In Liebe, Layla - Annie Barrows - E-Book

In Liebe, Layla E-Book

Annie Barrows

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Beschreibung

Sommer 1938: Layla Beck, Senatorentochter aus Washington, wird nach einer geplatzten Verlobung von ihrem Vater enterbt und in das verschlafene Örtchen Macedonia in West Virginia geschickt, wo sie als Stadtschreiberin fungieren soll. Layla tobt vor Wut, in ihren Augen kann sie dort nur völlig verrückt werden vor Langeweile. Und so erreicht sie die Stadt mit nur einem Ziel: so schnell wie möglich wieder von dort zu verschwinden. Die Geschichte des kleinen Ortes scheint für dieses Vorhaben auch bestens geeignet zu sein, denn sie ist äußerst kurz und ereignislos. Doch als Layla ihr Zimmer im Haus der Romeyns bezogen hat und die Bewohner näher kennenlernt, wird ihr schnell bewusst, dass das Leben dort einige Überraschungen für sie bereithält. Auch hinter der Fassade der altehrwürdigen Strumpfwarenfabrik scheint mehr zu stecken, als man ihr anfangs sagen will. Und am Ende wird Layla nicht nur die Geschichte der Stadt, sondern auch die von manchen Bewohnern kräftig durcheinanderwirbeln und völlig neu schreiben.

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Seitenzahl: 819

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Zum Buch

Sommer 1938: Layla Beck, Senatorentochter aus Washington, wird nach einer geplatzten Verlobung von ihrem Vater enterbt und in das verschlafene Örtchen Macedonia in West Virginia geschickt, wo sie als Stadtschreiberin fungieren soll. Layla tobt vor Wut, in ihren Augen kann sie dort nur völlig verrückt werden vor Langeweile. Und so erreicht sie die Stadt mit nur einem Ziel: so schnell wie möglich wieder von dort zu verschwinden. Die Geschichte des kleinen Ortes scheint für dieses Vorhaben auch bestens geeignet zu sein, denn sie ist äußerst kurz und ereignislos. Doch als Layla ihr Zimmer im Haus der Romeyns bezogen hat und die Bewohner näher kennenlernt, wird ihr schnell bewusst, dass das Leben dort einige Überraschungen für sie bereithält. Auch hinter der Fassade der altehrwürdigen Strumpfwarenfabrik scheint mehr zu stecken, als man ihr anfangs sagen will. Und am Ende wird Layla nicht nur die Geschichte der Stadt, sondern auch die von manchen Bewohnern kräftig durcheinanderwirbeln und völlig neu schreiben.

Zur Autorin

Annie Barrows, geboren 1962 in San Diego, Kalifornien, schrieb gemeinsam mit ihrer Tante den Überraschungserfolg »Deine Juliet«. Der charmante Roman über den Briefwechsel der temperamentvollen jungen Schriftstellerin Juliet und dem Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf entwickelte sich zum Longseller. Annie Barrows lebt in Berkeley, Kalifornien.

ANNIE BARROWS

In Liebe, Layla

Roman

Aus dem Amerikanischen von Beate Brammertz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Truth According to Us« bei The Dial Press, einem Imprint von Random House, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Mai 2016, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright © 2015 by Annie BarrowsThis translation is published by arrangement with The Dial Press, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLCSatz: Uhl + Massopust, AalenLW · Herstellung: scISBN 978-3-641-17582-5V001

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

Für Jeffrey

1

Im Jahr 1938, dem Jahr, als ich zwölf wurde, feierte meine Heimatstadt Macedonia in West Virginia ihr hundertfünfzigstes Jubiläum. In der Schule ehrten wir den Anlass entsprechend, so wie wir die meisten Anlässe ehren: mit lebenden Bildern, die wir auf der Bühne darstellen sollten, eines für jedes große Ereignis in der Geschichte Macedonias. Viele Ereignisse gab es nicht, kaum genügend, um sie über acht Klassenstufen aufzuteilen. Doch die Lehrkräfte ergänzten sie, so gut es eben ging. Hätte es den Sezessionskrieg nicht gegeben, ich weiß nicht, was sie getan hätten. Denn als sich Virginia von der Union lossagte, spielte das westliche Virginia verrückt, spaltete sich vom übrigen Virginia ab und kehrte sogleich wieder in die Union zurück, alle Bezirke – bis auf vier kleine, einer davon unserer, die West Virginia die Zunge herausstreckten und sich als Teil der Konföderierten Staaten von Amerika verstanden, eine Dreistigkeit, die noch jahrelange Auswirkungen auf unsere Straßenpflaster und Schulbänke nach sich ziehen sollte.

In einem Tal zwischen den beiden Flüssen Potomac und Shenandoah gelegen, war Macedonia gleichermaßen ein Knotenpunkt für Generäle wie auch für Eisenbahnschienen, und bis General Robert E. Lee in Appomattox kapitulierte, war die Stadt siebenundvierzig Mal in andere Hände übergegangen, sechs Mal davon innerhalb eines einzigen Tages. Unsere Lehrkräfte malten uns nur allzu gern bildlich aus, wie die Einwohner beim Einmarsch der Unionstruppen ihre Konföderiertenflaggen in den Kamin stopften und sie beim Abzug der Soldaten wieder herauszerrten. Die Viert-, Fünft- und Sechstklässler bekamen die Kriegsszenen, und die Siebt- und Achtklässler zogen den Kürzeren, weil nach 1865 rein gar nichts in Macedonia passiert war, außer, dass der Lokschuppen in die Luft geflogen war und die American Everlasting Strumpfwarenfabrik ihre Tore geöffnet hatte. Die halbe Stadt arbeitete in der Strumpfwarenfabrik, und die andere Hälfte wünschte es sich, aber es gab kaum etwas an der Fabrik, das sich für eins unserer lebenden Bilder eignete. Manchmal gaben die Lehrkräfte auf und schlugen zwei Fliegen mit einer Klappe, indem sie die Siebtklässler mit Strümpfen wedelnd über die Bühne marschieren ließen, während die Achtklässler hinter ihnen »The Star-Spangled Banner« sangen. 1938 zog die achte Klasse das große Los, weil Mrs. Roosevelt durch die Stadt fuhr. Sie hielt auf dem Marktplatz an, trank von dem aus einer Schwefelquelle gespeisten Brunnen, schnitt eine Grimasse und brauste davon. Das reichte völlig für ein Bild, bloß dass die Mrs. Roosevelt der achten Klasse keine Grimasse schnitt, sondern sagte: »Die Einwohner von Macedonia können sich glücklich schätzen, die Vorzüge von gesundem Mineralwasser zu genießen.« Meine Schwester Bird und ich lachten so heftig, dass wir aus dem Saal geschickt wurden.

Sobald der Vorhang nach dem letzten Bild gefallen war und man uns zurück in die Klassenzimmer getrieben hatte, ging ich davon aus, dass die Feierlichkeiten zu Macedonias Hundertfünfzigjahrfeier zu Ende waren. Hatten wir nicht eben einhundertfünfzig Jahre Geschichte in gerade einmal dreiundzwanzig Minuten abgehandelt? Jawohl. Aber nicht einmal eine Woche später folgte die Parade am Decoration Day, und das war der eigentliche Beginn der Hundertfünfzigjahrfeier, wie mir später bewusst wurde. Noch später wurde mir klar, dass alles an diesem Tag begann. Alles, was sich im Laufe des Sommers aus seinen Fundamenten lösen würde, fing am Morgen der Parade leicht zu wackeln an. Damals hörte ich zum ersten Mal von Layla Beck, ich begann, meinen Vater infrage zu stellen, und als ich bemerkte, welche Lügen man mir auftischte, entschied ich, meine Kindheit hinter mir zu lassen. Natürlich habe ich mich seitdem gefragt, inwiefern mein Leben – und auch das meines Vaters und meiner Tante Jottie – anders verlaufen wäre, hätte ich an jenem Morgen beschlossen, zu Hause zu bleiben. Das bezeichnet man als das Rätsel der Geschichte, und es kann einen um den Verstand bringen, wenn man solche Gedanken zulässt.

Jottie und ich standen an jenem Morgen zusammen mit jedem anderen aus der Stadt dicht gedrängt auf dem Bürgersteig, um uns die Parade anzusehen. Gewöhnlich machte sie nicht viel her, die Parade am Decoration Day, sondern bestand lediglich aus verschiedenen grimmig dreinblickenden Kriegsveteranen und der Marschkapelle der Highschool. Aber in diesem Jahr, zu Ehren der Hundertfünfzigjahrfeier, hatte man uns eine besonders aufwändige Vorführung versprochen, ein echtes Spektakel. Und genau das bekamen wir geboten: Die Blaskapelle stimmte patriotische Melodien an, was für vier Trompeten nicht ganz einfach war und schreckliche Auswirkungen auf die Ponybrigade hatte. Die Veteranen marschierten vorüber, zwei spärlich gekleidete Mädchen wirbelten Tambourstöcke in die Luft, ganz genau wie in einer Parade im Film, bloß dass nur eines von ihnen die Stäbe wieder auffing. Wir hatten sogar einen Festzugswagen, die »Apfelprinzessin und ihre Blüten«, die von der Ladefläche eines Lasters herunterlächelte. Und dann kam der Bürgermeister, der aus seinem großen grünen Wagen winkte, und hinter ihm Mr. Parker Davies, der sich mit Schwert und Kniebundhose als General Magnus Hamilton verkleidet hatte, der Gründer von Macedonia, sodass mir eine Frage in den Sinn kam, die ich schon immer hatte stellen wollen. Ich stieß meine Tante Jottie an. »Wieso hat er die Stadt Macedonia genannt?«

Sie richtete ihre dunklen Augen auf mich. »Der General war ein großer Bewunderer der Makedonischen Tugenden.«

»Hä?« Das war mir neu. »Und was sind das, die Makedonischen Tugenden?«

»Sag nicht hä. Entschlossenheit und Hingabe.« Die Apfelprinzessin schunkelte vorüber. Es war Elsie Averill in einem weißen Kleid. Eine Dame, die direkt hinter mir stand, beugte sich vor, um besser sehen zu können, und mir stieg ein starker Hauch des Parfums Jungle Gardenia in die Nase.

Ich drückte mich dichter an Jottie. »Hatte er sie?«, fragte ich.

Jotties Augen folgten Elsie kurz. »Hatte er was?«, murmelte sie.

»Jottie!«, rief ich. »Hatte General Hamilton die Makedonischen Tugenden?«

»Der General?« Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Einmal hat der General einem Soldaten die Zehen abgehackt, um den armen Mann am Desertieren zu hindern. Sag du es mir, Willa: Ist das Entschlossenheit, Hingabe oder einfach nur blanker Wahnsinn?«

Ich betrachtete Mr. Parker Davies und stellte mir sein blutverschmiertes Schwert hoch erhoben vor, auf der Spitze einen kleinen Zeh aufgespießt. Das war Entschlossenheit, da war ich mir ziemlich sicher. »Habe ich sie?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Jottie lächelte. »Entschlossenheit und Hingabe? Die willst du haben?«

»Es sind Tugenden, nicht wahr?«, fragte ich.

»Ganz bestimmt. Mit Entschlossenheit, Hingabe und einem Fünfcentstück kannst du dir eine Tasse Kaffee im Pickus Café kaufen.«

Ich verzog das Gesicht, und sie lachte. Die Parade marschierte vorüber, machte kehrt und trottete die Prince Street zurück.

Ich überlegte, dass ich vielleicht mehr Glück in Sachen Hingabe hatte.

Die Handelskammer von Macedonia wendete und marschierte vorüber, acht Männer in völlig identischen hellbraunen Hüten und Mänteln. Sie sahen wie ein Satz gleicher männlicher Puppen aus, nur mit peinlich berührter Miene. Jottie lachte glucksend und ließ ihre kleine Flagge flattern. »Hurra!«, jubelte sie. »Ein Hoch auf unsere wackeren Männer von der Handelskammer!«

Alle außer einem taten so, als würden sie sie nicht hören. »Jottie?«, fragte der eine und wirbelte herum. Jottie sog scharf die Luft ein, und auf ihren Wangen erschienen zwei rosafarbene Flecken. Sie machte Anstalten, die Hand zu heben, ließ sie dann wieder sinken, überlegte es sich erneut anders und hob sie zu einem zaghaften Gruß. Das gab dem Mann Auftrieb. Er grinste jetzt wie verrückt und obwohl sich die Parade wieder in Bewegung setzte, rief er ihr zu: »Ich hatte gehofft, dich heute zu sehen, Jottie, ich habe mir gedacht, vielleicht könnte ich …«

Da stieß ein Mann von hinten mit ihm zusammen und er musste weitermarschieren, aber er drehte sich beim Gehen immer wieder um und winkte ihr zu.

»Wer war das?«, fragte ich. Da ich keine Antwort bekam, stupste ich sie an. »Wer war das, Jottie?«

»Sol«, sagte sie. »Sol McKubin.« Sie öffnete die Handtasche und kramte darin herum. »Heute Morgen war hier noch ein Taschentuch drin.«

Und damit wäre die Sache erledigt gewesen, wenn hinter mir nicht leises Lachen erklungen wäre. Es war Mrs. Jungle Gardenia. »Tststs, bloß gut, dass der alte Felix nicht hier ist«, johlte sie leise vor sich hin.

Was? Ich wirbelte herum, weil ich mich fragte, wer sie war und woher sie meinen Vater kannte.

Sie sah nicht wie jemand aus, den er kennen würde. Sie trug ein Kleid, das normalerweise nur junge Mädchen trugen, obwohl sie kein junges Mädchen mehr war, und ihr Gesicht war vor Puder ganz weiß. Als sie merkte, dass ich sie anstarrte, hob sie mehrmals die aufgemalten Augenbrauen. Ich drehte mich schnell wieder zu Jottie zurück.

»Jottie«, sagte ich und stieß sie erneut an. »Wer ist Sol McKubin?«

»Ist das dort auf der anderen Straßenseite Miss Kissining?« Jottie warf einen Blick auf den gegenüberliegenden Bürgersteig. »In dem getupften Kleid?«

Ich sah hin. Es war genauso wenig Miss Kissining, wie es das Lindbergh-Baby war. »Bist du blind, Jottie?«, setzte ich spöttisch an, wurde aber von der Blaskapelle übertönt, die ein letztes Mal »The Battle Hymn of the Republic« aufspielte. Die Parade war zu Ende.

Das war für mich in Ordnung. Der Teil, den ich am liebsten mochte, stand ohnehin noch bevor. Ich ergriff Jotties Hand, und wir segelten den Marschierenden hinterher.

Es war wie eine zweite Parade, wenn ganz Macedonia auf der Prince Street herumlief und sich dem eigentlichen Spektakel des Tages hingab: einander etwas zuzurufen, stehen zu bleiben und sich zu unterhalten, sich in kleinen Trauben zu versammeln und die eigene Meinung über die Ponys, die Tambourstöcke, den Umzugswagen und das Auto des Bürgermeisters kundzutun. Ich spazierte sehr gern mit meiner Tante Jottie auf der Straße. Wenn ich allein unterwegs war, war ich ein Kind, und Erwachsene ignorierten mich dementsprechend. Manchmal hielten sie mich natürlich an, um mir gut gemeinte Ratschläge zu geben – Binde dir die Schnürsenkel, damit du nicht hinfällst und dir die Zähne ausschlägst! –, aber größtenteils war ich nichts als ein Wurm im Dreck. Nicht würdig, Beachtung zu finden, wie es in Büchern gerne heißt. Doch wenn ich mit Jottie zusammen war, war es ganz anders. Erwachsene grüßten mich höflich, und das gefiel mir. Das war richtig nett. Aber das Beste, das Allerbeste daran, mit Jottie untergehakt durch die Stadt zu spazieren, war, ihr zuzuhören, wie sie im Vorbeigehen die Geschichte eines jeden Mannes, einer jeden Frau, eines jeden Hundes und jeden Blumenbeets erzählte, seitlich aus dem Mundwinkel, sodass nur ich es hören konnte. Das waren für mich Momente des höchsten Glücks. Warum? Ganz einfach: Wenn Jottie mir diese Geheimnisse anvertraute, machte sie mich zu etwas Besserem als nur einer zeitweiligen Erwachsenen. Sie machte mich zu ihrer Vertrauten.

Während wir so die Straße entlangschlenderten, begegneten wir Mr. Tare Russell in seinem Rollstuhl. Eigentlich war Mr. Russell nicht alt, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm, und er musste mit einer Decke über den Knien durch die Stadt geschoben werden. »Jottie Romeyn!«, rief er, als er uns erblickte. »Komm mal her, damit ich meine Augen an dir weiden kann!« Dann wackelte er mit dem Finger, damit sein schwarzer Bediensteter den Rollstuhl schneller schob. Es wirkte falsch. Der arme Mann sah viel älter und gebrechlicher aus als Mr. Russell.

»Tare!«, sagte Jottie. »Was führt Sie hierher? Sie sind doch noch nie bei der Parade gewesen!«

»Bürgerpflicht«, erwiderte Mr. Russell. »Was für ein Mensch würde sich die Parade zu Macedonias Hundertfünfzigjahrfeier entgehen lassen?«

Jottie grinste. »Eben die Frage habe ich mir selbst auch gestellt, Tare, den ganzen Vormittag über. Wie haben Ihnen die ›Apfelprinzessin und ihre Blüten‹ gefallen?«

Er antwortete nicht. Ganz im Gegenteil, er fiel ihr beinahe ins Wort, so schnell redete er. »Ich dachte, Felix würde zusammen mit den Veteranen marschieren. Ist er aber nicht. Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Felix ist geschäftlich verreist«, sagte Jottie.

»Er ist schon die ganze Woche weg«, fügte ich hilfreich hinzu.

»Geschäftlich«, wiederholte Mr. Russell, indem er die Lippen schürzte. »Tja. Felix arbeitet wie ein alter Gaul, nicht wahr?« Auf einmal drehte er den Kopf und funkelte mich an. »Richte ihm bei seiner Rückkehr aus, er soll seine alten Freunde nicht vergessen. Richte das deinem Daddy aus, ja?«, fuhr er mich an.

Ich wich einen Schritt zurück. »Ja, Sir.«

Jotties kleine Hand schloss sich um meine. »Natürlich machen wir das!«, erwiderte sie fröhlich. »Das sagen wir Felix gleich als Allererstes!«

Mr. Russell wackelte wieder mit den Fingern. »Bring mich nach Hause«, blaffte er seinen alten schwarzen Diener an. »Oder willst du mich wie ein Spiegelei braten?«

Wir sahen ihm nach, und Jotties Hand drückte meine. »Machen wir einen Schaufensterbummel«, schlug sie vor. »Tun wir so, als hätte jede von uns zehn Dollar und wir müssten sie heute Nachmittag ausgeben, sonst wäre alles weg.«

Gesagt, getan. Wir stritten gerade darum, ob ich mir zwei ihrer imaginären Dollar für ein rosafarbenes Seidenkleid ausleihen durfte, als wir Marjorie Lanz begegneten. Sie wohnte in unserer Straße und redete wie ein Wasserfall. »Wie geht’s, Jottie?«, rief sie aus Vogels Schuhladen. »Sieh dir mal diese Sandalen an.« Sie kam heraus, einen großen gelben Schuh in der Hand. »Wie hat dir die Parade gefallen, ich fand, Elsie sah richtig hübsch aus, die Rotarier könnten frisches Blut gebrauchen, meinst du nicht auch? Wo sind Mae und Minerva? Oh, hi, Süße«, sagte sie, als sie mich erblickte. »Bist du nicht einfach goldig?«

Ich war zu alt, um goldig zu sein, nickte aber aus purer Höflichkeit.

Jetzt ließ sie den Schuh hin und her schwingen. Mr. Vogel stand nervös in der Tür und wartete darauf, sie zu packen, falls sie mit seiner Sandale verschwinden sollte. Marjorie plapperte weiter. »Wie ich gehört habe, bekommst du einen neuen Pensionsgast, Jottie, das ist schön, bei den vielen leeren Zimmern, die du hast.« Ich warf Jottie einen Blick zu. Es war das erste Mal, dass ich von einem neuen Pensionsgast hörte. »Wen bekommst du denn überhaupt, Jottie? Hoffentlich keinen solchen Waschlappen wie den unglaublichen Wilson, keine Ahnung, wie du den Mann ausgehalten hast, ist es jemand Nettes?« Sie hielt inne und sah Jottie erwartungsvoll an. Mr. Vogel tat es ihr gleich. Ich auch.

Einen Augenblick betrachtete Jottie Marjorie Lanz, und dann beugte sie sich dicht zu ihr. »Mein neuer Pensionsgast ist Mitglied des Repräsentantenhauses in der Regierung der Vereinigten Staaten«, murmelte sie. Sie sah Mr. Vogel argwöhnisch an. »Das ist alles, was ich sagen darf.«

»Ooooh!« Marjorie umklammerte die Sandale. »Es ist ein Geheimnis?«

Jottie nickte bedauernd, als wünschte sie, sie könnte mehr erzählen, und wandte sich an Mr. Vogel. »Das ist eine hübsche Sandale, die Sie da haben, Mr. Vogel. Gibt es die auch in Blau?« Er schüttelte verneinend den Kopf. »Wie schade! Tja, Marjorie, Willa und ich sollten uns besser auf den Weg machen. Wir müssen das Zimmer für diesen neuen Pensionsgast entrümpeln. Die Regierung der Vereinigten Staaten schätzt Durcheinander überhaupt nicht.« Sie sah mich an. »Sie haben es gern wie aus dem Ei gepellt. Nicht wahr, Willa?«

Aus reiner Loyalität nickte ich und wartete, bis wir Vogels Schuhladen weit hinter uns gelassen hatten, bevor ich fragte: »Kriegen wir wirklich einen neuen Pensionsgast?«

»Ja, Ma’am«, antwortete Jottie.

»Gehört er wirklich der Regierung an?«

Sie lächelte. »Nein. Denn es ist kein Er.«

»Eine Dame?«

»Ja. Eine Dame.«

»Eine Dame in der Regierung?«

Jottie hob eine Augenbraue. »Das klingt, als würdest du meine Worte anzweifeln.«

»Tu ich nicht«, erwiderte ich langsam. »Aber wieso habe ich nichts davon gewusst?«

Sie streckte die Hand aus, um mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. »Ich dachte, das wüsstest du. Hast du nicht gesehen, wie ich all die Sachen aus dem Wandschrank geräumt habe? Du hast direkt davor auf dem Bett gesessen.«

Ich versuchte, mir die Szene ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang mir nicht. Wahrscheinlich hatte ich gelesen.

Ich las fast immer.

Mir kam der Gedanke, dass ich furchtbar viel davon verpasste, was um mich herum vor sich ging. Die alberne Marjorie Lanz wusste mehr über mein Leben als ich. Sogar stinkende, eingepuderte Damen auf der Straße schienen Dinge über meinen eigenen Vater zu wissen, von denen ich nicht den blassesten Schimmer hatte. Das war geradezu erniedrigend, wenn ich es mir recht überlegte. War ich bloß ein Kleinkind, dazu verurteilt, in umnachteter Unwissenheit zu leben? Nein! Ich war ein Mensch, ein ganzer Mensch, und ich hatte ein Recht, Dinge zu wissen!

»Du hättest es mir sagen sollen«, mäkelte ich an Jottie herum.

Sie tätschelte mir die Wange. »Wenn du Dinge wissen willst, mein Schatz, dann musst du anfangen achtzugeben. Du musst Augen und Ohren offen halten.«

Ich klappte den Mund auf, um zu sagen: Aber ich bin deine Vertraute! Dann schloss ich ihn wieder. Vielleicht war ich doch nicht Jotties Vertraute. Vielleicht hielt ich mich nur dafür. Ich dachte nach. Da war der Mann in der Parade, Mr. McKubin, derjenige, der Jottie zum Erröten gebracht hatte – sie hatte mir nicht das Geringste über ihn anvertraut. Sie hatte noch nicht einmal meine Frage zu ihm beantwortet, weil sie durch Miss Kissining abgelenkt worden war. Es sei denn – überrascht sah ich Jottie an –, es war vielleicht gar kein Versehen gewesen. Vielleicht hatte sie es absichtlich getan, um mich abzulenken!

Ha!

Der Vormittag war voller unbeantworteter Fragen gewesen. Wenn nicht gar Rätseln. »Bloß gut, dass der alte Felix nicht hier ist.« Was hatte das zu bedeuten? Und Mr. Russell – warum war er so wütend geworden, als wir sagten, Vater sei verreist? Und wer genau war dieser neue Pensionsgast, der für die Regierung arbeitete? Es wimmelte an Rätseln, und das größte war, warum mir Jottie von keinem einzigen erzählt hatte.

Man hatte mich hintergangen.

Ich hatte geglaubt, Jotties getreue Beraterin zu sein, die Vertraute ihrer innersten Gedanken. Aber das war ich nicht. Man hatte mich getäuscht. Im Dunkeln gelassen. Eingelullt und abgelenkt. Aber Schluss damit! Ich traf die Entscheidung, mich zu ändern. Auf der Stelle schwor ich mir achtzugeben, Dinge herauszufinden und jene Wahrheiten zu ergründen, die Erwachsene zu verbergen versuchen. Ich werde Bescheid wissen, versprach ich mir. Ich werde allem auf den Grund gehen. Und zwar ab sofort.

Ich spannte gerade die Kieferpartie an, da spürte ich, dass jemand an meinem Ärmel zupfte. Es war Bird, deren Locken vor Schweiß am Kopf klebten. »Diese Trudy Kane wird wieder tanzen. Ich will es mir ansehen, und Mae sagt, sie trifft der Schlag, wenn sie sich Trudy Kane noch ein einziges Mal ansehen muss, also musst du mitkommen.« Bird versuchte, sich selbst Stepptanz beizubringen, indem sie es sich von Miss Trudy Kane abschaute. Sie konnte schon auf einer Waschwanne einen Buffalo steppen. Nachdrücklich zerrte sie an meinem Arm. »Na los!«

Ich warf Jottie einen Muss-ich-wirklich-Blick zu. Sie nickte.

»Ich begreife nicht, wie ich Augen und Ohren offen halten soll, wenn ich jeden vermaledeiten Moment meines Lebens Bird hinterherlaufen muss«, sagte ich verbittert.

Jottie spähte gerade in die Schaufenster von Krohns Kaufhaus, drehte sich dann aber grinsend zu mir um. »Was du brauchst, ist ein bisschen Makedonische Tugend«, sagte sie. »Bring einfach etwas Entschlossenheit und Hingabe auf, dann wirst du mehr herausfinden, als du je wissen wolltest.« Sie wandte sich erneut den Schaufenstern zu.

Bird zerrte wieder an mir, aber ich stand stocksteif da. Jottie hatte recht. Makedonische Tugenden waren genau das, was ich brauchte.

2

17. Mai 1938

Rosy,

entschuldige – kann nicht zum Mittagessen kommen. Vater auf Kriegspfad: Nelson, Faulpelz, Armenhaus et cetera. Redet ominös von Arbeit. Muss zu Hause bleiben und Strümpfe stricken, um guten Eindruck zu machen.

In Liebe, Layla

Ben,

Layla braucht Arbeit. Kann ich sie zu dir schicken?

Herzlichst

Gray

19. Mai 1938

Senator Grayson Beck

Senatsbüro

Washington, D.C.

Lieber Gray,

nein.

Herzliche Grüße

Ben

20. Mai 1938

Mr. Benjamin Beck

WPA/Federal Writers Project

1734 New York Ave. NW

Washington, D.C.

Lieber Ben,

deine Antwort enttäuscht mich. Sie offenbart einen Mangel brüderlicher Bande und ein unsäglich schlechtes Gedächtnis. Erinnere dich bitte, Ben. Erinnere dich an 1924. Ich hätte nicht gedacht, es wäre jemals nötig, dir die Zeit, das Geld und den guten Ruf ins Gedächtnis zu rufen, die ich deinetwegen und ohne jedes Zögern während jenes Sommers aufs Spiel gesetzt habe, doch anscheinend habe ich mich geirrt. Vielleicht verklärst du die Gefängniszelle in deinen Erinnerungen oder du glaubst, der Richter hätte sich von deinen hehren Idealen milde stimmen lassen. Mach dir nichts vor. Du schuldest mir etwas.

Wann soll ich sie zu dir schicken? Dienstag um zwei?

Gray

21. Mai 1938

Senator Grayson Beck

Senatsbüro

Washington, D.C.

Lieber Gray,

Dienstag zwei Uhr passt gut. Welche Arbeit soll ich ihr geben?

Ben

23/5/38

Ben,

es ist mir völlig gleich, welche Arbeit du ihr gibst. Sie soll aus meinem Haus verschwinden und mir nicht länger auf der Tasche liegen.

Herzlichst

Gray

Telegramm

23. Mai 1938

Charles: Treffen heute um 23:32, bitte. Müssen reden. Echte Notlage. Nur eine mögliche Lösung. In Liebe, Layla

25. Mai 1938

Layla,

es tut mir leid, dass du bei unserem Abschied geweint hast. Tränen verunstalten dich. Nicht dein Gesicht – ich erachte deine Schönheit als das geringste deiner Attribute –, sondern deinen Geist und deine Seele. Dir graut vor der Arbeit. Du fürchtest sie, aber diese Angst entspringt dem Irrglauben deiner Klasse. Arbeit ist etwas Nobles. Sie verleiht dir Würde, erhebt deinen Geist. Ich kann mir kein besseres Schicksal für dich vorstellen, als dass du aus erster Hand die transzendenten Auswirkungen der Arbeit erfährst. Du, die du die Plattitüden und Oberflächlichkeit deiner Klasse mit deiner Muttermilch aufgesogen hast, kannst die Vorurteile, die dein Wesen durchdringen, nur ausrotten, indem du gemeinsame Sache mit den arbeitenden Männern und Frauen dieses Landes machst. Liefere dich auf Gedeih und Verderb der Arbeit aus, Layla. Ein anfänglicher Schock mag zu erwarten sein, aber nach einer Weile wirst du wahre Erquickung in dem herzlichen Handschlag schwieliger Finger erfahren, in der Arbeit Nahrung für deinen brachliegenden Verstand und ein würdiges Gegenstück zu deiner ungestümen Gefühlswelt finden. Während du dich aus der Asche deines degenerierten Lebens erhebst, wirst du deine banalen Hochzeitsträume als das erkennen, was sie in Wahrheit sind: eine bourgeoise Farce, ein prunkvolles Ritual, das keinen Platz in der Zukunft eines Arbeiters hat.

Für den Fall, dass du, mit deinem Talent für vorsätzliches Missverstehen, meine Worte unklar finden solltest: Meine Antwort lautet Nein. Und leb wohl.

Charles

27. Mai 1938

Mr. Benjamin Beck

WPA/Federal Writers Project

1734 New York Ave. NW

Washington, D.C.

Lieber Ben,

lass uns für einen Moment innehalten und diese Sache in aller Ruhe diskutieren, nur wir zwei, ohne Vaters glühende Peitsche, die über unseren Köpfen knallt. Ben, ich weiß nicht, was Vater gegen dich in der Hand hat, aber es muss etwas sehr Schlimmes sein, wenn es dich dazu bewegt, mich einzustellen – und noch dazu bei der WPA. Hast du jemanden umgebracht? Selbst wenn, muss es einen besseren Weg geben, deine Verbrechen zu sühnen, als mich in dieses Schriftstellerprojekt, das Federal Writers Project, aufzunehmen, was an sich schon an ein Verbrechen grenzt. Ich verstehe natürlich, dass du mir irgendeine Art Arbeit geben musst, wenn Vater dir den Arm verdreht. Das verstehe ich, und du hast mein Mitgefühl. Aber bedenke bitte: Vater wäre vollkommen zufrieden, solltest du mir einen netten, kleinen Sekretärinnenposten verschaffen, und dasselbe trifft auf mich zu. Indem du mir vorübergehend eine Arbeit in deinem Büro zuweist, würdest du Vaters Bedingungen erfüllen, und dein Arm würde wieder ganz dir gehören. Es gibt keinen Grund, gleich bis zum Äußersten zu gehen. Ich meine damit West Virginia. Mich nach West Virginia zu schicken, ist äußerst extrem.

Ganz zu schweigen von provokant.

Speichelleckerisch.

Und gemein.

Gestern Nachmittag, als der erste Schock, den ich durch deinen Brief erlitten hatte, abflaute, begab ich mich zur Bibliothek, um mich über dieses Projekt zu informieren (Siehst du? Ich weiß, wo sich die Bibliothek befindet), und fand heraus, dass deine Argumente für West Virginia (Staatsblume: der Rhododendron) ein Fehlschluss sind. Ja, ich wurde in Washington, D.C., geboren, aber es ist lächerlich zu behaupten, ich sei verpflichtet, in dem Staat zu arbeiten, der meinem Geburtsort am nächsten ist. Du hast dir das ausgedacht, und das weißt du so gut wie ich.

Kennst du das Motto von West Virginia? Es lautet Montani semper liberi: Bergbewohner sind immer frei. Muss ich mehr sagen? Du und Vater, glaubt ihr wirklich, dass ich mich in ein rotbackiges, gesundes Mädchen in Kniestrümpfen verwandle, das über Bergeshöhen wandelt, bloß weil ihr mich in diesen Gebirgsstaat schickt? Ihr seid verrückt. Ihr werdet mich in die Trunksucht treiben, und in West Virginia ist der Alkohol wahrscheinlich schwarzgebrannt, weshalb er meine Innereien zersetzen und mich erblinden lassen wird.

Ich werde nicht nur unglücklich sein, sondern auch schrecklich. Ich werde die schlechteste Mitarbeiterin in der Geschichte des Writers Projects sein, und das schließt die siebzigjährige, morphinabhängige Stalinistin ein, von der du mir einmal erzählt hast. Kannst du dir vorstellen, wie ich die Farmersfrauen und Grubenarbeiter interviewe? Taktvoll Fragen über Badegewohnheiten und Kopfläuse stelle? Schweine und Hunde und Babys zähle? Ganz ehrlich, Ben, sie werden mich erschießen, und ich könnte es ihnen nicht einmal verübeln.

Bitte überdenke deine Entscheidung. Du bist mein Onkel. Eigentlich müsstest du mich verhätscheln, und ich sollte der Sonnenschein deines einsamen Junggesellendaseins sein. Womöglich bin ich in letzter Zeit meinem Teil dieser Abmachung nicht zur Genüge nachgekommen, aber gib mir noch eine Chance. Erfüll mir noch einen letzten Wunsch: Zieh mich vom West-Virginia-Projekt ab und gib mir einen Job in deinem Büro, und ich schwöre, ich werde die beste Sekretärin, die du je hattest. Ich werde Punkt acht in deinem Büro erscheinen (morgens!). Ich werde mir die Finger wund tippen. Ich werde am Telefon ein Inbegriff an Charme sein. Ich werde über ernste Themen nachdenken. Ich werde dir zu Ehre gereichen.

Aber schick mich nicht nach West Virginia.

Bitte.

Deine dich liebende und für gewöhnlich gehorsame Nichte

Layla

28. Mai 1938

Layla,

ist dir bewusst, dass fast ein Viertel aller erwerbsfähigen Einwohner dieses Landes keine Arbeit hat? Ist dir bewusst, dass ich jede Woche Dutzende Briefe fleißiger, gebildeter Männer und Frauen erhalte, die mich anflehen, ihnen eine Stelle, irgendeine Stelle in dem Projekt zu geben?

Diese Menschen sind verzweifelt, Layla. Sie sind schon so lange arbeitslos, dass sie vergessen haben, wie sich Arbeit anfühlt, sie haben alles, was sie jemals besaßen, für einen Apfel und ein Ei verkauft, sie gehen hungrig zu Bett – psychisch, wenn sie Glück haben, physisch, wenn nicht – und sie wachen hungrig wieder auf. Sie tragen seit vielen Jahren dieselbe Kleidung und wischen sie jeden Abend mit einem Schwamm ab, denn würden sie sie auf einem Waschbrett schrubben, würde der Stoff zerfallen. Ihre Kinder sind krank, weil sie nicht genug zu essen bekommen, und sie sind dreckig, weil sie sich nicht waschen können. Es sind Menschen, die niemals geglaubt hätten, betteln zu müssen, und dennoch tun sie es jetzt und flehen mich um eine Stelle an, die ihnen nicht genügend Geld einbringt, um sich den Bauch mit Essen vollzuschlagen.

Es gibt eine freie Stelle bei unserem Projekt in West Virginia. Ich habe dir diesen Posten wider besseres Wissen verschafft. Sei dankbar oder fahr zur Hölle.

Ben

30. Mai 1938

Miss Layla Beck

c/o Mr. Lance Beck

Fakultät für Chemie

Princeton University

Princeton, New Jersey

Liebste Layla,

ich muss sagen, es ist sehr rücksichtslos von dir, einfach wegzulaufen, um dich an Lance’ Schulter auszuweinen, während ich hier mit Papa zurechtkommen muss, wo er in einer solchen Verfassung ist, und ich hoffe schwer, du hattest kein Rendezvous mit diesem schrecklichen Charles Antonin, denn Papa wird es herausfinden und noch wütender werden, als er sowieso schon ist. Nichts, was ich sage, rührt ihn auch nur im Geringsten, und so leid es mir tut, du musst wohl Bens schäbige, kleine Stelle annehmen. Ich weiß, was du denkst – und stell dir nur meine Gefühle bei der Vorstellung vor, dich inmitten all dieser verdreckten Grubenarbeiter zu wissen –, aber Papa rückt leider kein Stück von seiner Meinung ab, Liebling. Er sagt, solltest du Nelson nicht heiraten – ich halte dir jetzt keine Standpauke, ich wiederhole nur Papas Worte –, dann wirst du dich der harten Realität stellen müssen. Ich habe ihn angefleht und ihm versichert, dass du dir gewiss Hühneraugen zuziehen wirst, aber das hat Papa nur noch wütender gemacht. Er sagte, es sei an der Zeit, dass du begreifst, was du weggeworfen hast, und wenn es Hühner bedürfe, dir die Augen zu öffnen, sei das für ihn in Ordnung (ich habe Papa nicht darauf hingewiesen, aber ich glaube, dass Hühneraugen nichts mit Hühnern zu tun haben).

Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass meine eigene Tochter einmal auf staatliche Unterstützung angewiesen sein würde. Ich könnte Ben erwürgen.

Deine dich liebende

Mutter

PS: Lucille hat Nelson am Samstag bei den Bicks gesehen. Sie meinte, er habe schrecklich ausgesehen, todunglücklich und abgemagert. Du kannst einen Mann nicht unaufrichtig nennen, wenn er so viel Gewicht verloren hat. Lass dir das durch den Kopf gehen, junge Dame!

6. Juni 1938

Miss Rose Bremen

»The Waves«

Gurney Street

Cape May, New Jersey

Liebste Rose,

dein Brief kam wie der königliche Gnadenerlass, kurz nachdem der abgetrennte Kopf ins Stroh gefallen war. Vielen Dank für das liebe Angebot, aber die Würfel sind gefallen, und ich werde nächsten Dienstag nach Macedonia, West Virginia, reisen, um dort meine Stelle beim Federal Writers Project anzutreten. Ich habe gestern den Offenbarungseid geleistet und beziehe nun offiziell staatliche Unterstützung.

Ich kann dir nicht sagen, wie es letztlich dazu gekommen ist, denn ich verstehe es selbst nicht, wirklich nicht. Ich bin schon seit Jahren ein frivoler Mensch, und Vater hat sich in der Vergangenheit nie daran gestört. Wenn überhaupt schien er sich über meinen Erfolg zu freuen: Einmal bekam ich zufällig mit, wie er großspurig prahlte, dass ich zu jeder Party von den Adirondacks bis zu den Appalachen eingeladen werde. Alles war schön undgut, bis Nelson auf der Bildfläche erschien, und auf einmal hat sich das Blatt gewendet. Beide, Mutter und Vater, sprachen sich mit Vehemenz dafür aus, dass ich ihn heirate. Anfangs dachte ich, sie scherzten. Jeder Blinde sieht, wie ausgenommen schrecklich er ist – und das wussten sie. Sie wussten es, und es kümmerte sie nicht. Nelson! Er ist der Citronella-Sprössling und extrem reich, aber gleichzeitig eingebildet und langweilig und oberflächlich wie ein Tautropfen. Dieses wiehernde Lachen, dieser winzige Schnurrbart – lieber würde ich einen Aal küssen. Sein größter Lebenstraum ist, mit Errol Flynn verwechselt zu werden. Nach gerade einmal zehn Minuten in Nelsons Gegenwart habe ich ihn verabscheut, und würde Nelson auch nur eine Sekunde an jemand anderen als sich selbst denken, würde dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich war überzeugt, Mutter und Vater wüssten, welch eine Katastrophe er ist, und als er um meine Hand anhielt, glaubte ich, wir würden gemeinsam in herzliches Gelächter ausbrechen. Wie falsch ich lag! Sie wollen, dass ich ein braves Mädchen bin und Ja sage. Vater war vom Glanze Citronellas geblendet (er will nächstes Jahr wieder kandidieren) und Mutter war von Vater geblendet, und Lance weigert sich erbittert, sich mit solchen Trivialitäten zu befassen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und als Vater auf einer Erklärung bestand, geriet ich in Panik und beging einen verhängnisvollen Fehler: Ich behauptete, ich könne keinen Mann respektieren, der nicht arbeitet. Im selben Moment, als mir die Worte über die Lippen kamen, wünschte ich, ich könnte sie ungeschehen machen. Vaters Gesicht wurde knallrot – ich fürchtete, er würde einen Schlaganfall erleiden –, und wahrscheinlich hörte man ihn bis zum Capitol Hill. Ohne Punkt und Komma schwadronierte er über Menschen, die im Glashaus sitzen, und den Inbegriff eines Faulpelzes und Nichtsnutzes, der seinen Eltern nichts als Kummer und Leid bringe. Und das war nur der Anfang. Sobald er richtig in Fahrt kam, ging es weiter mit: jeder ist seines Glückes Schmied, Zeitungsjungen im Schnee, Abraham Lincoln und Brother, Can You Spare a Dime? und Oklahoma und Wanderarbeitern in Ford Model-Ts, bis ich die Nerven verlor und kreischte, dass ich mir eine Arbeit suchen und eine unabhängige Frau werden würde und Vater darauf einen Besen fressen könne.

Oh, es wird noch schlimmer! Nachdem Vater wutentbrannt aus dem Haus gestürmt war, entschied ich, er würde, wenn ich mich in nächster Zeit nur schön ruhig verhielte, alles bald vergessen haben, genau wie immer. Und so bin ich einer Närrin gleich nach New York gefahren und als ich zwei Tage später wieder zu Hause eintrudelte, eine liebevolle elterliche Begrüßung erwartend, knurrte Vater: »Du hast um zwei ein Vorstellungsgespräch bei Ben.« Du erinnerst dich an Ben, nicht wahr? Vaters möglicherweise sozialistischen jüngeren Bruder, der irgendein hohes Tier bei der WPA ist. Offensichtlich hatte Vater das, was ich für eine Waffenruhe hielt, als Chance genutzt, um die Messer zu wetzen, und bevor ich michs versah, befand ich mich in Bens Büro und bewies einer gelangweilten Bürohilfe meine Lese- und Schreibfähigkeit, indem ich aus der Zeitung vorlas. Im Nachhinein weiß ich, dass ich mich einfach hätte dumm stellen müssen, aber das habe ich nicht, und wie du weißt, bin ich ein Ass auf der Schreibmaschine. Am Ende des Nachmittags war ich recht beeindruckt von mir selbst. Na schön, dachte ich. Ich werde es ihnen zeigen. Ich werde Bens Sekretärin. Ich konnte es bildlich vor mir sehen – ich wäre eine dieser dekorativen Sekretärinnen, du weißt schon, wen ich meine, in einem eleganten schwarzen Kleid mit gestärkten weißen Organdy-Manschetten, die über meine perfekt manikürten Finger fallen, während ich die Post durchgehe, der Inbegriff von Kompetenz. »Ich weiß nicht, wie ich ohne sie ausgekommen bin«, würde Ben liebevoll zu Vater sagen, der ebenso liebevoll erwidern würde: »Wie konnte ich jemals dem Irrglauben verfallen, sie mit dieser abscheulichen Kanaille Nelson zu verheiraten? Sie hatte recht und ich unrecht.«

Den Rest kennst du. Ich hatte keine Wahl, Rose. Ich musste den Job annehmen. Vater hat mir tatsächlich den Geldhahn zugedreht, und es gibt tatsächlich eine Wirtschaftskrise. Arbeit ist rar, und ich kann exakt sechsundzwanzig Dollar mein eigen nennen. Was sollte ich tun? Mutter meint, er wird an Weihnachten nachgeben, aber bis dahin sind es noch viele Monate. Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll – in der brütenden Hitze Macedonias, West Virginia, herumzulaufen und die Geschichte einer Stadt voller zahnloser alter Hinterwäldler aufzuschreiben. Ich kann es schon hören: »Irgendwann ’95 oder ’96 sin’ die Kühe an Würmern gestorb’n, und wir hatten zehn Jahre nich’ das kleinste Stück Fleisch, und alle Kinder hab’n Rachitis bekomm’n …« Ich verstehe nicht, warum die Regierung Aufzeichnungen über diese Leute will, das verstehe ich wirklich nicht.

Und das Schlimmste ist, Vater ist immer noch so wütend, dass ich von meinem Gehalt leben muss, was bedeutet, ich muss zur Untermiete in einem winzigen, schäbigen Zimmer in einem Haus wohnen, das einer »ehrenwerten Familie von Macedonia« gehört. Das Haus und die ehrenwerte Familie sind vermutlich mit einer Schicht Kohlenstaub überzogen, und ich werde innerhalb weniger Wochen vor Hunger sterben oder mir Läuse einfangen. Du solltest diesen Brief bei meiner Beerdigung vorlesen – vom Jenseits aus werde ich zusehen, wie sich Vater vor Schmerz windet, was aber gleichzeitig bedeutet, dass ich dann wahrscheinlich in der Hölle schmore. Nach Macedonia werde ich mich dort allerdings wie zu Hause fühlen.

Da gibt es noch ein Letztes, was ich dir nicht erzählt habe: Die Sache mit Charles ist aus und vorbei. Schick mir bitte keinen Kondolenzbrief. Das könnte ich nicht ertragen.

In Liebe, Layla

PS: In der Hitze des ersten Streitgesprächs hat mich Vater ein »Geschwür der Gesellschaft« genannt. Ist dir jemals etwas Ungerechteres zu Ohren gekommen? Den ganzen Frühling habe ich Waschlappen für die Bedürftigen genäht und an jedem letzten Donnerstag des Monats den Witwen der Konföderation erbauliche Literatur vorgelesen. Wie kann ich ein Geschwür sein?

13. Juni 1938

Lieber Charles,

nun da ich Teil des Proletariats bin, denkst du nicht, du könntest …

13. Juni 1938

Mein lieber Charles,

vergangene Woche habe ich den Offenbarungseid geleistet – und das ganz ohne lügen zu müssen. Kurz gesagt, Vater hat mich in einem Anflug von Zorn enterbt. Ich besitze keinen einzigen Penny und trete morgen meine Stelle für das WPA Writers Project an. Das ist dieses Schriftstellerprojekt, bei dem man staatliche Unterstützung, also Fürsorge (!) dafür bezieht, dass man die Geschichte irgendeines amerikanischen Nests aufschreibt. Nichts weiter als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der Krise. Ich muss Dorfbewohner in West Virginia interviewen. Nun da ich ein Teil deines geliebten Proletariats bin (zumindest denke ich, dass ich es bin), wirst du vielleicht die Bedingungen meiner Verbannung überdenken diese Quarantäne vielleicht wirst du mich dann wiedersehen vielleicht wirst du deine Meinung ändern vielleicht könnten wir …

13. Juni 1938

Lieber Nelson,

ich muss dir einfach diese lustige kleine Geschichte erzählen: Du kennst unser Dienstmädchen, Mattie? Heute Morgen hat sie dein Porträt abgestaubt – es steht auf meiner Kommode –, und sie meinte dabei: »Ich verstehe nicht, was er an dieser dürren Olivia de Havilland findet.« Ich war völlig verdutzt – bis ich erkannte, dass sie dich mit Errol Flynn verwechselt hat! Ist das nicht süß?

Es ist eine Ewigkeit her, seit Mutter und Vater habe dich vermisst du warst schon lange nicht mehr hier, um deine arme, kleine Layla

14. Juni 1938

Lieber Bruder,

es ist drei Uhr vierzehn, und ich bringe es nicht über mich, ins Bett zu gehen. Sobald ich mich hinlege, steht nichts mehr zwischen mir und meinem Schicksal. Mein abscheulicher Koffer ist gepackt, zusammen mit meiner abscheulichen Hutschachtel und dem abscheulichen Schrankkoffer. Mattie hat mein weißes Kostüm für den Zug gebügelt, und es hängt über meinem Stuhl, wo es unübersehbar im Vollmond glitzert. Es war ein schrecklicher Abend. Mutter bestand darauf, zu Hause zu essen, nur wir drei, aber Vater spricht immer noch kein Wort mit mir, und ich war zu bedrückt, um einen Bissen hinunterzubekommen, weshalb Mutter unentwegt über irgendetwas plapperte – Azaleen? Morgenmäntel? –, und das eine geschlagene Stunde lang. Sobald Vater das letzte Stück Schinken im Mund hatte, sprang er auf und machte sich aus dem Staub – wobei er mir im Hinausgehen den Kopf tätschelte. Am liebsten hätte ich wie ein Baby geweint.

Oh, Lance, ich werde vollkommen allein sein, und das war ich noch nie. Selbst als ich damals in Miss Telts Mädchenpensionat geschickt wurde, wussten alle, wer ich bin – Senator Becks Tochter. Ich glaube nicht, dass das in den Suhlen von Macedonia, West Virginia, großen Eindruck schinden wird. Wie soll ich wissen, was ich zu tun habe?

In Liebe, Layla

PS: Könntest du deinem Herzen nicht doch noch einen Ruck geben und mich bei dir aufnehmen? Bitte, Lance? Ich habe über alles, was du gesagt hast, nachgedacht, und ich weiß, dass du bei vielem recht hast, aber ich bin sicher, dass ich mich unter deiner brüderlichen Anleitung bessern würde. Du könntest mein Vorbild sein. Bitte?

3

In späteren Jahren erklärte Bird, sie habe von Anfang an gewusst, dass Layla Beck Ärger bedeuten würde. »Vom ersten Moment an«, eröffnet Bird dann, einen Finger in die Luft gestreckt, »wusste ich, dass sie ein Vorbote drohenden Unheils war.« Gelegentlich redet meine Schwester wie ein alter Mann.

Ich für meinen Teil kann das nicht behaupten. Ich war nicht bei Bird, als sie Layla Beck zum ersten Mal sah. Ich lag mit dem Gesicht im Rinnstein, mit Reifenspuren in den Kniekehlen, was Bird als Beweis erachtet, dass Layla Beck ein Vorbote drohenden Unheils ist, und ich sage, es ist ein Beweis, dass Bird ein Stinktier ist.

Wir waren zum Bahnhof geschickt worden, um Miss Beck willkommen zu heißen und ihr den Weg zu uns zu zeigen. Wäre sie mit dem 10:43er oder dem 12:10er oder dem 17:25er gekommen, wären Bird und ich gewiss nicht wichtig genug gewesen, um ihr Begrüßungskomitee zu bilden. Unsere drei Tanten – Jottie, Minerva und Mae – wären höchstpersönlich in ihrem Sonntagsstaat gegangen. Aber Miss Layla Beck kam mit dem 14:05er, und das war ausgerechnet mitten im heiligen Nachmittagsnickerchen meiner Tanten. Und so steckten sie die Köpfe zusammen und verkündeten, es wäre eine wertvolle Erfahrung für Bird und mich, Miss Beck abzuholen.

Jottie, der unser Aussehen am Herzen lag, ließ uns unsere Knie waschen und bürstete anschließend Birds Locken. Sie begann, mir die Haare zu flechten, doch das stellte sich als zweckloses Unterfangen heraus, so wie immer. Meine Haare sind nicht zu bändigen. Wie dem auch sei, wir sahen hübsch aus oder zumindest sauber, als wir uns auf den Weg machten, um Miss Layla Beck vom 14:05er aus Washington, D.C., abzuholen. Unsere Tanten winkten uns zum Abschied und begaben sich dann zu ihren Ruheplätzen, Jottie zu ihrem Sessel im Wohnzimmer und Minerva und Mae oben in das Zimmer, das sie sich teilten, wenn sie bei uns übernachteten, ausgestreckt auf den Betten, im Gleichklang ein- und ausatmend, so wie es Zwillinge zu tun pflegen.

Es liege nun an Bird und mir, einen guten Eindruck zu machen, sagte Jottie. Ich erwiderte, ich würde mein Bestes geben, aber sie solle die Erwartungen nicht zu hoch schrauben, was sie zum Lachen brachte.

Draußen war es totenstill und heiß. Die Vögel hatten sich zurückgezogen, und Hitze stieg in schimmernden Säulen von den Rasen unserer Nachbarn empor. Nichts rührte sich. Die Damen und die kleinen Babys hielten Mittagsschlaf, und die Lloyd-Jungs, die wohl erst am Tag ihres Todes Ruhe geben würden, hatten sich irgendwo verkrochen. Die Männer waren bei der Arbeit, abgesehen von Grandpa Pucks, der nie den Mund aufmachte, außer um uns anzuschnauzen, wir sollten verschwinden, und Mr. Harvill, der Lehrer an der Highschool war und genau wie wir Sommerferien hatte.

Bird und ich trotteten schweigend die Academy Street entlang. Wenn man die Häuser in unserer Straße noch nie zuvor gesehen hatte, sahen sie wohl alle vollkommen gleich aus, groß und weiß. Lugte man hingegen durch die polierte Linse der Erfahrung, war jedes Haus anders. Man konnte sofort sagen, wo die Lloyd-Jungs wohnten, allein wegen des ausgefransten Stück Seils, das von dem Ahornbaum baumelte. Die Schaukel war heruntergekracht, als alle drei zusammen mit Dicky Ritts gleichzeitig darauf geschaukelt hatten. Grandpa Pucks’ Veranda war leer, denn er glaubte, Einbrecher würden seinen Schaukelstuhl stehlen, wenn er ihn draußen stehen ließ. Jeden Abend schleppte er ihn heraus, um auf der kühlen Veranda zu sitzen, ohne jedoch Grandma Pucks’ Stuhl mit nach draußen zu tragen. Sie musste drinnen sitzen. An der Ecke stand das Haus der Caseys, leer und traurig. Mr. Casey war nach schwerer Krankheit gestorben, und Mrs. Casey und die Kinder mussten bei ihrem Bruder wohnen. Manchmal schaute Mrs. Casey sonntags vorbei, um ihre Pfingstrosen zu gießen. Das nützte aber nichts, sie waren verwelkt.

Ich blickte zur Seite. Bird starrte konzentriert auf ihre Füße. Die Straße war durch die Hitze weich geworden, und wir mussten uns wie Katzen einen Weg darüber bahnen. Wir hätten an den Zäunen entlanggehen können, doch dann wäre unsere Kleidung womöglich schmutzig geworden, und wir sollten für Miss Beck adrett aussehen.

»Willa!«

Es war Mrs. Spencer Bensee, in ihrer Laube aus Weinreben. Die Trauben schmeckten grässlich, aber die Laube war hübsch, und sie verbrachte viel Zeit dort, während sie in Gedanken an die Rosen aus längst vergangenen Zeiten schwelgte, das zumindest behauptete Jottie.

»Guten Tag, Mrs. Bensee. Es ist heiß, nicht wahr?«

»Ihr solltet alle ein Mittagschläfchen halten. Weiß Jottie, dass ihr in dieser Gluthitze herumlauft?«, fragte sie spitzzüngig.

»Ja, Ma’am«, antwortete ich. All diese Dinge, die Kinder über sich ergehen lassen müssen.

»Hm«, sagte Mrs. Bensee argwöhnisch. Dann lenkte sie ein. »Du siehst heute wieder bildhübsch aus, Bird!«, rief sie.

Bird erwiderte nichts, selbst als ich sie anstupste. So war es immer. Egal, wie artig und höflich ich war, zog Bird die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Es lag daran, dass sie so flauschige goldene Locken hatte, genau wie die braven Mädchen in Büchern. Nicht dass Bird sonderlich brav war. Wenn sie es sich in den Kopf setzte, konnte sie richtig gemein sein, aber sie sah so brav aus, wie die Mädchen auf den Weihnachtskarten.

»Auf Wiedersehen, Mrs. Bensee! Wir müssen zum Bahnhof!«, rief ich, damit sie nicht merkte, wie unhöflich Bird war. »Warum kannst du nicht ausnahmsweise mal nett sein?«, zischte ich, als wir außer Hörweite waren.

Bird zuckte die Schultern. »Ich bin nett.«

»Nicht zu ihr, bist du nicht.«

Wir kamen zur Race Street, und dort mussten wir die Straße zur United Autowerkstatt überqueren und um die Ecke biegen. Radiomusik dröhnte aus der Werkstatt, und ich konnte hören, wie sie dort drinnen auf irgendetwas einhämmerten, Metall auf Metall. Ebendas war der Grund, weshalb ich Teddy Bowers auf seinem glänzenden neuen Fahrrad nicht hörte, als ich einen Schritt auf die Straße machte. Ich sah ihn auch nicht, obwohl ich den Kopf drehte, um in beide Richtungen zu sehen, so wie sie es uns immer wieder einbläuten. Und bevor ich mich’s versah, lag ich der Länge nach auf dem Schotter, während Teddy Bowers ein heulendes Gezeter wegen seines kaputten Fahrrads anstimmte. Danach konnte ich ihn nicht mehr leiden. Das Fahrrad war auf mir zum Stehen gekommen, und als ich dort lag, wie ein krankes Pferd mit den Beinen um sich tretend, spürte ich ein leichtes Klopfen an meiner Schulter. Es war Bird.

»Nur keine Sorge«, sagte sie. Im ersten Augenblick dachte ich, sie wolle mich trösten, und ich war überrascht, weil sie normalerweise niemanden tröstet. Ich hätte es besser wissen müssen. »Ich kann allein zum Zug gehen.« Sehr vorsichtig spähte Bird in beide Richtungen, um sicherzustellen, dass keine Autos kamen. »Tschüss«, rief sie über die Schulter und huschte davon.

Sie verschwand um die Ecke, während Teddy endlich zur Besinnung kam und sein Fahrrad von meinen Beinen riss, wobei er gleichzeitig ein großes Stück meiner Haut abschabte. Ich ließ eine Schimpftirade aus Wörtern los, die ich eigentlich überhaupt nicht kennen dürfte, bevor ich merkte, wie mir das Blut an den Beinen hinabrann. Dann brach ich in lautes Geheul aus, und einer der United-Werkstatt-Männer hörte mich und kam heraus.

Er würdigte Teddy, der jammernd auf der Straße stand, keines Blickes – Was hatte er auch zu jammern? Ihn hatte niemand überfahren – und war sehr nett zu mir, obwohl ich auf den Beifahrersitz seines Pickups blutete. Ich erklärte ihm, wo ich wohnte, und er erwiderte, das würde er wissen. »Das Haus des Präsidenten«, sagte er. Er klang feierlich, als würde der Präsident der Vereinigten Staaten dort leben, doch er meinte meinen Großvater, St. Clair Romeyn. Er war der Präsident von American Everlasting gewesen, damals, zu seinen Lebzeiten. »Ich kenne auch deine Tanten«, fügte der United-Werkstatt-Mann hinzu.

»Alle?«, fragte ich, um seine Aufmerksamkeit von dem Blut abzulenken, das auf den Boden seines Wagens tropfte. Er wirkte leicht nervös.

»Ich bin mit Miss Minerva und Miss Mae zur Schule gegangen.«

»Oh.« Ich zermarterte mir das Hirn nach irgendetwas, das ich erwidern könnte. »Ich habe drei. Ich meine Tanten.«

»Sie waren verdammt hübsch«, sagte er, als stiege gerade eine Erinnerung vor seinem geistigen Auge auf.

Bestimmt wären sie nicht sonderlich erfreut, ihn so reden zu hören, als wären sie jetzt nicht mehr hübsch, aber das sagte ich nicht, weil sein alter Pickup vor unserem Haus zum Stehen kam. Einen Augenblick später stürzte Jottie auf die Veranda, und die Fliegengittertür knallte hinter ihr zu. Ich öffnete den Mund zu einer Erklärung, aber Jottie flog bereits die Treppenstufen hinunter, und dann krallten sich ihre Finger fest in meine Schultern. Sie hielt mich eine Sekunde fest an sich gedrückt. »Dir geht’s gut«, sagte sie. »Dir geht’s gut«, wiederholte sie, als würde sie mit sich selbst reden.

»Ja, Jottie, mir geht’s …«, begann ich, doch sie wirbelte herum und funkelte den United-Werkstatt-Mann an.

»Was ist passiert, Neely?«

Der arme United-Werksatt-Mann! Er schluckte matt und sagte: »Hallo Jottie, ich hab sie bloß von der Straße aufgesammelt … drüben vor der Werkstatt, du weißt schon wo … und …«, stammelte er, »und … ich habe nichts getan!«

»Ja, Ma’am, er hat mich aufgesammelt, nachdem ich überfahren worden bin«, sagte ich rasch. »Teddy Bowers hat mich mit seinem neuen Fahrrad überfahren, und die blöde Bird hat mich einfach auf der Straße liegen lassen und ist zum Bahnhof weiter, zumindest glaube ich, dass sie dorthin ist, deshalb hat er …« Ich nickte in Richtung des United-Werkstatt-Manns. »… hat er mich in seinem Pickup nach Hause gefahren, und das Blut ist fast nur in meinen Schuhen.«

»Hallo, Neely!« Jetzt tänzelte Mae die Treppenstufen herab, leichtfüßig wie eine Feder. Sie blickte sich in der Runde um. »Was ist passiert?«, fragte sie, doch die Art, wie sie es sagte, klang viel freundlicher als bei Jottie.

Die Augen des United-Werkstatt-Manns waren jetzt groß und verängstigt. Er sagte kein Wort, sondern zeigte einfach mit dem Daumen auf mich. Mae sah aus, als würde sie gleich loslachen, aber mir tat er leid, weshalb ich die Sache mit Teddy ein zweites Mal herunterleierte und wie Mr. Neely mich nach Hause gebracht hatte.

Mae lächelte ihn an. »Wie nett von dir.«

Er nickte, schwieg aber weiterhin, sodass ich regelrecht brüllte: »Schau nur, Mae, meine Beine! Dieser bescheuerte Teddy hat mich angefahren, und dann hat er die ganze Haut von meinen Beinen abgeschürft. Und dann hat er auch noch die Frechheit besessen, wegen seines Fahrrads zu flennen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Die Bowers’ sind Heulsusen, jeder Einzelne von denen«, sagte sie beschwichtigend, genau in dem Moment, als Minerva aus dem Haus trat, um zu sehen, was die ganze Aufregung sollte.

»Um Himmels willen, Willa! Du bist ja blutüberströmt!«, rief sie.

»Ich weiß«, sagte ich, doch sie sah längst zu Mr. United.

»Und Neely ist auch hier! Was ist passiert?«

Wir wirbelten alle herum, da uns interessierte, ob er diesmal antworten würde, doch diese geballte Aufmerksamkeit schien ihn noch mehr zum Zittern zu bringen. »Hmhm«, räusperte er sich.

»Ich habe Blut im Schuh!«, sagte ich.

Minerva nickte. »Du siehst schrecklich aus.«

»Ich habe nur versucht, Bird über die Straße zu helfen«, sagte ich edelmütig und selbstlos klingend. Die Erwachsenen, die einen Kreis um mich gebildet hatten, gaben mitfühlende Geräusche von sich. Mein Bein tat fast gar nicht mehr weh, und allmählich genoss ich die Situation. »Ich habe mir auch die Hände aufgeschürft«, sagte ich und streckte zum Beweis meine blutigen Handflächen aus. Gehorsam beugten sich meine Tanten vor.

Mit einem Mal fasste sich Jottie an den Hals. »Es ist ein Zeichen!«

Minerva kicherte. »Natürlich.«

»Die Wundmale!«, keuchte Jottie. »Sie hat die Wundmale!« Sie taumelte leicht.

Mae brach in Gelächter aus. »Ruft Reverend Dews herbei!«, rief sie. »Es ist ein Wunder!«

Genau in diesem Moment wehte Birds Stimme über die Köpfe der Erwachsenen. »Darf ich euch Miss Layla Beck vorstellen?«

Alle Gesichter, die eben noch mich angesehen hatten, drehten sich jäh um, und ich sah nur noch ihre Rücken. Ich drängelte mich an ihnen vorbei und sah eine junge Dame mit schimmernden dunklen Locken. Sie trug das weißeste Kostüm, das ich jemals gesehen hatte, und passende weiße Stöckelschuhe. In diesem Aufzug hätte sie heiraten können, einmal abgesehen von der roten Schleife um ihren Hals. Sie hatte große braune Augen und einen Mund von genau demselben Farbton wie die Schleife, doch sie nagte an ihrer Lippe. »Miss Romeyn?«, fragte sie und blickte aus irgendeinem unerfindlichen Grund zu mir.

»Nein«, sagte ich und überdachte dann meine Antwort. »Nun ja, schon, aber …« Ich zeigte auf Jottie. »Sie ist Miss Romeyn. Also, sie ist die Miss Romeyn, die Sie meinen.« Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere, und Blut quoll aus meinem Schuh.

Jottie versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. »Bitte entschuldigen Sie …«

»Sie hat keine Wundmale«, zischte Mae leise.

»Zumindest noch nicht«, flüsterte Minerva.

Ein ersticktes Glucksen war zu hören, während meine drei Tanten versuchten, ihr Lachen zu unterdrücken.

Anschließend folgte ein langes, tiefes Schweigen, während dessen Miss Layla Beck eigentlich etwas hätte sagen müssen im Sinne von Wie schön, Sie kennenzulernen, doch das tat sie nicht. Sie starrte auf meine Beine, und dann huschten ihre Augen zu Mae, Minerva, dem United-Werkstatt-Mann und schließlich zu Jottie. Sie sah uns an, als wären wir aus einer Irrenanstalt ausgebrochen.

Das Klappern von Schuhen auf Pflastersteinen brach den Bann. Wir wirbelten alle herum und erblickten meinen Vater, der den Gartenweg heraufkam.

»Vater!«, rief ich.

Er blieb stehen und lächelte. »Miss Beck«, sagte er und nahm den Hut ab. »Willkommen in Macedonia.« Er streckte die Hand aus.

»Willkommen in Macedonia«, sagte Felix und trat zu dem Kreis aus Leuten.

In der Sekunde, die er für diesen Schritt brauchte, glitten Jotties Augen über den Kreis aus Gesichtern und musterten die Bewohner dieser winzigen Welt. Neely, das sah sie, war verängstigt. Der arme Neely. Er hatte Angst vor ihnen, und er hatte Angst, sie könnten ihn hereinbitten. Er hatte Angst, er könnte, sobald er im Haus war, etwas zerbrechen oder den Teppich beschmutzen. Keine Sorge, hätte sie ihm am liebsten zugeflüstert. Es ist nicht so wie früher. Es ist längst nicht mehr so vornehm.

Neely schluckte nervös.

Neben ihm stand Minerva, die Miss Beck mit schmalen Augen musterte. Mae tat dasselbe. Jottie beobachtete, wie sich ihre Meinung zeitgleich in ihre Gesichter grub: Sie waren beleidigt. Hauptsächlich fühlten sie sich von dem Kostüm der Fremden gekränkt – ein weißes Kostüm, so eine Frechheit! –, doch sie nahmen ihr gleichzeitig ihre glänzenden Locken, ihre großen Augen, ihre roten Lippen und ihre schlanke Taille übel. Sie war eine Untermieterin, eine Untermieterin! Eigentlich müsste sie mager und blass sein, in einem Ein-Dollar-Kleid und dem Hut der letzten Saison, eifrig bemüht zu gefallen und leicht zu übersehen. Sie durfte sie nicht zu den zweithübschesten Frauen im Haus degradieren.

ENDE DER LESEPROBE