik fast des gesamten asiatischen Kontinents von zentraler Bedeutung ist.

Der Mittelpunkt der Welt jedoch war, kaum dass ich Tibet verlassen hatte, ebenfalls schon wieder irgendwo anders.

Nicht dass sich der Berg Kailash etwa inzwischen bewegt hatte oder er gar weggeflogen war, wie auch schon behauptet worden ist, aber außerhalb von Tibet gibt es, was den Anspruch betrifft, das Zentrum der Welt zu sein, überall Konkurrenz, Rom, Mekka, Jerusalem, für Liebende die jeweiligen Geliebten, für Materialisten wahlweise die Wallstreet oder die Stadt Çorum in der Türkei, wo der geographische Mittelpunkt der Erdoberfläche und geometrische Schwerpunkt aller Landflächen des Planeten liegt, und für halb Hamburg sowie für halb Manhattan war das Zentrum der Welt ohnehin das eigene Ego, das zu umkreisen sich leider immer viel zu wenige fanden, worunter man in Hamburg und in Manhattan in diesen Tagen oft sehr litt.

In Nepal wiederum umrundete ich sogleich den großen Stupa von Bodnath am Stadtrand von Kathmandu, eine riesige weiße, etwas plattgedrückte Kuppel, ich hatte die Schuhe ausgezogen und eine Butterlampe entzündet und zog dann, immer verfolgt von den Blicken der vier überdimensionalen Augenpaare des Buddha an der goldenen Spitze des Stupa, barfuß meine Runden, aus welchen Gründen auch immer im Uhrzeigersinn und auf gar keinen Fall diesem entgegen. Im Übrigen war es überaus angenehm, immer im Kreis zu gehen, so wie es stets angenehm ist, freiwillig Dinge tun zu können, die ganz offensichtlich keinerlei Ziel und Zweck haben, wahlweise aus eigener Machtvollkommenheit, sprich: weil der Mensch es kann, oder weil, umgekehrt, er sich höheren Mächten unterwirft, die von allen irdischen Dingen die Zweckdienlichkeit womöglich am meisten verachten und denen die absurdesten Opfer wahrscheinlich stets die liebsten sind. Abgesehen davon, dachte ich damals, glaubte offensichtlich weder am Kailash noch am Stupa von Bodnath irgendjemand an den linearen Fortschritt, und so hörte auch ich dort augenblicklich auf, an diesen zu glauben, und ich weiß gar nicht, wie viele Runden ich schließlich dort drehte, in der Überzeugung, das Richtige zu tun, und ich ging weiter und immer weiter, ohne den Ort des Geschehens jemals zu verlassen, und zum Abschluss entzündete ich noch einmal eine Butterlampe, so wie alle anderen dort auch.

Schließlich war Rom überall, und so war Rom selbstverständlich auch in Kathmandu ebenso wie am Kailash, in Kabul, in Kairo oder in Kalkutta, und Schauplatz unserer Scharaden war die ganze Welt, und auch wenn wir nirgendwo dazugehörten, warfen wir uns ständig irgendwo nieder und gingen umher mit nackten Füßen, und in unseren Kleiderschränken hatten wir einsatzbereite Verkleidungen für alle Gelegenheiten und für die unterschiedlichsten Gegenden der Erde, Mäntel, Kopftücher, Turbane, lange Hemden, weite Hosen sowie Bänder für unsere unordentlichen Mähnen, und die Männer hörten, sofern sie nicht gerade blond waren, bevor der Chefredakteur sie wieder losschickte, womöglich rechtzeitig auf, sich zu rasieren, und wenig später waren sie irgendwo Bärtige unter Bärtigen und wir Frauen waren Madonnen unter Madonnen.

Bis jemand heulte. Bis jemand tot war.

Aber bis dahin taten wir so wie irgendwelche anderen, auf deren Territorien wir uns gerade befanden, niemals wurden wir jedoch selbst zu Römern, und wir wurden auch keine Katholiken, Buddhisten, Hindus, Muslime, orthodoxe Juden, und noch nicht einmal Chefredakteure wollten wir werden, Chefredakteure?, nein, das schon gar nicht, dann wurden wir ja noch lieber –––