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Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Das europäische Machtgefüge beginnt, ins Wanken zu geraten. Zwei grundverschiedene Jungen wachsen in dieser Zeit auf: David Rosendahl, der Sohn eines der modernsten Fleischfabrikanten Berlins; Martin, das Findelkind von Mönchen großgezogen und später unter der Tyrannei seines Adoptivvaters Franz Kreidler leidend. Noch ahnen sie nicht, dass sich ihre Wege und Schicksale auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges kreuzen werden. Doch diese Urkatastrophe ist erst der Auftakt der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die ab den 1920er-Jahren zusehends zur nächsten Katastrophe führen.
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Seitenzahl: 653
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-538-5
ISBN e-book: 978-3-99130-539-2
Lektorat: CB
Umschlagfoto: Everett Collection Inc. | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Zitat
Wenn ihr Schreie hören solltet, ihr Mörder, dann denkt immer daran, es sind nicht die Schreie eurer Opfer, die sind längst verstummt. Es sind die Schreie eurer Kinder, die sich eurer Taten schämen.
1. BUCH
Kapitel 1
Dem neuerlichen Anfall hielt sein von der Krankheit geschwächter Körper nicht mehr stand.
Blut und Eiterklumpen spuckend, immer wenn er hustete, so lag er da und bewegte lautlos die Lippen im Gebet.
Er betete das Sündenbekenntnis des großen Versöhnungstages.
Mit einem feuchten Tuch tupfte Jakob das schweißbedeckte Gesicht des Vaters, um ihm Kühlung zu verschaffen.
Der ausgemergelte Körper glühte fiebrig und hatte längst den aussichtslosen Kampf gegen diese heimtückische Krankheit verloren.
Die Erlösung kam aber erst jetzt, nach Wochen, in denen der Kranke unsagbare Schmerzen hatte erdulden müssen.
Ein letztes Mal bäumte Aaron Rosendahl sich auf und röchelte auf Hebräisch „echad Jisrael“, dann sank er kraftlos in die Kissen zurück und glitt hinüber in den Tod.
Jakob stand unbeweglich neben dem Bett und schaute in das Gesicht seines Vaters.
Fast durchsichtig, wie Pergament umspannte die aschfahle Haut den Schädel des Toten.
Er erinnerte sich daran, welche rosige Gesichtsfarbe sein Vater früher gehabt hatte.
Für den Jungen war es die erste Konfrontation mit dem Tod und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er war mit einem Toten in einem Raum.
Lange genug hatte er sich auf diesen Moment einstellen können, als die Unheilbarkeit der Krankheit seines Vaters zur Gewissheit wurde und es nur noch eine Frage der Zeit war, wann es zu Ende gehen würde.
Jakob schämte sich für das Gefühl, das er jetzt empfand. Es ekelte ihn.
Widerwillig gab er sich einen Ruck, denn es musste sein.
Er legte den Toten auf die Erde, zog ihn nackt aus und zündete ein Licht an.
Er wusch seinen Vater gründlich mit Wasser und Seife. Dann zog er ihm ein schlichtes Totenhemd an. Dieses Hemd hatte Jakobs Mutter nach altem jüdischem Brauch ihrem Bräutigam zur Hochzeit geschenkt.
Jakob vergewisserte sich, ob er nichts vergessen hatte, und ging zur Tür.
Einen Augenblick zögerte er noch, dann öffnete er sie und weckte seine Mutter.
Als sie den Raum betrat und ihren toten Ehemann erblickte, schluchzte sie laut auf und Jakob musste sie stützen.
Er sagte leise: „Gräme dich nicht Mutter, er hat nun keine Schmerzen mehr.“
Sie umarmte ihren Sohn und küsste ihn, wie sie ihn als Kind immer geküsst hatte, auf die Stirn, die Augen und auf beide Wangen.
Die letzten Wochen waren schlimm gewesen. Abwechselnd hatten sie am Krankenbett gewacht und Jakob merkte seiner Mutter die Anstrengungen an.
Schweigend standen sie nebeneinander, blickten hinunter auf den Leichnam und dachten beide das gleiche.
Was soll jetzt werden?
Drei Tage später wurde Aaron Rosendahl auf dem kleinen Friedhof der jüdischen Gemeinde beigesetzt.
Ein schlichter Sarg, kein Blumenschmuck, kein Grabstein.
Im Tod sind alle Menschen gleich, sagen die Juden.
Jakob verließ die Schule, er musste Arbeit finden, denn er war jetzt für sich und seine Mutter verantwortlich.
Eine Zeitlang lebten sie noch von Erspartem, aber das war schnell aufgebraucht und Jakob musste Geld verdienen.
Er fand eine Anstellung in einer der zahlreichen privaten Schlachthallen, die es in einer so großen Stadt wie Berlin gab.
Der Schlachthofbesitzer, ein kleiner, fetter, unfreundlicher Mann namens Otto Jakubke zeigte wenig Begeisterung, als Jakob ihn um Arbeit bat, aber als er ihm sagte, er würde alles tun, wirklich alles, willigte er schließlich ein.
Jakob meldete sich am nächsten Morgen pünktlich um fünf Uhr zur Arbeit und sein Chef drückte ihm einen groben Straßenbesen in die Hand und erklärte ihm, was er zu tun hatte.
Mit dem Besen wurden die Eingeweide, die man den geschlachteten Tieren herausriss und die man einfach auf den Boden fallen ließ, zusammengekehrt und anschließend mit den bloßen Händen sortiert.
Därme und andere Innereien der Tiere wurden gesäubert, von den Fäkalien getrennt und in einen dafür vorgesehenen Bottich geworfen, der mehrmals am Tage geleert werden musste.
Kot, Urin und Blut der Tiere kehrte Jakob in eine Rinne, die am Ende der Halle in eine Grube endete, die so fürchterlich stank, das Jakob sich in den ersten Tagen mehrmals übergeben musste, sobald er auch nur in die Nähe der Grube kam.
Das Tempo, mit denen die Männer den geschlachteten Tieren die Eingeweide aus den aufgeschlitzten Leibern rissen, konnte Jakob anfangs nicht beibehalten und so wurde er oft angeschrien und beschimpft. Darunter litt er fast noch mehr als unter der stumpfsinnigen und ekelerregenden Arbeit.
Jakob biss die Zähne zusammen und nach ein paar Wochen ging er seiner Tätigkeit wie im Schlaf nach, hielt das Arbeitstempo, das verlangt wurde, spielend bei.
Nach sechs Monaten bekam Jakob einen anderen Arbeitsplatz zugewiesen.
Er musste in großen Trögen die Därme auskochen, die dann anschließend zum Trocknen aufgehängt wurden, um sie später mit Wurstmasse zu füllen.
Eine leichte Tätigkeit.
Sein Fleiß und seine Anpassungsfähigkeit wurden belohnt, denn er tat, was von ihm verlangt wurde, beklagte sich nie und er lernte.
Nach und nach arbeitete er überall in der Halle, sprang hier und da ein und lernte so das Metzgerhandwerk von der Pike auf.
Nach zwei Jahren konnte er alles, was für die Schlachtung und Verarbeitung von Rindern, Schweinen, Schafen und Ziegen beherrscht werden musste.
Sein Chef schätzte ihn wegen seiner Zuverlässigkeit und bei seinen Kollegen war er beliebt wegen seiner Hilfsbereitschaft.
Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag starb Jakobs Mutter.
Sie war nie über den frühen Tod ihres Mannes hinweggekommen.
Sie starb, wie sie gelebt hatte, still und unauffällig.
Jakob war ganz allein.
Nach der Beerdigung verkaufte Jakob den gesamten Hausstand.
Er zog in ein billiges, möbliertes Zimmer. Er brauchte nicht viel, denn er war sowieso nur selten zu Hause und konnte so mehr sparen.
Irgendwann nämlich hatte Jakob angefangen zu träumen.
Eher wage zuerst, aber dieser Traum bekam immer realistischere Züge.
Ein eigenes Geschäft.
Denn mit seiner Hände Arbeit alleine, konnte er nichts erreichen, auch wenn er noch so schuftete, das hatte er längst erkannt.
Er würde eine Möglichkeit finden, auf eigenen Füßen zu stehen.
Er würde die stinkende Halle verlassen, auf jeden Fall.
So vergingen die Jugendjahre des jüdischen Jungen Jakob Rosendahl.
An einen kalten Novembertag, Jakob ging wie immer zu Fuß zur Arbeit, um das Geld für die Straßenbahn zu sparen, dachte er wie so oft über seine Pläne nach.
Er hatte jetzt annähernd 2.500 Reichsmark gespart.
Er fing jeden Morgen um fünf Uhr zu arbeiten an, manchmal sechzehn Stunden am Tag, auch samstags und manchmal auch sonntags, denn der Fleischbedarf einer Großstadt wie Berlin war enorm.
Von seinen Arbeitskollegen wurde er oft gehänselt, weil er keine Gelegenheit ausließ, seinen Verdienst durch Überstunden aufzubessern, aber das störte ihn nicht.
Sie wussten nichts von seinen Plänen, denn er sprach mit niemandem darüber.
Jakob war fünfundzwanzig Jahre alt und die Zeit schien reif, seine Träume zu verwirklichen.
Ein Jahr wollte er noch sparen, dann schätzte er, hätte er genug beisammen, um sich in der näheren Umgebung einen eigenen Metzgerladen zu kaufen.
Er ging schneller, ihm war kalt.
Als er um die Ecke bog, sah er seine Kollegen auf der Straße stehen und wusste im gleichen Moment, das etwas passiert sein musste.
Als er die Schlachthalle erreicht hatte, sah er den Polizisten, der im Eingang stand und die Tür bewachte.
„Was ist denn hier los“, fragte Jakob. Der Buchhalter der Firma kam auf ihn zu und antwortete eifrig: „Der Alte ist gestern Abend verhaftet worden, Steuerhinterziehung. Ich muss den Beamten nachher sämtliche Bücher aushändigen. Wie es aussieht, ist hier erst mal Feierabend.“
„Worauf warten die anderen denn noch?“ Jakob deutete mit einer Kopfbewegung auf seine Kollegen, die in einer Gruppe nahe dem Eingang standen und sich leise unterhielten.
„Neugier, was denn sonst. Außerdem will jeder wissen, wie es jetzt weitergeht.“
Der Buchhalter wollte sich entfernen, doch Jakob hielt ihm am Ärmel fest.
„Und, wie geht es weiter?“, fragte er.
„Keine Ahnung.“ Der Buchhalter machte seinen Arm los.
„Aber wie ich die Sache einschätze, geht unser Chef für lange Zeit ins Gefängnis.“
„Wir werden den Schlachthof versteigern müssen, Herr Rosendahl, um wenigstens nicht alles in den Schornstein zu schreiben, was Herr Jakubke uns schuldet.
Es sei denn, wir finden einen solventen Käufer. Einen zahlungskräftigen Käufer. Um die Verbindlichkeiten dieses Herrn in etwa abzudecken.“
Der Bankdirektor sah Jakob durch seine randlose Brille an.
Er konnte kaum glauben, dass dieser kleine Metzger, der vor ihm saß, ernsthaft in Erwägung zog, ein solches Objekt zu kaufen.
Reine Zeitverschwendung hatte er bei sich gedacht, als seine Sekretärin den Besuch eines gewissen Jakob Rosendahl ankündigte.
Doch er wollte nicht unhöflich erscheinen und so ließ er bitten.
Nun saß Jakob vor ihm und wusste vor Verlegenheit nicht wohin mit seinen Händen.
Noch immer blickte der Bankdirektor Jakob an und wartete.
Jakobs Mund war ausgetrocknet und er konnte immer nur denken: Hier ist sie, meine Chance, hier ist sie.
Als er sprach, kam ihm seine eigene Stimme fremd vor. „Um welche Summe handelt es sich denn?“ „Sind sie denn ernsthaft interessiert?“
Der Direktor lächelte freundlich und als Jakob nickte, beugte er sich weit vor, als wollte er flüstern, sprach dann aber mit unveränderter Stimme weiter. „6.000 Reichsmark“, sagte er, wobei er sein Gegenüber genau beobachtete, doch konnte er in dessen verschlossenem Gesicht keine Regung entdecken.
Jakob stand auf. „Angesichts dieser Summe muss ich passen.“
Er hielt dem Direktor seine Hand entgegen, doch dieser übersah sie, stattdessen bedeutete er Jakob, sich wieder zu setzen. Er seufzte.
„In welcher Größenordnung bewegen sich denn Ihre Vorstellungen?“
Er musste sich eingestehen, diesen jungen Mann gründlich unterschätzt zu haben.
„Das Höchste, was ich flüssig machen kann, sind 3.500 Reichsmark.“
Der Direktor verdrehte die Augen und schien nach Luft zu schnappen.
„Lieber Herr Rosendahl, das ist nicht Ihr Ernst, Sie ruinieren mich.“ Bei sich dachte er: kleiner jüdischer Schweinehund.
Als er aber sah, dass Jakob sich abermals erheben wollte, hob er beschwichtigend die Hand und auf seiner Stirn bildeten sich feine Schweißperlen.
„Mein letztes Angebot“, sagte er und tat unglücklich: „4.500 Reichsmark.“ Säuerlich fügte er hinzu: „Den Schreibkram, Notarkosten etc. übernimmt meine Bank.“
Jakob holte tief Luft und zum ersten Mal an diesem Morgen, seit er die Bank betreten hatte, entspannte er sich und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Abgemacht“, sagte er und sie schüttelten sich die Hand.
Das Geschäft war perfekt. Jakob war Unternehmer.
Jakob wusste, dass es sich um einen einmaligen Glücksfall handelte, den Schlachthof zu erwerben, noch dazu zu diesem Preis.
Er wusste aber auch, dass er noch eine Menge zu investieren hatte, um den Betrieb auf Vordermann zu bringen.
Bei einem bekannten Juden aus der Nachbarschaft lieh er sich zu seinen 2.500 Reichsmark noch einmal die gleiche Summe.
Natürlich hätte er bei der Bank einen Kredit aufnehmen können, aber das wollte er nicht.
Die Verhandlungsposition war mit Bargeld ungleich günstiger, das wusste er.
Jeder Banker ist von Bargeld beeindruckt.
Nach Abzug des Kaufpreises blieben ihm also 500 Reichsmark.
Dieser Etat musste erst einmal ausreichen, um die ersten Änderungen in der Schlachthalle vorzunehmen.
Zuallererst ließ er die stinkende Grube leerpumpen und beauftragte den gleichen Unternehmer, dies einmal wöchentlich zu tun.
Als Nächstes wurden alle Wände und der komplette Fußboden mit Steinplatten gefliest.
Die uralten Risse in den Wänden und dem Fußboden verschwanden und die Halle konnte sauber gehalten werden.
Die alten Schlachttische aus Holz wurden herausgerissen und durch neue, abwaschbare Tische ersetzt.
Jakob teilte die Halle in drei Bereiche ein.
Im ersten Teil wurden die Tiere geschlachtet, gehäutet oder entborstet und ausgenommen.
Was nicht verarbeitet wurde, kam als Abfall in Zinkwannen, die regelmäßig geleert wurden.
Im zweiten Teil wurden die Tiere halbiert, gründlich gesäubert und grob zerlegt.
Im letzten Teil schließlich portionierte man, so wie es gebraucht wurde.
Anfangs kamen Jakobs Mitarbeiter nicht klar mit dem neuen System, aber es war durchdacht und effektiv.
Die meisten von ihnen, überwiegend Fachkräfte, arbeiteten schon lange hier, denn Jakob hatte sie der einfachheitshalber übernommen. Doch sie taten sich schwer mit den Neuerungen und waren das alte Schema gewohnt.
Aber schon bald erkannten sie, dass diese Art der Arbeitseinteilung rationaler, vor allem aber sauberer war.
Sie standen bei ihrer Arbeit nicht mehr knöcheltief im Blut, in den Eingeweiden und den Fäkalien der Tiere.
Jakob übernahm auch den Buchhalter der Schlachthalle.
Anton Hollmann, so hieß er, war ein ernst dreinblickender, großer, dünner Mann Anfang dreißig, mit hagerem Gesicht und wachen Augen, immer korrekt gekleidet.
Wenn man ihn sah, dachte man unwillkürlich an einen Beamten.
Jakob brauchte seine Erfahrung, denn in dem Bereich Buchführung war er Neuling.
Hollmann brachte das fachliche Wissen mit, kannte die Branche und wusste, warum Jakobs früherer Chef gescheitert war.
Innerhalb der nächsten sechs Monate verdoppelte die Schlachthalle Jakob Rosendahl den früheren Umsatz.
Jakob stellte drei weitere Metzger und zwei Hilfskräfte ein.
Jetzt arbeiteten, einschließlich Hollmann, vierzehn Angestellte für ihn, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass man im Schlachthof Rosendahl gutes Fleisch zu vernünftigen Preisen bekam und korrekt bedient wurde.
Jakobs Kunden waren Großabnehmer wie Gaststätten, Hotels, Krankenhäuser und eine Vielzahl von kleineren Metzgereien, die ihr Vieh hier schlachten ließen, um es dann selbst zu verarbeiten.
Eines Morgens sagte Hollmann, der Buchhalter, zu Jakob: „Herr Rosendahl, ich schaffe die Büroarbeit nicht mehr alleine, ich brauche eine Hilfskraft.
Jakob saß ausnahmsweise einmal an seinem Schreibtisch und sah auf.
„Ich kümmere mich darum“, brummte er und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.
Am darauffolgenden Montag kam Hollmann wie gewohnt um sieben in sein Büro, hängte Hut und Mantel akkurat an den dafür vorgesehenen Kleiderständer und wollte sich eben seiner Arbeit zuwenden, als er stutzte.
Gegenüber, am Schreibtisch seines Chefs, saß ein junges Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren und sah ihn mit den größten braunen Augen an, die er je gesehen hatte.
„Was“, begann er und brach ab, weil er einen Kloß im Hals sitzen hatte. Er räusperte sich.
„Was haben wir denn da?“ Der neuerliche Versuch gelang besser. „Wer sind denn Sie?“
Hollmann erschrak über seinen barschen Ton. Keinesfalls wollte er dieses reizende Geschöpf verängstigen.
Aber die junge Frau machte keineswegs einen ängstlichen Eindruck. Sie stand auf und kam auf ihn zu. Eine Figur wie ein Traum, dachte Hollmann.
Er saß stocksteif auf seinem Stuhl, wie festgenagelt, unfähig, sich zu bewegen.
„Entschuldigen Sie.“ Das Mädchen lächelte und hielt ihm ihre kleine, zierliche Hand entgegen.
„Mein Name ist Ella Landau, ich bin Ihre neue Bürohilfe, Herr Hollmann.“ Er griff nach ihrer Hand und stotterte idiotischerweise. „Angenehm, Hollmann.“
Sie fuhr fort: „Herr Rosendahl hat mir seinen Schreibtisch zugewiesen, damit ich mit Ihnen in einem Büro arbeiten kann. Verzeihen Sie mir mein Eindringen, aber Herr Rosendahl meinte, ich soll hier auf ihn warten.“ Ihr Lächeln war immer noch auf ihrem Gesicht.
„Das geht schon in Ordnung“, sagte Hollmann, dem erst jetzt bewusst wurde, das er noch immer ihre Hand hielt. Deshalb fügte er rasch hinzu: „Dann auf gute Zusammenarbeit, fangen wir an.“ Er schüttelte ihre Hand noch einmal kräftig und ließ sie dann los.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten wurde Ella Landau eingearbeitet.
Die junge Frau erwies sich als intelligent und wissbegierig, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und konnte vorzüglich mit den Kunden umgehen.
Letzteres resultierte aus der Tatsache, dass sie nicht nur bildhübsch, sondern auch aufgeschlossen und unkompliziert war.
Das mochte die überwiegend männliche Kundschaft.
Jakob registrierte dies alles mit Genugtuung und stellte befriedigt fest, für sein Geschäft gab es keine bessere Reklame als diese junge Frau.
Sie verzauberte ihre Umgebung.
Aber Jakob registrierte noch etwas anderes. Diese junge Frau verzauberte auch ihn.
Dem Buchhalter Hollmann fiel es sofort auf.
Jakob war öfter im Büro anzutreffen als sonst. Dafür gab es nur einen Grund.
Ihm missfiel das Interesse, das sein Chef der neuen Angestellten entgegenbrachte, denn es bedurfte keine Frage, warum man Jakob Rosendahl so oft hier sah.
Hollmann gestand sich ein, dass auch er von Ella Landau angetan war, mehr noch, er fand sie betörend und faszinierend.
Er reagierte auf jeden mit Eifersucht, der ihr zu nahe kam und ihr schöne Augen machte.
Er saß alleine im Büro und schrieb Zahlenkolonnen untereinander. Zum dritten Mal addierte er und zum dritten Mal kam ein anderes Endergebnis heraus.
Er konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, denn andere Dinge lenkten ihn ab.
Hollmann dachte an Ella, dachte daran, wie er ihr näher kommen konnte.
Er musste äußerst behutsam vorgehen, denn er wollte es sich mit seinem Chef nicht verderben.
Er sah ihn als Konkurrent in der Gunst Ellas und musste sich eingestehen, dass Jakob Rosendahl die bessere Partie für die junge Frau sein würde.
Aber kampflos wollte er seinem Chef das Feld nicht überlassen. Aber noch etwas anderes stand ihm im Weg, wenn Hollmann sich für eine Frau interessierte.
Seine Schüchternheit. Waren Frauen in der Nähe, fing er zu stottern an, bekam rote Ohren und wurde verlegen wie ein Schuljunge.
Dabei schien es gerade jetzt so einfach.
Ella, diese aufgeschlossene, junge Frau, mochte ihn, das wusste Hollmann. Keinesfalls war es nur Freundlichkeit, mit der sie ihm begegnete, nein, Hollmann meinte sich ganz sicher zu sein, Zuneigung war es, er spürte es genau.
Wie konnte er also Ella, seine eigene Zuneigung zeigen?
Unauffällig aber mit Nachdruck, darüber zerbrach er sich schon geraume Zeit den Kopf.
Immer wieder umkreisten seine Gedanken diesen einen heiklen Punkt, als die Bürotür sich öffnete und Ella eintrat.
Wie immer schlug Hollmanns Herz schneller, sobald er sie sah.
Ella grüßte freundlich und ging zu ihrem Schreibtisch.
„Herr Hollmann ich bin in Eile.“ Sie raffte einen Stapel Papiere zusammen und kam auf ihn zu.
„Würden sie mir einen großen Gefallen tun?“
„Jeden“, erwiderte Hollmann, „das wissen sie doch.“
Bei sich dachte er, wenn du wüsstest, wie wörtlich ich das meine.
Ella wusste von den Gefühlen des Herrn Hollmann, ihrer Person betreffend, eine Frau merkt so etwas. Für sie war es nichts neues, dass die Männer fasziniert waren von ihrer Erscheinung.
Sie sah blendend aus, war fröhlich und unbeschwert.
Dieses Strichmännchen, wie sie Hollmann heimlich nannte, interessierte sie aber überhaupt nicht.
Der verstaubte Bürohocker war ihr nicht besonders sympathisch.
Seine Art, sie mit seinen frivolen Blicken abzutasten, wann immer er sich unbeobachtet fühlte, widerte Ella an.
Sie nahm sich vor, ihm einen Denkzettel zu verpassen, und genau jetzt schien die Gelegenheit dazu gekommen zu sein.
Sie wählte ihre Worte deshalb bedacht und mit voller Berechnung, als sie sagte: „Ich habe eine Verabredung heute Abend, wenn Sie mir nicht helfen, komme ich zu spät. Die Papiere müssen durchgearbeitet und dann abgeheftet werden, wenn Sie so freundlich wären.“
Ella drückte ihm den Stapel Papiere in die Hände und mit ihrem Lächeln, das Eisberge zum Schmelzen bringen konnte, fügte sie hinzu: „Herr Rosendahl holt mich ab, Sie wissen ja, wie er Unpünktlichkeit verabscheut.“
Sie war draußen, noch ehe Hollmann etwas erwidern konnte.
Wie ein getretener Hund stand er in der Mitte des Raumes und bewegte sich eine Zeitlang überhaupt nicht.
Dann ging er mit schleppenden Schritten zu seinem Schreibtisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Die Papiere warf er achtlos beiseite.
Ihm war elend zumute und er fühlte sich uralt.
Sie saßen in einem der vielen Biergärten draußen am Wannsee.
Ella trug ein leichtes Sommerkleid, das ihre schlanke Figur vortrefflich zur Wirkung brachte.
Ihr schwarzes Haar fiel locker bis hinunter zu den Schultern und rahmte ihr schönes Gesicht in vollkommener Weise ein.
Sie hatte sich dezent geschminkt. Ein bisschen Rouge, weil sie immer so blass wirkte, und Lippenstift, mehr nicht.
Um diese Jahreszeit, Anfang Mai, hatte die Saison noch nicht begonnen und nur wenige Tische waren besetzt.
Fast ausschließlich junge Paare verbrachten hier ihren freien Sonntag, fernab der Großstadt.
Jakob hatte Bier bestellt und Limonade. Er sah Ella an. Wie schön sie ist, dachte er.
Nachdem der Kellner die Getränke gebracht hatte, sagte Jakob, indem er sein Glas hob: „Nun gehen wir schon das fünfte Mal zusammen aus, ein Jubiläum, das wir feiern sollten.“
Ella lachte: „Wie haben Sie sich diese Feier vorgestellt?“
Jakob legte die Stirn in Falten und tat so, als ob er angestrengt überlegte, dann sagte er:
„Zunächst lassen wir mal das dumme Sie weg, ich heiße Jakob, und du?“ Das Du zog er unnatürlich lang und betonte es.
Beide lachten und stießen mit ihren Gläsern an.
„Wir werden schick essen gehen und dabei verrate ich dir ein Geheimnis.“
Ella protestierte: „Herr Rosendahl, ich meine Jakob, Sie, du, solltest nicht immer so viel Geld ausgeben. Ich gehe gerne mit Ihnen aus, ohne dass Sie mir etwas Besonderes bieten müssen.“
Nach einer Weile fügte sie leise hinzu: „Das hast du doch gar nicht nötig.“
Sie wurde rot und senkte den Blick.
Jakob fasste über den Tisch und drückte ihre Hand, es rührte ihn, sie so zu sehen.
„Ich weiß Ella“, sagte er, „aber heute muss es sein, denk an unser Jubiläum.“
Sie sprachen nichts mehr, hielten sich nur bei der Hand und als der Kellner kam, zahlte Jakob und sie wechselten das Lokal.
Das Essen war hervorragend und sie aßen beide mit großem Appetit.
Der festlich gedeckte Tisch stand in einer Nische. Jakob hatte den Tisch vorher reserviert, aber davon wusste Ella nichts. Sie hatte sich wohl gewundert, dass der Kellner sie zu dem einzigen freien Platz führte, nachdem Jakob ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte.
Während des Essens redeten sie über belanglose Dinge und ab und an lockerte Jakob die Unterhaltung durch eine witzige Bemerkung auf, über die Ella jedes Mal herzlich lachen musste.
Ella war gerne mit Jakob zusammen, sie hatte ihn von Anfang an gemocht.
Er war nicht so ernst wie die meisten Menschen, die sie kannte.
Auch gefiel er ihr als Mann sehr gut, obwohl Jakob kein Frauentyp in dem klassischen Sinne war.
Er sah gut aus, keine Frage, aber das war es nicht, das Ella anzog.
Es war die Art und Weise, wie er Dinge tat oder sagte.
Seine ganze Erscheinung hatte etwas Faszinierendes.
Ella hatte es schon oft in der Firma bemerkt. Er zog andere Menschen in seinen Bann, ohne etwas Besonderes dafür zu tun.
Nach dem Essen konnte Ella ihre Spannung kaum noch aushalten, so fragte sie:
„Was ist das für ein großes Geheimnis, von dem du gesprochen hast?“
Jakob amüsierte sich: „Wäre ich nicht neugierig, so wäre ich kein Weib“, kommentierte er.
„Also gut“, er wurde ernst, dann fragte er: „Was ist in unserem Geschäft das größte Problem?“
Ella machte ein verständnisloses Gesicht.
Jakob fragte weiter: „Womit müssen wir beim Frischfleisch, gerade im Sommer, ständig rechnen?“
Ellas Miene erhellte sich und sie antwortete: „Dass uns die Ware verdirbt.“
„Richtig“, Jakob war jetzt in seinem Element. Er beugte sich vor und sprach weiter:
„Die Haltbarkeit von Frischfleisch ist begrenzt, sehr begrenzt.
Bisher haben wir uns auf das Schlachten sowie auf das Zerlegen der Tiere beschränkt, weil wir eine reine Schlachthalle betreiben.
Mir aber schwebt eine Fleischverarbeitung vor, wie es jeder Metzgereibetrieb tut.“
Jakob sah Ellas erstauntes Gesicht und fuhr schnell fort: „Im großen Stil, Ella, verstehst du?
Von der Schlachtung der Tiere über die Verarbeitung des Fleisches bis zur Wurst. Einfach alles.“
„Eine“, Ella unterbrach sich und schluckte, „eine Fleischfabrik“, sagte sie gepresst.
Sie sah Jakob bewundernd an. Die Idee gefiel ihr.
„Eine Fleischfabrik“, sagte Jakob mit Nachdruck, „genau.“
Es freute ihn sehr, dass Ella seine Idee gut fand.
Den Rest des Abends sprachen sie nicht mehr über geschäftliche Dinge und als Jakob sich von Ella vor ihrer Haustür verabschiedete, nahm er ihr das Versprechen ab, mit niemandem über seine Pläne zu sprechen.
Ella lag in dieser Nacht noch lange wach. Sie dachte an den schönen Abend, an Jakob und an das Gespräch, das sie geführt hatten.
Sie wusste nicht, wie Jakob seine Idee und seinen Plan in die Tat umsetzen wollte. Aber eines wusste sie genau: Was dieser Mann sich vornahm, würde er durchführen, und sie war bereit, ihn dabei zu unterstützen.
Ella war zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt.
Eines Abends, Jakob stand neben Ella und sah auf das Blatt Papier hinunter, das sie in Händen hielt, berührte er zufällig ihren Busen.
Wie elektrisiert zuckte er zurück und murmelte eine Entschuldigung.
Ella sah lächelnd zu ihm hoch und blieb ruhig sitzen. Dieses Lächeln war freundlich und kokett zugleich. Mehr noch, es war herausfordernd und provozierend.
Sie waren alleine im Büro und Jakob konnte der Versuchung nicht mehr widerstehen. Zu lange hatte er auf diese Gelegenheit gewartet.
Er beugte sich zu ihr runter und küsste sie. Erst zart und vorsichtig, aber als Ella seinen Kuss mit weichen Lippen erwiderte, leidenschaftlich und fordernd.
Immer und immer wieder küssten sie sich, umarmten einander und sanken schließlich zu Boden.
Jakob fuhr ihr mit der Hand unter den Rock und berührte nacktes, festes Fleisch, da wo ihre Strümpfe endeten.
Sie gab seiner drängenden Hand nach, indem sie ihre Schenkel öffnete, und signalisierte Bereitschaft.
Ihr Schoß fühlte sich warm und feucht an und Jakob hatte nun keinen Zweifel mehr, dass auch Ella es wollte.
Sie versanken beide in einen Taumel aus Leidenschaft und Lust und Ellas kleiner, spitzer Schrei, den sie von sich gab, als Jakob in sie eindrang, steigerte sein Verlangen ins Unerträgliche.
Sie liebten sich mehrmals hintereinander, nur von kurzen Pausen unterbrochen, waren hungrig nach Zärtlichkeit, süchtig nach Berührung durch den anderen und unendlich glücklich, endlich einander gehören zu können.
Als es draußen hell wurde, fragte Jakob: „Willst du meine Frau werden, Ella?“
Sie sah ihn lange ernst an. Ihr Gesicht glühte. Dann küsste sie ihn immer und immer wieder und zwischen den Küssen flüsterte sie: „Ja mein geliebter Jakob, das will ich.“
Jakob hielt Ella im Arm. Er wollte sie nie mehr loslassen.
„Komm herein.“ Ella küsste Jakob flüchtig auf die Wange.
Ihr Gesicht war gerötet und Jakob dachte, sie ist genau so nervös wie ich.
Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Sein Antrittsbesuch bei Ellas Eltern hatte er immer wieder hinausgeschoben, aber irgendwann musste es ja sein, denn keinesfalls wollte er den Eindruck hinterlassen, dass er keine ernsten Absichten hatte.
Er klopfte sich den Schnee, so gut es ging, von seinem Mantel und zog ihn aus.
Seit Tagen schneite es ununterbrochen und es war eisig kalt.
Ella schloss die Haustür hinter ihm und Jakob dachte: Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Sie nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn am Kleiderreck auf.
Jakob wechselte den Blumenstrauß für Ellas Mutter nervös von der einen Hand in die andere.
Ella musterte Jakob kritisch, fand aber, dass er gut aussah.
Er trug einen dunkelblauen Anzug mit Krawatte, obwohl er Krawatten hasste.
„Tadellos siehst du aus“, sagte sie, „komm.“
Einen Augenblick sahen sie sich wortlos an, dann nickte Jakob und Ella ging voraus und öffnete die Tür zur Wohnstube.
Wohlige Wärme kam ihnen entgegen.
Die Landaus saßen an einem Tisch am Ende des Raumes und sahen ihnen erwartungsvoll entgegen.
Ella nahm Jakob bei der Hand und führte ihn zu ihren Eltern, die freundlich lächelten.
„Mutter, Vater“, sagte sie, „darf ich euch Jakob Rosendahl vorstellen?“
„Angenehm“, murmelte Jakob befangen, „ich freue mich, Sie kennenzulernen.“
Er ging zuerst auf Ellas Mutter zu und wickelte umständlich die mitgebrachten Blumen aus dem Papier. Als er sie überreicht hatte, gab er Ellas Vater die Hand.
„Wir freuen uns auch“, brummte dieser und Ellas Mutter nickte noch immer lächelnd.
„Ein unfreundliches Wetter ist das heute“, sagte Jakob, um irgendetwas zu sagen.
„Unfreundlich ja“, erwiderte Ellas Vater, „wenn es nicht bald mal aufhört zu schneien, ersaufen wir im Schnee.“
Alle lachten sie über die letzte Bemerkung.
„Aber setzt euch doch.“ Ellas Mutter stand auf. „Ich hole eine Vase für die schönen Blumen, dann können wir Kaffee trinken.“
Sie ging hinaus und Ella und Jakob setzten sich an den Tisch.
„Mutter hat einen Kuchen gebacken, extra für dich“, sagte Ella und sah Jakob von der Seite an.
Jakob wurde verlegen, erwiderte aber nichts.
„Sie backt immer irgendwelche Kuchen“, knurrte der alte Landau.
„Papa!“ Ella sah ihren Vater strafend an, der Jakob grinsend zuzwinkerte.
Ellas Mutter kam mit einem Tablett zurück und verteilte das Kaffeeservice auf dem Tisch.
Der Kaffee war dampfend heiß und gut.
Beim dritten Stück Kuchen musste Jakob passen.
„Frau Landau, ich habe noch nie einen so leckeren Kuchen gegessen, aber ich kann nicht mehr.“
Ellas Mutter zeigte sich erfreut über das Kompliment und strahlte.
Befriedigt dachte Ella: Mutter hat er schon auf seiner Seite, der Charmeur.
Als Ellas Vater anfing, Jakob über dessen Geschäfte, Pläne und Zukunftsabsichten auszufragen, räumten die beiden Frauen den Tisch ab und gingen in die Küche.
Ellas Mutter sagte zu ihrer Tochter, als sie alleine waren: „Ein wirklich netter Bursche, dein Jakob. Vater gefällt er auch. So zurückhaltend und höflich und gut sieht er aus.“
Ella lachte und umarmte ihre Mutter.
„Na, na Mutter, ich kriege doch hoffentlich keine Konkurrenz?“
Sie war erleichtert und glücklich.
Die Vorbereitungen zur Hochzeit übernahmen Ellas Eltern.
Jakob und Ella wollten keine große Sache daraus machen, aber Ellas Eltern bestanden darauf.
Sie saßen im Wohnzimmer der Landaus und besprachen die Einzelheiten.
„Es ist das wichtigste Fest überhaupt im Leben von uns Juden, denn erst dadurch werdet ihr vollwertige Mitglieder des Gottesvolkes, vergesst das nie.
In der Eheschließung sehen wir den Fortbestand des Volkes Israel.“
Ellas Vater sah erst Jakob und dann seine Tochter an.
Er holte ein kleines, abgegriffenes Buch hervor.
„Hier steht alles drin, was ihr wissen müsst“, sagte er feierlich und legte es vor Jakob und Ella auf den Tisch.
„Was ist das für ein Buch?“, fragte Ella neugierig.
„Mit diesem Buch“, antwortete ihr Vater und legte eine Hand auf den Buchdeckel, „hat sich dein Urgroßvater schon auf den heiligen Stand der Ehe vorbereitet, dann dein Großvater und dann ich.“
Er machte eine Pause, dann sprach er weiter: „Da ich keinen Sohn habe, gebe ich es an dich weiter.“ Er strich seiner Tochter zärtlich übers Haar. „In der Hoffnung, du gibst es deinem erstgeborenen Kind weiter, wenn die Zeit gekommen ist.“
„Das ist eine wichtige Familientradition, die beibehalten werden muss“, bemerkte Ellas Mutter.
Jakob und Ella sahen sich vielsagend an. Gegen diese Argumente waren sie machtlos.
Die Trauung fand in der Synagoge der jüdischen Gemeinde statt, in der schon Ellas Eltern geheiratet hatten.
Nie sah ich Schöneres, dachte Jakob, als er seine Braut sah und so ging es den meisten der hier Anwesenden.
Sie standen unter dem Trauhimmel, einem von vier Stangen getragenen Baldachin, der das Heim des Ehepaares darstellen sollte.
Nach dem Segensspruch über dem Brautstand und einem Becher Wein trank erst Jakob und gab den Becher weiter an Ella, die ihn leerte.
Dann wurde die Ehe durch die Erklärung des Bräutigams geschlossen.
Jakob sagte mit belegter Stimme: „Siehe, du bist mir angetraut durch diesen Ring nach dem Gesetz Moses und Israels.“ Er steckte Ella den Ring an den zweiten Finger der linken Hand.
Ellas Vater trat vor und verlas den Ehevertrag.
Darin versprach Jakob, seine Frau zu ehren, für sie zu arbeiten, sie zu versorgen und sie mit allem zu versehen, was nötig ist.
Es folgten die sieben Segenssprüche der Eheschließung.
Die Zeremonie endete damit, dass ein Glas zerbrochen wurde zur Erinnerung an den zerstörten Tempel.
Alle Anwesenden beglückwünschten das Brautpaar.
Jakob und Ella atmeten auf.
Nur sie beide wussten, dass Ella bereits ein Kind unter dem Herzen trug.
Sieben Monate später gebar Ella einen gesunden Jungen.
Sie gaben ihm den Namen David.
Kapitel 2
Die junge Frau sah sich immer wieder nach allen Seiten um.
Wie ein gehetztes Tier stand sie da. Geduckt und in die dunkle Nacht hinein horchend, ob ein fremdartiges Geräusch an ihre Ohren drang.
Doch sie hörte nur ihren Atem, der stoßweise ging, und weiße Wölkchen bildeten sich vor ihrem Mund, immer wenn sie ausatmete.
Es regnete jetzt stärker und sie presste das Deckenbündel, das sie im Arm hielt, noch enger an sich.
Einen Moment verschnaufte sie noch, dann rannte sie weiter, so schnell wie das nasse, rutschige Kopfsteinpflaster es zuließ.
Ihre Schritte hallten laut von den Hauswänden zurück und das Herz der jungen Frau krampfte sich aus Angst, entdeckt zu werden, zusammen.
Als sie den Ortsausgang erreicht hatte, wurde ihr vor Erschöpfung schwarz vor den Augen und ihr schwanden die Sinne.
Dennoch blieb sie nicht stehen. Sie bog nach links in einen Feldweg ein, der erst sanft anstieg, dann aber immer steiler wurde und der ihr das Laufen zum Schluss unmöglich machte.
Das letzte Stück kroch sie, halb gebückt, sich mit der freien Hand im Morast abstützend, immer darauf bedacht, nicht auszurutschen, oder das Deckenbündel zu verlieren, bis sie die alten Gemäuer des Klosters erreicht hatte.
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das große Tor und rutschte nach unten, am Ende ihrer Kräfte.
Der Regen hatte den Erdboden ringsum aufgeweicht, aber hier, dicht an der Mauer, war es trocken.
Eine Weile blieb sie regungslos sitzen, die Augen geschlossen. Sie war unfähig, sich zu bewegen oder etwas anderes zu fühlen als Müdigkeit und Erschöpfung.
Als ihr Herz nicht mehr so wild schlug und ihr Atem normal ging, öffnete sie die Augen wieder.
Ihre Kleider klebten vom Regen und ihrem Schweiß an ihrem Körper.
Sie drehte den Kopf und starrte an den Klostermauern empor.
Wie oft war sie als Kind den langen, beschwerlichen Weg zum Kloster hinaufgestiegen, um bei den Mönchen um einen Apfel oder ein Glas Brause zu betteln?
Nie wurde sie abgewiesen, im Gegenteil.
Die Mönche freuten sich und waren stets freundlich.
Schon damals hatte sie hier oben als Kind Sicherheit und Geborgenheit gespürt und empfunden, sobald sie auch nur in die Nähe des Klosters kam.
Diese Erinnerung hatte sie ihren Entschluss fassen lassen.
Aber jetzt, in dieser regenverhangenen Nacht, wirkte das Kloster kalt und bedrohlich, ja abweisend.
Plötzlich fror die junge Frau. Sie stand auf und legte das Deckenbündel vorsichtig dorthin, wo sie eben noch gesessen hatte.
Sie schlug die Deckenzipfel zurück und das winzige Gesicht eines schlafenden Kindes wurde sichtbar.
Die junge Frau weinte still in sich hinein, obwohl sie am liebsten laut geschrien hätte.
Sie biss sich die Lippen blutig, damit ihr kein Laut entfuhr.
Tränen der Verzweiflung, der Scham und der Trauer rannten ihr über die Wangen. Tränen der Wut, da ihr kein anderer Ausweg blieb.
Sie kniete nieder und küsste das kleine Gesicht des schlafenden Kindes immer und immer wieder.
„Vergib mir mein Sohn“, schluchzte sie dabei, „Gott wird mir nicht vergeben, das weiß ich, und ich mir selber auch nicht.“
Sie schlug die Deckenzipfel sorgfältig wieder zusammen, dann drehte sie sich um und lief, so schnell sie konnte, den Abhang hinunter.
Ostwärts kündigte ein graues Wolkenband den neuen Tag an.
Sechs Tage später fanden Fischer im Schilf am Ufer des nahen Bodensees die Leiche einer jungen Frau.
Die Leichenöffnung, die in solchen Fällen immer angeordnet wurde, ergab ohne jeden Zweifel: Tod durch Ertrinken. Selbstmord.
Aber noch etwas anderes stellte man fest.
Kurz vor ihrem Tod, so der abschließende Bericht, hatte die Frau entbunden.
Doch das Kind wurde nicht gefunden, trotz zahlreicher Suchaktionen.
Diese Tatsache ließ nur einen Schluss zu. Die junge Frau musste ihren Säugling mit in den Tod genommen haben.
Der Fall kam zu den Akten.
Das Kloster Heilig Kreuz, hoch über dem Bodensee, nahe dem Städtchen Weingarten wurde 1575 von Benediktinermönchen erbaut.
Die Bauzeit damals betrug sechzehn Jahre.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde hinzugebaut und verändert.
Aber das Wesentliche, wie das Haupthaus mit der Kapelle, der Kreuzgang mit den Zellen für die Mönche und die alles umschließende Klostermauer, waren aus jener Zeit.
Der Benediktinerorden ist der älteste noch bestehende Mönchsorden seiner Art.
Gegründet von Benedikt von Nursia auf dem Monte Casino bei Neapel im Jahre 529.
Die Benediktinermönche pflegen seitdem die Liturgie.
Dieser Ausdruck kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Volksdienst“ oder „für das Volk“.
Nach diesem Grundprinzip, das Benedikt von Nursia als wesentliche Aufgabe für den Orden vor über 1400 Jahren ausgegeben hatte, nach dieser Lehre leben und arbeiten die Benediktinermönche noch heute in aller Welt.
So auch die Mönche des Klosters Heilig Kreuz am Bodensee.
Wer hier klopft, dem wird geöffnet, gleich ob Bettler oder Edelmann.
Er wird beköstigt und man gewährt ihm ein Lager für die Nacht.
Manchmal auch Schutz und Zuflucht.
Eine Hauptaufgabe der Mönche des Heilig-Kreuz-Klosters bestand neben der Seelsorge in der Krankenversorgung der Ärmsten der Armen.
Einer der Mönche, die täglich unterwegs waren, um das Leid der Ärmsten zu lindern, war Pater Thomas.
Im Moment regnete es nicht, aber der Himmel hing voller schwarzer Wolken.
Thomas überquerte den Hof und ging auf das große Tor zu.
Seine Tasche, die an seiner Schulter zerrte, war schwer, denn darin befand sich alles, was er für seine Krankenbesuche brauchte.
Er würde den ganzen Tag zu tun haben, darum beeilte er sich.
Thomas dachte an den beschwerlichen Abstieg und wünschte sich, er wäre schon unten im Dorf.
Sein Rücken schmerzte, das Regenwetter, dachte er.
Thomas war heute Morgen früher als sonst aufgestanden, weil er nicht mehr schlafen konnte, und hatte bis zum Frühstück in der Bibel gelesen.
Nach der Morgenandacht versammelten sich alle Mönche im großen Speisesaal zum gemeinsamen Frühstück, was Thomas besonders liebte, denn das war die einzige Gelegenheit, mit allen Mönchen etwas Zeit zu verbringen und das eine oder andere Gespräch zu führen.
Im Moment befanden sich vierundzwanzig Benediktiner im Kloster.
Einige Brüder waren nur auf der Durchreise, wie sie es untereinander nannten.
Sie wanderten umher, um das Wort des Herrn zu verkünden, und weilten nicht lange an einem Ort.
Ihren Berichten und Erzählungen hörten die anderen Mönche mit besonderem Interesse zu.
„Thomas“, Pater Markus kam über den Hof und schreckte ihn aus seinen Gedanken.
Er sah dem Mönch entgegen, der mit schlurfenden Schritten auf ihn zukam.
„Ich möchte dich bitten, mir meine Medizin zu geben, ich habe nichts mehr und du bist doch den ganzen Tag unterwegs.“
Der alte Mönch stand nun direkt vor Thomas und streckte ihm seine knotige Hand mit einer leeren Arzneiflasche entgegen.
„Wieder so schlimm?“, fragte Thomas und nahm die Flasche.
Markus verzog das Gesicht. „Das kann sich kein Mensch vorstellen. Unser Herr Jesus Christus muss ähnlich gelitten haben, als man ihn ans Kreuz nagelte.“ Er bekreuzigte sich.
Thomas musste ein Grinsen unterdrücken. Er mochte den alten Mönch gern, denn es amüsierte ihn, wenn Markus in solch übertriebenen Vergleichen sprach, und das tat er oft.
Thomas griff in seine Umhängetasche und reichte dem anderen die gewünschte Medizin.
„Tausend Dank, Bruder.“ Der alte Mönch lächelte und dabei öffnete er seinen zahnlosen Mund.
Er sah nach oben und betrachtete die dunkeln Wolken.
„Es wird noch mehr regnen“, stellte er fest.
Thomas sah ebenfalls in den wolkenverhangenen Himmel. „Sieht so aus, ja“, antwortete er.
„Gott zum Gruß.“ Markus klopfte Thomas auf die Schulter. „Und vielen Dank für deine Freundlichkeit.“ Er faltete die Hände und humpelte den Weg zurück, den er gekommen war.
„Armer Kerl“, murmelte Thomas und sah ihm voller Mitleid nach.
Er kannte Markus jetzt fünfundzwanzig Jahre, genau so lange wie er, Thomas, hier im Kloster weilte. Nie hatte er ihn anders gesehen als humpelnd und mit verkrümmten, knotigen Händen.
Markus wurde von Rheuma und Gicht geplagt.
Vor langer Zeit verabreichte Thomas ihm eine stark schmerzlindernde Salbe, die Markus half, sein Leiden wenigstens halbwegs zu ertragen. Seitdem brauchte Markus diese Medizin regelmäßig.
Thomas drehte sich um und setzte seinen Weg fort.
Ein paar Mönche kamen ihm entgegen und grüßten freundlich, Thomas nickte ihnen zu.
Noch ein paar Schritte, dann hatte er das Tor erreicht.
Er schob den schweren Balken zurück, der die Pforte sicherte, und spürte wieder den stechenden Schmerz in seinem Rücken.
Einen Augenblick hielt er inne, dann öffnete er die eine Seite des Portals und trat hinaus.
Er hatte das Tor schon fast wieder geschlossen, als er das Deckenbündel sah.
Er kniete nieder und schlug die Decke, die er dort entdeckte, auseinander.
„Ein Kind“, entfuhr es ihm, „gütiger Himmel, ein Kind.“ Thomas schaute in das kleine Gesicht und schluckte. Das Kind hatte die Augen geöffnet und sah Thomas an.
Es weinte nicht.
Tausend Gedanken schossen Thomas durch den Kopf. Was nun? Erst einmal raus aus dem scheußlichen Wetter, dachte er.
Er hob das Bündel auf und ging zurück in den Klosterhof.
Der Abt würde wissen, was zu tun war. Der Abt wusste immer, was zu tun war.
Er saß hinter seinem Schreibtisch, als Thomas den Raum betrat. Er lächelte freundlich und winkte, bedeutete ihm, mit einer Handbewegung näherzukommen.
„Was haben wir denn da, Bruder?“ Der Abt lächelte noch immer und kam um seinen Schreibtisch herum.
Erst wenn er stand, sah man seine imposante Gestalt in voller Größe.
Eigentlich war alles an ihm ein bis zwei Nummern zu groß geraten.
Sein riesiger Schädel mit den grauen Haaren wippte beim Gehen hin und her, gerade so, als wäre sein Kopf mit einer Feder auf den breiten Schultern befestigt.
Dem Betrachter drängte sich der Verdacht auf, dieser Kopf war zu schwer und wackelte deshalb.
Ein eisgrauer Bart, passend zum Haupthaar, überwucherte sein breitflächiges Gesicht und nur wenn er sprach, konnte man erahnen, wo sich sein Mund befand.
Seine braunen Augen lagen unter den buschigsten Brauen, die Thomas je gesehen hatte.
Diese Augen strahlten Güte und Zuversicht aus.
Das Auffälligste in diesem Gesicht und gleichzeitig das Zentrum aber war die Nase.
Überdimensional, ständig rot und knollig.
Thomas hatte unwillkürlich an eine große, vollreife Erdbeere denken müssen, als er vor vielen Jahren zum ersten Mal in dieses Gesicht blickte.
„Ich wollte eben hinunter ins Dorf, ehrwürdiger Vater“, sagte er, „da lag dieses Kind vor unserer Pforte. Es muss dort in der Nacht abgelegt worden sein.“
Der Abt kam noch näher und sah den Findling neugierig an.
Die ungeschickte Art, wie Thomas den Säugling hielt, als könne er ihn zerbrechen,amüsierteden Abt.
Er schnupperte mit seiner Knollennase und sah Thomas fragend an.
„Es hat sich wahrscheinlich in die Hose …“ Thomas beendete den Satz nicht.
„Hmm.“ Der Abt runzelte die Stirn, verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann, im Zimmer hin und her zu wandern.
Er dachte angestrengt nach und Thomas wusste, dass man ihn jetzt keinesfalls stören durfte, also verhielt er sich ruhig. Er wartete.
Ohne seine Wanderung zu unterbrechen, sagte der Abt „Gehe mit dem Kind in die Küche und lasse dir von Bruder Stephan etwas zu essen und zu trinken geben. Es muss versorgt werden.“
Der Abt blieb vor Thomas stehen, dann fuhr er fort: „Außerdem muss es gesäubert werden.“ Er rümpfte die große Nase.
„Kümmere dich um den Findling. Bis wir eine Lösung gefunden haben, entbinde ich dich von deinen anderen Aufgaben.“
Thomas sah den Abt verwundert an und für einen Moment wollte er protestieren, aber das wäre höchst ungehorsam gewesen und schickte sich nicht.
„Ja ehrwürdiger Vater“, erwiderte er deshalb nur und verließ den Raum.
Der Abt wartete, bis Thomas den Raum verlassen hatte, dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, faltete die riesigen Hände und durchdachte die Situation.
Die einfachste Lösung, das Kind an ein Waisenhaus zu überstellen, widerstrebte dem Abt sehr.
Zu viele dieser Häuser hatte er gesehen, in zu viele traurige Kinderaugen gesehen, in zu viele hoffnungslose Gesichter geblickt, die ohne Liebe, Nestwärme und Zuneigung aufwachsen mussten. Kinder ohne Zukunft.
Wollte die verzweifelte Mutter nicht genau das verhindern?
Hatte sie nicht deshalb den beschwerlichen Aufstieg zum Kloster auf sich genommen, um es hier in Obhut zu wissen?
Damit es hier im christlichen Glauben erzogen würde?
Natürlich, der Abt war Realist. Das Kind konnte nicht für immer hier im Kloster bleiben.
Aber erst einmal. Bis man eine geeignete Pflegefamilie gefunden hatte. Was sprach dagegen?
„Der Säugling bleibt vorerst hier, denn er ist Gottes Geschöpf und hat ein Recht auf Liebe und Fürsorge.“
Den letzten Gedanken sprach der Abt laut aus, ganz so, als wolle er seiner Entscheidung Nachdruck verleihen.
Er nahm einen Bogen Papier aus der Schreibtischlade und begann. einen Brief zu schreiben.
Schließlich mussten die Behörden in Kenntnis gesetzt werden.
Der Abt kannte allerdings schon jetzt die amtliche Antwort und schmunzelte in sich hinein.
Die zuständigen Stellen würden froh sein, sich um ein Findelkind weniger kümmern zu müssen.
Er unterschrieb den Brief, stand auf, ging in die Mitte des Raumes und legte sich bäuchlings auf den Steinboden.
Er streckte seine Arme und Beine weit von sich und sprach ein Gebet.
Er betete für die unglückliche Mutter und ihr Kind und als er geendet hatte, bat er Gott um Vergebung, falls es die falsche Entscheidung gewesen sein sollte, die er getroffen hatte.
Thomas indes ging den Flur des Hauptgebäudes entlang. Er war nervös und irritiert.
Der ehrwürdige Vater übergab das Kind seiner Obhut. Warum?
Nur weil er es gefunden hatte? Das alleine konnte nicht der Grund sein.
Der Säugling auf seinem Arm weinte.
Thomas versuchte, ihn zu beruhigen, indem er mit leiser Stimme auf ihn einredete.
Tatsächlich hörte er nach einer Weile zu weinen auf.
Als er die Küche erreichte, wurde er von Pater Stephan schon ungeduldig erwartet.
„Da bist du ja endlich“, empfing er ihn und hantierte an dem großen Herd, der in der Mitte der Küche stand.
„Hast dir Zeit gelassen.“
Als er in das erstaunte Gesicht von Thomas blickte, fügte er erklärend hinzu: „Einer der Brüder hat dich mit dem kleinen Wurm gesehen.“
Thomas begriff und setzte sich auf einen Stuhl nahe dem Ofen.
Wohlige Wärme durchströmte ihn und er spürte wieder das Stechen im Rücken. Außerdem schmerzten seine Arme, denn er verkrampfte sich immer mehr beim Versuch, das Kind möglichst ruhig zu halten, denn damit es nicht schrie, hatte er begonnen, es sanft zu wiegen und zu schaukeln.
„Nimm es mir mal ab, bitte, ich habe schon kein Gefühl mehr in den Armen.“
Er reichte es Stephan, der es vorsichtig entgegennahm.
Sofort fing der Säugling wieder zu schreien an. Stephan machte ein entsetztes Gesicht.
„Hab ich ihm wehgetan?“, fragte er.
Thomas nahm ihm das Kind wieder ab.
„Kannst eben nur mit Kochtöpfen umgehen“, erwiderte er und hielt sich den Säugling vor die Brust.
Sein Mund war jetzt ganz dicht am Köpfchen des Kindes und behutsam und ganz leise flüsterte Thomas ihm Worte ins Ohr und in kürzester Zeit hatte er es beruhigt.
Pater Stephan war beeindruckt. „Alle Achtung“, sagte er.
„Wir brauchen warme Milch und warmes Wasser.“
Das Kind lag noch immer mit leicht geneigtem Köpfchen auf Thomas’ Brust und schien zu lauschen, was er gerade sagte.
Ein rührendes Bild.
„Habe ich alles vorbereitet.“ Pater Stephan kam zum Herd.
Tatsächlich stand ein Topf mit Wasser auf dem Feuer und daneben ein Blechteller mit Milch.
„Dann lass uns keine Zeit verlieren.“ Thomas stand auf.
Sie legten den Säugling auf den Tisch und zogen ihn behutsam aus.
Die Decke, in die das Kind eingewickelt war, benutzten sie als Unterlage.
Als sie es nackt ausgezogen hatten, sahen sie, dass es ein Junge war.
Stephan kam mit dem großen Topf Wasser und setzte ihn auf den Tisch neben dem Säugling ab.
Thomas fasste mit der Hand in den Topf und hätte sich fast die Finger verbrüht.
„Heilige Mutter Gottes“, entfuhr es ihm. „Willst du ihn umbringen?“
„Heißes Wasser“, Stephan zuckte die Achseln und tat beleidigt.
„Badewasser, Jesus im Himmel, Badewasser, ich fasse es nicht.“ Thomas schüttelte den Kopf.
„Wir sollen ein Kind baden, keine Eier kochen.“
Stephan schüttete einen ganzen Eimer kaltes Wasser hinzu. Jetzt hatte es die richtige Temperatur.
Sie setzten den Säugling behutsam in das wohltemperierte Wasser.
Stephan hielt ihn und Thomas wusch ihn mit einem weichen Schwamm ab.
Danach kleideten sie ihn wieder an und flößten ihm mit einem kleinen Löffel die Milch ein, weil sie keine entsprechende Flasche hatten.
Sie schlugen ein Bastkörbchen mit Decken aus und legten den Knaben hinein.
Augenblicke später schlief er erschöpft ein.
Die beiden Mönche blickten zufrieden auf den schlafenden Säugling hinab und Stephan bemerkte: „Wie Moses vor langer Zeit.“
Thomas nickte nur mit Tränen in den Augen.
Vor Ergriffenheit angesichts des friedlich schlafenden Kindes hätte er sowieso kein einziges Wort herausgebracht.
Pater Thomas zog in eine größere Zelle, da der Abt das Findelkind in seine Obhut gab und ihn bat, sich zu kümmern.
Sogleich machte Thomas sich daran, alles an einschlägiger Lektüre zu lesen, um den Knaben zu versorgen.
Das Kloster verfügte über eine Bibliothek mit mehr als zweihunderttausend Büchern, nach Sachgebieten geordnet und katalogisiert.
Trotzdem musste Thomas viele Stunden suchen, um die richtigen Bücher für seine Bedürfnisse zu finden.
Fast alles, was Thomas für den Knaben benötigte, wurde im Kloster nach seinen Angaben angefertigt.
Die anderen Mönche unterstützen ihn dabei nach Kräften, was ihn sehr freute.
Was im Kloster nicht hergestellt werden konnte, besorgte Thomas im Dorf.
Auch in seiner neuen Zelle wurde es immer enger und schließlich musste er mit seinem Schützling abermals umziehen.
Thomas saß am Tisch, ein aufgeschlagenes Buch vor sich, aber er las nicht.
Er hing seinen Gedanken nach.
Seit er das Kind gefunden hatte, wurde er von Erinnerungen gequält, die er glaubte, längst überwunden zu haben.
Als junger Mann, direkt nach seinem Theologiestudium, trat er nicht, wie beabsichtigt, seine für ihn vorgesehene Stelle als Seelsorger an, sondern bat seinen Bischof, ihn freizustellen.
Er wolle, so begründete er sein unverständliches Verhalten, erst zu sich selbst finden.
Er fühlte sich noch nicht stark, vor allem aber noch nicht reif genug, die große Verantwortung zu übernehmen, um als Priester tätig zu werden.
Alle Versuche des Bischofs, Thomas umzustimmen, schlugen fehl, weil er nicht wusste, warum dieser junge Mann so handelte, noch was ihn bedrückte.
Doch Thomas offenbarte sich ihm nicht.
Was sollte er tun? Schweren Herzens kam er Thomas’ Wunsch nach.
Tatsächlich trug Thomas einen Gewissenskonflikt mit sich aus.
Einerseits besaß er einen unerschütterlichen Glauben und seine Liebe zu seinem Herrn Jesus Christus war grenzenlos.
Andererseits gab es so viele Ungereimtheiten in der theologischen Lehre, die Thomas, ein moderner Denker, oft zweifeln ließen.
Ganz zu schweigen von der altmodischen Starrheit der katholischen Kirche und deren strengen Richtlinien.
Die Tatsache nämlich, dass er als katholischer Priester niemals eine eigene Familie, niemals eine Ehefrau, niemals Kinder haben würde, fraß ihn innerlich auf.
In den nächsten drei Jahren wanderte Thomas quer durch Europa, rastlos getrieben von einem Ort zum anderen, auf der Suche nach Antworten auf seine Fragen und um sich über seine Empfindungen Klarheit zu verschaffen.
Er besaß nur das, was er auf dem Leib trug, lebte von dem, was man ihm gab, und schlief unter freiem Himmel.
Die Antworten, die er suchte, fand er nicht, aber er fand zu sich selbst.
Am Ende des dritten Jahres weilte er im Benediktinerkloster Heilig Kreuz, hier am Bodensee.
Ihm wurde klar, dass er sich entscheiden musste.
Aber es dauerte fast noch ein weiteres Jahr, bis Thomas glaubte, sich seiner Sache sicher zu sein.
Er trat in den Benediktinerorden ein.
Zwei Jahre später wurde er hier zum Priester geweiht.
Thomas vernahm vom Bettchen her ein Seufzer und stand auf.
Nur das Köpfchen des Kindes guckte aus den Decken hervor.
Die Augen fest geschlossen, der Mund leicht geöffnet, mit bebenden Nasenflügeln, so lag es da und schlief tief und fest. Thomas streichelte sanft die blonden Löckchen am Hinterkopf des Knaben.
Er ging weg vom Bettchen, nicht ohne noch einmal die Decke glatt gezogen zu haben, dann legte er sich in die Mitte des Raumes bäuchlings auf den Fußboden und sprach sein Abendgebet.
Als er geendet hatte, fügte er hinzu: „Oh Herr, ich bitte dich, gib mir die Kraft und die Geduld, das Kind in deinem Namen und in deinem Glauben zu erziehen, und ich mich würdig erweise und das Vertrauen des ehrwürdigen Vaters nicht enttäusche.“
Thomas erhob sich, legte sich auf seine Pritsche und schloss die Augen.
Das Kind war ein Monat im Kloster und sollte am nächsten Tag, dem 10.11.1897, sein erstes heiliges Sakrament empfangen: die Taufe. Sie würden ihm den Namen Martin geben.
Kapitel 3
Das Berlin um die Jahrhundertwende war der kulturelle, gesellschaftliche und politische Mittelpunkt Europas und die Hauptstadt des Deutschen Reiches.
Eine Metropole, deren Herzschlag schneller pulsierte als anderswo.
Eine weltoffene, moderne Stadt mit Charme und Flair.
Jakob liebte diese Stadt und diese Stadt schien ihn zu lieben. Was er anfing, gelang.
Sein Geschäft lief vorzüglich und er expandierte.
Mit Fleiß, Fingerspitzengefühl und geschäftlichem Weitblick machte er aus der ehemaligen Schlachthalle jene Fleischfabrik, wie er es geplant hatte.
Fleisch- und Wurstspezialitäten von Rosendahl waren weit über die Grenzen Berlins bekannt, geschätzt und beliebt.
Zwanzig Metzger, zehn Hilfskräfte und fünf Büroangestellte arbeiteten nun in der Fleischfabrik Jakob Rosendahl.
Jakob kaufte ein Haus, Villa wäre der richtigere Ausdruck für dieses Anwesen, mit wunderschönem Garten in Berlin Grunewald, einer bevorzugten Wohngegend wohlhabender Geschäftsleute. Eine hohe Hecke umgab Grundstück und Haus, das von einem bekannten Architekten kernsaniert und umgestaltet wurde. Eine Oase der Ruhe und des Friedens.
Fast ausnahmslos gutgestellte Juden wohnten in dieser Gegend. Hier war man unter sich. Ella richtete ihr neues Zuhause geschmackvoll ein und Jakob ließ sie gewähren, denn er wusste, dass Ella in solchen Dingen Stil und Schönheitssinn besaß.
„Wir müssen den Betrieb ausbauen“, sagte Jakob eines Abends zu Ella.
„Der Platz reicht nicht mehr aus.“
Ella hatte den kleinen David zu Bett gebracht und setzte sich zu Jakob auf das Sofa.
„Wie hast du dir das vorgestellt?“, fragte sie.
„Hinter dem Schlachthof ist ein freies Gelände“, sagte Jakob. „Dort möchte ich eine neue Halle bauen. Eine moderne Produktionsstätte.“
„Wem gehört denn das Grundstück?“ Ella hatte ihr Nähzeug genommen und begann mit ihrer Handarbeit.
„Das weiß ich nicht, ich habe Hollmann beauftragt, es in Erfahrung zu bringen. Ich wollte nur vorher mit dir darüber gesprochen haben.“
Jakob gähnte. Ella sah in das müde, abgespannte Gesicht ihres Mannes.
„Du arbeitest zu viel“, sagte sie, „wenn angebaut wird, sicher noch mehr.
Du hast viel erreicht bis jetzt, mehr als die meisten Leute, die wir kennen.
Jakob“, sie legte ihr Nähzeug beiseite. „Was willst du noch? Das Leben besteht doch nicht nur aus arbeiten. Deinen Sohn siehst du fast nie. Wenn er morgens aufwacht, bist du schon weg.
Wenn du abends nach Hause kommst, schläft er bereits. David wird bald vier Jahre alt. Langsam fängt er an, zu begreifen, dass sein Vater nie Zeit für ihn hat.“
Ella schluckte, dann sprach sie weiter: „Ich liebe dich Jakob, weil du fleißig und strebsam bist.
Du versorgst uns gut. Wir haben genug zum Leben. Das neue Haus. Ich will mich bestimmt nicht beklagen, nur“, sie schluckte erneut, „wir vergessen, zu leben.“
Eine Weile sahen sie sich schweigend an, dann nahm Jakob das Gesicht seiner Frau in beide Hände und bedeckte es mit kleinen Küssen.
Dann sagte er: „Wahrscheinlich hast du Recht, vergiss die neue Halle, vorerst jedenfalls.“
Er stand auf und nahm seine Frau bei der Hand. Wortlos folgte sie ihm ins Schlafzimmer.
Hier küssten sie sich hingebungsvoll und zogen sich gegenseitig aus.
Sie liebten sich zärtlich und Ella konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal so schön für sie gewesen war.
Als sie danach in der Dunkelheit nebeneinanderlagen, fragte Jakob: „Bin ich wirklich ein so schlechter Ehemann und Vater?“
Ella zeichnete mit dem Zeigefinger Jakobs Konturen im Gesicht nach.
„Du dummer, dummer Jakob“, sagte sie.
„Wie ich dich liebe.“
Als Jakob zwei Tage später das Büro betrat, stand Hollmann beflissentlich auf und folgte seinem Chef unaufgefordert in dessen Büro.
Jakob schmunzelte. Dem Benehmen Hollmanns zu entnehmen, hatte dieser gute Neuigkeit.
Der Buchhalter konnte vor ihm nichts verbergen. Jakob kannte ihn genau.
Als Hollmann die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte Jakob, indem er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm: „Wie ist es gelaufen?“
Der Buchhalter öffnete eine Mappe mit Geschäftspapieren und nahm gegenüber ebenfalls Platz.
„Wir haben es“, sagte er dann triumphierend.
Jakob klatschte in die Hände: „Hervorragend und zu welchem Preis?“
Hollmann grinste breit, sagte aber nichts. Er wollte die Situation auskosten, das merkte man.
„Machen Sie es nicht so spannend.“ Jakob war aufgeregt.
„Weit unter dem von uns kalkulierten Preis.“
Hollmann drehte die geöffnete Mappe so, dass Jakob das oberste Blatt mit den Zahlen ablesen konnte, und legte sich dann, noch immer genüsslich grinsend auf seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.
Jakob studierte die aufgeschriebenen Zahlenreihen und pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Das ist wirklich erfreulich“, kommentierte er und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wiederholte er, „wirklich sehr erfreulich.“
Er sah Hollmann jovial an, dann fragte er: „Und die Verträge?“
„Auf den Seiten zwei und drei, einschließlich dem beglaubigten Eintrag im Grundbuch und den notariellen Formalitäten.“
Der Buchhalter stand auf und kam um den Schreibtisch herum, um es Jakob zu zeigen, doch dieser blätterte schon.
„Sehr schön, sehr schön“, murmelte Jakob und überflog die Urkunden.
„Damit wäre alles perfekt.“
„Eine Frage Chef“, Hollmann ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich. „Wann fangen wir mit dem Bau an?“
Jakob, der diese Frage erwartet hatte, seufzte: „Vorerst nicht.“
Dem Buchhalter wäre fast die Kinnlade heruntergefallen.
„Was? Aber … wieso denn?“ Stotterte er.
Jakob hob beschwichtigend die Hand: „Dass wir weiter expandieren müssen, ist für uns beide keine Frage. Alleine schon aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit.“
Jakob machte eine Pause und wählte seine Worte sorgfältig, bevor er weitersprach: „Ich habe das Grundstück nicht gekauft, um es brach liegen zu lassen. Wie werden die Halle anbauen wie geplant.“
Wieder machte er eine Pause, dann sagte er: „Nur nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“
Er sah in das enttäuschte Gesicht Hollmanns und fügte hinzu: „Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie hervorragende Arbeit geleistet haben, mein Lieber.“
Der Buchhalter stand auf. „Gut“, sagte er dann, „Sie sind der Chef. Sie müssen wissen, was sie tun.“
„Verlassen Sie sich darauf“, antwortete Jakob lächelnd, „das weiß ich.“
Er wandte sich seinen Papieren zu.
Die Unterredung war beendet.
Nachdem Hollmann den Raum verlassen hatte, stand Jakob auf und öffnete das Fenster.
Draußen hasteten die Menschen auf dem Weg zur Arbeit vorüber.
Es war noch früh, aber schon sehr warm. Seit Wochen lag eine unerträgliche, schwüle Hitze über der Stadt. Wie eine Dunstglocke. Auch heute würde es wieder heiß werden.
Jakob setzte sich an seinen Schreibtisch und verfiel ins Grübeln.
Einerseits konnte er die Enttäuschung Hollmanns gut verstehen. Vor drei Wochen hatte er seinen Buchhalter zu sich gebeten und ihm seine Pläne unterbreitet.
Die Begeisterung, mit der Hollmann Jakobs Ansinnen, die Firma auszubauen, aufnahm, bestätigte Jakob in seinem Vorhaben.
Also beauftragte er den Buchhalter, das Grundstück hinter der Schlachthalle zu kaufen.
Hollmann war nicht dumm und sofort an die Arbeit gegangen, denn er wusste genau, dass eine weitere Expansion zwangsläufig eine Vergrößerung seines Kompetenzbereichs mit sich brachte.
Jakob hatte Hollmann schon vor Jahren zu seinem Stellvertreter ernannt.
Er besprach mit ihm alle geschäftlichen und firmeninternen Dinge. Er vertraute ihm.
Dass die Erweiterung der Halle jetzt erst einmal auf Eis lag, musste für Hollmann frustrierend sein.
Andererseits konnte er ihm nicht Ellas Einwände als Grund für seine Entscheidung nennen.
Er würde es ihm als Schwäche auslegen.
Jakob hatte in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht und sich eingestehen müssen, dass Ella Recht hatte.
Tatsächlich arbeitete er zu viel und verbrachte zu wenig Zeit mit seiner Familie.
Er dachte an seinen Sohn David. Ein prächtiger Kerl.
David war jetzt fast vier Jahre alt. Wie die Zeit verging.
Jakob seufzte. Für ihn tat er das alles, das musste Ella doch wissen. Er sollte es einmal besser haben.
Vor Jakobs geistigem Auge erschienen Bilder, die sich bei ihm unauslöschlich eingebrannt hatten, die ihn zu diesem unermüdlichen Arbeiter hatten werden lassen, die ihn prägten.
Er sah sich als Fünfzehnjährigen die Eingeweide der geschlachteten Tiere sortieren, über und über mit Kot, Urin und Blut besudelt.
Er meinte, die barschen Stimmen der Metzger zu hören, die ihn anschrien, wenn er das Arbeitstempo nicht einhalten konnte.
Er glaubte, den infernalischen Gestank der Abfallgrube riechen zu können, der in der Nase stach, dass man glaubte, den Gestank nie mehr loswerden zu können.
Mit einem heftigen Kopfschütteln vertrieb Jakob diese dunklen Gedanken aus jener Zeit.
Er wischte sich über die Augen.
„Nein“, flüsterte er zu sich selbst, „mein Sohn wird so etwas niemals erleben müssen.
Ich werde die Halle bauen. Lass noch etwas Zeit verstreichen, dann wird auch Ella einsehen, dass es richtig und notwendig ist.“
Er stand auf und verließ sein Büro.
Sein allmorgendlicher Gang durch den Betrieb würde ihn auf andere Gedanken bringen.
Der kleine David tobte ausgelassen im Garten umher.
Er schlug Purzelbäume und übte Handstand, um seiner Mutter zu imponieren.
Ella saß auf der Bank unter dem großen Kirschbaum, dessen Blüten jetzt im Frühling einen wunderbaren Duft verbreiteten.
Sie liebte es, hier zu sitzen und zu faulenzen.