In eisiger Nacht - Tony Parsons - E-Book
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In eisiger Nacht E-Book

Tony Parsons

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Beschreibung

Ein Schicksal, schlimmer als der Tod

London, an einem frostigen Wintermorgen. Bei einem Einsatz erwartet Detective Max Wolfe ein schrecklicher Anblick: In einem Kühllaster liegen zwölf erfrorene Frauen. Offenbar hatten sie noch versucht, sich aus ihrem eisigen Gefängnis zu befreien - vergeblich. Alles deutet darauf hin, dass sie von Schleusern illegal ins Land geschafft wurden. Doch warum mussten sie sterben? Als man im Führerhaus des Lasters nicht zwölf, sondern dreizehn Pässe entdeckt, schöpft Max Hoffnung: Wo ist die dreizehnte Frau? Lebt sie vielleicht noch? Auf der Suche nach ihr tauchen Max und seine Kollegen tief in die dunkle, gefährliche Welt des Menschenhandels ein - und nicht jeder von ihnen wird lebend zurückkehren ...

Ein neuer Fall für Max Wolfe aus der Feder von SPIEGEL-Bestsellerautor Tony Parsons

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Seitenzahl: 398

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Erster Teil: Die Frau, die durch das Eis fiel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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11

12

13

14

Zweiter Teil: Schattenmenschen

Dritter Teil: Das Mädchen im Führerhaus

Über das Buch

Ein Schicksal, schlimmer als der Tod London, an einem frostigen Wintermorgen. Bei einem Einsatz erwartet Detective Max Wolfe ein schrecklicher Anblick: In einem Kühllaster liegen zwölf erfrorene Frauen. Offenbar hatten sie noch versucht, sich aus ihrem eisigen Gefängnis zu befreien – vergeblich. Alles deutet darauf hin, dass sie von Schleusern illegal ins Land geschafft wurden. Doch warum mussten sie sterben? Als man im Führerhaus des Lasters nicht zwölf, sondern dreizehn Pässe entdeckt, schöpft Max Hoffnung: Wo ist die dreizehnte Frau? Lebt sie vielleicht noch? Auf der Suche nach ihr tauchen Max und seine Kollegen tief in die dunkle, gefährliche Welt des Menschenhandels ein – und nicht jeder von ihnen wird lebend zurückkehren … Ein neuer Fall für Max Wolfe aus der Feder von SPIEGEL-Bestsellerautor Tony Parsons.

Über den Autor

Tony Parsons wurde am 6. November 1953 in Romford, Essex (UK), als einziges Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Nach seinem Schulabschluss begann er seine Freizeit für seine literarische Begabung zu nutzen und veröffentlichte eine Untergrundzeitung, die er »Skandalblatt« nannte.

Seine Karriere begann er als Musikkritiker. Heute ist er einer der erfolgreichsten Kolumnisten und Fernsehjournalisten Großbritanniens. Er schrieb u.a. für das Musikmagazin NME, den Daily Telegraph und 18 Jahre lang für den Daily Mirror.

Zudem gehört er zu den ganz großen Stars der englischen Literaturszene, denn alle seine Werke schafften es auf die nationalen und internationalen Bestsellerlisten.

1974 schrieb er seinen ersten Roman The Kids der im Jahr 1976 bei New English Library Ltd. erschien. Der gewünschte Erfolg trat nicht mit der ersten Buchveröffentlichung ein und so bewarb sich Tony Parsons 1976 bei NME, um in der Folge drei Jahre über neue Musikerscheinungen und Bands zu schreiben (darunter The Clash, Sex Pistols, Blondie, David Bowie, u.v.m.). In den 1980er Jahren schlug sich Parsons als freiberuflicher Autor durch, bis er 1990 Bare (Penguin Books Ltd), eine Autobiographie über den Sänger Goerge Michael veröffentlichte. In den 90er Jahren begann er für einige britische TV-Formate zu arbeiten und startete bei The Daily Telegraph als Kolumnist.

Er lebt mit seiner Frau, ihrer gemeinsamen Tochter und ihrem Hund in London. Sein erster Kriminalroman Dein finsteres Herz mit Detective Constable Max Wolfe wurde von der Presse frenetisch gefeiert.

Tony Parsons

In eisiger Nacht

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Dietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Tony ParsonsTitel der englischen Originalausgabe: »Die Last«

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Christiane Geldmacher, WiesbadenUmschlaggestaltung: © www.buerosued.deUnter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Peter NitschE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4992-4

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Robb Warr aus Highbury, Muswell Hill und Hove

»Wie oft habe ich unterm Regen auf einem fremden Dach gelegen und an zu Hause gedacht.«

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

Prolog

Das Mädchen aus Belgrad

Als Erstes nahmen sie ihr den Pass ab.

Der Mann sprang von der Ladefläche des Lastwagens und schnippte mit den Fingern in ihre Richtung.

Klickklack. Ein trockenes, forderndes Geräusch.

Sie hielt den Pass schon für die erste Behördenbegegnung bereit, und als sie ihn dem Mann reichte, sah sie im schwachen Schein der Belgrader Straßenbeleuchtung, dass er einen ganzen Packen Pässe in der Hand hatte. Nicht alle davon waren burgunderrot wie ihr serbischer Pass, es gab sie auch in Grün, Blau und Scharlachrot – Pässe von überallher. Der Mann schob ihren Pass unter das Gummiband, das die Pässe zusammenhielt, und ließ den Packen in der Tasche seines Wintermantels verschwinden. Sie hatte damit gerechnet, ihren Pass behalten zu dürfen.

Sie betrachtete den Mann genauer und hielt den Atem an. Eine Hälfte seines Gesichts verunstalteten alte Narben. Das misshandelte Fleisch sah aus, als wäre es geschmolzen und wieder erstarrt. Zum zweiten Mal schnippte der Mann mit den Fingern.

Klickklack.

Sie verstand nicht und sah ihren kleinen Bruder an. Der Junge zeigte auf ihren Koffer. Der Mann mit dem zerschmolzenen Gesicht wollte ihren Koffer. Er sprach sie auf Englisch an, obwohl es für sie beide nicht die Muttersprache war.

»Nix Platz«, sagte er und wies in den Lkw.

Aber sie hielt störrisch ihren Koffer fest und sah, wie in seinen Augen unvermittelt Wut aufflammte.

Klickklack, machten seine Finger. Sie ließ den Koffer los.

Der Koffer war das Nächste, was er ihr nahm. Es war unfassbar. In weniger als einer Minute hatte sie ihren Pass herausgerückt und ihr Eigentum aufgegeben. Sie roch Schweiß und Zigaretten an dem Mann und fragte sich nun zum ersten Mal, ob sie einen furchtbaren Fehler beging.

Sie sah ihren Bruder an.

Der Junge zitterte. Belgrad war kalt im Januar. Die Durchschnittstemperatur lag nur knapp über dem Gefrierpunkt.

Sie nahm ihn in die Arme. Ihr Bruder, ein schlaksiger Sechzehnjähriger mit einer Brille, an der ein Bügel nur durch Klebeband hielt, biss sich auf die Unterlippe und kämpfte um seine Beherrschung. Er erwiderte ihre Umarmung, wollte sie nicht loslassen, und als sie sich sanft zurückzog, hielt er sie weiterhin fest. Mit einem schüchternen Lächeln hob er sein Handy auf Kopfhöhe. Sie lächelten das winzige rote Licht an, das in der Dunkelheit strahlte, während er ein Selfie von ihnen machte.

Der Mann mit dem zerschmolzenen Gesicht packte sie knapp über dem Ellbogen und zog sie zum Lastwagen. Er war nicht sanft.

»Nix Zeit«, sagte er.

Auf den Kisten im Laderaum des Lkws saßen zwei Reihen von Frauen einander zugewandt. Alle drehten den Kopf und blickten sie an. Schwarze Gesichter. Asiatische Gesichter. Drei junge Frauen, die Schwestern sein konnten, mit Kopftüchern. Alle blickten sie an, aber sie sah nur ihren Bruder, der auf der leeren Belgrader Straße stand, ihren Koffer in der Hand. Sie winkte ihm zum Abschied, und der Junge öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da wurden die Hecktüren zugeknallt, und sie sah ihren Bruder nicht mehr. Sie schwankte, als der Lkw unvermittelt losfuhr, nach Norden, zur Grenze.

Im Licht der einsamen Lampe unter der Decke des Laderaums betrachtete sie die Kisten. Viele Kisten waren es, alle gleich.

Birnen – Arnen – Nashi – Peren, stand darauf. Grushi – Pere – Peras – Poires.

Kruške, dachte sie und wiederholte, als wollte sie sich auf ihr neues Leben vorbereiten, das Wort auf Englisch: Pears.

Die anderen Frauen starrten sie noch immer an. Eine von ihnen, die am nächsten zu den Türen saß, rückte ein Stück zur Seite, damit sie Platz hatte. Sie kam aus Afrika, war keine zwanzig und hatte so dunkle Haut, dass sie zu glänzen schien.

Die Afrikanerin schenkte ihr ein breites weißes Lächeln, machte eine anmutige Geste mit der Hand und lud das Mädchen aus Belgrad ein, sich zu setzen.

Sie nickte dankend, setzte sich und bezeichnete die Afrikanerin in Gedanken als das freundliche Mädchen.

Das freundliche Mädchen sollte zu den Ersten gehören, die starben.

Acht Stunden später hielten sie an einer Raststätte. Nacheinander gingen die jungen Frauen in den Waschraum mit den gesprungenen Becken und machten dort einen verzweifelten letzten Versuch, sich sauberzuhalten.

Das Mädchen aus Belgrad betrachtete die Autos auf der Schnellstraße. Die Wintersonne hob sich milchigweiß über Ackerland, das sich kilometerweit erstreckte, kahl wie die Oberfläche des Mondes.

»In welchem Land sind wir?«, fragte sie.

»Österreich?«, antwortete eine von den jungen Frauen mit den Kopftüchern. »Deutschland?«

»Reiche Länder.«

Der Mann kam aus der Toilette. Mit einer Hand zog er sich den Reißverschluss seiner Hose zu, mit der anderen schnippte er.

Klickklack.

»Nix mehr«, sagte er, und die Frauen mussten ihn verständnislos angesehen haben. Ungeduldig schnippte er mit den Fingern vor ihren Gesichtern. »Nix Stopp mehr«, erklärte er und verdrehte die Augen über ihre Unfähigkeit, sein fließendes Englisch zu verstehen.

Bald fuhren sie auf der Schnellstraße weiter.

»Nix Stopp«, sagte das freundliche Mädchen, und wieder zeigte sie ihr breites weißes Lächeln. »Nix Koffer. Nix Zeit.«

»Nix parken!«, lachte das Mädchen aus Belgrad.

»Nix rauchen!«, rief eine Asiatin.

Eine der jungen Frauen mit Kopftuch schwenkte ihr Handy. »Nix Netz!«

Sie lachten alle zusammen. Sie lachten zum letzten Mal. Denn es war kalt geworden im Lastwagen, viel kälter als in Belgrad bei Mitternacht im Januar. Zuerst dachte das Mädchen aus Belgrad, es liege daran, dass sie die ganze Zeit bergauf fuhren und offenbar ein Gebirgsmassiv überquerten.

Aber dann sah sie die Atemwölkchen vor den Mündern der anderen.

Kalt war es nicht außerhalb des Lastwagens.

Kalt war es im Lastwagen.

Und es wurde immer kälter.

Viel zu kalt zum Schlafen.

Viel zu kalt zum Leben.

Das Mädchen aus Belgrad zitterte. Sogar die Luft war eisig. Sie tat ihr in den Augen weh.

Sie berührte die Tür neben sich. Das Metall war so kalt, dass man sich daran die Fingerspitzen erfror.

Das Blut wich ihr aus den Händen, zog sich tiefer im Körper zusammen, um die Organe zu schützen, die sie am Leben hielten, und sie fühlte sich, als wäre ihr die eisige Luft wie Gift ins Blut gedrungen.

Sie stampfte mit den Füßen auf, bewegte die Hände, versuchte, ein wenig Wärme hineinzubekommen, ein bisschen Bewegung, ein bisschen Leben.

Das freundliche Mädchen blickte sie an.

»So kalt«, sagte das Mädchen aus Belgrad und fühlte sich albern, weil sie etwas derart schmerzhaft Offensichtliches aussprach.

Aber das freundliche Mädchen nickte. »Ja. Komm mit in meine Handschuhe.«

»Nein, nein.«

»Bitte, Schwester. Steck deine Hände zu mir.«

Und so saßen sie eine Weile da, die tauben Hände in die Handschuhe des freundlichen Mädchens gequetscht, Handfläche an Handfläche geschmiegt.

Aber dann fingen ihr die Füße an wehzutun, und das war viel schlimmer als die Kälte. Es war ein reißender Schmerz. Wenn sie mit den Füßen stampfte, merkte sie, wie die Muskeln in ihrem Nacken und ihren Schultern sich verspannten. Sie kreiste den Kopf in einer horizontalen Acht, wie sie es ihre Mutter hatte tun sehen, wenn ihr Nacken steif war, doch es bewirkte nicht die kleinste Verbesserung. Sie sah, wie das freundliche Mädchen zu zittern begann, und beobachtete in stillem Entsetzen, wie aus dem Zittern ein Beben wurde.

Das Mädchen aus Belgrad schaute die anderen an. Eine der jungen Frauen mit Kopftuch befand sich schon in einem Zustand, der tiefer war als gewöhnlicher Schlaf.

Sie drehte den Kopf zu dem freundlichen Mädchen und sah, dass kleine Eiszapfen an ihren dichten schwarzen Wimpern hingen, und bei diesem Anblick packte sie Entsetzen.

Sie stand auf, riss die Hände aus den Handschuhen des freundlichen Mädchens und merkte unversehens, dass die Eiseskälte, die sie zuerst in Händen und Füßen gespürt, sich überallhin ausgebreitet hatte.

Ihr ganzer Körper war verspannt. Überall war Schmerz. Sie zitterte vor Angst und konnte nicht aufhören.

Sie alle würden hier drin sterben.

Sie hämmerte gegen die fensterlose Stahlwand, die den Laderaum des Lkws von der Fahrerkabine trennte. Sie roch Zigarettenqualm. Sie konnte Stimmen hören. Einen Mann und eine Frau.

Sie hämmerte fester.

Der Lastwagen fuhr weiter.

Aber sie hämmerte weiter an die Rückwand der Fahrerkabine, während die anderen still hinter ihr saßen; einige beobachteten sie noch aus halbgeschlossenen Augen.

Und der Lkw fuhr immer weiter.

Lange nachdem sie aufgegeben und sich neben das freundliche Mädchen hatte sinken lassen – waren Stunden vergangen oder nur Minuten? –, hielt der Lastwagen endlich an. Sie konnte die Geräusche schwerer Dieselmotoren anderer Lkw hören, ferne Stimmen und etwas, das – träumte sie etwa? – wie das Horn eines großen Schiffes klang.

Sie erhob sich auf ihre tauben Füße, stand allein im Laderaum des Lasters und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, bis ihre Hände geprellt und blutig waren. Aber der Mann, der den Lkw fuhr, hielt Wort.

Die Türen blieben geschlossen.

Schließlich fuhr er wieder los.

Die Kälte hatte nun ihr Gehirn erreicht. Sie sank zu Boden. Ihr Bewusstsein war getrübt. Sie wollte etwas sehr Wichtiges tun – dessen war sie sich sicher –, aber jetzt war ihr der Plan irgendwie entfallen. Sie stand auf und starrte entgeistert die anderen an. Was war das für ein eisiger Nebel in ihrem Kopf? Sie hatte nun große Angst – eine wilde, namenlose Angst tanzte ihr ums Herz und presste ihr die Zähne zusammen.

Sie hatte den Drang zu urinieren.

Ihre Finger waren mit kleinen Blasen besetzt.

Sie war sehr müde.

Vor allem anderen empfand sie eine Erschöpfung, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Sie sank wieder zu Boden und wusste, dass sie nicht wieder aufstehen würde.

Sie musste schlafen.

Bevor sie die Augen schloss, blickte sie von einem unvertrauten Gesicht zum nächsten.

Wo war ihr Bruder? Wieso waren sie getrennt? Sie hatten niemanden auf der Welt, nur einander. Sie hätten zusammenbleiben sollen. Wo war er gleich? Wenn sie sich nur konzentrieren könnte, würde es ihr einfallen. Schlaf jetzt, dachte sie. Sorge dich darum, nachdem du dich richtig ausgeschlafen hast.

Nur die Stimme des freundlichen Mädchens war es, die sie zurückholte.

»Würdest du mich bitte festhalten, Schwester?«

Sie riss die Augen auf und starrte das freundliche Mädchen an, ohne ihr Gesicht zu erkennen, auch wenn sie den Verdacht nicht loswurde, es schon einmal gesehen zu haben.

Das Beben war schlimmer geworden, und ihr ganzer Leib zuckte mit schrecklichem eigenem Willen. Eine junge Asiatin saß ihr gleich gegenüber. Sie hatte die Augen weit offen, und dennoch schlief sie. Und das Mädchen aus Belgrad wusste, irgendwo tief in ihrem benebelten Geist, dass sie den Schlaf schlief, der kein Ende hatte.

Die Gesichter der anderen Frauen schienen in der Dunkelheit zu schmelzen, sich in Gebilde aufzulösen, die nichts mit einem menschlichen Antlitz zu tun hatten. Eine der Frauen stand auf und begann sich auszuziehen. Sie riss an ihren Kleidungsstücken, hielt sich nicht mit den Knöpfen auf, wollte sich verzweifelt von ihnen befreien.

»Ich verbrenne«, sagte sie auf Englisch, setzte sich wieder, krümmte sich zusammen wie ein Fötus und schloss die Augen.

Das Mädchen aus Belgrad starrte dumpf auf die Kisten, die immer näher zu drängen schienen. Birnen – Arnen – Nashi – Peren, stand darauf. Grushi – Pere – Peras – Poires. Birnen in jeder Sprache, nur nicht auf Serbisch, in jeder Sprache des Planeten, nur nicht in ihrer eigenen.

Wie war das serbische Wort für das Obst?

»Kruške«, sagte sie laut.

Sie hörte ihre Mutter rufen. Laut und deutlich sagte sie ihren Namen. Dabei lag ihre Mutter schon seit fünf Jahren unter der Erde.

Wie konnte das sein? Wie war das möglich?

Schlaf jetzt, sagte sie sich, und denk später darüber nach.

Aber die Stimme holte sie noch einmal zurück.

»Bitte, Schwester. Halt mich jetzt.«

Also nahm sie das freundliche Mädchen in die Arme – vorher hatte sie es vergessen – und hielt es, hielt es noch, als es schon lange nicht mehr zitterte. Im Laderaum des Lastwagens war es ganz still geworden, und die gleiche Stille herrschte in der Welt draußen, denn irgendwo in der endlosen eisigen Nacht hatte der Lkw angehalten und blieb stehen, auch wenn niemand kam und die Türen öffnete.

Sie konnte die Wölkchen ihres Atems nicht mehr sehen. Sie war sich nicht einmal mehr bewusst, dass sie atmen musste.

Und als das freundliche Mädchen in ihren Armen starb, begriff sie es plötzlich.

Sterben ist leicht.

Leben ist schwer.

Erster TeilDie Frau, die durch das Eis fiel

1

Wir befürchteten, es mit einer Bombe zu tun zu haben.

Deshalb war Chinatown wie ausgestorben. Wenn die Leute glauben, die Polizei hätte eine Leiche entdeckt, zücken sie ihre Handys und bringen sich in Stellung für einen guten Schnappschuss, aber sobald es heißt, wir hätten eine Bombe gefunden, suchen alle das Weite.

Der Lkw stand vor dem Dim-Sum-Restaurant auf der Gerrard Place, die den Beginn von Londons Chinatown markiert. Er parkte mit den Reifen links schräg auf dem Bürgersteig.

Der Lastwagen unterschied sich nicht von den Kolonnen anderer Lkws, die Stoßstange an Stoßstange die ganze eine Seite der Gerrard Place zuparkten, während sie ihre Frühmorgenlieferung zu den Geschäften und Restaurants von Chinatown brachten. Aber halb auf dem Bürgersteig und schräg geparkt, wirkte dieser Lkw hastig abgestellt, als hätte der Fahrer nichts anderes gewollt, als davon wegzukommen, und das lässt uns erstmal nur an eins denken.

Eine Bombe.

Unter den schwankenden roten Lampions, die das Mond-Neujahr begrüßten, war Chinatown verwaist bis auf das Sondereinsatzkommando in seiner paramilitärischen Ausrüstung, die Rettungssanitäter aus einem halben Dutzend Krankenhäusern, die Feuerwehrleute aus der Wache auf der Shaftesbury Avenue, Polizisten vom New Scotland Yard, Detectives vom Counter Terrorism Command, Hunde und ihre Führer von der Canine Support Unit und unser Mordermittlungsteam aus dem Revier West End Central. 27 Savile Row lag nur einen kurzen Fußmarsch von Chinatown entfernt.

Wir waren eine ganze Menge Leute, alle dick eingepackt. In der bitterkalten Luft kondensierte unser Atem zu wogenden Dampfwölkchen. Aber niemand war bei uns, der nicht hier sein musste.

Normalerweise drängeln sich auf der Gerrard Place um diese Uhrzeit die Lieferanten der Geschäfte, Lokale und Restaurants von Chinatown und die Angestellten der Frühschicht, die durch Soho abkürzten, um ihre Büros in Mayfair, Marylebone oder auf der Oxford Street zu erreichen. Aber heute war die Öffentlichkeit verduftet, kaum dass die Absperrbänder gezogen wurden und das Gerücht sich verbreitete. Nur ein Anwohner hielt die Stellung – der ältere Chinese, der den Lkw entdeckt und den Notruf gewählt hatte. Er war ein kleiner, stämmig gebauter Mann und hatte wahrscheinlich sein Berufsleben lang Fässer mit Tsingtao-Bier in die Läden und Restaurants von Chinatown gefahren. Trotz seiner Statur strahlte er eine schwerverdiente Härte aus.

Die schwache Wintersonne kämpfte sich noch über die Hausdächer. Januars lustloser Versuch eines Sonnenaufgangs. Ohne auf die Uhr zu sehen wusste ich, dass es gegen acht Uhr war. Ich schlürfte an einem dreifachen Espresso aus der Bar Italia, ohne den abgestellten Lkw aus den Augen zu lassen, während DC Edie Wren den Chinesen befragte.

»Also haben Sie den Fahrer nicht gesehen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Wie ich glaube, bereits gesagt zu haben, Detective, habe ich vom Fahrer nicht das kleinste bisschen gesehen.«

Seine Redeweise war eine Überraschung. Er sprach in der zugeknöpften Art eines BBC-Radioansagers aus längst vergangener Zeit, als hätte er Englisch gelernt, indem er dem World Service lauschte.

»Sagen Sie mir es noch mal«, bat Edie. »Sir.«

»Nur den Laster.« Er wies darauf. »Auf dem Bürgersteig geparkt. Der Fahrer war schon weg.«

»War der Fahrer ein Chinese?«

»Ich habe den Fahrer nicht gesehen.«

Edie hielt inne. »Sie schützen doch niemanden, Sir?«

»Nein.«

Edie sah den alten Mann forschend an. »Haben Sie eine Aufenthaltserlaubnis für Großbritannien, Sir?«

Der Mann, der nicht groß wirkte, straffte sich zu voller Höhe. In verletztem Stolz war sein Rücken kerzengerade.

»Ich habe seit vielen Jahren einen britischen Pass. Aber was hat das zu tun mit …«

Edie blieb unbeeindruckt, während sie in ihr Notizbuch schrieb.

»Bitte beantworten Sie nur meine Fragen, Sir. Haben Sie den Lastwagen angefasst? Gibt es irgendeinen Grund, weshalb wir Ihre Fingerabdrücke auf dem Lkw finden könnten?«

»Nein«, sagte er. »Ich habe 999 gewählt, und die Polizei kam sofort. Ihre Kollegen äußerten die Vermutung, es könnte eine Bombe sein.«

Ich hob das Absperrband mit der Aufschrift POLIZEI: DURCHGANG VERBOTEN und hielt es oben, weil eine Hundeführerin mit ihrem Bombenschnüffelhund sich hindurchduckte. Es war eine junge Beamtin in Uniform, schockierend entspannt, während ihr Hund, ein braun-weißer Springer Spaniel, an seiner Leine zog und es nicht abwarten konnte, endlich loszulegen.

»Braves Mädchen, Molly«, sagte die Hundeführerin, und wir alle sahen zu, wie die beiden sich dem Lkw näherten.

Die Hundestaffel, die Canine Support Unit, verwendet die Sorte Hunde, die in Tierheimen Schwierigkeiten haben, ein neues Herrchen zu finden – endlos neugierige Hunde mit viel Energie, die gar nicht wissen, wie man still liegt. Eigenschaften, die sie als Haustier vollkommen ungeeignet machen, bedeuten für einen Spürhund einen gewaltigen Vorteil.

Molly schnüffelte an der Karosserie des zurückgelassenen Lkws, als hätte sie eine langstielige Rose vor sich.

Ich hielt ihnen das Absperrband wieder hoch, als sie zurückkamen.

»Was denkt Molly?«, fragte ich.

»Molly denkt, es ist keine Bombe«, antwortete die Hundeführerin.

Ich kraulte die Hündin hinter den Ohren.

»Mir genügt das«, sagte ich.

Ich blickte zu einer schlanken Frau mit Brille. Sie stand neben einem bewaffneten Beamten, dessen Gesicht komplett hinter einem Gefechtshelm und einer Sturmhaube verschwand.

Sie hielt einen fettarmen Caffè Latte aus der Bar Italia in der Hand – Cops bevorzugen die Bar Italia, weil der Kaffee großartig ist und das Lokal zweiundzwanzig Stunden am Tag geöffnet hat –, während der Polizist eine Selbstladebüchse SIG Sauer 516 Patrol führte. Die Frau war meine direkte Vorgesetzte, Detective Chief Inspector Pat Whitestone. Bei dem Mann musste es sich um den Einsatzleiter der Antiterroreinheit handeln. Ich nickte, und DCI Whitestone hob grüßend ihren Kaffeebecher.

Jetzt war es unser Fall.

»Machen wir auf!«, rief ich und duckte mich unterm Absperrband durch.

Ein Feuerwehrmann von der Wache auf der Shaftesbury Avenue schloss sich mir an. Nebeneinander gingen wir auf den Lkw zu. Der Feuerwehrmann grinste mich an. Seine Augen waren vor Müdigkeit ganz trüb. Ich vermutete, dass er die Nachtschicht hinter sich hatte und im Dienst geblieben war. Auf einer Schulter trug er einen rotlackierten Bolzenschneider von über einem Meter Länge, und als wir den Lastwagen erreichten, schwang er das Werkzeug herunter und setzte die Stahlbacken an dem rostroten Bügelschloss an, das die Ladetüren im Heck zusammenhielt.

Er sah mich wieder an, nickte kurz und drückte mit aller Kraft die Hebel zusammen.

Das billige Schloss gab beim ersten Versuch auf.

Beide packten wir einen Türflügel und zogen ihn auf.

Ich starrte in Dunkelheit, und als Erstes bemerkte ich die Kälte. Die Temperatur auf der Straße bewegte sich im niedrigen einstelligen Bereich, aber im Laderaum dieses Lkws lag sie irgendwo unter dem Gefrierpunkt.

Ich stieg hinein, als ich ein bisschen mehr erkannte.

Und im gleichen Augenblick sah ich die Frauen.

Zwei Reihen von ihnen, die Gesichter einander zugewandt, die Rücken an die Seitenwände des Lasters gepresst.

Alle jung, alle reglos. Keine von ihnen hatte sich bewegt, als wären sie auf dem Platz gestorben, auf dem sie saßen. Eine dünne Frostschicht überzog ihre Gesichter.

Einige von ihnen hatten die Augen offen. Einigen hing Eis von Mund, Nase und Wimpern. Eis klebte, wo immer Feuchtigkeit gewesen war.

Ich merkte, wie mir der Atem stockte.

Einigen waren die Kleider vom Leib gerissen worden. In dem Laderaum des eiskalten Lastwagens roch es nicht nach Tod, und doch umgab er mich.

Ich merkte, wie ich nach vorn sank, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. Dann richtete ich mich auf und kehrte auf die Straße zurück.

»Wir brauchen hier drin Hilfe!«

Zwei Sanitäterinnen eilten bereits auf den Lkw zu. Ich trat zurück, damit sie hineinkonnten.

Ich schaute zu Edie Wren hinunter, die noch ihr Notizbuch hielt, während sie sich aus der Hüfte vorbeugte, die freie Hand am Rollladen des Dim-Sum-Restaurants, und darauf wartete, dass sie sich übergab. Nichts geschah. Sie richtete sich wieder auf und blickte mich an. Ihr sommersprossiges Gesicht war noch blasser als sonst.

Wir nickten einander zu.

Ich drehte mich zu den Sanitäterinnen. Sie waren ganz vorn im Lkw und arbeiteten Rücken an Rücken, beide über die Frauen gebeugt, die am dichtesten an der Fahrerkabine saßen.

DCI Whitestone stand an den offenen Ladetüren des Lkws und starrte hinein. Kopfschüttelnd betrachtete sie die reglosen Frauen. Ihr Blick blieb auf den zerrissenen Kleidern hängen.

»Was zum Teufel ist hier passiert?«

Edie trat neben sie. Sie hielt etwas in der Hand.

»Ich habe Pässe gefunden«, sagte sie. »In der Fahrerkabine. Unter dem Armaturenbrett. Wie viele Leichen haben wir da drin, Max?«

Ich zählte rasch durch. Sechs Tote auf jeder Seite.

»Zwölf.«

Edie ging die Pässe durch.

»Bist du sicher, dass es nur zwölf sind?«

»Ganz sicher.«

Edie schüttelte den Kopf.

»Aber ich habe dreizehn Pässe.«

»Zählen Sie noch mal«, sagte Whitestone. »Beide. Die Leichen und die Pässe.«

Ich zählte die Frauen im Lkw erneut. Edie zählte die Pässe in ihrer Hand durch. Die Pässe waren blau, rot und grün. Die Frauen stammten von überallher.

»Türkisch, serbisch, nigerianisch«, sagte Edie. »Syrisch, syrisch, syrisch. Afghanisch, irakisch, iranisch. Pakistanisch, chinesisch, somalisch.« Sie hielt sie hoch. »Und noch ein türkischer Pass. Eindeutig dreizehn Pässe.«

»Und hier drin sind zwölf Frauen«, sagte ich.

»Wer also fehlt?«, fragte Whitestone.

Ich schüttelte den Kopf und wandte mich den Sanis zu, die den Laderaum abschritten.

»Tot«, sagte eine, ohne sich umzudrehen.

»Tot«, sagte die andere.

Sie gingen weiter.

Die beiden Frauen gleich an der Tür waren in ewiger Umarmung erstarrt wie Opfer des letzten Tags von Pompeji. Wie sie sich aneinanderklammerten, sahen sie aus wie schlafende Schwestern, obwohl eine von ihnen ebenholzschwarz war und die andere eine Haut so weiß wie Milch hatte.

Ich berührte das Handgelenk der jungen Schwarzen, dann das Handgelenk der jungen Weißen, und ich spürte nichts anderes als die Kälte.

»Kein Puls«, sagte ich zu den Sanis.

Eine von ihnen schüttelte den Kopf und fluchte. »Überlassen Sie das uns! Wenn sie erfrieren, läuft das anders, klar? Anders als alles, was Sie schon gesehen haben. Herzfrequenz und Atmung verlangsamen sich auf fast null. Nur weil Sie keinen Puls finden, heißt das noch lange nicht, dass sie tot sind.«

»Würden Sie auf der Straße warten, Detective?«, fragte die andere.

Ich betrachtete eine Frau, der die Kleider vom Leib gerissen worden waren.

»Es sieht aus, als wären sie missbraucht worden, ehe sie starben«, sagte ich.

Die Sanitäterin, die mich gebeten hatte, auf der Straße zu warten, sah mich nicht an. Aber als sie sprach, klang sie etwas geduldiger. »Gut möglich, dass sie das selbst waren. Über Unterkühlung gibt es ein altes Sprichwort: ›Du bist nicht tot, ehe du warm und tot bist.‹ Das ist es, was ganz am Ende passiert. Man hat das Gefühl, zu verbrennen.«

Ich wandte mich den beiden Frauen zu, die umschlungen neben mir saßen.

Die Schwarze hatte die Augen offen. Die Weiße hatte sie geschlossen. Ich fühlte bei ihr noch einmal nach einem Puls, aber ich spürte nichts. Ihre Haut war kälter als das Grab.

Wie alt mochte sie sein? Neunzehn? Zwanzig?

Ich ließ den Kopf hängen. Eine Welle der Trauer überfiel mich.

Und da umschlossen ihre Finger mein Handgelenk.

Blitzschnell hatte ich sie in den Armen und brüllte nach einem Krankenwagen. Hände reckten sich, um mir zu helfen, sie aus dem Lastwagen des Todes zu schaffen und auf eine Trage zu legen, die wir in einen Krankenwagen luden, der mitten auf der Shaftesbury Avenue parkte, mit Blaulichtern, die wirbelnd den frostigen Wintermorgen zerschnitten. Wir rasten durch die Stadt, unsere Sirenen heulten die Welt an, herrschten sie an, uns aus dem Weg zu gehen.

»Sie sind jetzt in Sicherheit.« Ich versuchte, im Heck des schaukelnden Krankenwagens auf den Beinen zu bleiben, drückte ihre Hände, versuchte wieder etwas Wärme in sie hineinzubekommen. »Wir helfen Ihnen. Geben Sie nicht auf. Bleiben Sie bei mir.«

Sie antwortete nicht.

»Geben Sie nicht auf, okay?«, bat ich.

Und sie antwortete nicht.

Ich hatte nie etwas Kälteres gespürt als die Hände dieser jungen Frau.

»Wollen Sie mir Ihren Namen sagen?«, fragte ich.

»Mein Name ist Hana«, flüsterte sie.

2

Wenn Sie in London einen Herzanfall erleiden – oder Ihre Herzfrequenz im Keller ist, weil Sie gerade erfrieren –, sind Rettungssanitäter und Krankenwagentechniker befugt, Sie nicht in die nächste Notaufnahme zu fahren, sondern direkt in eins von acht spezialisierten Herzzentren. Damit verdoppeln sie Ihre Überlebenschance auf der Stelle.

Und das taten sie mit Hana.

Der Krankenwagen schoss Richtung Norden, und ich blieb an ihrer Seite, bis sie in der Intensivstation des Royal Free in Hampstead aufgenommen war. Und dann wartete ich. Nachdem ich zwei Tassen brühheißen Kaffee hinuntergeschüttet hatte, kam ein Arzt zu mir, ein junger Mann um die dreißig, der aussah, als hätte er seit seinem Uniabschluss nicht mehr geschlafen. Dr. Patel stand auf seinem Namensschild.

Er blickte auf meinen Dienstausweis und nickte.

»Haben wir schon einen Namen für das Opfer, DC Wolfe?«

»Ich kenne nur ihren Vornamen. Hana.«

»Hana hat schwere Hypothermie erlitten. Das ist leicht zu diagnostizieren und schwierig zu behandeln. Hana leidet an etwas, das wir Afterdrop nennen – ihre Kerntemperatur sinkt weiter, obwohl sie dem Kältestress nicht mehr ausgesetzt ist. Wahrscheinlich hält der Fall ihrer Kerntemperatur noch Stunden an. Wir werden ihr einen Herz-Lungen-Bypass legen, mit dem wir Blut aus dem Körper abnehmen, es erwärmen und in den Körper zurückführen. Sie ist mit einer Herz-Lungen-Maschine verbunden, die den Blutkreislauf aufrechterhält und sie mit Sauerstoff versorgt.« Er schwieg kurz. »Wissen Sie, wie lange sie Temperaturen unter null ausgesetzt war? Oder irgendetwas über ihre medizinische Vorgeschichte?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wann kann ich mit ihr reden?«

Er sah mich an, als wäre ich ein wenig begriffsstutzig.

»Hypothermie wohnt nur eine Tür neben dem Tod, Detective – sie unterdrückt Herz- und Gehirnfunktion, und die inneren Organe stellen die Arbeit ein. Stellen Sie sich vor, dass alles, was Sie am Leben erhält, plötzlich zu arbeiten aufhört.« Er fuhr sich mit der Hand durch das bereits schütter werdende Haar. »Wir dürfen jemanden nicht einmal für tot erklären, ehe sein Körper sich auf eine annähernd normale Temperatur erwärmt hat.«

Da begriff ich es endlich.

Hana lag im Sterben.

Als ich West End Central erreichte, stand ein stämmiger Chinese Mitte sechzig unter der großen blauen Lampe, die den Eingang zum Revier auf 27 Savile Row markiert.

Ich erkannte ihn als den Mann, den Edie befragt hatte, bevor wir den Lastwagen öffneten; er hatte uns verständigt. Sie mussten ihn zu einer längeren Vernehmung mit aufs Revier genommen haben, und jetzt waren sie mit ihm fertig. Er sah mich müde an, als ich die Treppe hinaufstieg.

»Danke für Ihre Hilfe, Sir«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine große Hilfe gewesen bin.« Er blickte nach hinten auf den Eingang von West End Central. »Ich habe Ihren Kollegen alles geschildert, was ich sah, doch ich bezweifle, dass sie mir glauben.«

Wieder fiel mir sein förmliches, altmodisches Englisch auf. Ich spürte die Kluft zwischen dem vornehmen, höflichen Land, das er sich vorgestellt hatte, als in Hongkong die Sprache aus seinem Radio schallte, und der rauen Wirklichkeit, mit der er in London konfrontiert worden war.

Ich glaubte ihm – er hatte den Fahrer nicht gesehen und konnte uns nicht viel mehr sagen. Ich sah ihm an, dass er sich schlecht behandelt fühlte. Ich reichte ihm die Hand und stellte mich vor. Er schüttelte mir die Hand, aber sein Griff war so schlaff, dass ich es sofort bereute.

»Keith Li«, sagte er. Er gehörte jener Generation von Chinesen an, die unmittelbar nach ihrer Ankunft einen angelsächsischen Namen angenommen hatte, normalerweise von der Sorte, die von Briten seit zwei oder drei Generationen nicht mehr benutzt wurde.

»Sie sprechen sehr gut Englisch, Sir.«

»In China war ich ein Lehrer.« Er lachte bitter. »In England bin ich nichts.«

Ich ging nach oben in den Major Incident Room 1.

Whitestone und Edie trugen blaue Nitril-Handschuhe und brüteten über den Pässen diverser Nationalitäten in Rot, Blau und Grün. Sie hatten die kleinen Bücher vor sich ausgelegt wie ein Kartenspiel.

Der lange, schlaksige Trainee Detective Constable Billy Greene saß krumm vor einem Computer und scrollte durch schwarzweiße Standbilder von Fahrzeugen. Am unteren Bildschirmrand wurden ihre Nummernschilder in Gelb und Schwarz angezeigt.

Zwischen Whitestone und Edie saß ein kleiner Mann mittleren Alters mit Milchflaschenböden als Brillengläser. Er trug ebenfalls Handschuhe und schob gerade einen syrischen Pass in ein klobiges silbernes Kästchen, das aussah wie ein Computerdrucker aus der Zeit, als die Welt noch jung war. Der Mann ließ mich ein bisschen an einen Maulwurf denken.

»Haben Sie mit ihr gesprochen, Max?«, fragte Whitestone.

Ich schüttelte den Kopf. »Das Royal Free ruft mich an, wenn sie von der Intensivstation kommt. Wie viele haben noch überlebt?«

»Keine Einzige«, sagte Whitestone. »Alle anderen sind noch am Fundort für tot erklärt worden. Dafür hat der Polizeiarzt eine Weile gebraucht. Offenbar lässt sich nur schwer sagen, ob sie bereits erfroren sind. Hat etwas damit zu tun, dass der Herzschlag fast auf null fällt. Wir haben also elf Tote.« Sie tippte auf einen burgunderroten Pass mit einem goldenen Wappen. »Und Hana Novak kämpft im Royal Free um ihr Leben.«

»Und da wäre immer noch der dreizehnte Pass«, sagte Edie. Sie nickte dem Mann mit dem silbrigen Kästchen zu. »Ken ist von Visas and Immigration in Heathrow.«

Ken sah mich an. »Ich bin für Reisedokumentprüfungen zuständig. Ich lasse Ihre Pässe gerade durch meine VSC40 hier laufen, und sie sagt uns, wie viele davon koscher sind.«

»Wie macht der Apparat das?«

»Er liest Mikrochips aus, bewertet die Papierqualität und scannt Oberflächenmerkmale wie Visumstempel. Die VSC40 erkennt gefälschte Wasserzeichen, gefälschte Metallstreifen und selbstgemischte Druckfarbe.« Er grinste mich schüchtern an. Für dieses Thema konnte er sich erwärmen. »Im Grunde ist es ein Lügendetektor für Reisedokumente.«

Seine Handschuhe tanzten leicht über die Pässe. Das Dunkelrot Chinas. Das tiefe Blau Syriens. Das Grün Pakistans. Das Burgunderrot-Gold Serbiens. Und zwei türkische Pässe – einer in Rotbraun und einer in Grün.

»Wir kennen tausend Methoden, um einen Pass zu fälschen«, sagte er. »Man nimmt einen echten Pass und tauscht das Foto aus. Oder man nimmt einen echten Pass und versieht ihn mit gefälschten Stempeln. Der VSC40 durchschaut alles.«

Kens Beruf erklärte sein maulwurfhaftes Aussehen. Vermutlich verbrachte er den Großteil seines Arbeitstags in einem abgedunkelten Raum neben der Ankunftshalle des Flughafens Heathrow. Und ohne Zweifel hätte man ihn nicht nach West End Central geholt, wenn er nicht der Beste seines Fachs wäre.

»Wie weit sind wir?«, fragte ich.

»Ihre Pässe hier sind alle so falsch wie ein Neun-Euro-Schein.« Ken gestattete sich ein Lächeln voller Berufsstolz. »In Heathrow sehen wir die besten gefälschten Pässe auf der ganzen Welt. Ihre Exemplare gehören ganz und gar nicht zur Weltspitze. Es sind Amateurarbeiten. Bis auf den hier. Der hier ist echt.«

Er hielt den Pass hoch, auf den Whitestone getippt hatte, ein burgunderrotes kleines Buch mit zwei Schriftzügen aus goldenen kyrillischen Buchstaben zu beiden Seiten eines goldenen Wappens. Ich zog mir ein Paar blaue Handschuhe über und nahm den serbischen Pass in die Hand. Hanas ernstes junges Gesicht starrte mich von der Seite mit den persönlichen Daten an. Novak war ihr Nachname. Whitestone hatte ihn erwähnt.

Ihr langes, glattes braunes Haar sah aus, als wären die Enden mit einem Lockenstab gewellt worden. Eine junge Frau, die bereits schön war, auch wenn sie es noch nicht wusste, bemühte sich, attraktiv zu erscheinen. Mich berührte das merkwürdig.

Ken fuhr mit den Fingern über den Stapel Pässe. »Ich hätte auch nicht erwartet, dass sie anständige Fälschungen haben. Der Laderaum eines Lastwagens ist die Billiglösung, wenn man sich nach Großbritannien einschmuggeln will. In Heathrow bekommen wir es mit Gutverdienern aus Damaskus und Bagdad zu tun, die fünfzehntausend Pfund und mehr für Reisedokumente gezahlt haben, die von einem Meister gefälscht wurden.«

»Diese Schleuser«, fragte ich, »fliegen sie eher jemanden ein, als ihn in den Laderaum eines Lastwagens zu setzen?«

»Kommt darauf an, wie viel Geld Sie in die Hand nehmen«, sagte Ken. »Wenn Sie mit Geld um sich werfen, fährt Sie ein Schnellboot für zwölftausend Pfund von Dünkirchen nach Dover. Aber wenn Sie knapp bei Kasse sind, bekommen Sie in Calais schon für knapp hundert Pfund eine Passage nach England. In den sozialen Netzen wird das als garantierte Einreise angepriesen – und diese Schleuser haben Hunderte von Onlineaccounts –, aber in Wirklichkeit bekommen Sie für die hundert Mäuse nur einen Versuch, im Laderaum eines Lasters Dover zu erreichen. Genauer gesagt beschränken sie sich heutzutage nicht mehr auf die Südküste. Seit Dover immer strenger überwacht wird, fahren die Schnellboote der Schleuser auch nach Portsmouth, Whitstable, Tilbury, Hull – alles, was Ihnen einfällt. Und wer es schafft, kann in der Regel für immer bleiben. In ein Kriegsgebiet schickt man niemanden zurück.« Er zeigte auf die Pässe. »Ich will Ihnen etwas über Ihre Mädchen sagen.«

Ich musterte die ernste Schönheit von Hana Novaks Passfoto. »Und das wäre?«, fragte ich.

Er seufzte. »Sie hatten Pech.«

»Ich habe den Lkw gefunden!« Billy Greene schwenkte aufgeregt seinen Stuhl herum. »ANPR hatte ihn.«

Automatic Number Plate Recognition ist das Nummernschildererkennungssystem, das wir benutzen, um Autokennzeichen auf unseren Straßen zu speichern, und zwar auch von Fahrzeugen, nach denen wir gerade nicht suchen. Etwa achttausend ANPR-Kameras nehmen täglich rund dreißig Millionen Nummernschilder auf; die Daten werden zwei Jahre lang aufbewahrt.

»Der Lastwagen ist ein Fünf-Tonnen-Sinotruk-Kühllaster, der vergangenen Sommer bar bei einer Auktion in Kent ersteigert wurde«, sagte Billy. »Ein chinesisches Fabrikat, aber die Nummernschilder sind türkisch. So machen sie es – die Schleuser, meine ich. Sie kaufen Fahrzeuge bei Auktionen gegen bar. Macht es genauso schwierig, sie nachzuverfolgen wie ein Prepaid-Handy.« Er drehte sich auf dem Stuhl herum und blickte auf den Bildschirm. »Er ist gestern mit der letzten Fähre von Dünkirchen in Dover gelandet.«

»Überwachungskameraaufnahmen vom Fahrer?«, fragte Whitestone.

»Ich suche noch danach, Ma’am«, sagte Billy.

»Wir gehen also davon aus, dass der Besitzer des dreizehnten Passes nicht am Steuer saß?«, fragte ich.

»Unwahrscheinlich«, sagte Whitestone. »Denn der dreizehnte Pass gehört einer Frau, und die Fahrer, die Illegale ins Land schmuggeln, sind ausnahmslos männlich. So war es jedenfalls bisher. Kein Beruf mit Gleichstellungsbeauftragter. Wenn Sie die dreizehnte Frau finden, haben Sie den Fahrer. Wenn Sie den Fahrer haben, finden Sie die Drecksäcke, die diesen Ring betreiben.«

»Warum ist der Fahrer geflohen?«, fragte Edie.

»Vielleicht hat er in den Laderaum gesehen und begriffen, dass die Frauen starben oder schon tot waren, und hat Angst bekommen«, sagte ich. »Vielleicht wurde er nicht bezahlt. Vielleicht war niemand da, der die Ladung übernahm.«

»Aber wieso war es überhaupt unter null in dem Laderaum?«, fragte Edie. »Er schmuggelt eine Lkw-Ladung Mädchen ins Land und lässt sie dann erfrieren. Das ergibt doch keinen Sinn.«

»In den großen Häfen sehen wir diese Kühllastwagen immer wieder«, sagte Ken. »Bevor ich in Heathrow anfing, habe ich in Dover gearbeitet. Die Kühlung in den Fahrzeugen funktioniert genau wie Ihre Zentralheizung – entweder mit Zeitschaltuhr oder mit Thermostat. Kaltluft wird in den Laderaum geleitet, sobald die Temperatur einen Grenzwert überschreitet oder ein voreingestellter Zeitpunkt erreicht wird. Ich würde vermuten, dass Ihr Fahrer mit seinem Spatzenhirn nicht auf den Gedanken gekommen ist, die Frauen im Laderaum könnten erfrieren. Für tote Frauen gibt es keinen Markt. Er hat die Kühlung nicht absichtlich eingeschaltet und kannte sich nicht gut genug aus, um sie abzustellen, ehe es zu spät war. Sie suchen kaum nach einem Verbrechergenie.«

»Sie meinen, er sah, was passiert war, und nahm die Beine in die Hand«, sagte Edie.

Whitestone nickte grimmig. »Die Angst des Fahrers ist in jedem denkbaren Szenario ein entscheidender Faktor.« Ich sah, dass sie vor Wut zitterte. »Das ist kein Immigrationsdelikt, Max. Das ist kein Menschenschmuggel. Wir haben elf Tote im Leichenschauhaus. Ich will diese Dreckschweine wegen Mordes drankriegen.«

»Spuren im Lkw?«, fragte ich.

»Die Frauen hatten alle eine kleine Tasche«, sagte Edie. »Mehr durften sie offensichtlich nicht mitnehmen. Der Inhalt ist bemerkenswert ähnlich. Alle hatten ein bisschen Make-up, und alle hatten ein Handy. Als wir sie fanden, waren die Akkus leer. Wir laden die Geräte gerade auf und ziehen geeignete Übersetzer heran, die gespeicherte Nachrichten auswerten sollen.« Sie zeigte auf die vereinten Nationen der Pässe, die vor ihr lagen. »Das gibt sehr viel Übersetzungsarbeit. Und die Botschaften werden uns nicht helfen, denn wie es aussieht, ist nur ein einziger Pass echt. Wir können die Toten nicht identifizieren, wenn sie mit einem gefälschten Pass unterwegs waren.«

Whitestone zog die Handschuhe aus und stellte sich vor die riesige Londonkarte, die eine ganze Wand von MIR-1 bedeckt.

»Chinatown war der Bestimmungsort?«, fragte ich.

Whitestone nickte. »Es ist unwahrscheinlich, dass diese zwölf jungen Frauen ins Land kamen, um in East Anglia Kartoffeln zu pflücken oder in der Morecambe Bay Muscheln zu fischen. Sie wollten nach London, Max. Um eine bestimmte Sache zu tun.« Sie atmete hörbar aus. »Setzen Sie jeden einzelnen Zuhälter zwischen Chinatown und der Watford Gap unter Druck. Sie haben eine Informantin in Chinatown, richtig?«

Ich muss überrascht ausgesehen haben. »Eine Informantin?«

»Die Philippina.« Whitestone klang ein wenig gereizt. »Ginger Gonzalez.«

»Ginger ist im Grunde keine Informantin«, erwiderte ich. »Sie ist mehr eine Freundin.«

Ginger Gonzalez führte einen der erfolgreichsten Prostitutionsringe der Stadt, auch wenn sie ihr Geschäft – Sampaguita, benannt nach dem arabischen Jasmin, der Nationalblume der Philippinen – lieber als Partnervermittlung bezeichnete. Sie hatte mir einmal geholfen, einen Pädophilenring zu sprengen. Sie hatte meinem Kollegen DI Curtis Gane weibliche Gesellschaft verschafft, nachdem er in Ausübung seiner Pflicht gelähmt worden war und vor seinem Tod einfach nur noch mal in den Arm genommen werden wollte. Ich glaube, dass Ginger ihm seine letzten Tage erleichtert hat. Deshalb hatte ich etliche Gründe, Ginger Gonzalez gegenüber Dankbarkeit zu empfinden.

»Ihre Freundin bringt reiche Männer mit hübschen jungen Frauen in Kontakt, oder?«, fragte Whitestone.

Ginger suchte ihre Kunden in den feineren Londoner Hotelbars – der Coburg Bar im Connaught, der American Bar im Savoy, der Rivoli Bar im Ritz und The Fumoir im Claridge’s –, dann vermittelte sie den Kontakt mit dem immer wechselnden Stall junger Frauen ihres Portfolios.

»Aber sie betrachtet sich nicht als Zuhälterin«, sagte ich.

Whitestone biss sich auf die Unterlippe, als würde ich ihre Geduld gerade bis aufs Äußerste strapazieren.

»Sie kann sich nennen, wie sie möchte, Max, aber was sie macht, das nenne ich trotzdem Zuhälterei. Wollen Sie sie wirklich verschonen?«

Ich war mir sicher, dass der Lkw in Chinatown nichts mit Ginger zu tun hatte. Bei ihr gab es keinen Zwang. Sie war Geschäftsfrau.

»Sie ist ein gutes Mädchen«, sagte ich nur.

Whitestones Gesicht lief rot an.

»Und die Frauen hinten in dem Laster? Ich wette, sie waren auch alles gute Mädchen. Ihre erste Aufgabe, Max, besteht darin, Hana Novak im Krankenhaus zu vernehmen. Aber dann kommen Sie hierher zurück, und wir besuchen Ihre Freundin. Das ist Ihre zweite Aufgabe.«

Das ließ keinen Raum für Interpretationen.

»Jawohl, Ma’am«, sagte ich.

Edie mischte sich ein. »Ma’am, wieso sind Sie so sicher, dass sie wussten, was sie hier erwartet? Wir wissen das nicht mit Bestimmtheit, oder? Sie können geglaubt haben, dass sie hierherkommen, um als Models, Tänzerinnen oder Kellnerinnen zu arbeiten.«

»Aber die Männer, die sie hierhergebracht haben, wussten Bescheid«, sagte Whitestone und sah mich an. »Stimmt’s?«

»Ja«, sagte ich. »Die Männer wussten es.«

Mein Handy vibrierte.

Dr. Patel, stand auf dem Display.

»Hana wird nicht durchkommen«, sagte er.

Als ich das Royal Free erreicht hatte, war Hana Novak von der Intensivstation in ein kleines Privatzimmer mit gedämpfter Beleuchtung verlegt worden. Von der Pond Street, wo die Autos langsam einen der steilsten Hügel Londons erklommen, drang Verkehrslärm herein.

Die Schwestern hatten Hana warm eingepackt, damit sie es bequem hatte. Nur ihr Gesicht schaute aus dem Bettzeug, und sie sah sehr jung aus.

»Es hat wohl wenig Sinn, nach ihren nächsten Angehörigen zu fragen?«, sprach Dr. Patel mich an.

»Wir sind dran«, sagte ich. »Ihr Pass ist echt. Vermutlich reiste sie als Einzige in der ganzen Gruppe mit einem echten Pass. Wir stehen mit der serbischen Botschaft in Verbindung. Sie versucht, die nächsten Angehörigen zu ermitteln.« Ich sah von der jungen Frau auf dem Bett zu dem Arzt, der sein Bestes gegeben hatte, um sie zu retten. »Wir dürften bald etwas hören. Ich bezweifle nur, ob es früh genug sein wird. Wie lange hat sie noch?«

»Es bleibt ihr nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Schmerzen hat sie keine.« Mit dem Handrücken wischte er sich die Augen ab. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen müderen Mann gesehen hatte. »Aber sie hat zu große innere Verletzungen erlitten, ehe sie zu uns kam.«

»Darf ich bei ihr bleiben?«, fragte ich.

»Selbstverständlich.«

Als Dr. Patel gegangen war, zog ich den einzelnen Stuhl in dem winzigen Zimmer nahe ans Bett. Als ich sprach, war meine Stimme so leise wie bei einem Gebet.

»Wer hat dir das angetan, Hana?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht, und so saß ich einfach an Hana Novaks Bett und blieb dort, bis sie gegangen war.

3

Die Nacht brach über Chinatown herein.

Nichts erinnerte an das, was wir am eiskalten Sonnenaufgang vor dem Dim-Sum-Restaurant gefunden hatten. Den weißen Lkw hatte die Spurensicherung beschlagnahmt und abgeschleppt. Das Absperrband war entfernt und entsorgt worden. Der einzige Hinweis auf die Entdeckung von zwölf Frauenleichen bestand aus der Blumenflut am Anfang der Gerrard Street.

DCI Whitestone blickte auf die Pflanzen am Eingang Chinatowns, und mir war klar, dass sie nicht in Stimmung war, es Ginger Gonzalez leicht zu machen. Ganz egal, wie viel Ginger in der Vergangenheit schon für uns getan hatte.

»Fällt es Ihnen schwer?«, fragte Whitestone.

»Wir müssen mit ihr reden«, sagte ich. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.«

Halb die Gerrard Street hinunter neben einem Entenrestaurant, vor dem eine lange Schlange stylischer junger Kantonesen um einen Tisch anstand, durchquerten wir einen offenen Torbogen. Wir stiegen eine kleine Treppe hinauf und standen vor einer weißen Tür mit einem schlichten Schild.

SAMPAGUITA

Partnervermittlung

Whitestone lachte bitter. »Sie macht sogar Werbung!«

Ohne anzuklopfen betraten wir den kleinen weißen Raum. Er war fast nichts – nur ein spartanischer kleiner Würfel über einem chinesischen Restaurant. Ginger Gonzalez saß an ihrem Schreibtisch.

Sie war eine dreißig Jahre alte Philippina, und alles an ihr verkündete, dass sie eine hochklassige Londoner Geschäftsfrau war – der riesige iMac, das abgegriffene Exemplar der Financial Times vom Morgen auf ihrem Schreibtisch und ihre schwarzgeränderte Brille. Nicht nach einer Karriere im Finanzsektor aussehen ließen sie nur die Tätowierungen auf den Innenseiten ihrer Unterarme. Im Moment waren sie verdeckt, aber ich kannte sie.

Ein Lächeln trat in Gingers ernstes Gesicht, als sie mich sah, und verschwand augenblicklich, als sie Whitestone erblickte.

»Max«, sagte sie. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

In einem kleinen Glashalter auf Gingers Schreibtisch brannte eine Duftkerze und überdeckte den Geruch von Pekingente, der vom Restaurant hochstieg. Whitestone starrte nachdenklich in die Flamme und ließ mir den Vortritt.

»Es geht um den Lastwagen, den wir heute Morgen gefunden haben, Ginger«, sagte ich.

»Hundert Meter von hier.« Whitestone nahm die Duftkerze in die Hand.

»Eine schreckliche Sache.« Gingers Akzent schwebte irgendwo zwischen Manila und Manhattan. »Ich habe Blumen hingelegt.«

»Wie großherzig von Ihnen.« Whitestone stellte die Kerze wieder ab. »Erinnern Sie mich, wie es funktioniert.« Sie zeigte auf die Tür. »Sie wissen schon. Ihre Partnerschaftsvermittlungsagentur. Was würde ich finden, wenn ich Sampaguita google?«

Ginger sah mich an und wandte sich Whitestone zu. »Sie finden Sampaguita nicht online. Wir hinterlassen keinen digitalen Fußabdruck.«

»Wir? Ist das der Pluralis Majestatis? Oder meinen Sie damit sich und Ihre Huren?«

Ginger faltete die Hände. »Ich meine damit, dass ich es vorziehe, persönlich Kontakt zu meinen Klienten aufzunehmen.«

Whitestone lächelte knapp. »Mit anderen Worten, Sie gabeln Männer in Bars auf und bringen sie dann mit einem Ihrer Mädchen in Kontakt.«

»Ich stelle Männer Frauen vor. Das ist alles. Und ich zahle meine Steuern …«

Whitestone hob die Hand. »Ersparen Sie mir das Gewäsch von Ihrer Respektabilität.« Sie nickte mir zu. »Ich weiß, dass Max mit Ihnen befreundet ist. Ich weiß auch, dass Sie ihm in der Vergangenheit geholfen haben – und unseren Leuten. Aber es gibt ein Problem. Sie betreiben einen Prostitutionsring.« Wieder hob sie die Hand. »Sie können ihn nennen, wie Sie wollen, aber wir wissen beide, worauf es hinausläuft.« Sie schob ihre Brille hoch und nickte zum Fenster. »Heute früh wurde ein Dutzend junge Frauen, die in dieses Land geschleust wurden, damit sie sich ihren Lebensunterhalt auf dem Rücken verdienen, ganz in der Nähe dieses Büros aufgefunden. Und jetzt sind sie alle tot.«

Ginger atmete tief ein. »Das ist eine Tragödie. Aber das hat nichts mit mir zu tun.«

Whitestone fuhr fort, als hätte Ginger nichts gesagt. »Max kauft Ihnen vielleicht jeden Unsinn ab, den Sie ihm erzählen, aber ich nicht. Sehen Sie, Sie lassen es zu sehr wie Pretty Woman klingen. Bei Ihnen hört es sich fast romantisch an.« Sie lachte. »Man könnte fast glauben, die Männer wären alle wie Richard Gere und die Frauen wie Julia Roberts. Aber ganz so ist es dann doch nicht, oder?«

Ginger blickte mich hilfesuchend an.