Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wurden Sie schon einmal mit der Nachricht aus dem Schlaf gerissen, Sie seien Millionär geworden? Was hätten Sie gedacht? Genau das gleiche denkt auch Eduardo Rivera Castro, ein dreißigjähriger Kölner spanischer Abstammung, der als Journalist und Synchronsprecher jobbt, einen Faible für rothaarige Mädchen mit Pferdeschwanz hat und eigentlich mit seinem Leben recht zufrieden ist. Das unerwartete Erbe führt ihn nach Venezuela, das Auswanderungsland seines unbekannten Onkels, der dort mit Viehzucht ein Vermögen gemacht hat. Die Reichtumsträume von Eduardo werden aber bald durch eine lebensbedrohliche Lage getrübt. Als bald darauf der Vertrauensanwalt seines Onkels auf mysteriöse Weise umgebracht wird, wird dem Erben plötzlich klar, dass es auch andere Erbinteressenten gibt...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2012
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Carl Cullas S.
In Maracaibo
71% Luftfeuchtigkeit...
Copyright 2012 Carl Cullas S.
I
...Bill Whithers’ “Use me“ schlich langsam aus den Lautsprechern und vermischte sich mit der im Zimmer herrschenden Dunkelheit. Die Kerzenflammen bewegten unsere Schatten auf den Wänden und der Decke – zwei Konturen, die sich plötzlich abrupt voneinander zurückzogen, um dann wieder zu verschmelzen. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht und durch die Strähnen, wie durch einen nicht ganz zugezogenen Vorhang im Theater, glitzerten ihre Augen, eine spannende und erregende Geschichte versprechend. Ihr T-Shirt, genauso wie mein Hemd, lagen seit langem auf dem Boden - stumme Zeugen der in uns wütenden Begierde vermischt mit zwei Flaschen Rioja. Nach einem langen Kuss, der mir fast die Lunge aus dem Hals gezogen hatte, guckte sie mich mit einem vernebelten Blick an und schob mit einer langsamen und lasziven Handbewegung die Halter ihres BH von den Schultern. Aber die sich steigernde Musik des Himmelsorchester, die mir nun das Paradies verkündete, wurde dreist übertönt von der Türklingel. Meine Volupia schaute mich an und bewegte den Kopf: „Lass das“. Ich war einverstanden, ließ dies und wollte anderes greifen, aber es klingelte wieder und noch stärker. „Verdammt!“, sagte sie. „Verdammt!!!“, sagte auch ich und machte die Augen auf.
Ist es euch nie passiert, dass genau in dem Moment, in dem Jessica Alba oder Keira Knightley euch eure sublimsten und perversesten Träume verwirklichen und euch zum glücklichsten Menschen aller Zeiten machen wollte, das Telefon ertönte, der Wecker piepste oder eure ebenfalls schlaftrunkene Freundin - beziehungsweise Ehefrau -, euch mit der Frage: „Gehst Du Brötchen zum Frühstück kaufen?“ auf den Boden der Realität holte?
Es klingelte wieder!
Ich fand mein Hemd neben dem Bett, aber leider kein T-Shirt der erotischen Unbekannten, die bereits spurlos verschwunden war. Ich schaute auf die Tischuhr: es war 9:10. Ich spürte die Wut - irgendwo zwischen meinem Bauchnabel und der Leiste - geballt nach oben steigern: Welcher Idiot wagte, einen Menschen zu dieser unchristlichen Stunde an einem Samstag zu stören?! Das fünfte Klingeln brachte mich auf den Weg zur Tür. Ich machte auf und war bereit, diesem Jemand meine aufrichtige Meinung über all seine mentalen, psychosomatischen und sexuellen Fähigkeiten zu sagen, aber der Besucher war schneller.
- Herr Rivera? Eduardo Rivera Cano? Wir haben Sie endlich gefunden! Einfach war es nicht, das können Sie mir glauben, sí Señor! Ich gratuliere Ihnen: 4 Millionen ist schon eine ehrwürdige Summe! Aber wieso reden wir hier? Setzen wir uns lieber, ich bin mir sicher, das brauchen wir beide!
Die Plaudertasche ging resolut an mir vorbei und installierte sich bequem im Zimmer auf meinem Sessel, nicht ohne zuerst meine Socken von den Armlehnen zu beseitigen. Ich folgte dem Eindringling, fügsam und ahnungslos, wie das Volk seinem Führer. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Mann mich auf Spanisch ansprach.
- Aber bleiben Sie bitte nicht stehen! Setzen Sie sich, bitte - forderte mich der Mann auf und zeigte mit einer gastfreundlichen Handbewegung auf ein Objekt, das unter einem Klamottenberg nur mit viel Vorstellungsvermögen als Stuhl zu erraten war.
- Ich bitte um Verzeihung – ich habe mich noch nicht vorgestellt. Víctor Enrique Marín Lara, vom Rechtsanwaltsbüro “Sáez & Marín“. Ich komme direkt aus Madrid im Auftrag unserer Partner “Prada, Romero & Asociados“ aus Caracas, mit denen wir seit 20 Jahren arbeiten, um Sie zu benachrichtigen, dass Sie, laut dem Testament Ihres vor kurzem in Venezuela verstorbenen Onkels José Antonio Rivera Castro, als einziger Erbe über sein Vermögen von knapp 4 Millionen US-Dollar verfügen. Wie Sie bestimmt wissen, war Ihr Onkel einer der prominentesten und reichsten Viehzüchter Venezuelas.
Mittlerweile hatte ich die Visitenkarte von meinem Besucher in der Hand. Die linke Oberfläche des hochwertigen Elfenbeinkartons trug die schwarz gedruckte Inschrift: “Sáez & Marín“. In der Mitte stand: „Víctor Enrique Marín Lara, Anwalt“. Unten folgten die Adresse, mehrere Telefon- und Faxnummern samt eMail-Anschrift.
- Den Auftrag Sie zu lokalisieren bekamen wir vor einer Woche, aber es war nicht einfach Sie ausfindig zu machen! Ihr verstorbener Onkel wusste zwar, dass Sie in Deutschland leben, hatte aber weder die genaue Adresse noch eine Telefonnummer. Zuerst versuchten wir, Sie von Madrid aus per Telefonbuch zu finden. Aber unter Rivera Cano gab’s keine Eintragung. Logischerweise haben wir dann auf Ihren mütterlichen Nachnamen Cano verzichtet und konzentrierten uns nur auf Rivera. Da hatten wir eine Liste mit Dutzenden Namen und Adressen quer durch Deutschland. Die Suche wurde auch dadurch erschwert, dass uns Ihr zweiter Vorname falsch mitgeteilt wurde: Manuel anstatt Miguel... Aber das ist eben unserer Job - et voilá: unser Auftrag ist erfüllt!
Ich beobachtete den mir gegenüber sitzenden Kerl. Nach seinem ersten Nachnamen zu urteilen – der Sohn eines der Kanzleipartner. Um die dreißig, stämmig, mit stark gegelten, glatt gekämmten schwarzen Haaren. Schmales Gesicht mit einem freundlichen Lächeln, das seinerseits nicht über seine Mund- und Augenwinkel herrschte: die blieben ernst und wachsam. Der dunkelblaue Anzug war sicherlich nicht bei H&M gekauft, ebenso wie die Schuhe und das Hemd. Auf dem linken Handgelenk war schätzungsweise meine zweimonatige Gage in Form eines schmalen Uhrwerks platziert. Alles stimmte perfekt mit dem clicheeartigen Bild eines jungen, erfolgreichen Anwalts überein. Nur die joviale, ja aufgeregte Haltung, die er mir gegenüber an den Tag legte, wollte so gar nicht zu diesem Eindruck passen. Möglicherweise die Folge seines ersten erfolgreich abgeschlossenen Auftrags.
- Bestimmt habe ich Sie mit meinem Auftreten überrumpelt. – Setzte Víctor Enrique Marín Lara fort. – Wenn Sie sich duschen und umziehen wollen, nehmen Sie sich bitte alle Zeit. Ich kann warten.
Ich akzeptierte den Ratschlag und zog mich ins Badezimmer zurück, nicht ohne zuerst dem Gast einen Kaffee angeboten zu haben. Als ich nach zwanzig Minuten zurück kam, saß der Anwalt auf dem gleichen Sessel und rauchte.
- Ich hoffe, das stört Sie nicht? Ich habe einen Aschenbecher auf Ihrem Tisch gesehen und nahm mir die Freiheit, eine anzuzünden.
Ich nickte zustimmend und machte mir den Stuhl von Klamotten frei.
- Bevor ich zu Einzelheiten komme, möchte ich Ihnen dem Wunsch Ihres Onkels entsprechend seinen letzten Brief überreichen. Er kann wahrscheinlich vieles erklären.
Ich nahm den weißen Briefumschlag entgegen und machte ihn auf.
II
Mein Vater, Francisco Alberto Rivera Castro, „Paco“ wie er sich selbst zu nennen pflegte, ist auf Teneriffa geboren. Der jüngste von seinen Geschwistern, wanderte er mit 24 nach Deutschland aus. Er wollte eigentlich nach Hamburg, zu einer Hafenstadt und damit zum Meer, das ihm so vertraut war, aber das Schicksal entschied anders: in seinem Jahresvertrag stand Köln, wo er an einem Mittwoch im Frühling 1966 am Bahnhof Köln-Deutz mit Hunderten von anderen spanischen Gastarbeitern aus dem Zug ausgestiegen war. Erst schuftete er als Bauarbeiter, bis er eines Tages seine wahre Begabung unerwartet entfalten konnte. Es war wieder das Schicksal gewesen: an einem Wochenende war er mit seinen Freunden in einer Kneipe und stellte zum Bier die von ihm selbst gemachten Tapas auf den Tisch. Der Kneipenbesitzer wollte die kleinen Häppchen probieren und war von deren Geschmack so begeistert, dass er Paco anbot, bei ihm in der Küche zu arbeiten und das exotische Essen für die Gäste zuzubereiten. Die Gelegenheit kam im richtigen Moment: der Vertrag bei der Baufirma, bei der mein Vater verpflichtet war, ein Jahr zu arbeiten, um danach seine Aufenthaltserlaubnis verlängert zu bekommen, lief in Kürze ab, und er konnte sich dann einen anderen Arbeitgeber aussuchen. Das tat er. Allmählich gewannen die spanischen Spezialitäten mehr und mehr Platz in der Speisekarte und das Lokal in der Südstadt wurde innerhalb der spanischen Kolonie schnell bekannt. Da es unweit des „Odeon“ lag, wo sonntags spanische Filme gezeigt wurden, wurde es für viele zur Tradition, nach der Vorführung „zu Paco“ zu gehen.
Siebzehn Jahre später kaufte mein Vater dem alten Besitzer mit einem Partner das Restaurant ab und verwandelte es in reine spanische Wirtschaft. Ich war damals 6 Jahre alt und kann mich perfekt an den Tag erinnern, an dem mein Vater zum stolzen Restaurantbesitzer wurde: er leuchtete mit so einer starken Zufriedenheit, dass sie den tristen und grauen Winterhimmel über der Südstadt aufzuhellen schien... Sogar auf den Fotos erschien die Umgebung um ihn herum überbelichtet!
Meine Mutter, Carmen María, die meinen Vater Mitte der Siebziger Jahre heiratete, kündigte ihre Stelle bei einem Lebensmittelladen und wechselte zum Betrieb ihres Mannes, hinter die Theke, wo sie über 20 Jahre lang blieb. Schmal und ruhig, verkörperte sie das Gegenteil meines Vaters, der im Laufe der Jahre immer dicker und lauter wurde. Kleinster Sohn einer armen Familie, mit einem kaum zum Lesen von Zeitungen und einfachen Büchern ausreichenden Schulabschluss, arbeitete er sich in einem fremden Land, das nie zu seiner wirklichen Heimat wurde, vom Maurer zum Betriebsbesitzer hoch. Die Erinnerungen an seiner Kindheit und Jugend, geprägt von Knappheit und kaum zu verbergender Armut, ließen ihn seine Errungenschaften stärker genießen und vor seinen Freunden oder gelegentlichen Restaurantgästen laut schwärmen. Oft wiederholte er seinen Lieblingssatz, den er im Freundeskreis an einem vollen Tisch zu sagen pflegte: „Wie kann ich meinem Sohn die Bedeutung von Knappheit erklären, wenn er nur den Wohlstand erlebt?!“ Ich konnte ihn verstehen, mit der Zeit aber wurde mir seine Haltung immer peinlicher. Nicht, dass ich ihn nicht liebte – er war immer sehr zärtlich zu mir und versuchte stets, alle meine Wünsche zu erfüllen, sogar diejenige, die ich überhaupt nicht hatte. Die Wahrheit, die ich mir irgendwann eingestehen musste, war, dass ich mich für ihn schämte. Seine Simplizität und lockerer Umgang mit den Menschen, die ihn dazu brachten, allen die es brauchten, zu helfen, sei es mit Geld oder Ratschlägen, und die ich bei ihm so mochte und schätzte, verwandelten sich bei ihm unter bestimmten Umständen in Vulgarität und neureichen Snobismus.
Ich war froh, als ich mit 19 in eine WG auszog. Dann kam meine Uni-Zeit. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich sie wirklich genoss. Nicht das Studium an sich, sondern diese wunderbare Lebensspanne, in der man noch wirklich frei ist und sich kaum um etwas kümmert. Ich jobbte, bekam dazu monatlich ein paar Hundert D-Mark von meinen Eltern und war glücklich. Nach sieben Jahren bekam ich das Diplom als „Regionalwissenschaftler Lateinamerikas“ und plötzlich stellte sich die Frage: Was jetzt? In jenem Jahr wurde mein Vater 62 geworden und gab seinem alten Traum nach: er verkaufte seinen Anteil am Restaurant und zog sich mit meiner Mutter nach Spanien zurück. Nach kurzem Überlegen entschieden sie sich für Huelva – eine kleine Stadt in Extremadura, fast an der Grenze mit Portugal, wo meine Mutter herkam. Sie wollten mich mitnehmen, aber ich zögerte.
Nicht dass ich Spanien nicht mochte. Oft waren wir in den Ferien auf Teneriffa oder in Huelva gewesen, ich fühlte mich wohl dort, genoss die Sonne, die Strände, den entspannten Lebensstil, mein Zuhause war aber in Köln. Ich kannte mich in der Stadt aus, hier war ich in meinem Element und vielleicht, wollte ich nicht das gleiche Schicksal wie das meiner Eltern erleben: ein ganzes Leben woanders zu sein, wo ich nicht hingehöre. Ich blieb also auf der linken Rheinseite, wo ich alle meine Jahre verbracht habe. Meine Alten halfen mir, eine Einzimmerwohnung zu mieten, schenkten mir ihr altes Fahrzeug und wir verabschiedeten uns am Flughafen. Dann wurde mir plötzlich klar, dass man dem Schicksal nicht aus dem Weg gehen kann: letztlich hatte die Trennung, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Familiengeschichte zog, auch mich erreicht. Die Geschichte wiederholte sich.
Der ältere Bruder meines Vaters, José Antonio Rivera Castro, hatte viel früher sein Heim verlassen, zog aber das warme und ferne Lateinamerika vor. Für die Ausreise brauchte er damals den Ausreisepass, der allerdings nur nach dem obligatorischen Wehrdienst zu bekommen war. Das Alter für die Wehrdienstpflicht war 21 Jahre, man konnte sich aber bereits mit 18 Jahren freiwillig beim Militär melden. Genau das machte José Antonio. Mit 20 Jahren war er mit dem Dienst fertig, bekam das ersehnte Dokument und bestieg 1952 das Schiff, das ihn nach Maracaibo brachte. Mein Vater erzählte, dass die Briefe von José Antonio in den ersten Jahren regelmäßig kamen, mit der Zeit aber wurden sie seltener. Man wusste, dass José Antonio sich der Ganadería – Viehzucht - widmete und dass es ihm gut ging. Zumindest waren seine Briefe voll von solchen Behauptungen und begeisterten Erzählungen von weiten und wilden Landschaften, wo er seine Kühe und Bullen züchtete. Er rief seine Schwester Beatriz und meinen Vater zu sich, aber für die beiden war Venezuela zu weit und zu fremd. Letztendlich blieb meine Tante für immer auf Teneriffa, und mein Vater landete in Köln.
III
Mein Weg nach Caracas begann an einem Julimittwoch mit 35 Minuten Verspätung. Als die Iberia-Maschine endlich abhob und das Anschnallsignal erlosch, stand ich kurz auf und guckte um mich um. Ich hielt nach jemandem Ausschau: nach einer jungen Frau, die ich bereits in der Warteschlange am Check-in-Schalter gesichtet hatte. Obwohl wir gerade nach Madrid flogen, wo ich den Flieger wechseln musste, war ich mir sicher, dass ihr Endziel auch Venezuela war.
Begleitet wurde sie von einem riesigen abgenutzten Rucksack, der eher einem Folterinstrument ähnelte, und den sie lässig mit yetifußmäßigen Wanderschuhen vor sich herschob. Ich muss gestehen: Schon immer wunderte ich mich über das Ausmaß des Masochismus der Menschen, die zuerst ihren Schultern so etwas antun, dann kilometerlang wandern, hadernd und mit Schweiß überströmt, und dies am Ende noch Urlaub nennen! Etwas muss aber dran sein. Etwas, das mir entgeht und mir wahrscheinlich für immer verschleiert bleiben wird.
Nun, mit so einem Rucksack kann man sicher auch in Spanien seine Freizeit verbringen. Das ausschlaggebende Argument für meine Hypothese war der Reiseführer, den sie aus ihrem Backpack rausgefischt hatte, bevor sie ihn beim Einchecken abgab, denn er taugte kaum als Wegweiser für die Iberische Halbinsel: auf der Titelseite stand dick geschrieben „Venezuela“.
Es waren aber nicht nur der Rucksack und das Outfit der Frau, die mich auf sie aufmerksam machten. Es war ihr Pferdeschwanz. Ich habe eine Schwäche für kurze rothaarige Pferdeschwänze. Nicht für die, die am Nacken gebunden sind und kraftlos nach unten fallen – die finde ich zu brav. Ich mag die Pferdeschwänze, die direkt am Hinterkopf gezähmt sind und ein bisschen nach oben ragen. Und wenn dazu noch eine feine spitze Nase mit Sommersprossen gehört, dann kapitulieren meine Abwehrkräfte bedingungslos und mein ganzes Sein sehnt sich sofort nach deren Inhaberin. Diese Frau hatte beides! Also, war mein Verstand im Nu vernebelt, während der Adrenalinstoß meine Adern durchlief.
Dass ich zufällig einen Platz neben ihr bekommen würde, glaubte ich nicht. Erstens, weil so viel Glück einfach nicht dazu gehört, in meinem Falle sowieso nicht. Zweitens, weil ich diesmal zum ersten Mal in meinem Leben in der Business-Class flog, während sie in der Economy untergebracht wurde. Vor diese Tatsache wurde ich von dem jungen Anwalt gestellt, als er mir vor seiner Abreise die Tickets übergab. Ohne meine Frage abzuwarten, erklärte er, alle Reisekosten seien mit der Summe gedeckt, die mein Onkel für die Suche nach mir gelassen habe. Ich müsse mich um nichts kümmern. Daraufhin drückte er mir einen Scheck in die Hand: dies müsse genügen, bis ich Besitz von meinem Erbe ergreife. Ein kurzer Blick auf die gedruckte Zahl genügte, um zu verstehen, dass die Menge mir locker für vier Monate sorglosen Lebens in Köln reichen würde. Wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, uns bei meinem Rückflug in Madrid zu treffen. Mittlerweile gefiel er mir recht gut: Wir hatten einen ganzen Abend im Biergarten im Volkspark verbracht und nach literweise Kölsch klappte es mit der Völkerverständigung viel besser.
Am nächsten Morgen rief ich meinen Vater an und erzählte ihm die ganze unglaubliche Geschichte. Er nahm alles mit erstaunlicher Gelassenheit auf und fragte nur, ob wir uns treffen sollten. Meine Abreise wurde für zwei Tage später geplant, ich musste aber noch einiges in der Stadt erledigen. Und in Madrid hätte ich nur knapp zweieinhalb Stunden bis zum nächsten Flug. Ich bot ihm an, meinen Abflug auf den darauffolgenden Tag zu verlegen, so dass ich in der Stadt übernachten und wir uns sehen konnten. Er fand die Idee gut, und so verblieben wir.
Jetzt aber bereute ich unsere Abmachung ein bisschen. Denn beim Umsteigen in Barajas hätte ich vielleicht das Mädchen mit dem Pferdeschwanz wiedersehen können und mit einer gewissen Geschicklichkeit hätte sich etwas einfädeln lassen können. Aber das Leben hatte anders entschieden. Ich kehrte zu meinem Sitz zurück und bestellte ein Glas Rioja. Alle drei Reihen der Business-Class waren leer, ich war der einzige Passagier und genoss daher die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der zwei Stewardessen. Zwar fand ich blöd, für einen zweieinhalbstündigen Flug so ein Heidengeld zu bezahlen, irgendwo in meinem tiefsten Inneren breitete sich aber eine warme Welle der Zufriedenheit aus. Die fetten Jahre standen mir bevor und ich begann mich an diesen plötzlich erworbenen Platz an der Sonne zu gewöhnen.
Nicht, dass mir in meinem Leben groß etwas fehlte. Finanziell hatte ich nie ein gravierendes Problem gehabt: ich war ein typisches Mittelstandskind, vielleicht sogar ein bisschen mehr, denn das Geschäft meines Vaters lief immer gut. Wir haben zwei Mal pro Jahr Urlaub gemacht, später an der Uni unterstützten mich meine Eltern mit etwas Taschengeld, ich jobbte und konnte mir meine gewissen Wünsche durchaus erfüllen. Auch jetzt lief bei mir eigentlich alles gut. Zwar arbeitete ich nicht in meinem Beruf, aber das war mir schon während des Studiums klar gewesen. Ein Bericht da, eine Reportage dort… Dank meines Spanisch machte ich gelegentlich Synchronisationen von Filmen oder Werbespots, und das brachte wirklich gutes Geld. Am Ende des Monats standen also keine roten Zahlen auf meinem Kontoauszug. Und trotzdem: das Gefühl sich praktisch alles leisten zu können, im Restaurant beim Lesen der Speisekarte nicht zuerst nach rechts schauen und beim Einkaufen nicht zuerst gespart haben zu müssen, kurz gesagt - wirklich reich geworden zu sein, - dieses Gefühl war für mich etwas Neues, etwas Prickelndes. Ja, es erfüllte mich sogar mit Stolz. Geld braucht man, um daran nicht zu denken – an dem Spruch war doch etwas Wahres! Ich stellte mir vor, was ich mit diesen Millionen machen könnte: eine eigene Wohnung, gar ein Haus, einen anderen Wagen, vielleicht ein Kabrio, Reisen nach Australien, Neuseeland, Südafrika, wohin auch immer, ohne Einschränkungen, ohne beim Buchen nach dem niedrigsten Flugpreis zu suchen oder bei de Wahl des Hotels die Preise vergleichen zu müssen… Und dann die Arbeit. Ich hatte nicht vor, etwas Eigenes zu beginnen. Erstens, was? Ein Restaurant? Einen Laden? Ich hatte keine Ahnung davon, ich war kein Geschäftsmann. Und dann: wozu?
Ich streckte mich in meinem Sessel aus und nahm ein neues Glas Wein entgegen. Vier Millionen Dollar! Vier-Millionen-Dollar!!! Die Summe, das Wort klangen unglaublich. OK, davon muss man die Erbschaftssteuer abziehen, der Anwalt sagte aber, dass ihre Partner in Venezuela sich darum gekümmert hatten. Nehmen wir an, ein Viertel. Dann bleiben noch 3 Millionen. Ein Drittel geht, sagen wir, für die Wohnung, das Auto, etc. Oder nicht. Wozu brauche ich die Wohnung? Einfach weiter mieten? Rechnen wir mal: angenommen, ich werde noch 50 Jahre leben. Drei Millionen durch 50 macht 60 Tausend. Pro Jahr. Plus Zinsen. Wie hoch sind die jetzt? Sagen wir, 3%. 3% von 3 Millionen macht… 90 Tausend pro Jahr! Mein Gott! Da kann man nur von Zinsen leben! Und am Ende bleibt noch was übrig! Mir wurde plötzlich schwindelig.
Dann meldete sich ein kleines Würmchen Namens Gewissen aus irgendeinem Eckchen meiner Seele: sollte ich nicht eine Spende machen? Oder eine Stiftung gründen? So etwas ziemt sich bei so einem Batzen Geld. Ja, das wäre was! Eine Stiftung. Genau. Zum Beispiel für ein Kinderprojekt in Venezuela. Was braucht man eigentlich für die Gründung einer Stiftung? Ich beschloss, mit einem Experten darüber zu reden. Die Entscheidung stellte meine soziale Empfindlichkeit zufrieden, das Würmlein verschwand, beruhigt, und meine Gedanken flossen weiter, zurück zu den ursprünglichen angenehmen Träumen.
Ich wurde von der delikaten Berührung der Flugbegleiterin geweckt. Ich solle, bitte schön, meinen Sitz in die aufrechte Position zurückbringen und mich anschnallen, wir würden bald landen.
IV
Das komische Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, ließ nicht nach. Zum ersten Mal spürte ich den Blick beim Stöbern in der Musikabteilung bei FNAC in der Calle de Preciados. Ich hatte für mich und meinen Vater ein Hotel nicht weit der Puerta del Sol ausgesucht und nach dem Duschen suchte ich mir ein nettes Lokal, wo ich etwas „unter den Rüssel schieben“ konnte (wie ein Freund von mir zu sagen pflegte). Mein Vater würde erst gegen siebzehn Uhr eintreffen, also hatte ich noch genug Zeit. Bei „De María“ genoss ich ein saftiges Steak mit Roquefortsauce, begoss das Fleisch mit Rotwein und beendete das Mal mit einem Cortado begleitet von einem Glas Duque del Alba. Es war heiß, ein bisschen stickig, und ich brauchte eine Abkühlung.
Die Klimaanlage von FNAC arbeitete hervorragend, die CD-Auswahl war ausgezeichnet. Ich war vertieft in Latin-Jazz als ich plötzlich einen festen Blick in meinem Nacken fühlte. Das passiert jedem ab und zu und ist nichts Besonderes. Ich drehte mich um, fand aber keinen Anhaltspunkt. Ein paar Minuten später wiederholte sich das Gefühl. Diesmal versuchte ich, den Beobachter mittels Spiegelung auf der glatt polierten Aluoberfläche zwischen zwei CD-Regalen auszumachen. Der Raum war aber ziemlich voll, der Sehwinkel zu klein, und so blieb mein Vorhaben erfolglos. Irgendwo in meinem Unterbewusstsein hallten plötzlich die Worte von Víctor Enrique, dem jungen Anwalt, wider: „Bitte, keine Paranoia, aber vergiss nie: bei Erbgeschichten, insbesondere bei solch einem unerwarteten Vermögen wie bei dir, können auch viele unerwartete Ereignisse eintreten“.
Ich verließ den Laden und ging Richtung Puerta del Sol, wo ich zuvor den Corte Inglés gesehen hatte. In der Herrenabteilung machte ich mich auf die Suche nach leichten Mokassins. Als ich endlich ein passendes Modell fand und ein paar Probeschritte machte, spürte ich wieder das unangenehme Bohren in meinem Hinterkopf. Ich befand mich gerade vor einem großen Spiegel und als ich rasch hineinguckte, glaubte ich, endlich fündig geworden zu sein: etwa fünf Meter entfernt, fast verdeckt von einem Ständer mit Herrenhemden, stand ein Mann, etwa in meinem Alter, und verfolgte mich mit seinem Blick. Mit festen Schritten ginge ich zu ihm. Er merkte das, und kam mir entgegen.
- Was wollen Sie von mir? Wieso beobachten Sie mich? – Fragte ich ihn resolut.
Er blieb kurz stumm, dann holte er aus seiner Hosentasche eine Plastikkarte und zeigte sie mir: Ladendetektiv. Irgendwie kam mir die Erklärung zu trivial, ja beleidigend vor: sehe ich so aus, dass ich die Aufmerksamkeit eines Diebesfängers auf mich ziehe?! Ich murmelte etwas ziemlich eindeutiges über die Unverschämtheit von Sicherheitsleuten, den Angriff auf mein verfassungsgeschütztes Recht auf Unschuld bis das Gegenteil bewiesen wird, und zog mich zurück. Die Schuhe ließ ich einfach auf dem Boden liegen und ging fort, vor Wut kochend. Wenn dieser armselige Trottel nur wüsste, mit wem er redete! Ich könnte hier die ganze Abteilung aufkaufen und dann all diese lächerlichen Klamotten aus dem Fenster werfen! So eine Flegelei! War ich auch beim ersten Mal nur das Beobachtungsobjekt eines Sicherheitsmanns gewesen? Meine Würde widersetzte sich mit allen Kräften, dies zu glauben, eine bessere Erklärung hatte ich aber nicht. Denn eine Auftragskiller-Theorie schien mir ein bisschen überzogen zu sein. Ich fluchte noch mal. Genau in diesem Moment fing mein Handy an zu klingeln. Es war mein Vater, der bereits im Hotel angekommen war und wissen wollte, wo ich steckte. Fünfzehn Minuten später saßen wir am Cafetisch unter einem Sonnenschirm an der Puerta del Sol. Der Kellner brachte uns zwei kalte Biere und wir genossen die ersten Schlücke in angenehmem Schweigen.