In Gesellschaft kleiner Bomben - Karan Mahajan - E-Book

In Gesellschaft kleiner Bomben E-Book

Karan Mahajan

4,8
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf der Litrom-Bestenliste »Weltempfänger« Winter 2017/18 »Eins der 25 wichtigsten Bücher der Saison.« Spiegel-Online »Eins der 10 besten Bücher des Jahres.« New York Times Das Buch Die Khurana-Brüder schlendern zusammen mit ihrem Schulkameraden Mansoor Ahmed über einen gut besuchten Markt in Delhi. Ohne Vorwarnung kommt es zur Katastrophe: Neben ihnen explodiert eine Bombe – eine der vielen »kleinen« Bomben, die von der Welt kaum beachtet werden – und reißt die Khurana-Brüder in den Tod. Mansoor überlebt, doch der Bombenanschlag hinterlässt Spuren an Körper und Seele. Nach einem kurzen Aufenthalt an einer amerikanischen Universität kehrt Mansoor nach Delhi zurück, wo seine Suche nach einem Platz im Leben immer radikalere Formen annimmt … Eng verwoben mit der Geschichte der Familien Khurana und Ahmed ist die des kaschmirischen Bombenbauers Shockie, der bereit ist, sein Leben für die Unabhängigkeit seines Vaterlands zu opfern. Karan Mahajans Roman ist außergewöhnlich komponiert: Er beginnt buchstäblich mit dem großen Knall – und zeichnet dann die vielen Druckwellen nach, die die Bombenexplosion bei allen Beteiligten ausgelöst hat: Welche Auswirkungen hat ein solcher Terrorakt auf die Betroffenen? Auf die Angehörigen? Auf die Gesellschaft? Wie werden Menschen zu Terroristen? Mahajan nähert sich differenziert, originell und nicht ohne Humor einigen der wichtigsten Fragen unserer Zeit. Warum es uns gefällt Karan Mahajan schreibt lebendig und originell über die Auswirkungen des Terrorismus auf Opfer und Täter. Einer der relevantesten literarischen Beiträge zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit. Pressestimmen Deutschland (Auswahl) »Schonungslos und voller Mitgefühl porträtiert Karan Mahajan einen Bombenanschlag in Delhi … Der Autor zeichnet seine Bilder mit enormer sprachlicher Präzision und scharfsinnigem Witz.» Jana Volkmann, Buchkultur »Karan Mahajans Roman ist sprachgewaltig, aufwühlend und spannend …« Jörg E. Mayer, Deutschlandfunk »Mahajan stellt einen Link her zwischen allen, die mit so einem Anschlag zu tun haben. Die Wirkung ist erstaunlich: Der Terror verliert Glanz und Gloria seines demonstrativen Nihilismus, er steht nackt da und stumm in seiner ganzen Erbärmlichkeit – sein Schrecken verpufft.« Ulrich Noller, WDR »Eine bestechende Erkundung über die Natur der Bombe … « Claudia Kramatschek, NZZ »Karan Mahajan erzählt bewundernswert real von den Auswirkungen eines Anschlags aus Sicht von Opfern und Tätern.« NDR

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 451

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Originalausgabe: THE ASSOCIATION OF SMALL BOMBS Copyright © 2016 by Karan Mahajan All rights reserved

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

Übersetzung: Zoë Beck

Redaktion: Jan Karsten

Korrektorat: Catherine Beck

Satz: Dörte Karsten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Über das Buch

Auf einem Marktplatz in Delhi explodiert eine Bombe. Eine der vielen »kleinen« Bomben, die von der Welt kaum beachtet werden – und tötet die Khuarana-Brüder. Ihr zwölfjähriger Freund Mansoor überlebt, doch der Bombenanschlag hinterlässt Spuren an Körper und Seele. Jahre später kehrt Mansoor nach einem kurzen Aufenthalt in den USA nach Delhi zurück, wo er den charismatischen Aktivisten Ayub kennenlernt und seine Suche nach einem Platz im Leben immer radikalere Formen annimmt…

Wie Druckwellen einer Explosion folgt Karan Mahajan in diesem außergewöhnlichen Roman, der weltweit für Aufsehen sorgte und zahlreiche Preise gewann, den Lebensläufen von Opfern, Angehörigen und Tätern. Er schreibt lebendig, mit scharfsinnigem Humor, erkenntnisreich, spannend und zutiefst berührend über die Auswirkungen des Terrorismus und eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit: Wie werden Menschen zu Terroristen?

Eins der zehn besten Bücher des Jahres. New York Times

»Ein grandioser Roman. Indem er die Struktur eines Bombenanschlags nachahmt, erschafft Mahajan das genaue Gegenteil: ein behutsames, differenziertes und moralisches Kunstwerk.« Financial Times

Über den Autor

Karan Mahajan wurde 1984 geboren, wuchs in Neu-Delhi auf und lebt in Austin, Texas. Er steht auf Grantas Liste der »Best Young American Novelists« 2017. Sein erster Roman, »Family Planning« (»Das Universum der Familie Ahuja«), war für den Dylan Thomas Prize nominiert und erschien in neun Ländern. Er schreibt Beiträge für zahlreiche internationale Publikationen wie The New York Times, The Wall Street Journal und The New Yorker.

Auszeichnungen

»In Gesellschaft kleiner Bomben« stand u. a. auf der Shortlist für den National Book Award 2016 und erhielt den Bard Fiction Prize 2017, den Young Lions Fiction Award 2017, den Rosenthal Family Foundation Award der American Academy of Arts and Letters 2017, den Muse India Young Writer Award 2016 und den Anisfield-Wolf Book Award for Fiction 2017.

»Großartig, beunruhigend, extrem spannend. Das Beste, was ich bisher gelesen habe, wenn es darum geht, die Verlockungen und die Kraft der alles vernichtenden mörderisch-verdrehten Logik einzufangen, die immer stärker von unserem Planeten Besitz ergreift.« The Wall Street Journal

»In einer Welt nach 9/11 sollte dieser Roman als ein Muss betrachtet werden.« The Huffington Post

Karan Mahajan

In Gesellschaft kleiner Bomben

Übersetzt von Zoë Beck

Explosion

0

Der Bombenanschlag, bei dem Mr. und Mrs. Khurana nicht anwesend waren, breitete sich flach und dröhnend aus und hatte seinen Ursprung unter der Kühlerhaube eines geparkten weißen Maruti 800, wobei dieses Detail, das Detail mit dem Wagen, natürlich erst später bestätigt werden konnte. Ein ordentlicher Bombenanschlag hat überall gleichzeitig seinen Ursprung.

Ein überfüllter Markt hat auch überall gleichzeitig seinen Ursprung, und Lajpat Nagar war beispielhaft für dergleichen Getümmel. Seine Stände bildeten einen unförmigen Sumpf, aus dem hier und dort Gesichter und Rollwagen und verwachsene Bettler wie Blasen aufstiegen. Wahrscheinlich herrschten auf seiner gesamten Fläche vier Jahreszeiten gleichzeitig, und sie waren alle heiß. Wenn man von einem Ende des Markts zum anderen gelangt war, hatten sich die Holzkarren mit ihren glänzenden Aluminiumrädern schon wieder so umgruppiert, dass es sich eigentlich gar nicht mehr um denselben Markt handelte, den man betreten hatte: Es war ein Heisenberg’scher Albtraum aus Bewegung und Mehrdeutigkeit. Im Grunde hatte niemand wirklich den geparkten Wagen bemerkt, bis er in einer schwindelerregenden Scherbenwolke auseinanderflog.

Von seltsamen Beobachtungen wurde berichtet. Ein blaues Dach aus Fiberglas ploppte von einem Laden und knallte wenige Meter entfernt auf einen Bus. Der Bus bremste, das Dach rutschte nach vorn, ließ einen prächtigen Sandstrahl herabströmen und fiel zu Boden. Der Bus fuhr an, es zerbarst unter seinen Reifen, er fuhr weiter, die Passagiere waren benommen, fast belustigt. (Wenn etwas in einem Teil einer Großstadt geschieht, ist keiner der anderen Teile auch nur verblüfft.) Auf dem Markt brachen Menschen zusammen, rappelten sich wieder auf, pressten die Hände auf ihre Wunden, als hätten sie unter Hypnose Eier an ihren Körpern zerdrückt und wüssten jetzt nicht recht, was sie mit dem auslaufenden, blutigen Eigelb machen sollten. Was sowohl die Überlebenden als auch die Rettungskräfte am meisten verwunderte, war die Erkenntnis, wie fest der staubige Hauptplatz mit einem halben Dutzend riesiger Bäume verwurzelt war, Bäume, die in all den Jahren nahezu unbemerkt geblieben waren, ihre Schatten trüb vom Handel, ihre Äste gekrümmt unter den Waren, die daran hingen, ihre Maulbeeren abgesammelt und verkauft – bis die Bombe die grüne Lunge der Bäume löste und als Blätterschwall abwarf, den Mr. Khurana vom Boden aufwirbelte, als er versuchte, die Körper seiner beiden Söhne zu finden.

Die Blätter waren trocken, selbst nichts weiter als Bruchstücke, und sie konnten ihm nichts offenbaren. Seine Söhne lagen tot in einem nahen Krankenhaus, und er war zu spät gekommen.

Die beiden Jungs machten die Gesamtheit von Khuranas Kindern aus. Sie waren elf und dreizehn Jahre alt und begierig darauf, Botengänge erledigen zu dürfen. Und an diesem besonderen Tag waren sie mit einem Freund in einer Autorikscha unterwegs gewesen, um den alten Onida-Farbfernseher abzuholen, der zum vielleicht zehnten Mal dem Elektriker anvertraut worden war. Aber wann immer Mr. Khurana von seinen Freunden gefragt wurde, was die Kinder dort zu suchen hatten (der Junge, der sie begleitet hatte, war mit einem Knochenbruch davongekommen), sagte er: »Sie wollten meine Uhr vom Uhrmacher abholen.« Seine Frau hielt ihn nicht davon ab, vielmehr beteiligte sie sich an seiner Lüge. »Alle Uhren waren stehen geblieben«, sagte sie. »Deshalb wusste man, um wie viel Uhr die Bombe explodiert war. Man hat die durchschnittliche Zeit aller stehen gebliebenen Uhren am Uhrmacherstand errechnet.«

Warum logen sie, warum jetzt? Nun, sie hätten sonst gegenüber ihren ausgesprochen erfolgreichen Freunden zugeben müssen, dass ihre Kinder nicht nur zwischen all den Armen gestorben waren, sondern dass sie einen Botengang unternommen hatten, der ganz und gar nach Armut roch – einen alten Fernseher reparieren zu lassen, der mittlerweile gegen eine von diesen sich selbst finanzierenden ausländischen Marken ausgetauscht sein müsste –, und das hätte in diesen tragischen Wochen, die auf den Bombenanschlag folgten, die letzten extrem angespannten Nerven zerrissen, die sie noch zusammenhielten. Natürlich waren sie arm, jedenfalls im Vergleich zu ihren Freunden, und nicht einmal das glatteste Englisch, das aus ihren Mündern strömte, konnte daran etwas ändern. Keine geschluchzten viktorianischen Sätze und keine Selbstvorwürfe im Gespräch mit den Moderatoren, die in Oxford studiert hatten und die sie jetzt auf The News Tonight interviewten, die ihre Wut schürten, konnten sie oder ihre toten Kinder im Glanz vorherbestimmten Erfolgs erscheinen lassen: Mr. und Mrs. Khurana waren vierzig und vierzig, sie hatten die prägende Tragödie ihres Lebens erlitten, und damit waren alle anderen konkurrierenden Tragödien zu bloßen Existenzumständen degradiert worden. Während des folgenden Monats behalfen sie sich ohne den Fernseher, der, soweit sie wussten, immer noch im Keller der Werkstatt des Elektrikers stand, die verborgenen Kojen der Microchips mit einer dicken Staubschicht überzogen, der Bildschirm abgeschraubt und blind auf dem Boden. Sie konnten nur einen Blick auf ihre Gesichter in The News Tonight werfen, weil ein Nachbar bei ihnen klopfte und sie zu sich nach Hause einlud, um die Nachrichten zu sehen. Seitdem behandelte er sie sehr freundschaftlich.

Mr. Khurana, der unter nervösen Schlafstörungen litt, seit er vor Jahren beschlossen hatte, Dokumentarfilmer zu werden, wurde von nun an von Träumen heimgesucht, die ihn tief verstörten, und er ließ keine Gelegenheit aus, sie mit seiner Frau oder seinen Mitarbeitern zu diskutieren. Er erwähnte nicht, wie sehr er sich während ihres nächtlichen Abspulens ängstigte, oder dass er wie ein Kleinkind in der Armbeuge seiner Frau schlief, der Körper von Schweiß überströmt, seine Beine rotierend wie die Flügel eines defekten Ventilators. Aber die Träume waren wirklich bemerkenswert, und in dem ersten und häufigsten wurde er für einige Minuten selbst zur Bombe. Wie er sich fühlte, lässt sich am besten so beschreiben: Erst war er blind, dann konnte er alles sehen. So fühlte es sich an, eine Bombe zu sein. Du warst zusammengerollt, von erhabener Schwärze, wusstest nichts von dem Universum, das außerhalb von dir existierte, und dann barst ein Draht und riss dir die Augenlider weit auf, und du hattest einen 360-Grad-Blick auf die Welt, und alles in Reichweite war dadurch, dass du es sehen konntest, dem Untergang geweiht.

Im Traum war der Markt – auf dem er viele Male, üblicherweise mit hochgeschlagenem Kragen, gewesen war – so lebendig in seinen Gedanken, so dreidimensional, dass er manchmal traumstundenlang bei Kleinigkeiten verweilte. Ein einzelner Fuß, der in einem der dunklen Ladenwürfel gelandet war, wurde gangränös und ungeheuer bedeutungsvoll; er trat ihm jedes Mal von innen direkt gegen die Schläfe und weckte ihn, bevor er sehen konnte, wie die Kinder durch die Ladenfront flogen, vor der sie mit dem Gesicht nach unten gefunden worden waren, mit einer Schärpe aus Blut, die sich unter dem geschwärzten Baumwollstoff auf ihren Rücken abzeichnete.

Morgens weckte er dann Mrs. Khurana, und sie schliefen auf schaurige Weise leidenschaftlich miteinander, heftiger als nötig, innerlich grässlich übersäuert, und dann ließen sie ihre schlaffen Körper aufeinandersinken und weinten, sodass Mrs. Khurana, wenn sie am Abend von ihren Erledigungen heimkehrte und das Bett zurückschlug, zwei parallele Salzstreifen vorfand, die anzeigten, wo sie am Morgen mit ihren tränennassen Schultern gelegen hatten.

Aber sie beide waren dankbar dafür, dass sie einander hatten, dafür, wie wenig sie in Erinnerungen schwelgten, wie sie sich weigerten, den Schmetterlingseffekt rückwirkend auf ihr Leben anzuwenden oder sich mit Was-wäre-wenns zu zerfleischen; dass keiner dem anderen Vorwürfe machte, weil die Kinder an dem Abend eine vom Mai-Smog stickige Autorikscha nach Lajpat Nagar genommen hatten. Warum sich quälen, wenn der gesamte Schaltkreis ihrer Gehirne neu verkabelt war, um immer wieder Trauerflammen zu zünden? Warum sich mit Gesprächen quälen? Du hebst den Löffel aus der Umklammerung eines dickflüssigen Eintopfs und weinst. Du schließt deine Hand um die Armlehne eines Busses (manchmal war Deepa Khurana mit den Kindern zum Lehrer-Eltern-Ausschuss in die Schule gefahren), und es ist, als wäre der brennende Stahl nur der Erde entrissen worden, um dich an die Hitze im Kern zu erinnern, zu dem deine Kinder nun zurückgekehrt waren. Unter der Dusche gibt es den Umriss deines Körpers, um den das Wasser herumfließt, dann folgt ein Schnauben und trockenkehlige Stille, in der du dich mit derselben Seife einreibst, mit der du, wie du dich erinnerst, schon die Schultern deiner Söhne abgeschrubbt hast. Nichts ist vor Bedeutung sicher. Die Jungs hatten alle Möglichkeiten dieser Welt zwischen sich verwahrt: Nakul war gut aussehend und sportlich gewesen, Tushar füllig und verantwortungsvoll – was spielte das für eine Rolle? Wer könnte schon sagen, dass sie so geblieben wären? Wer könnte euch, Mr. und Mrs. Khurana, schon sagen, dass ihr etwas verloren habt, das ihr kanntet?

Bei der Feuerbestattung, die am stufenförmigen Ufer eines Kanals des Yamuna River stattfand, der mit tausend gekräuselten Ölaugen besprenkelt war und in dessen heilendem trüben Wasser tief verwurzelt Ranken von verwilderten hypochondrischen Pflanzen wucherten, bemerkte Mr. Khurana, dass außerhalb des Kreises aus brennendem Fleisch und Holz kleine, rotznasige Kinder nackt herumrannten und mit aufrecht stehenden Gummireifen spielten. Hinter ihnen hatte sich eine Kuh in Seilen verfangen und fraß Asche, und die wilden Dorfkinder traten ihr in den Bauch. Er hätte es nicht tun sollen, aber mitten während des letzten Gebets trat Mr. Khurana vor und brüllte sie an, vertrieb sie, die gesamte Bestattungsgesellschaft ließ sich in den wogenden schwarzen Teppich aus Feuerschatten zurückfallen. Die Kinder, die nicht seine waren, sahen nur kurz herüber und tauchten mit wunderschöner Gleichzeitigkeit kopfüber ins Wasser, hinter ihnen hüpften die Gummireifen, aber die Kuh betrachtete ihn mit sensationslüsterner Freude und ließ ihre lange, feuchte Zunge über die Erde gleiten. Die Gebete gingen weiter, aber ein Beben war spürbar: Während die Gesänge zuvor wie das tiefe Summen von Bienen geklungen hatten, war der Stimmenschwarm nun gelichtet und ausgedünnt, wie um dem Nachhall eines Schusses Raum zu gewähren. Der Rausch von Mr. Khuranas Trauer wich dem schlichten Umstand, dass er ein Mensch war, nackt und bloß in seinen Taten, und dass er als Mensch dazu verdammt war, Scham zu empfinden. Er spürte, wie sich zwischen den feierlichen Strophen Augen mit tadelnden Blicken flüchtig auf ihn richteten. Er hörte auf, an seine zwei Jungs zu denken, während sie vor ihm weiterbrannten in den Flammen, die die Luft mit ihren Hitzestacheln und dem jähen Brechen der Baumrindenknochen durchpeitschten. Mehr Asche für die Kuh.

Opfer

1

»Wo sind die Jungs?«, fragte Vikas Khurana. Er befand sich in seiner Wohnung, zusammen mit seiner Frau. Die Sonne ging unter und balsamierte draußen die Bäume mit Licht. Die Khuranas lebten – was für ein Paar Ende des zwanzigsten Jahrhunderts im Delhi der gehobenen Mittelklasse unüblich war – auf einem Grundstück im Familienverbund, obwohl sogar dieses Anwesen, das sich über einen halben Morgen von Maharani Bagh erstreckte, nur dem Namen nach verbunden war: die drei Gebäude waren in sechs Wohnungen geteilt, und die Gemeinschaftsküche, einst von den Großeltern beherrscht, war nun ein Gesellschaftsraum, der nur für gemeinschaftliche Anlässe wie Diwali, das Lichterfest oder Rakhi, das Fest der geschwisterlichen Bindungen, geöffnet wurde. Die Familienmitglieder sahen sich so oft, wie es Menschen, die in Wohnanlagen lebten, eben taten.

Als Deepa ihm die Antwort gab, die er erwartet hatte – dass sie wahrscheinlich im Verkehr feststeckten – spähte er aus dem Fenster des ersten Stocks durch die Spalten und staubgefüllten Kluften der Wohnanlage, um nach Lebenszeichen zu suchen. Nichts. Nur nepalesische Dienstboten, die mit Thermoskannen voller Milch auf den Straßen herumlungerten. Um ihre Bürstenköpfe schwirrte Dämmerung in Form von Moskitowolken, und näher dran saßen Tauben, die sich Dreck von den Flügeln schüttelten, die Farbpaletten an ihren Hälsen – Grüntöne, Magentatöne, Gelbtöne – bestachen durch ihre Leuchtkraft. »Jedes Jahr kommen die Moskitos früher«, sagte Vikas. »Sieht so aus, als hätte Vibhas Sohn Malaria.«

»Das liegt daran, dass der Yamuna so sauerstoffarm ist«, sagte Deepa. Sie glasierte einen Kuchen auf dem Esstisch und ließ weißen Zuckerguss durch ein Papierhütchen in ihrer Hand tropfen. Sie war eine talentierte Bäckerin und verkaufte ihre Kuchen an Kaffeekränzchen und Geburtstagsfeiern, um sich etwas dazuzuverdienen.

Vikas zog eine kurze Hose an und verließ die Wohnung, um spazieren zu gehen. Das Warten auf die Jungs hatte ihn unruhig gemacht, sie waren vor einiger Zeit zusammen mit ihrem Kricket spielenden Freund Mansoor in einer Autorikscha weggefahren. Sie sollten Mansoor in South Ex rauslassen, umkehren und in Lajpat Nagar anhalten, um den Fernseher abzuholen, der auf dem Arbeitstisch des Elektrikers thronte, nachdem sich ein mysteriöser grüner Streifen quer über den Bildschirm gelegt hatte. Der Fernseher war bereits seit mehreren Tagen in Reparatur, aber Vikas hatte bis heute keine Anstrengungen unternommen, ihn abzuholen. Heute stand das Flutlicht-Kricketspiel Südafrika gegen Australien auf dem Plan.

Er war Filmemacher und hatte keine festen Arbeitszeiten. Er konnte sich seinen Tag um ein Kricketspiel herumorganisieren, wenn er es wollte.

Für einen Spaziergang war es noch etwas früh. Die meisten der üblichen Parkbesucher waren in ihren Wohnungen oder noch auf der Arbeit. Trotz der Ashoka- und Niembäume und Pappelfeigen, die sich an beiden Seiten in den Himmel erhoben, brannte die Sonne auf die Straße, und der Verkehrslärm der Mathura Road erzählte von Geschwindigkeit und Ungeduld, die Hupsignale rauschten die Straße hinunter wie von Geistern geworfene Speere.

Vikas spazierte gedankenverloren, fühlte sich nicht wohl, die Unvollkommenheit der Umstände und seiner eigenen Stimmung missfielen ihm. Aber schon bald fand er den richtigen Rhythmus und drehte seine Runden im Park, wo die Jungs an den meisten Abenden spielten. An der Ecke des Parks, in der Nähe eines kleinen Tempels, der an eine Müllhalde grenzte, kam ihm ein anderer Spaziergänger, Mr. Monga, entgegen.

»Haben Sie schon gehört? Es gab eine Explosion in Lajpag Nagar«, sagte Monga zwar an Vikas gewandt, längst aber mit dem von Tratsch und Aufregung getränkten Blick die ruhige Siedlungsstraße nach anderen Spaziergängern absuchend. »Warum jetzt, in diesem heißen Monat, weiß ich auch nicht«, sagte er, warf wieder einen Blick die Gasse hinunter und zuckte mit den Schultern, Schultern, die unter der groben Baumwolle seines weißen Polohemds entstellt wirkten. »Könnte was mit den Wahlen zu tun haben.« Die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party, die »indische Volkspartei« BJP, war vor sechs Tagen mit knapper Mehrheit an die Macht gekommen.

»Wann genau war das?«, war alles, was Vikas wissen wollte.

»Gerade eben, yaar. Ich hab’s gehört, weil meine Frau zu Bon Ton wollte und über die Ashram-Kreuzung musste, und der Verkehr war echt übel, also hat sie einen Typen von den Verkehrsbetrieben gefragt.«

Der Rest geschah in Höchstgeschwindigkeit. Vikas wirbelte vom äußersten Rand des Parks davon, rannte die Straßen entlang – beim Laufen wurden ihm die fürchterlichen Schäden auf dem Gehweg bewusst, die Unebenheiten der Blasen schlagenden Platten –, sprang in seinen Wagen und fuhr los. Er sagte nichts zu seiner Frau – sie war oben mit der Bestellung für eine Silberhochzeit beschäftigt, und er wollte sie nicht beunruhigen. Aber gerade weil er seine Ängste weder mit seiner Frau noch mit Mr. Monga geteilt hatte, den er mit einer improvisierten Entschuldigung abgespeist hatte, war er ängstlicher, als er es sonst gewesen wäre.

Während der Fahrt drehten sich seine Gedanken seltsamerweise nicht um seine Jungs, sondern um deren Freund Mansoor Ahmed, der fast so alt war wie Tushar, sein Großer. Vikas würde niemals damit leben können, wenn Mansoor etwas zustieße, wenn er unter seiner Aufsicht starb – Mansoor, der den Ahmeds nach sieben unfruchtbaren Jahren geboren worden war und den sie mit ihrer ganzen elterlichen Paranoia beschützten, den sie nur aus dem Haus ließen, wenn er die Khuranas besuchen wollte, die sie zu ihren besten (und einzigen hinduistischen) Freunden zählten. Vikas war deshalb dem Jungen eng verbunden – manchmal enger als seinen eigenen Söhnen. Er fand großen Gefallen an Mansoors Intelligenz und Einfühlungsvermögen, fand ihn den Künsten und dem Zuhören gegenüber aufgeschlossener und benutzte ihn, um seine Söhne zu beschämen (Vikas war schon immer voller Selbsthass, wenn es um die Familie ging). Als Mansoor heute vorbeigekommen war, wollte er ihn die Freiheit kosten lassen, die ihm seine Eltern verwehrten. Ihn mit den Jungs loszuschicken, statt ihn persönlich zu Hause abzuliefern, war seine Idee gewesen.

Monga hatte recht gehabt – der Verkehr war fürchterlich, und der Wagen quälte sich mit fast leerem Tank unruhig durch die Rushhour, die Tanknadel zitterte auf das E zu. »Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte Vikas, und die Panik in seinem Herzen wurde vom unbeirrten Tempo des Verkehrs zurückgedrängt.

Die Jungs waren zusammen in einer Autorikscha aufgebrochen. Sie hatten eine an der Mathura Road angehalten, obwohl der Diener, der sie begleitete, ihnen immer wieder sagte: »Tretet zurück! Eure Mutter wird euch die Ohren langziehen!«

»Ich ziehe dir die Ohren lang«, sagte Tushar, der wie immer bei Einbruch der Dunkelheit vor unbändiger Energie fieberte. Die Stadt mit ihrem wilden Hupen und dem Verkehr und der müden Blüte war da keine große Hilfe.

Aber als die Jungs in die Rikscha stiegen und ihre dünnen braunen Beine aneinanderpressten, wurden sie still und ernst, so wie sie glaubten, dass Rikscha-Passagiere zu sein hatten. Sie betrachteten den Verkehr durch die offenen Seiten des Gefährts, und gelegentlich wiesen sie sich gegenseitig auf schicke Autos hin. »Hey, gibt’s schon den neuen Rover Montego?«, fragte Nakul, der jüngere.

»Den bauen sie in Oxford«, sagte Tushar.

»Wohin fahren wir, sagt ihr mir das bitte?«, fragte der nach Alkohol riechende Rikschafahrer.

»Zuerst nach Lajpat Nagar«, sagte Tushar. »Das geht doch, oder?« Er wandte sich an Mansoor.

Mansoor grinste. Er wusste, dass er eigentlich zuerst nach Hause gebracht werden sollte, aber es gefiel ihm, sich von den kleinen Rebellen herumkommandieren zu lassen: So konnte er die Regeln brechen und damit durchkommen.

Der zwölfjährige Mansoor hatte ein verblüffendes, einnehmendes Lächeln und einen Mund voller schiefer Zähne, die nie gerichtet wurden.

Wenige Minuten später bummelten die Jungs zusammen über den Markt von Lajpat Nagar. Tushar hänselte Mansoor und klopfte ihm auf die Schulter, und Nakul fuhr sich stolz mit der Hand durchs Haar und verpasste seiner Frisur den letzten Schliff. »Und das ist der Bildeinrahmer, der uns das Foto vom Gründungstag gerahmt hat«, sagte Nakul. »Im Laden dahinter haben wir Sorry! und Backgammon gekauft.«

»Die verkaufen dort erstklassige englische Kricketschläger aus Weidenholz«, stimmte Tushar ein, obwohl er ein furchtbar schlechter Kricketspieler war.

Mansoor, der es nicht gewohnt war, allein unterwegs zu sein, ließ alles, was er sah und hörte, auf sich wirken. Die Menge setzte sich aus einer ganz bestimmten Sorte Delhiiten zusammen, die Mansoor sofort erkannte. Diese Sorte Delhiiten war leicht unterernährt, trug glänzende Polyesterkleidung, ließ sich schwarze Schnurrbärte stehen, hatte eine Vorliebe für Ohrstecker, zog sich die Hosen zu hoch, bohrte mit dem Finger in der Nase, machte schlaffe, lustlose Gesten mit den Händen und ein zynisches, dummes Gesicht, das niemals ernst zu werden schien. (Die Frauen sahen genauso aus, nur waren ihre Schnurrbärte ein wenig heller, und sie trugen billige, geblümte Saris.)

»Wo gehen wir hin?«, fragte Mansoor, als eine Explosion seinen Satz in der Mitte auseinanderriss und die letzte Hälfte zurück in seinen Mund stopfte.

Später berichteten sämtliche Zeugen, einen alles überstrahlenden weißen Stern gesehen zu haben. Dann folgte eine lange Stille, bevor die Schreie losgingen, als hätten sich die Leute, sogar als sie Schmerzen hatten, erst gegenseitig beobachtet, um herauszufinden, was zu tun sei.

Als Mansoor aufwachte, brannte der Markt. Die Menschen lagen dort wie aufgebahrt. Mütter waren blutig über Töchter gelegt. Geschäftsleute lagen schlaff auf dem Rücken, neben ihnen brannten ihre Aktentaschen. Und Ladenbesitzer krochen auf ihren Ellbogen, während Autos nur wenige Zentimeter vor ihren Gesichtern in Flammen aufgingen. Durch die zerrissene Kurta einer Frau erspähte Mansoor seine erste Brust. Aus seinem Handgelenk quoll Blut, aber er nahm es nur aus weiter Ferne wahr, wie etwas, das an einer anderen Ecke des Markts versteckt war.

Menschen fingen an, über die Leichen zu klettern, mit dem schuldbewussten Blick von Einbrechern, die Haare wirr und verfranst, ihre Gesichter halb geschwärzt. Mansoor erhob sich ebenfalls, sah Tushar auf dem Boden liegen und in den Himmel starren, die Lippen feucht und offen, sein gewelltes Haar voller Sand oder einer anderen weißlichen Substanz, die es von einer Wand gesprengt hatte. Nakul befand sich neben ihm, sein Arm lag über dem Gesicht wie bei einem Handwerker, der in der Sonne döste.

»Tushar! Nakul!« Er konnte seine eigene Stimme nicht hören. Aber als er zu ihnen kroch und sie schüttelte, entlud sich ein scharfer Schmerz in seiner Hand, und als er hinsah, war dort ein kaputter Lederschuh, der auf sie trat, und dann verschwand ein entstellter Mann über ihm und den Leichen.

»Onkel!«, rief Mansoor. Aber der Mann war weg, und dafür kamen immer wieder andere – blutüberströmt.

Dann packte eine Hand Mansoor an der Schulter. »Steh auf, Junge«, sagte eine körperlose Stimme – eine freundliche Stimme, die Stimme der Erde, voller Mitleid und seufzender Geduld. Aber ein alter Instinkt setzte ein, nicht mit Fremden zu sprechen, und Mansoor rannte fort von dem brennenden Marktplatz.

Mittlerweile machte sich Afsheen Ahmed große Sorgen, weil ihr Sohn nicht nach Hause kam, und sie hatte Deepa Khurana angerufen.

»Du kannst ihn immer noch nicht erreichen?«, fragte Deepa, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, und starrte aus dem Fenster. Ihre Hände waren voller Kuchenteig. »Sie stehen bestimmt im Stau auf der Ring Road – um die Ashram-Kreuzung herum sind viele Baustellen. Und die Jungs sollen nach Lajpat Nagar, wenn sie Mansoor nach Hause gebracht haben. Vielleicht sind sie zuerst dorthin. Sie sind ja alle schon so selbstständig.«

Als Afsheen das hörte, wurde ihr ganz kalt. »Deepa, dort gab es eine Explosion.«

»Es ist noch Rushhour«, sagte Deepa. »Sie kommen bestimmt gerade erst dort an.«

»Eine Bombe.«

»Verstehe«, sagte Deepa und war selbst überrascht, wie streng sie klang. Sie war überzeugt, dass das Unglück über diejenigen hereinbricht, die es durch ihre Ängste selbst herbeirufen.

»Ich hab davon im Radio gehört. Ich war in der Küche, und es lief im Radio der Dienstboten.« Afsheen weinte jetzt.

»Afsheen«, sagte Deepa weicher.

Wenig später legte Deepa auf, ging in den Flur und schaute die Treppe hinunter. Von ihrem Mann war nichts zu sehen. »Geh und such deinen Herrn«, wies sie Hari, den Diener an, der eilig in seinen klatschenden Flip-Flops loslief. Deepa wusch sich die teigverschmierten Hände, fuhr sich gedankenverloren durchs Haar und hinterließ dabei eine weiße Strähne, wie bei Indira Gandhi. Dann ging sie in ihrer ausgebleichten Kurta zum Tor. Als sie sah, dass das Auto fort war, fluchte sie laut. Wohin war ihr Mann gefahren, und wann würde er zurückkommen? Man konnte ihm nicht trauen. Er war zerstreut.

Sie marschierte zur Hauptstraße und winkte eine Autorikscha herbei. Ihr kam gar nicht in den Sinn, Vikas Verwandte, die in der Anlage wohnten, um Hilfe zu bitten.

Vikas jedenfalls – tief im desinfizierten, aufgeblähten behördlichen Bauch des Krankenhauses – kam ihnen allen zuvor. Er fand Tushar und Nakul ausgestreckt zwischen anderen Leichen auf einem Dhurrie liegend. Nakuls hübsche Augen waren angstvoll aufgerissen. Tushar schlief friedlich, so wie immer. Vikas ging in die Hocke, wippte auf seinen Fersen, drückte ihre kalten, verbrannten Wangen und weinte, fügte seine Flüssigkeit zu ihrer hinzu.

Als er aufsah (Stunden später, wie ihm schien), standen Sharif und Afsheen Ahmed über ihm – Sharif, dick und gehetzt, mit seinem schwarzen, unordentlichen Bart, kariertem Hemd und schwarzer Hose, die um den Bauch herum spannte; Afsheen, dunkel, ihr ovales Gesicht von Tränen zerstört, ihr schlanker Körper in einen eleganten Chikan Salwar gehüllt, ihre blendend weiße Kleidung leuchtete auf dieser Todespiste unangebracht. Vikas’ eigene Kleidung hatte schon lange die Farbe von Ruß, von brutal zerschlagener Haut und Knochen. »Es tut mir so leid«, sagte Vikas – seine ersten Worte in der Leichenhalle. »Es tut mir so schrecklich leid.«

Mansoor war immer noch in Bewegung.

Direkt nach der Explosion war er panisch von dem brennenden Marktplatz fortgerannt und zwischen die Marktbuden geraten. Als er dann nach einem öffentlichen Telefon suchte, um zu Hause anzurufen, oder wenigstens nach einem Fremden, der ihn zu einem Telefon bringen konnte (er betete, dass ihm seine Telefonnummer wieder einfiel, sie schien aus seinem Gedächtnis gelöscht), als sich die dunklen, sonnenlosen Gassen mit Menschen füllten, die von der Explosion fort oder zu ihr hin schwärmten, kehrte die Panik zurück. Er war noch nie allein irgendwo in Delhi gewesen, und schon gar nicht nach einer Explosion auf einem Markt.

»Ist eine Gasflasche geplatzt?«, fragte eine Frau.

Mansoor war sich nicht sicher, ob sie mit ihm sprach.

»Das muss Aroras Kompressor gewesen sein«, sagte ein Mann, dem ein schrecklicher Tumor aus dem Hals wuchs.

»Den hätten die nie einbauen dürfen. Die Leitungen kommen hier nicht mit der Belastung zurecht, aber die hören ja nicht zu, nicht mal, wenn man es ihnen auf der Ausstellerversammlung sagt.«

Ein weiterer Knall kam vom Markt – vielleicht diesmal wirklich eine Gasflasche, die in einer blauen Säule in die Luft stieg –, und die Männer und Frauen, die in der Gasse zusammengedrängt waren, fingen an zu schreien; es wurde kräftig gestoßen, und alle strömten zur Hauptstraße, wo Mansoor, der auf das frische, unberührte Leben der Stadt stieß, auf die riesig hohen Busse, die versifften, dreckigen Gegenden, sich mit einem Mal vom Leben, vom Rauch durchdrungen fühlte.

»Junge, ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte ein Autofahrer, der mit den Händen auf den Hüften von seinem Fahrzeug fortging, aber Mansoor wich ihm instinktiv aus und versuchte, die Blutung an seinem rechten Handgelenk mit der linken Hand zu stillen. Er überlegte, ob er seine Tetanusimpfung rechtzeitig bekommen hatte. Er hatte sich immer gefragt, was diese Spritzen bewirken und wozu sie gut sein sollten, aber jetzt war er dankbar dafür.

Die obersten Knöpfe am Hemd des Autofahrers waren geöffnet. Ein Medaillon blitzte zwischen der spärlichen Brustbehaarung auf. »Mir geht’s gut, Onkel«, sagte Mansoor und wusste nicht genau, warum.

Er wusste aufgrund der verstopften Straßen, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war – die Menschenmenge schwappte dorthin, sammelte sich um einen haltenden Bus und deutete in eine Richtung. Dann sagte eine Frau, die seine Großmutter hätte sein können: »Da ist gerade eine Bombe hochgegangen.«

Eine Bombe. Er hatte eine Bombenexplosion überlebt, miterlebt, durchlebt. Er konnte es nicht glauben. Er hatte natürlich schon von Bombenexplosionen gehört – sie kamen immer in den Nachrichten, auch kürzlich erst wegen des Cricket World Cup 1996, einige der Spiele, die in Sri Lanka stattfinden sollten, waren abgesagt worden, weil es Bombendrohungen von der LTTE gegeben hatte, den ›Befreiungstigern von Tamil Eelam‹, einer Organisation, die sein Vater »skrupellos« nannte. »In diesem Land beschuldigen sie immer die Muslime des Terrorismus«, hatte Sharif gesagt und seine weichen Pranken aufeinandergelegt – er war ein dicker Mann mit leidenschaftslosen Gesichtszügen, die etwas Kindliches, fast schon Bemitleidenswertes in ihrer Überzeugung hatten – »dabei sind die gefährlichsten Terroristen Hindus und Sikhs. Weißt du, wer Rajiv Gandhi in die Luft gesprengt hat? Hindus. Eine Frau der LTTE, das ist dieselbe Gruppe, die die Bomben in Colombo gezündet hat, die das australische Kricket-Team so sehr in Angst und Schrecken versetzt haben. Weißt du, wer Rajivs Mutter Indira ermordet hat? Ihre Sikh-Bodyguards. Wenn es also heißt …« Er schüttelte den Kopf. »Es macht mich wütend, wenn es den Beweis gibt, wenn es Statistiken gibt, und die Journalisten sie sich nicht ansehen.«

»Das Attentat auf den ehrenwerten Mahatma Gandhi wurde auch von einem Hindu verübt.«

»Ja«, sagte Sharif. »Wir hatten großes Glück, dass es so war. Dein werter Opa war in Aligarh, als es geschah.« Sharifs Großvater war Freiheitskämpfer gewesen, ein Verbündeter von Sir Syed Ahmed Khan. Darauf war Sharif stolz, und er erzählte Mansoor bei jeder Gelegenheit davon. Mansoor interessierte sich nicht dafür, brachte seinen Vater aber gern dazu, sich in den Rausch eines endlosen Vortrags zu steigern, um von den Mädchen tagträumen zu können, in die er sich in der Schule verliebt hatte. Er hielt sich für einen tragisch-romantischen Helden. Schüchtern betrachtete er die Mädchen und schenkte ihnen Gedichte, von denen er behauptete, sie seien von ihm, dabei hatte er sie aus der umfangreichen Emily-Dickinson-Anthologie seiner Mutter abgeschrieben. Seine Mutter hatte einen Master in englischer Literatur vom Lady Shri Ram College for Women und war Theaterschauspielerin und Vertrauenslehrerin an der Air Force Bal Bharati School gewesen, bevor sie Hausfrau wurde.

Wie weit er sich entfernt hatte, in den wenigen Stunden, von diesem Leben zu Hause!

Mansoor ging müde und blutend über die Ring Road, vorbei an einem Mandi, einem Bauernmarkt, mit seinem abscheulichen Geruch nach verfaulten, überreifen Früchten und den blauen Abdeckplanen. Nachdem er einige Minuten auf der überfüllten Straße vor dem Markt damit zugebracht hatte, den Leuten zuzuhören, wie sie darüber spekulierten, ob die Bombe von Muslimen gelegt worden sei – oder anders gesagt, nachdem er Menschen zugehört hatte, die zu sehr damit beschäftigt waren, über die Tragödie zu tratschen, als dass sie ein Opfer beachteten, das direkt an ihnen vorbeikam –, beschloss er, nach Hause zu gehen. Natürlich kannte er die Stadt nur aus dem Inneren eines klimatisierten Wagens. Wie weit war es von hier nach Hause? Fünfzehn, zwanzig Minuten? Die Bilder von den Straßen mit ihren verstrebten Winkeln rasten und rollten vor seinem geistigen Auge vorbei, entfalteten sich in dem Tempo, das der Blick aus dem fahrenden Wagen vorgab.

Als er den Mandi verlassen hatte, war er erschöpft und machte sich Sorgen, wie er den donnernden, erbarmungslos vorbeischießenden Verkehr auf der Hauptstraße meistern würde. Sein Körper spannte sich an. Er hielt sein blutendes Handgelenk, war von dem klebrigen Blut angewidert und ging weiter.

Es war leicht, den entgegenkommenden Verkehr zu meiden. Er drückte sich an den Rand des Mandi, oft stand er fluchenden, klingelnden Radfahrern im Weg, und er konnte gerade noch zur Seite springen, als eine Kuh auf ihn zuhielt (er war einmal in Bhogal von einem Bullen umgeworfen worden und hatte dabei einen Milchzahn verloren, und das war das Ende seiner Mandi-Besuche gewesen).

Die aufkommende Dämmerung tauchte den Himmel in ein luftverschmutztes Rosa. Vögel kreisten rastlos über ihm, als warteten sie darauf, dass die Rushhour vorüber war, um hinabstoßen und sich auf ihre Beute stürzen zu können. Mansoor passierte eine Schule zu seiner Linken, ging zwischen Straßenhändlern hindurch, die Erdnüsse in schwarzen Kesseln am Straßenrand rösteten, wich Kuhfladen aus und fragte sich mit einem halben Lächeln, ob seine Eltern von seiner Geistesgegenwart beeindruckt wären, seiner Fähigkeit, sich nach dem Schock, den er durch die Explosion erlitten hatte, durch die Stadt zu schlagen. Sein Lächeln verschwand, als ihm Tushar und Nakul einfielen. Was war mit ihnen geschehen? Waren sie – tot? Und warum war er weggerannt? Würde er zurückspulen und die Gedanken noch einmal abspielen, die ihm in dem Moment durch den Kopf gegangen waren, in dem er weggelaufen war, würde ungefähr das dabei herauskommen: Die beiden sind Brüder. Sie können aufeinander aufpassen. Oder: Ich habe ihnen doch gesagt, dass ich nicht auf den Markt gehen will! Warum haben sie mich dazu gezwungen?

Männer und Frauen und Kinder und Hunde zogen vorüber, ohne zu bemerken, wer er war, warum er blutete, warum er dort allein in seinen Oberklasse-Shorts auf einem innerstädtischen Gehweg stand. Im Petroleumlicht der fahrbaren Verkaufsstände glänzten ihre Gesichter verschwitzt und reserviert.

»Sir«, sagte Mansoor zu einem Mann in den Zwanzigern, aber Mansoor sprach zu schwach, und der Mann ging an ihm vorbei.

»Onkel«, sagte er zu einem anderen Mann, der vorüberkam und Eis aß. Und dieser Mann blieb stehen und betrachtete Mansoor mit einem Blick, der entweder überrascht oder aufdringlich war. Der Mann war mittleren Alters, mit Bauch und Schnurrbart, und seine Zunge schoss heraus, um das schmelzende Eis an der Seite vom Herunterlaufen abzuhalten.

»Sprich«, sagte der Mann.

Mansoor sagte ihm, was geschehen war: die Explosion, der Markt, die Jungs, der Fußmarsch.

Vielleicht lag es daran, dass er nichts Besseres zu tun hatte, jedenfalls leckte der dickbäuchige Mann mit dem starren, unguten Blick weiter an den Seiten seiner Eiscreme und brachte sie mit der Zunge in eine handhabbare Form.

»Wo wohnst du?«, fragte er.

»South Ex«, sagte Mansoor.

»In Abschnitt eins oder zwei?«

»Zwei.« Warum war das wichtig?

»Sind deine Eltern zu Hause?«

»Ja, Onkel.«

»Und Mama und Papa von deinen Freunden?«

»Auch zu Hause, Onkel.«

Er schüttelte ernst den Kopf. Dann fragte er: »Willst du ein Eis?«

Der Mann war sehr viel entspannter, als er das Eis nicht mehr in der Hand hielt. Er nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich über Gesicht und Stirn. »Nicht weit von hier ist ein öffentliches Telefon. Wir können sie von dort aus anrufen.«

Sie gingen in die Richtung, aus der Mansoor gekommen war, und als Mansoor dankbar das Eis verschlungen hatte (auch wenn ihm die Bakterien, die er sich dadurch einverleibte, Angst machten), sagte der Mann: »Du bist schwer verletzt, yaar. Vielleicht sollten wir erst in ein Krankenhaus fahren. Mein Wagen parkt ganz in der Nähe. Komm mit.«

Bis zu diesem Punkt war Mansoor froh gewesen, mit dem Mann mitzugehen, aber sobald er sein Auto erwähnte, schreckte er zurück. »Nicht nötig, Onkel. Lassen Sie uns einfach telefonieren.«

»Aber Junge, der Wagen steht gleich hier. In der Zeit, in der wir telefonieren, können wir dich auch behandeln lassen.«

»Aber Onkel, meine Freunde sind auf dem Markt.«

»Ich schließ mal mein Auto auf.«

Mansoor wollte ihm von dem Stau erzählen, aber etwas überkam ihn, und er rannte los.

»Junge!«, rief der Mann.

Er rannte schnell, wirbelte mit den Fersen Staub auf. Als er stehen blieb, unweit der Stelle, an der er den Mann zuerst entdeckt hatte, war er außer Atem und schämte sich. Er sah sich um, ob er verfolgt wurde. Er fand, dass er das Richtige getan hatte. Er war in einer Stadt aufgewachsen, in der man sich ständig von Entführungen und verschwundenen Menschen erzählte; er hatte von seiner Mutter gehört, wie ein Kindermädchen ihren zweijährigen Schützling in Lumpen gekleidet und ihm das Gesicht geschwärzt hatte, um ihn zum Betteln mit auf die Straße zu nehmen. Die Eltern des Kindes hatten sich immer gefragt, warum das Kind so müde war, wenn sie nach Hause kamen. Eines Tages dann war die Mutter die Straße entlanggefahren und – oh!

Mansoor ging eilig weiter. Er wollte nicht von dem dicken Entführer verfolgt werden. Er ärgerte sich, dass er keine Frau um Hilfe gebeten hatte.

Sein Zuhause war immer noch mindestens einen Kilometer entfernt, und er kam nur langsam voran. Schwerer schwarzer Smog lag über der Straße. Ein stecken gebliebener Krankenwagen kreischte im Verkehr. Dahinter konnte er gerade so die Moolchand-Hochstraße ausmachen, und noch weiter die Fata Morgana von South Extension – Rauch und Dunst und der vertraute, verstopfte Anfahrtsweg nach Hause.

Die Ahmeds waren davon überzeugt, dass ihr Sohn tot war. Sie verließen das AIIMS, das All-India-Institute-of-Medical-Sciences-Krankenhaus, wo Afsheens Cousin versprochen hatte, Nachtwache zu halten, und machten sich auf den Weg zum Moolchand-Krankenhaus. Verzweifelt klapperten sie alle Krankenhäuser von South Delhi ab, eins nach dem anderen. Afsheen musste sich übergeben und weinte die ganze Zeit. »Denk positiv«, sagte Sharif, während er mit ansehen musste, wie seine nervöse, aber anmutige Frau auseinanderfiel. »Es gibt keinen objektiven Beweis dafür, dass ihm etwas zugestoßen ist.« Er saß hinter dem Steuer des Wagens. »Vielleicht ist er bei jemandem zu Hause.«

»Wie konnten sie so etwas tun? Wie kann man so unverantwortlich mit dem Sohn anderer Leute umgehen? Wie oft habe ich ihnen gesagt, ich möchte nicht, dass er rausgeht?«

»Sie haben zwei Kinder verloren.«

»Sie sollen auch zwei Kinder verlieren! Sie sollten alles verlieren!«

»Afsheen«, sagte er. Aber in Wahrheit fühlte er genauso.

Die Krankenhäuser brachten sie nicht weiter. Aber an diesem Abend schien es Sharif, als wäre er der Realität – und dem Leid – der Stadt nähergekommen als je zuvor: die müden, leidgetränkten Gesichter der Patienten, die Erschöpfung des Pflegepersonals, die zusammenbrechende medizinische Infrastruktur, die schwachen Neonröhren, die ständig flackerten und klackten, die Art, in der Ärzte zu Bürokraten wurden, sobald man ihnen Fragen stellte. Sharif fand, er sollte sich von diesem Land befreien, diesem Ort, an dem er so heftig darum gekämpft hatte, sein Glück zu finden, während er den Spott seiner Verwandten ertragen hatte, die behaupteten, glücklicher in Dubai, Schardscha, Bahrain, Lahore zu sein.

Mittlerweile waren die Tränen aufgebraucht. Mann und Frau saßen in wütender Stille hinter dem Armaturenbrett. »Wir gehen zur Polizei«, sagte Afsheen, halb verrückt. »Wir sollten die Khuranas anzeigen.«

»Wir hätten viel früher zum Markt fahren sollen«, sagte Sharif und schlug sich gegen die Stirn.

Sie waren am Markt gewesen, durch die Trümmer gestiegen, hatten nach Mansoor gerufen, kurz bevor sie ins AIIMS gegangen waren. Dabei war ihnen bewusst geworden, dass sie bei Weitem nicht die Einzigen waren, die auf dem Markt nach Verwandten suchten: Halb Delhi schien diesen Misthaufen der Verwüstung zu durchpflügen, obwohl es letztlich nur dreizehn Todesopfer und dreißig Verletzte gegeben hatte – eine kleine Bombe. Eine typische Bombe. Eine Bombe mit geringen Konsequenzen.

»Wir fahren jetzt erst mal nach Hause, falls er dort ist«, sagte Sharif.

Nach Hause. Es wird das letzte Mal sein, dass wir es unser Zuhause nennen können, dachte er, und brachte seinen Suzuki Esteem zum Stehen. Die dunkle Siedlung war von der dreckigen Elektrizität der Stadt erleuchtet. Aber kaum, dass er geparkt hatte, sah er zwei Gestalten im Licht des vorderen Treppenabsatzes.

Afsheen sprang aus dem Wagen, rannte zu ihnen und umarmte und ohrfeigte anschließend ihren Sohn. Der Diener, der neben Mansoor saß, erhob sich aufgeregt.

»Wie konnte das geschehen?« Afsheen weinte. »Warum hast du uns nicht sofort angerufen?«

Sharif drückte seinen Sohn fest an sich. Erst jetzt merkte er, wie angespannt er war, wie sehr er seinen Sohn liebte. »Bring mir Wasser«, sagte er zu dem Diener, als sie hineingegangen waren, und versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, während sich die drei in einer ungelenken Umarmung hielten.

»Wir müssen den Khuranas helfen«, sagte Afsheen und löste den Blick von ihrem Sohn.

2

Vikas’ Sorge um Mansoor war längst der Trauer um seine Söhne gewichen. Es war für ihn – und seine Frau – von höchster Wichtigkeit, so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen und ihre Leichen keinen Moment lang aus den Augen zu lassen. Es war, als fühlten sie sich doppelt verpflichtet, ihre Verantwortung nach dem Tod wahrzunehmen, weil sie daran gescheitert waren, sie zu Lebzeiten zu beschützen. Und doch versetzte die Feuerbestattung, die am nächsten Tag in Nigambodh Ghat stattfand, ihnen beiden einen Schock. Sie heulten jämmerlich, als die Jungs zu Asche wurden.

Die Leichen waren am Abend zuvor kurz für eine Obduktion weggebracht worden, damit die Ärzte kleine Proben der Bombensplitter aus Tushars und Nakuls toten Körpern entnehmen konnten. Die übrigen Teile – hell glänzende Metalldreiecke, gezackte Ränder von Kronkorken, Nägel – funkelten auf dem Scheiterhaufen.

Deepa weinte heftig, ihr vom Rauch graues Haar floss in alle Richtungen. Sie schrie: »Bringt mich hier weg.« Vikas sah zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie ein Militärangehöriger bei der Beerdigung seiner gesamten Staffel.

Die Mitglieder des Khurana-Clans sahen sich nicht oft, aber sie nahmen die Verantwortung, die das Familienleben mit sich brachte, ernst, und nach der Feuerbestattung kamen sie aus ihren Wohnungen und versammelten sich um das Paar in deren Haus, um sie zu trösten und ihnen beizustehen. Rajat, Vikas’ jüngster Bruder, ein hübscher Kerl in den Dreißigern mit einem unmodernen Schnurrbart und von wichtigtuerischer, familienorientierter Effizienz, zerkleinerte mit einem Nudelholz Schlaftabletten und löste sie im Tee des Ehepaars auf. Dass sie diesen heißen Cocktail tranken, ohne etwas zu bemerken, nahm er als Zeichen dafür, wie wenig sie noch zu irgendetwas in der Lage waren. Tante Bunty durchsuchte die Küchenschubladen, sammelte die Messer ein und steckte sie in eine Jutetasche, die sie mit nach Hause nahm. Die engen Freunde der Khuranas, Autoren und Filmemacher und anständige Berufstätige, kamen und verknoteten sich zu einem kummergeplagten wirren Haufen. Es handelte sich um einen so schweren Schlag, dass er das Potenzial hatte, einen ganzen Freundeskreis zu zerstören.

Andere versammelten sich auf dem Boden und boten Predigten, Geschichten, Banalitäten an. Alle (abgesehen von zwei Patriarchen) waren sich einig, dass man sich unmöglich vorstellen konnte, was die Khuranas gerade durchmachten.

Der Bombenanschlag fand um sechs Uhr abends an einem Dienstag statt. Um neun Uhr hatte sich bereits eine Gruppe, die sich Jammu and Kashmir Islamic Force nannte, bei Zee TV und NDTV gemeldet und sich zu dem Anschlag bekannt. Die Familienmitglieder sprachen über die Gruppe und ihre Absichten und zeigten ihre übliche Verachtung für Muslime. »Sie können einfach nicht in Frieden leben, diese Muslime. Egal, wo sie auftauchen, befinden sie sich im Krieg«, sagte eine Tante. »Eine gewalttätige Religion von gewalttätigen Menschen. Im Koran steht es geschrieben – kein Muslim darf ruhen, bis er das Blut von zweiundsiebzig Ungläubigen getrunken hat.«

»Kaschmiri waren schon immer dreckig. Ein ganzer Winter geht vorüber, und sie baden nicht. Deshalb stinkt es so sehr in Srinagar.«

»Das Problem besteht darin, dass sie glauben, sie bekämen im Himmel zweiundsiebzig Jungfrauen.«

»Das sagt ihr, aber ich arbeite jeden Tag mit Muslimen. Alle Handwerker und Weber sind Muslime. Geht mal dahin, wo sie wohnen, jeder von ihnen hat zwanzig Kinder.«

Die Ahmeds passten sich ebenfalls an diese neue Welt an – eine Welt, in der ihr Sohn fast umgekommen war und in der seine beiden engsten Freunde vor seinen Augen gestorben waren.

Der Arzt, der Mansoor am Tag der Explosion untersucht hatte, sagte, er hätte großes Glück gehabt: Etwas oder jemand in der Nähe hatte offenbar die Druckwelle absorbiert. Die meisten Menschen starben durch die Druckwelle. Wenn man im Moment der Explosion einatmete, was ein natürlicher Impuls war, zerriss einem die Druckluft die Lunge, und man starb an einem »massiven Trauma«.

»Du, mein junger Freund«, sagte der alte Arzt und tätschelte Mansoors Wange auf freundliche, aber beunruhigende Art, »du hast nur einen Bruch und brauchst ein paar Stiche an der Hand – das haben alle Jungs in deinem Alter. Kriegsverletzungen.« Dann tätschelte er ihn noch einmal und verschrieb ihm einige Monate Physiotherapie. Mansoor durfte alle Splitter, die man ihm aus seinem Arm entfernt hatte – zwanzig Kügelchen – in einer kleinen Plastiktüte mit nach Hause nehmen.

»Sollen wir mit ihm ins VIMHANS?«, fragte Afsheen hinterher und meinte damit die psychiatrische Klinik an der Ring Road.

»Erzähl mir, was geschehen ist, wie du dich gefühlt hast«, sagte Sharif zu dem Jungen.

»Du kannst das nicht einfach so fragen!«, sagte Afsheen. »Es gibt für solche Dinge ordentliche Abläufe.«

Aber der Junge war froh darüber, zu Hause zu sein. »Bitte, Mama, ich möchte nirgendwo anders hin«, bettelte er.

»Siehst du, Afsheen, wozu die Eile?«, fragte Sharif.

Die Ahmeds waren ohnehin mit der Feuerbestattung und der Totenfeier für die Khurana-Jungs sehr beschäftigt. Da sie selbst so großes Glück gehabt hatten, fühlten sie sich in höchstem Maße verpflichtet, für ihre unglücklichen Freunde da zu sein. Jeden Tag besuchten sie die Khuranas in ihrer Wohnung und ignorierten die Beleidigungen, mit denen Vikas’ Verwandte Muslime überzogen – Verwandte, die entweder nicht wussten, dass die Ahmeds Muslime waren, oder die ihnen im Vorbeigehen Vorhaltungen machen wollten.

»Nur eine Mutter kann verstehen, was du durchmachst«, schluchzte Afsheen auf Hindi, während sie neben Deepa im Wohnzimmer der Khuranas kniete. »Mansoor sagt ständig, sein Leben sollte auch vorbei sein, so wie das von Tushar und Nakul, und ich muss ihm sagen, nein, beta, nein, so darfst du nicht denken.«

Deepa nahm Afsheens Anwesenheit kaum wahr. »Sie waren alle drei so gute Freunde. Die besten Freunde.« Sie schniefte wieder, bedeckte ihre spitze Nase mit den knochigen Händen, und sagte dann: »Es tut mir so leid. Ich weine zu viel.«

»Weine ruhig. Das ist in Ordnung.«

Sharif verbrachte seine Zeit mit einem aschfahlen, erschüttert aussehenden Vikas. »Die Terroristen waren Kaschmiri«, sagte er in dem gemessen ernsten Ton von jemandem, der Emotionen nicht gewöhnt war, jemandem, der offensichtlich die Gelegenheit wichtigtuerisch ergriff, klug daherreden zu können. »Es wird leicht sein, diese Leute zu finden. Das sind keine Profis. Das Wichtigste ist jetzt, dass du dich um Deepa kümmerst. Sie braucht dich. Ich werde Mansoor fragen, ob ihm auf dem Markt etwas Verdächtiges aufgefallen ist.«

Mansoor war es, der die Khurana-Familie mit einer Augenzeugenbeschreibung vom Tod der Jungs versorgte und dadurch die morbiden Spekulationen über ihre letzten Momente beendete. Aber er hatte seinen Eltern nicht erklären können, warum er den Anschlagsort verlassen hatte. »Warum hast du uns nicht angerufen, beta?«, fragte Afsheen.

»Ich dachte, vielleicht sind die Leitungen gestört«, log er.

»Aber versprich mir, falls es jemals, jemals wieder zu einem solchen Notfall kommt, rufst du an. Jeder Markt hat doch heutzutage Hunderte öffentliche Telefone.«

Aber Mansoor – der desorientierte, überwältigte Mansoor – hörte nicht zu. Stattdessen dachte er an den zerschmetternden, ohrenbetäubenden Moment, in dem die Bombe explodiert war, an den Schmerz, den er in seinen Gliedern gefühlt hatte, daran, wie Tushar und Nakul in den Schlaf gerissen wurden, von An auf Aus geknipst. Was hätte er tun können? Obwohl er keine Erfahrung mit Sterblichkeit hatte, obwohl er nicht zu ihren Leichen gegangen war, um sie zu betrachten, hatte er gewusst, dass sie tot waren, und er hatte gewusst, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Wie sollte er das erklären? Wie sollte er seinen Eltern das Offensichtliche sagen – dass das Fortgehen seine Form der Trauer gewesen war, seine Art, die gesamte Stadt in seine Anklage hineinzuziehen.

Seine Eltern schirmten ihn vor den Khuranas und der Feuerbestattung und der chautha-Zeremonie ab – schließlich war auch er ein Opfer. Sein rechtes Handgelenk und der gebrochene Arm waren eingegipst – aber eines Tages brachte man ihn trotz allem in die Wohnung der Khuranas. Vikas, gramgebeugt, aber herzlich, umarmte Mansoor mit gesenktem Blick, atmete tief den Geruch seines Haars ein, verlangte nach einem ausführlichen Bericht über die Ereignisse. Deepa, die einen unanständig gelben Kamiz trug, saß in dem Sessel neben ihm, eine Hand am Kopf, das Inbild rasender Kopfschmerzen. Afsheen warf ihr immer wieder besorgte Blicke zu. »Deepa, möchtest du etwas trinken?«, fragte sie, obwohl es Deepas Zuhause war und man hören konnte, wie der Diener in der Küche den Mixer bediente.

Mansoor erzählte ihnen von der Fahrt in der Autorikscha, dem Gang zum Markt, der Explosion. »Aber waren sie sofort tot?«, fragte Vikas.

»Sie haben sich nicht mehr bewegt, Onkel.«

»Aber du bist dir hundertprozentig sicher?«, fragte Vikas und brachte seine Wörter durcheinander. »Wir wollen das Krankenhaus und die Polizei verklagen. Als die Bombe explodierte, riefen viele Leute vom Markt aus die Feuerwehr an, und dort hieß es immer: Wir kommen, wir kommen. Aber sie kamen nicht. Sie riefen beim AIIMS an, aber es kamen auch keine Krankenwagen. Man zwängte tatsächlich die Verletzten auf die Rückbank eines Polizeimannschaftswagens und fuhr sie ins Krankenhaus. Man stapelte sie aufeinander …«

»Antworte dem Onkel, beta«, ermutigte Afsheen ihn, als ihr bewusst wurde, wie sich Vikas im Grauen seiner Erinnerung an die Ereignisse verlor.

»Sie waren tot, Onkel«, sagte Mansoor.

Vikas sah Mansoor an, und an diesem Blick erkannte er, dass Vikas ihm die Schuld an den Geschehnissen gab, dass es nicht um das Krankenhaus oder die Feuerwehr oder die Polizei ging, sondern darum, warum er sie hatte sterben lassen und weggelaufen war.

Warum? Er verstand es selbst nicht. Er sah die Szenerie, die triefende Stadt mit ihren Tausenden wässrigen, gebrochenen Lichtern, sah den Staub an den gelben Stangen der Ampeln, sah die glühenden Betonunterseiten der Überführungen – sah all das und bekam Angst, als hätte die Stadt während seines Heimwegs seine Schuld erkannt und würde nach einer Möglichkeit suchen, ihn zu vernichten.

»Wollten sie eine Uhr oder einen Fernseher abholen?«, fragte Sharif Mansoor, als sie in ihrem Esteem nach Hause fuhren.

»Du hörst nicht richtig zu«, schimpfte Afsheen mit Sharif.

»Fernseher, Papa«, sagte Mansoor.

»Das dachte ich mir. Heute habe ich nämlich gehört, wie ein paar Verwandte sagten, die Jungs wollten Vikas’ Uhr abholen«, sagte Sharif. »Das war’s schon. Ich wollte nur sichergehen.«

Nachdem er allen Hinweisen nachgegangen war, mit dem Jungen gesprochen hatte und einsehen musste, dass es niemanden gab, auf den er die Schuld abwälzen konnte, versank Vikas in Scham. Er fand, dass sein gesamtes Leben ein einziges Scheitern sei, und dass ihn dieses Scheitern, besonders sein Scheitern in Sachen Geldverdienen, an diesen Punkt gebracht hatte: Würden sie sich einen Fahrer leisten können, wäre das alles doch erst gar nicht geschehen? Er entschuldigte sich immer wieder bei seiner Frau. »Ich hab dir doch gesagt, ich sollte wieder als Wirtschaftsprüfer arbeiten«, sagte er und bezog sich auf seine frühere Laufbahn, die er vor dreizehn Jahren aufgegeben hatte, um Dokumentarfilme zu drehen. »Ich würde alles für dich tun.«

Aber Deepa wollte nur eins: Rache. Nachdem sie im Eiltempo die erste Trauerphase durchlebt hatte, war sie nun in einem Stadium des Zorns angelangt und hegte die Überzeugung: Das einzige Vernünftige, was nun noch blieb, wäre es, dem gewaltsamen Tod der Mörder ihrer Jungs beizuwohnen. »Meinst du, sie haben wirklich die Richtigen verhaftet?«, fragte sie Vikas.

Wie üblich war es direkt nach der Explosion zu einigen Festnahmen durch die Polizei gekommen.

»Weiß Gott, Deepa – es tut mir so leid.«

Wann würde dieser Schmerz vorübergehen?, fragte sich Vikas. Er hatte so etwas noch nie erlebt – hatte nie einen Schmerz gekannt, der in jeder Falte seines Körpers saß –, und er konnte nur ahnen, was seine zerbrechliche Frau durchmachte. Sie war ohnehin nicht bei bester Gesundheit – ihre Lunge war vor einigen Jahren kollabiert, Krebs lief in ihrer Familie Amok – und er fürchtete, dass diese Klarheit, diese erzwungene glühende Rache, das Vorspiel zu einer ernsten Erkrankung war.

Die Familie scharte sie auch weiterhin um sie. Aber die Ratschläge wurden nun spezieller. Tante Bunty schlug ihnen vor, zu einem Guru zu gehen, den sie selbst schon in Greater Kailash aufgesucht hatte. »Wir sprechen von einem großen Geist. Er berührt einmal eure Hand, und die Hälfte eurer Probleme verschwindet. Wisst ihr noch, wie schlimm Manshas Leukodermie war? Jetzt ist sie vollständig weg.«

Onkel Pratap sagte, Trauer mache die Menschen heilig, und sie sollten während dieser Phase in Betracht ziehen, ein weiteres Kind zu bekommen. »Eine Adoption ist auch eine Möglichkeit«, fügte ein Weltverbesserer hinzu (das Haus war voller Weltverbesserer). Rajat bot an, seinem Bruder und seiner Schwägerin eine All-inclusive-Reise in die Schweiz zu bezahlen. »Mai-Juni ist die beste Zeit, um hinzufahren«, sagte er und lächelte unbeholfen. »Dort gibt es sehr hübsche Wasserfälle.«

Diese Menschen verwirrten Vikas. Aber andererseits hatten sie niemals einen solchen Verlust erlitten, hatten seine Kinder nie wirklich gekannt. Für sie war jedes Kind, das in diese Familie geboren wurde, gleich, eine Weiterführung des genetischen Materials. Ihm fiel wieder ein, warum er den Kontakt zu diesen Leuten abgebrochen hatte.

Deepa forderte immer hartnäckiger, die Polizei müsse die Mörder endlich finden. Dann geschah es eines Tages zur Überraschung aller: Die Polizei teilte ihnen mit, dass sie die Terroristen verhaftet hätten.

Terroristen

3

Kurz nachdem Shaukat »Shockie« Guru die Anweisung erhielt, die Explosion durchzuführen, ging er in die Gasse, in der er wohnte, und wusch sich das Gesicht unter dem offenen Wasserhahn außen am Gebäude. Dann ging er in sein Zimmer, setzte sich aufs Bett und grübelte. Das Zimmer war klein und staubvernebelt, der Gestank von chemischen Reagenzien hing schwer in der Luft (in der Gasse war vor Kurzem gebaut worden), die Wände waren nachlässig gestrichen. Nur ein Poster aus Rangeela mit Urmila Matondkar und ihrem glatt-glänzenden Bauch schmückte den Raum. Zwei Charpai standen dort, nur durch ein kleines Stück Terrazzoboden voneinander getrennt. Die Matratze unter ihm war dünn. Er spürte den Kokosbast durch die Baumwollklumpen.