In My Dreams. Wie ich mein Herz im Schlaf verlor - Claudia Siegmann - E-Book

In My Dreams. Wie ich mein Herz im Schlaf verlor E-Book

Claudia Siegmann

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Beschreibung

Entdecke die Magie in dir. Träume dich in die Vergangenheit. Nimm dich in acht vor deinen Gefühlen. Mit übernatürlichen Dingen kennt Lu Runmore sich aus, schließlich gibt es Geister in ihrem Zuhause, dem gemütlichen Hotel "Runmore Manor". Doch neuerdings träumt Lu jede Nacht von dem furchtbaren Feuer, das das Hotel vor 100 Jahren beinahe zerstörte. Außerdem riechen ihre Haare ständig nach Rauch, an den Wänden tauchen merkwürdige Symbole auf und der (ziemlich süße und leider auch ziemlich arrogante) Hotelgast Ben lässt sie nicht mehr aus den Augen ... *** Romantisch – Magisch – Traumhaft schön *** Meine Probleme auf einen Blick: 1. Ich kann Geister sehen. 2. Ich träume jede Nacht, dass mein Zuhause in Flammen steht. 3. Ich habe angefangen zu schlafwandeln. 4. Und ich bin deswegen in Bens Armen aufgewacht ...

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OriginalausgabeAls Ravensburger E-Book erschienen 2017Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2017 Ravensburger Verlag GmbHCopyright © 2017 by Claudia Siegmann-GabrielDieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.Lektorat: Kathrin BeckerUmschlaggestaltung: Carolin Liepins, MünchenVerwendetes Bildmaterial von © Legolena/Shutterstock, © silver tiger/Shutterstock und © soosh/ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47853-8www.ravensburger.de

Für Tilman,der meine Träume zum Leben erweckt hat

Der Boden unter meinen Füßen ist kalt, eiskalt. Ich will die Arme um meinen Oberkörper schlingen, doch sie fühlen sich an wie aus Gummi, schwer und widerspenstig.

Es ist dunkel, und doch weiß ich, dass ich im Runmore Manor bin und auf der breiten Treppe stehe, die von der Eingangshalle in die erste Etage führt. Mit einer Hand halte ich ein Tuch vor meiner Brust zusammen. Es liegt schwer auf meinen Schultern, fühlt sich feucht an und riecht muffig. Meine andere Hand ruht auf dem glatt polierten Treppengeländer, das zu vibrieren scheint.

Irgendetwas stimmt nicht.

Ich spüre einen Stoß an der Schulter und drehe den Kopf. Erst jetzt wird mir bewusst, dass die Dunkelheit nicht vollkommen ist, dass ein orangeroter Schein den Raum erhellt. Um mich herum sind Menschen, sie rennen an mir vorbei, stolpern die Stufen hinunter, stürmen auf den einzigen Ausgang zu. Ich sehe, wie sich ihre Münder bewegen, wie sie voller Entsetzen durcheinanderrufen, doch ich höre nichts, keinen Ton.

Die Gesichter der Menschen sind mir fremd und vertraut zugleich. Ein Mann läuft panisch an mir vorbei. Er trägt ein altmodisches Nachthemd und die Frau neben ihm hat sogar eine Schlafhaube auf dem Kopf. Die meisten haben sich Tücher um die Schultern gelegt, so wie ich.

Alles ist wie in Watte gepackt, kommt mir verzerrt und langsam vor, nur den Rauch kann ich plötzlich deutlich riechen. Rauch. Er sticht in meiner Nase und nimmt mir den Atem. Ich muss darum kämpfen, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Es brennt, wird mir klar, mein Zuhause steht in Flammen. Und auf einmal nehmen meine Ohren ihren Dienst wieder auf. Verzweifelte Rufe und Schreie prasseln von allen Seiten auf mich ein …

1. KAPITEL

Ich saß kerzengerade im Bett und hielt mir die Ohren zu. Mein Atem ging schneller und mein Herz raste. Ich wollte aus dem Bett springen und das Fenster aufreißen, denn ich roch noch immer den Rauch. Er kratzte in meinem Hals und füllte meine Lungen.

Es dauerte einen Moment, bis mein Kopf klar und mein Herzschlag wieder ruhiger wurde, aber endlich verblasste der Traum und ließ nur noch ein beklommenes Gefühl zurück. Entschlossen knipste ich die Lampe auf meinem Nachttisch an und sah mich in meinem Zimmer um. Hier war alles in Ordnung, ich war in Sicherheit, kein Grund zur Panik.

Seit einiger Zeit träumte ich sehr intensiv. So intensiv, dass ich direkt nach dem Aufwachen immer ein paar Minuten brauchte, um in die Realität zurückzukehren. Obwohl ich mich nur vage an den Inhalt meiner Träume erinnern konnte, wurde ich jedes Mal von mehr als beunruhigenden Gefühlen heimgesucht. Letztens war ich so wütend gewesen, dass ich am liebsten etwas gepackt und gegen die Wand geschleudert hätte. Vor ein paar Tagen hatte ich sogar mein Kissen gewürgt. Ich dachte nicht gern an diesen Zwischenfall zurück.

Ich seufzte. Eventuell wollte mir mein Unterbewusstsein etwas Wichtiges mitteilen, bestimmt hing es mit dem Stress in der Schule zusammen. Ich hatte die leise Hoffnung gehabt, dass sich die Träume mit dem Beginn der Herbstferien erledigen würden – aber anscheinend hatte ich mich zu früh gefreut.

»Ist ja gut«, sagte ich zu mir selbst. »Ich werde lernen. Versprochen.«

Bevor mein Handywecker seine extra dafür ausgesuchte nervige Melodie dudeln konnte – und sich damit als Kandidat für die Wand qualifizierte –, stellte ich ihn vorsorglich aus. Es war erst Viertel vor sechs, ich hätte noch eine gute halbe Stunde schlafen können, doch ich widerstand der Verlockung, noch einmal einzudösen.

Gähnend winkelte ich das rechte Bein an und rieb meine Zehen warm. Sie fühlten sich eiskalt an. Mit dem Plan, in der nächsten Nacht ein Paar dicke Socken zu tragen, stand ich auf, ging zum Schrank und griff nach meiner Arbeitskleidung.

Ich verdiente mir etwas dazu, indem ich während der Ferien im Hotel meiner Eltern aushalf. Leider bestand Mum darauf, dass ich, wie die anderen Angestellten, Arbeitskleidung trug. Die Uniform war historischen Dienstbotenkleidern nachempfunden, denn Mum war der Meinung, das passe gut zum Stil des alten Herrenhauses. Ich hingegen fand das schwarze Kittelkleid und die mit Rüschen gesäumte weiße Schürze, die mit einer großen Schleife um die Taille gebunden wurde, reichlich albern. Irgendwie kam ich mir darin vor wie ein viktorianisches Känguru.

Mit einem erneuten herzhaften Gähnen ging ich ins Bad. Mein Zimmer befand sich im Dachgeschoss, das ich im engeren Sinne allein bewohnte, sodass ich morgens auf niemanden Rücksicht nehmen musste. Ich stellte das Wasser in der Dusche an und warf einen Blick in den Spiegel. Anscheinend war heute Nacht ein pelziges Tier auf meinem Kopf verendet, zumindest sah meine Frisur so aus. Ich griff nach einer meiner rötlich braunen Strähnen und schnupperte argwöhnisch daran. Natürlich war es vollkommen unsinnig, aber für einen Moment bildete ich mir ein, Rauch zu riechen.

Nun ja. Man konnte sich eben nicht aussuchen, welche Superkräfte man entwickelte.

Ich stieg unter die Dusche und schäumte mir den Kopf zweimal großzügig mit Limettenshampoo ein. Mit einem wohlig sauberen Gefühl zog ich anschließend mein großes Badetuch vom Haken und wickelte mich darin ein. Als ich aus der Duschkabine stieg, stand Sophie vor mir und machte einen tiefen Knicks. »Hat die junge Lady wohl geruht?«

Sophie nannte mich hartnäckig »junge Lady«. Für sie spielte es absolut keine Rolle, dass mein Vater schon vor Jahren seinen Adelstitel abgelegt und aus dem Familiensitz der Runmores ein Hotel gemacht hatte.

Sophie tauchte jeden Morgen in meinem Badezimmer auf und erkundigte sich, ob sie noch heißes Wasser aus der Küche holen oder mir ein frisches Stück Kernseife reichen solle. Da warmes Wasser bei uns wunderbarerweise aus dem Wasserhahn kam und Kernseife längst durch ein breites Sortiment an pflegenden Duschlotionen ersetzt worden war, lehnte ich immer dankend ab.

Sophie arbeitete als Kammerzofe im Runmore Manor und sah überhaupt nicht ein, damit aufzuhören, nur weil sie seit fast einhundertelf Jahren tot war.

Sie war einer von drei Geistern, die in dem alten Herrenhaus lebten. Beziehungsweise nicht mehr lebten. Ich nannte Sophie, Thomas und den griesgrämigen Lord Edward nur unsere »Stammgäste«, denn sie hielten sich, seit ich denken konnte, im Runmore Manor auf. Es hatte lange gedauert, bis ich begriffen hatte, dass andere Menschen die Geister weder sehen noch hören konnten und deshalb an ihrer Existenz zweifelten. Aber nachdem ich das geschluckt hatte, war ich ganz gut darin, mich nur dann mit den Geistern zu beschäftigen, wenn niemand in der Nähe war.

Ich knotete das Badetuch unter den Achseln zusammen und grinste Sophie an. »Vielen Dank. Ich habe recht gut geschlafen. Und du?«

»Ich habe heute Nacht kein Auge zubekommen.« Sophie unterdrückte ein Gähnen. »Mir war, als hätte ich etwas im Erdgeschoss gehört.«

Sophie war ausgesprochen hübsch und sah ein bisschen so aus wie eine Schauspielerin aus einem alten Schwarz-Weiß-Film. Ihre dunklen Haare waren unter eine Spitzenhaube gesteckt, nur an den Seiten schauten zwei Strähnen hervor. Das Kittelkleid und die ordentlich gebundene Schürze waren gebügelt und gestärkt und fielen bis über die Knöchel. Auch wenn sie darin sehr adrett aussah, ich war froh, dass mein Zimmermädchenkleid knapp unter dem Knie endete. Ich war lieber ein Känguru als ein Seehund.

»Ah. Wieder ein Gast auf Geisterjagd?«, fragte ich neugierig. Davon gab es jeden Monat mindestens einen. Das Runmore Manor stand im Ruf, ein Geisterhotel zu sein, und das lockte eine ganz spezielle Sorte mitternachtsaktiver Gäste an. Was ausgesprochen lästig sein konnte.

»Nein, ich weiß nicht genau, ein Geräusch wie …« Sophie zögerte und runzelte die Stirn, während sie vergeblich versuchte, den Wäschehaufen vor der Dusche aufzuheben. »Ich habe das Geräusch schon einmal gehört, da bin ich mir sicher.«

»Es ist eben ein altes Haus. Da quietscht und knackt es in allen Ecken, das ist völlig normal«, sagte ich mit der Zahnbürste im Mund und schob den Haufen mit dem Fuß von ihr weg.

Sophie sah nicht überzeugt aus, doch sie schwieg und entfernte ein paar Staubkörnchen von meinem Zimmermädchenoutfit. Zumindest versuchte sie es. Nur ganz selten schafften es die Geister, tatsächlich Gegenstände zu bewegen. Ich hatte bisher noch nicht herausgefunden, womit das zusammenhing.

»Das wird eh gleich wieder dreckig, Sophie«, nuschelte ich durch die Zahnpasta. Ich putzte mir gründlich die Zähne, um den Geschmack nach Rauch loswerden, der mich beharrlich verfolgte. Mein Hals fühlte sich auch ein bisschen kratzig an. So als hätte ich die Nacht mit nackten Füßen auf einem eiskalten Boden verbracht … Schnell schob ich den Gedanken beiseite. »Das ist schließlich Arbeitskleidung.«

»Die junge Lady sollte immer so hübsch aussehen wie möglich. Man weiß nie, wem man begegnet.«

»Die junge Lady wird den ganzen Vormittag mit Zimmerputzen beschäftigt sein, da ist es egal, wie sie aussieht.«

»Man sollte sich nie zu sicher sein«, erwiderte Sophie geheimnisvoll.

Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß genau, wer im Moment alles zu Gast im Runmore Manor ist, und glaub mir, die Chancen stehen schlecht, dass ich auf dem Flur meiner großen Liebe über den Weg laufe.« Zwar hatte Sophie etwas andere Vorstellungen vom angemessenen Altersunterschied zwischen Mann und Frau, aber momentan war der jüngste Hotelgast Anfang fünfzig.

»Nun, mir ist zu Ohren gekommen, dass heute ein neuer Gast erwartet wird. Der Lord und die Lady haben beim Frühstück darüber geredet. Sie schienen sehr aufgeregt zu sein.« Sophie sah mich mit großen Augen an. Als ich nicht entsprechend erfreut reagierte, schüttelte sie resigniert den Kopf und widmete sich wieder den Staubkörnchen auf meiner Uniform. Ich musste niesen und sofort drehte sich Sophie mit schreckgeweiteten Augen zu mir um. »Oje! Hat sich die junge Lady verkühlt?«

Ich wehrte mit der Zahnbürste ab. »Der Staub. Der hat in meiner Nase gekitzelt.« Jetzt durfte ich keinen Fehler machen. Sophie würde mir sonst den ganzen Tag durchs Hotel folgen, meine Stirn befühlen und mich bedrängen, einen Arzt zu konsultieren. Das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. »Ehrlich, Sophie, mir geht’s gut.«

Ich gab mir Mühe, möglichst gesund auszusehen, sodass Sophie sich schließlich damit zufriedengab und davoneilte, um ihren anderen Aufgaben nachzukommen.

Frisch geduscht und nach Limetten duftend trat ich eine Viertelstunde später in die Küche. Ein Zettel mit Mums Handschrift lag neben einem in einen Filzwärmer gepackten Frühstücksei auf der Küchenzeile. Ich brachte Wasser zum Kochen und bereitete eine Tasse mit Tee vor, während ich mit einem Auge ihre Nachricht las.

Guten Morgen, mein kleiner Schlummerkürbis.

Von wegen! Ich war alles andere als ein Schlummerkürbis, es war erst halb sieben und ich schon putzmunter.

Schon von klein auf gab Mum mir Kürbisnamen. War sie sauer auf mich, nannte sie mich Stinkkürbis, war ich sauer auf sie, war ich ein Meckerkürbis. Das kam zum Glück selten vor. Viel häufiger war ich ihr Prachtkürbis. Natürlich hatte ich mir versichern lassen, dass es nicht etwa mein Äußeres war, das sie an einen Kürbis denken ließ, sondern vielmehr die Tatsache, dass mein Geburtstag auf Halloween fiel. Und in fünf Tagen würde ich ein sechzehnjähriger Prachtkürbis sein.

Beim Gedanken an meinen Geburtstag lief es mir kalt den Rücken hinunter. Schnell goss ich den Tee auf und las weiter.

Komm kurz zu mir an die Rezeption, bevor du dich in die Arbeit stürzt.

Das hätte ich sowieso getan, ich musste noch eine neue Packung Marzipanherzen abholen. Sie waren als Willkommensleckerei auf den Kissen der neu angereisten Gäste gedacht, doch die letzte Schachtel war in meinem eigenen Zimmer gelandet und hatte es nie wieder verlassen. Tragisch.

Ich klemmte mir den Zettel zwischen die Zähne und trug meine Tasse und das Ei zum Tisch.

Probier die Kirschkonfitüre. Die ist richtig gut.

Hab dich lieb! Mum.

PS.: Dein Dad will, dass du das Ei isst.

Das konnte nur eines bedeuten. Ich zupfte den Filzwärmer vom Ei und mich starrte ein verängstigtes Gesicht an. Eindeutig Dads Werk. Grinsend griff ich nach meinem Löffel, da kam Thomas herein.

»Guten Morgen, Lu.«

»Morgen, Thomas«, erwiderte ich fröhlich. Den ehemaligen Stallburschen mochte ich mindestens genauso gern wie Sophie. Er war stets ausgezeichneter Laune und konnte beinahe so gut zuhören wie meine beste Freundin Emma. Allerdings waren seine Ratschläge nicht annähernd so hilfreich wie Emmas und Fragen in Bezug auf Jungs vermied ich lieber ganz. Thomas vertrat da sehr strenge Ansichten. Seiner Meinung nach geziemte es sich für eine junge Frau meines Standes nicht, auch nur in Erwägung zu ziehen, sich von einem Burschen ansprechen zu lassen. Nicht mal dann, wenn dieser im Begriff war zu ertrinken und um Hilfe rief.

Leider gab es derzeit ohnehin niemanden, für den ich mich auch nur halbwegs interessierte, weshalb ich nicht Gefahr lief, mir einen langen Vortrag über Sitten, Anstand und Moral einzuhandeln.

»Schon so munter?« Ich drehte das Ei, damit es mich nicht mehr ansehen konnte, und klopfte rabiat die Schale auf.

»Selbstverständlich.« Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt, und Thomas strich die kinnlangen Haare zurück, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten.

Ich sah zu, wie er sich über das Spülbecken beugte, die Arme tief hineintauchte und sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht spritzte, das sich bis eben gar nicht im Becken befunden hatte und genauso grau leuchtete wie er selbst. Als er sich wieder aufrichtete, grinste er breit. »Ich bin seit vier Uhr in der Früh auf den Beinen und habe alle Pferdeställe ausgemistet.«

»Wow. Wirklich beeindruckend.« Vor allem deshalb, weil wir weder Pferde noch Ställe besaßen, denn die ehemaligen Stallungen waren längst zur Garage umfunktioniert worden.

Ich schnappte mir eine Scheibe Toast aus dem Körbchen vor mir und wollte sie auf den Teller legen, als ich einen Wassertropfen darauf bemerkte. Etwas in meinem Hinterkopf wollte sich bemerkbar machen, aber ich bekam den Gedanken nicht zu fassen und entschied, mich ganz auf das Frühstück zu konzentrieren. »Hast du meine Eltern gesehen?«

»O ja. Die Herrschaften haben beim Frühstück über einen Gast gesprochen, der heute anreisen wird. Mir kam es vor, als freuten sie sich nicht gerade darauf.«

»Echt?« Ich verdrehte die Augen und biss von meinem Toast ab. »Hoffentlich nicht schon wieder dieser Mr McFinley.«

McFinley war ein, vorsichtig formuliert, schwieriger Gast, der sich auch dann noch über das Essen beschwerte, nachdem er es komplett verschlungen hatte. Dad nannte ihn nur den »Karierten Nörgler«, weil er stets Anzüge aus kariertem Stoff trug. Und weil er nörgelte. Mir wären noch ganz andere Namen für ihn eingefallen, aber ich hielt mich zurück. Immerhin würde ich das Runmore Manor mal übernehmen und musste mich schon jetzt darin üben, Gäste auch dann noch zuvorkommend zu behandeln, wenn sie eigentlich in Zitronensoße getaucht und auf den Mond geschossen gehörten.

Ich seufzte. »Das wäre dann schon sein siebter Aufenthalt im Runmore Manor, dem mit Abstand schlechtesten Hotel der Welt.«

»Ich mache mich besser wieder an die Arbeit.« Thomas stand auf und richtete seine Weste.

Ich hatte es nie übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass sie am Rücken ein großes Brandloch hatte. Auch jetzt vermied ich es, länger dorthin zu sehen.

Thomas lächelte mich warm an. »Was wirst du heute noch unternehmen, Lu?«

Mit beiden Zeigefingern deutete ich auf mein Zimmermädchenkleid und sagte gedehnt: »Na? Worauf tippst du?«

Er legte die Stirn in Falten. »Ich kann nicht gutheißen, dass eine Lady arbeiten muss.«

»Ich muss ja gar nicht. Und außerdem bekomme ich Lohn dafür.«

Thomas schüttelte den Kopf. »In was für Zeiten leben wir eigentlich, wenn die Tochter einer der ältesten und angesehensten Familien des Landes für Lohn arbeiten muss?«

Mein Blick wanderte einmal ganz an ihm hinunter. Der offene Hemdkragen betonte seine breiten Schultern. Er war einen guten Kopf größer als ich und ich schätzte ihn auf achtzehn Jahre, aber das konnte täuschen. Er hatte seit frühester Kindheit schwer gearbeitet und dadurch einen muskulösen Körper bekommen, von dem die Jungen aus meiner Klasse nur träumen konnten. Zumindest theoretisch.

Ich seufzte tief. »In unterschiedlichen. Leider.«

2. KAPITEL

Ich verließ den linken Gebäudeflügel, in dem ich mit meinen Eltern wohnte, und betrat den Bereich, in dem sich der gesamte Hotelbetrieb befand.

Ich blieb an einem der hohen Fenster stehen und sah hinaus. Das Runmore Manor bestand aus einem Haupthaus, welches später durch einen Seitenanbau, unseren heutigen Wohnflügel, ergänzt worden war. Das Hotel war besonders wegen seiner exquisiten Lage so beliebt: unweit des Ortes Iffington, ruhig und dennoch nicht abgelegen. Der See auf der Rückseite des herrschaftlichen Gebäudes und der angrenzende Wald verpassten dem Ganzen eine malerische Note. Besonders im Herbst, wenn sich über den gepflegten Rasenflächen der Nebel in der Morgensonne auflöste, wirkte das Runmore Manor wie aus der Zeit gefallen. Ich liebte es.

Mein Blick wanderte zu der breiten Treppe, die von der Mitte der Eingangshalle in die erste Etage führte, und ich zögerte. Aus irgendeinem Grund verspürte ich das Verlangen, meine Hand auf das glänzende Holzgeländer zu legen.

Ich ging langsam darauf zu, hob einen Arm und fuhr mit den Fingerkuppen über die glatte Oberfläche. Erst das Klappern eines Hotelschlüssels, mit dem eine Tür in der ersten Etage abgeschlossen wurde, riss mich aus meinen Gedanken. Ein älteres Paar kam auf dem Weg in den Speisesaal die Treppe herunter. Sie ließen sich von dem köstlichen Duft nach gebratenem Speck und Rührei locken und nahmen mich kaum zur Kenntnis, sodass ich mit einem knappen Morgengruß davonkam.

Das Runmore Manor war wie immer um diese Zeit fast komplett ausgebucht. Im Herbst war bei uns Hochsaison, was nicht zuletzt an dem Ort Iffington lag. Das ganze Dorf verwandelte sich Anfang Oktober in eine riesige Halloweenkulisse und fieberte dem Höhepunkt des Jahres entgegen. Ehrlich, man hätte klammheimlich Weihnachten und Ostern abschaffen können, das wäre den Iffingtonern gar nicht aufgefallen, solange nur Halloween stattfand.

Mum war an der Rezeption gerade mit zwei Gästen beschäftigt, deswegen trat ich kurz vor die Tür. Die Morgensonne schien auf die Blumenbeete und die kiesbedeckte Einfahrt, die Vögel sangen. Die Harmonie wurde jedoch durch meinen Vater gestört. Er hockte ein paar Meter neben dem Eingang und schimpfte wie ein Rohrspatz. Neugierig ging ich zu ihm und entdeckte rasch den Grund für seinen Unmut. Irgendjemand hatte in der Nacht die Fassade beschmiert. Dad hatte bereits den größten Teil der roten Farbe abgewaschen, aber noch immer waren drei senkrechte, etwa einen Meter lange Striche neben der massiven Holztür zu sehen. Ein großer Künstler schien der Typ zumindest nicht gewesen zu sein.

»Fantastisch«, sagte ich kopfschüttelnd. »Endlich hat Iffington seinen ersten Sprayer und dann ist es so eine Niete.«

Dad drehte sich zu mir um und der Ärger auf seinem Gesicht machte einem Lächeln Platz. »Gut geschlafen?«

Ich nickte. »Wer hat sich denn hier ausgetobt?«

Dad warf den Schwamm in den Eimer, der jetzt mit blutrotem Wasser gefüllt war, das über den Rand schwappte. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, was ich gern mit ihm anstellen würde.«

Er richtete sich auf. Normalerweise neigte Dad nicht zu Wutausbrüchen, aber normalerweise wurde ja auch nicht sein geliebtes Herrenhaus verunziert. Man konnte dem unverschämten Schmierer nur wünschen, dass Dad ihn niemals zu fassen bekam. Mein Vater war ein großer, kräftiger Mann, der in seiner Jugend Boxer gewesen war und noch immer einen Sandsack im Arbeitszimmer hängen hatte. Zu Trainingszwecken. Dass er auffällig oft trainierte, wenn der Karierte Nörgler zu Gast war, mochte ein kurioser Zufall sein.

»Und das ausgerechnet heute. Ich habe schon zum dritten Mal frisches Wasser geholt.« Dad packte den Eimer. »Ich muss das wegwischen, bevor Sally ankommt, sonst erwürgt mich deine Mutter.«

»Sally?«

»Ach. Genau.« Dad kratzte sich am Kopf. »Du sollst zu Mum kommen.« Er trug den Eimer verdächtig schnell weg und ließ mich mit der Frage, wer um alles in der Welt Sally war, stehen.

Die Rezeption war menschenleer. Ich stützte mich mit beiden Armen auf der Theke aus dunklem Holz ab, um mit einer kleinen Verrenkung einen Blick in das dahinterliegende Büro werfen zu können. »Mum? Bist du da?«

Ich hörte, wie Mum auf ihrem Drehstuhl zurückrollte, dann kam sie eilig aus dem Büro. »Oh, kleiner Kürbis. Endlich.«

»Endlich?« Ich fingerte mein Handy aus dem Känguruschürzenbeutel und prüfte verunsichert die Uhrzeit. »Es ist noch nicht einmal sieben Uhr.«

»Ja, so meinte ich das auch nicht.« Mum schob die Schwingtür in der Rezeption mit der Hüfte auf und kam um den Tresen herum. »Ich wollte dich kurz sprechen, bevor du anfängst zu arbeiten.«

Irgendwie wirkte sie nervös.

»Solange du mich nicht feuern willst«, scherzte ich, aber Mums Gesicht blieb angespannt.

Mir fiel auf, dass Mum heute außergewöhnlich gut aussah. Ich meine, das tat sie immer, doch an diesem Morgen war sie besonders elegant gekleidet. Sie trug ein neues Kostüm, dunkelgrau, tailliert, mit weißer Bluse und hohen Schuhen. Ich kombinierte blitzschnell. »Wir erwarten wohl einen wichtigen Gast?«

Mum nickte. Hin und wieder hatten wir hochrangige Gäste wie zum Beispiel im letzten Jahr die Delegation des Vereins zur Erhaltung und Pflege der Herzogin-Quarrelfield-Rose, aber noch nie hatte Mum mich vorher gebrieft. Es musste sich also um jemand wirklich Bedeutenden handeln. Meine Gedanken rissen sich los und ich rief aufgeregt: »Die Queen!«

»Sei nicht albern, Luisa.«

»Ein Schauspieler? Eine Sängerin?«

»Du musst mir versprechen, dich normal zu verhalten.«

»Selbstverständlich«, sagte ich und richtete meine Frisur. »Wer ist es? Los, sag schon!«

»Estelle Fahey.«

»Estelle … Fah…« Ich bekam den Mund nicht mehr zu. Estelle Fahey war eine bekannte Schauspielerin, die gerade mit »Post Scriptum« in den Kinos war. Ein Agententhriller und ganz und gar nicht mein Genre. Aber darum ging es nicht. Sie war Schauspielerin, berühmt und demnächst Gast im Runmore Manor. Grund genug, hysterisch zu werden und augenblicklich Emma zu informieren, damit wir Star-Selfies machen konnten.

Mum sah mir meine Gedanken wohl an, denn sie schürzte streng die Lippen. »Lu, beruhig dich, ja? Sally will auf keinen Fall …«

»Sally?« Da war er schon wieder, dieser Name. Wer war diese Sally und was hatte sie mit meinem VIP-Gast zu tun?

»Estelle ist Sally«, erklärte Mum. »Oder Sally ist Estelle.« Sie überlegte kurz und schüttelte dann energisch den Kopf. »Sie möchte hier für ein paar Tage abschalten und den Londoner Paparazzi aus dem Weg gehen. Sie will keinen Trubel, will auf keinen Fall aufdringliche Fans, die Fotos schießen, und schon gar nicht, dass sich die Iffingtoner anders als früher verhalten. Deshalb benehmen wir uns alle ganz normal, wenn sie nachher ankommt, ja?«

Ich nickte. Schon klar. Abschalten, keine Fotos, normales Verhalten. Das würde definitiv nicht funktionieren. Ich stutzte. »Ähm … Moment. Was meinst du mit ›anders als früher‹?«

Mum atmete tief durch. »Sally kommt aus Iffington. Sie war früher gut mit deinem Dad und mir befreundet …«

»Was?« Ich schnappte empört nach Luft. Meine Eltern kannten Sally Schrägstrich Estelle Fahey und hatten das vor mir verheimlicht? »Warum habt ihr mir das nie erzählt?«

»Weil es keine Rolle spielt.« Mum wollte sich hinter der Rezeption in Sicherheit bringen und das Gespräch damit beenden, aber so leicht ließ ich mich nicht abschütteln und folgte ihr ins Büro.

»Du bist mit einer Berühmtheit befreundet und gibst nicht damit an?«

»Wir waren mal befreundet. Das ist ein Unterschied«, erklärte Mum in einem Ton, der fast ein wenig sentimental klang. »Und bitte behalt es vorerst für dich, ja, Kürbis? Sie kommt als Sally. Die Angestellten sollen sie wie jeden anderen Gast auch behandeln.«

»Ja, ja, ich werde schweigen wie ein Grab.«

Mum saß wieder an ihrem Schreibtisch, vergrub sich in einen Stapel Papiere und gab schnaufend vor, irre viel zu tun zu haben.

Ich hatte nicht vor, darauf reinzufallen. »Und warum freust du dich nicht auf deine alte Freundin?«

»Wer sagt denn, dass ich das nicht tue?«

»Deine zusammengekniffenen Lippen.«

Sofort zog Mum die oberste Schublade des Schreibtisches auf und holte einen Handspiegel heraus, in dem sie sich kritisch betrachtete.

»Ach, du meine Güte«, murmelte sie und kramte aus der gleichen Schublade einen Lippenstift hervor. Sie trug die knallrote Farbe auf und übte mit vorgehaltenem Spiegel ein fröhliches Gesicht.

Hm. Irgendetwas war hier oberfaul. Warum machten meine Eltern so ein Geheimnis aus ihrer Freundschaft zu einer berühmten Schauspielerin?

Aus Mum würde ich im Moment definitiv nicht mehr herausbekommen. Bevor ich das Büro verließ, nahm ich eine Packung Marzipanherzen aus dem großen Karton in der Ecke und hörte im Davongehen, wie Mum in verschiedenen Tonlagen das Wort »Willkommen« probte. Nicht sehr überzeugend.

3. KAPITEL

Nachdem ich Emma in einer sehr langen Nachricht verkündet hatte, welch hohen Besuch wir heute im Runmore Manor erwarteten, machte ich mich an die Arbeit. Mrs Henderson, unsere resolute Hausdame, hatte die Zimmermädchen so eingeteilt, dass wir immer zu zweit in einer der drei Etagen arbeiteten. Ich wurde mit Dory in die zweite Etage geschickt, in der sich drei Einzelzimmer und die beiden Suiten befanden.

Die Bewohner von Elf reisten heute ab, die in der Zwölf blieben noch und befanden sich gerade beim Frühstück, weshalb wir mit dieser Suite begannen. Während Dory sich das Badezimmer vornahm, schüttelte ich die Betten auf und legte sie akkurat zurecht, wie ich es von Mrs Henderson gelernt hatte. Danach saugte ich den Fußboden gründlich ab, auch unter dem Bett, ging mit einem Tuch über das Sofa aus grünem Leder und wischte sorgfältig Staub.

Ich arbeitete gern mit Dory zusammen, auch wenn sie eindeutig zu viel redete. Sie schnatterte ununterbrochen, selbst wenn der Staubsauger lief, und so kam ich gar nicht erst in Versuchung, ihr von unserem VIP-Gast zu berichten.

Wir waren schnell fertig und schafften noch die Einzelzimmer, bevor wir in die Elf konnten. Das war das mit Abstand größte Zimmer im Runmore Manor, mit eigenem Balkon und Blick auf den See. Einfach traumhaft.

Bestimmt würde Estelle später diese Suite beziehen. Ich malte mir aus, wie sie inkognito mit Sonnenbrille und Hut auf dem Balkon stand, das Manuskript für ihre nächste Rolle in der Hand, ihren Agenten am Telefon. Ob sie eine Diva war, anstrengend und kompliziert? Oder kam sie tatsächlich als Sally, das Mädchen aus Iffington?

Ich trat kurz auf den Balkon, um die frische Luft zu genießen. Es war ein angenehm milder Oktobertag und die Sonne blitzte zwischen den Wolken hervor.

Gedankenverloren griff ich nach meinem Medaillon, das ich wie immer an einer Kette um den Hals trug. In Momenten wie diesen wusste ich, dass ich niemals woanders leben wollte. Meine Familie residierte schon seit unzähligen Generationen im Runmore Manor, alle meine Vorfahren väterlicherseits waren in diesem Haus zur Welt gekommen. Und auch wenn mir die adelige Familiengeschichte manchmal auf die Nerven ging, so erfüllte mich in diesen Mauern ein Gefühl von Geborgenheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals aus Iffington wegzuziehen.

Ich beobachtete, wie Nebelschleier über den See und die Pferdekoppel zogen und in den angrenzenden Wald krochen, als wollten sie sich zwischen den alten knorrigen Bäumen verstecken. Drei Krähen stiegen aus dem dichten Blätterdach in den Himmel auf. Eine Bewegung im Schatten der Bäume zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Dort, wo der Weg in den Wald hineinführte, wallte der Nebel auf, so als wäre er auf ein Hindernis gestoßen. Ich kniff die Augen zusammen. Stand dort etwa jemand? Doch nachdem ein heftiger Windstoß den Nebel fortgewirbelt hatte, lag der Weg einsam und verlassen da.

»Lu, wo steckst du denn?« Dorys Stimme riss mich aus meinem Tagtraum und ich machte mich schnell daran, die Betten neu zu beziehen. Dory kümmerte sich um das Badezimmer, von wo aus sie munter weiterplapperte. Es ging um einen gewissen Dan oder Stan, das wusste ich nicht mehr genau und ich traute mich auch nicht nachzufragen. Sie erzählte mir schon die ganze Woche von ihm und ich wollte ungern zugeben, dass ich nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Sie war ziemlich verliebt und bereit, ihn zu heiraten. Wenn er sie nur endlich fragen würde. Warum ließ sich der Kerl auch so viel Zeit? Immerhin kannten sie sich schon beinahe zehn Tage.

Ich grinste vor mich hin, da schrie Dory auf. Sie kam rückwärts aus dem Badezimmer gestolpert, kreidebleich im Gesicht, die Flasche mit dem Desinfektionsmittel wie eine Pistole von sich gestreckt.

»Dory, was ist denn?« Ich ließ das halbbezogene Kissen aufs Bett fallen und lief zu ihr. »Ist was nicht in Ordnung?«

»Der … der Spiegel …«

»Der Spiegel?« Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und sah sie besorgt an. »Was ist mit dem Spiegel?«

»Es … es war …«

»Ja?« Meine Güte. Sonst musste man ihr doch auch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.

Ich nickte ihr aufmunternd zu, bis sie endlich sagte: »Es war etwas darin zu sehen. Bitte lach mich nicht aus, ja? Aber ich schwöre, ich habe jemanden im Spiegel gesehen. Jemand stand hinter mir, als ich das Waschbecken geputzt habe.«

»Was?« Ich ging ins Badezimmer und sah mich um. Es wäre sehr untypisch für die Stammgäste, die Zimmermädchen zu erschrecken, also wunderte es mich auch nicht, keinen von ihnen zu entdecken. Abgesehen davon, dass andere Menschen sie nicht sehen konnten, auch nicht durch einen Spiegel.

»Hier ist niemand, Dory«, sagte ich möglichst beruhigend.

»Aber …«

»Vielleicht ist ein Vogel am Fenster vorbeigeflogen und du hast die Bewegung im Spiegel gesehen?« Da sie mir einen skeptischen Blick zuwarf, setzte ich erklärend hinzu: »Die Krähen sind in diesem Jahr ziemlich fett.«

»Ich hätte schwören können …« Dory blieb im Türrahmen stehen und verstummte. Dann begann sie aufgekratzt zu lachen. »Jetzt habe ich mir wirklich eingebildet, hier spukt es. Mitten am Tag. Lächerlich.«

»Ja, lächerlich.« Ich lachte mit. Aber nur, weil Dory glaubte, Geister würden bloß nachts spuken.

»Das kommt davon, dass so viele Gäste behaupten, das Runmore Manor sei ein Geisterhaus.« Dory fing sich wieder, und ich musste ihr versprechen, Dan oder Stan nichts von ihrem eingebildeten Geist zu erzählen. Das konnte ich ruhigen Gewissens tun, schon allein deshalb, weil ich ehrlich gesagt keine Ahnung hatte, wer er überhaupt war.

Wir waren mit der Elf trotz des Zwischenfalls rasch fertig und Dory schob den Wagen mit den Putzutensilien davon. Ich legte je ein Tütchen mit einem Marzipanherzen auf die Kopfkissen und steckte mir selbst auch eins in den Mund.

Bevor ich die Suite verließ, ging ich noch einmal ins Badezimmer und sah prüfend in den Spiegel. Er war blitzblank und streifenfrei. Dennoch sagte ich mit Marzipan auf der Zunge: »Lieber Lord, solltest du dich hier herumtreiben, verzieh dich, ja?«

Mrs Henderson trug Dory und mir auf, den anderen Zimmermädchen noch unter die Arme zu greifen, damit bis zehn Uhr alle Zimmer geputzt und überall frische Handtücher verteilt waren. Danach entließ sie mich und ich lief die geschwungene Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Es gab zwar einen kleinen Fahrstuhl, damit das Gepäck bequem transportiert werden konnte, aber den benutzte ich nur, wenn ich viel Zeit hatte. Bis er oben angekommen war, war ich schon lange unten.

Ich durchquerte den Eingangsbereich und ging auf die bei gutem Wetter stets offen stehende Haustür zu. Als gutes Wetter zählte übrigens auch Regen bei Temperaturen über fünfzehn Grad, und an diesem Maßstab gemessen hatten wir hervorragendes Wetter. Sonnenschein ließ das Wasser im runden Brunnen in der Hotelauffahrt glitzern und alles sah dank Greg, unserem Hausmeister und Gärtner, sauber und gepflegt aus. Trotzdem lief Mum aufgeregt über den Weg aus weißem Kies und war im Begriff, ihre hohen Schuhe zu ruinieren, indem sie einzelne, über den Rand gerollte Steinchen mit der Spitze zurückschob. Dad hingegen stand mit verschränkten Armen und finsterer Miene da und betrachtete die Fassade neben der Tür.

Ich stellte mich zu ihm. Von den seltsamen Strichen war nur noch ein Hauch zu sehen, aber das Wasser, mit dem er sie abgewaschen hatte, hatte einen dunklen Fleck hinterlassen, der ihn garantiert gerade an seinen Sandsack denken ließ.

»Wir sollten doch Kameras aufstellen«, murmelte er mehr zu sich selbst.

Mein Vater war eigentlich kein großer Technikfreund und wollte das alte Herrenhaus möglichst ursprünglich erhalten. Mum hatte zum Beispiel im letzten Jahr die Idee gehabt, den Eingang umzubauen und die Holztür durch eine moderne Schiebetür aus Glas zu ersetzen, doch Dad hatte das entschieden abgelehnt.

Stirnrunzelnd sah ich zu, wie Mum versuchte, ihre Schuhe an Gregs frisch gemähtem Rasen zu säubern. »Dad, warum habt ihr mir nie von eurer Freundschaft mit Estelle …?«

Weiter kam ich nicht. Mum sprang über den Kiesweg auf uns zu und bekam so etwas wie einen kleinen Nervenzusammenbruch, als sie Dad und mich genauer betrachtete.

»William!« Sie zupfte am Hemd meines Vaters herum. »Wie siehst du denn aus?«

Mein Vater deutete auf den Wasserfleck. »Ich habe bis eben daran herumgeputzt. Hätte ich das im Anzug machen sollen?«

Mum schnaufte und knöpfte sein Hemd bis zum Hals zu, was ihn leise meckern ließ. Ihr nächster Vorwurf galt mir. »Und du? Warum bist du noch nicht umgezogen?«

»He!« Das war ungerecht, ich war nur zufällig vorbeigekommen und hatte gar nicht vorgehabt, eine berühmte Schauspielerin in Empfang zu nehmen. Denn dass Mum nur deswegen so am Rad drehte, war offensichtlich. »Ich musste bis gerade eben arbeiten.« Ich verkniff mir die Frage, ob ich das im Anzug hätte machen sollen, weil Mum gerade augenscheinlich nicht zu Scherzen aufgelegt war.

Da näherte sich der Grund für Mums Aufregung. Ein silberfarbener Wagen war in die Einfahrt eingebogen und rollte knirschend über den Kiesweg heran.

»Sehr unauffällig, der Bentley«, sagte mein Vater und sprach damit meine Gedanken aus. Wenn Estelle ernsthaft als Sally hätte anreisen wollen, dann wäre eine Nummer kleiner angesagt gewesen.

»Wenigstens ist es kein Rolls-Royce«, stimmte ich zu, was uns beiden einen kleinen Knuff von Mum bescherte.

»Benehmt euch!«, zischte sie und ging auf den Wagen zu, der in einigem Abstand zum Halten gekommen war.

Die Beifahrertür öffnete sich und eine schlanke Frau mit wasserstoffblonden Haaren stieg aus. Wir beobachteten, wie Mum zwischen einem professionell höflichen Handschlag und einer Umarmung hin- und hergerissen war, sich schließlich zu der Umarmung durchrang und Sally Schrägstrich Estelle um den Hals fiel. Diese erwiderte die herzliche Begrüßung lachend.

»Weißt du, was ich mich frage?«, wollte Dad wissen. Er machte keinerlei Anstalten, Sally ebenfalls willkommen zu heißen.

»Hm?«

»Wer fährt diesen Schlitten?«

»Äh, ein Fahrer?«, mutmaßte ich.

»Ein Fahrer.« Dad ließ das Auto nicht aus den Augen. »Ein Fahrer, der hoffentlich gleich wieder abfährt. Sally hat nur ein Zimmer gebucht. Von einem ihrer Liebhaber war nie die Rede.«

Ich zuckte mit den Schultern. Wenn es einer ihrer Liebhaber war, dann würde der doch sowieso mit ihr in der Suite schlafen. Kein Grund zur Aufregung.

Mum und Sally kamen nun Arm in Arm auf uns zu. Sie redeten beide gleichzeitig, lachten und wirkten wie zwei Freundinnen, die sich eine Menge zu erzählen hatten.

Dad sagte noch immer nichts und ich nahm Estelle wie gebannt in Augenschein. Sie sah schlicht phänomenal aus, hatte die aufgehellten Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und trug ein enges schwarzes Kleid. Unter dem Arm klemmte eine rote, farblich auf die unfassbar schicken Schuhe abgestimmte Clutch. Wahnsinn.

»Will!« Estelle legte eine Hand über ihren Mund, als hätte sie gar nicht damit gerechnet, meinen Vater im Runmore Manor anzutreffen.

Ich kannte Dad gut genug, um zu wissen, dass er sich am liebsten aus dem Staub gemacht hätte. Er blieb jedoch stehen, selbst als Estelle ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.

Ich war sicher, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören. Ich überlegte noch, wie ich Estelle am besten ansprechen sollte, da schob Mum sie schon die Stufen zum Eingang hinauf und verschwand mit ihr im Hotel. Dad warf noch einen grimmigen Blick zum Auto, bevor er tief durchatmete und ebenfalls hineinging.

Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Als die Delegation des Vereins zur Erhaltung und Pflege der Herzogin-Quarrelfield-Rose eintraf, musste ich jedem einzelnen Mitglied die Hand schütteln und mich artig als Luisa Runmore, die sich sehr, sehr freute, präsentieren. Aber wenn ein wirklich wichtiger Gast anreiste, war ich Luft?

»Na toll!«, maulte ich vor mich hin und wollte ihnen folgen, damit Mum Gelegenheit hatte, ihren Fehler auszubügeln. Das Schlagen einer Autotür ließ mich innehalten. Ich drehte mich um und mir entfuhr ein überraschtes: »Oh!«

Das hatte zwei Gründe. Erstens war der Fahrer, der dem Bentley entstiegen war, ausgesprochen gut aussehend. Und zweitens war er ausgesprochen jung. Ich schätzte ihn auf höchstens zwanzig. Wenn das Estelles Liebhaber war, war mir klar, warum sie keine Fotos wollte.

Romeo betrachtete gedankenversunken das Herrenhaus und auf seinem Gesicht zeigte sich etwas, das ich nicht deuten konnte. War er enttäuscht, weil das Runmore Manor kein supermoderner Fünfsterneschuppen inmitten einer pulsierenden Großstadt war? Hatte er sich von seinem Ausflug mit dem Star Estelle Fahey etwas anderes erhofft?

Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn nicht einfach stehen lassen und ging entschlossen auf ihn zu, Mums entwaffnendes Begrüßungslächeln imitierend. »Willkommen im Runmore Manor. Hatten Sie eine angenehme Anreise?«

Seine Augen lösten sich nur widerwillig vom Gebäude und er richtete sie auf mich. Sie waren grau und von langen, gebogenen Wimpern umgeben. Der Blick aus ihnen traf mich wie ein kühler Windstoß und ich hätte mich gern weggedreht, hielt ihm aber, tapfer weiterlächelnd, stand.

»Falls Sie Fragen zum Herrenhaus und seiner Geschichte haben«, bot ich freundlich an, »kann ich Ihnen gerne einiges darüber erzählen.«

Er war ungefähr so groß wie Thomas, vielleicht ein, zwei Zentimeter kleiner. Seine Schultern waren auch nicht so breit wie die des Stallburschen, aber unter dem eng anliegenden, langärmligen Shirt zeigte sich ein athletischer Körperbau. Er hatte eine schöne und bemerkenswert gerade Nase, wundervolle Wangenknochen und dichtes dunkles Haar, das ihm locker in die Stirn fiel. Er sah gnadenlos gut aus und ich war gerade drauf und dran, mich in sein Äußeres zu verlieben, als er sagte: »Das Gepäck ist im Kofferraum.«

»Äh …« Okay. Wahrscheinlich war er durch mein Zimmermädchenkleid in die Irre geführt worden. »Oh, tut mir leid, aber ich bin nicht für Ihr Gepä...«

»Passen Sie auf den Lack auf.«

Seine eigentlich warme Stimme hatte nun den gleichen Effekt wie ein Eimer Wasser, den man mir ohne Vorwarnung über den Kopf gekippt hatte, und ich stand da wie ein begossenes viktorianisches Känguru.

»Entschuldigung, aber ich wollte nur …« Meine Worte waren immer leiser geworden, bis ich ganz aufhörte zu sprechen.

Er musterte mich noch einmal von oben bis unten, ließ mit einem Knopfdruck auf den Schlüssel den Kofferraum aufspringen und sagte kühl: »Und nichts fallen lassen. Sie könnten sich nicht mal von Ihrem Jahresgehalt einen solchen Koffer leisten. Vom Inhalt ganz zu schweigen.«

Mein Mund stand wie der Kofferraum des Bentleys weit offen, als ich ihm hinterhersah.

Noch nie war ich so behandelt worden, selbst der blasierte Vorsitzende des Herzogin-Quarrelfield-Rosendingens war weniger überheblich gewesen.

Einen klitzekleinen Moment lang zog ich ernsthaft in Erwägung, das Gepäck ins Hotel zu schleppen. Mit einem Blick auf den Angeber, der mit den Händen in den Hosentaschen über den Kiesweg schlenderte, verwarf ich den Plan allerdings wieder. Wenn er so besorgt um seine wertvollen Sachen war, warum trug er sie dann nicht selbst?

»Das Gepäck ist im Kofferraum?«, zischte ich sauer. »Na, da wird es dann wohl auch bleiben.«

Wütend überholte ich ihn auf dem Weg ins Hotel. Beim Anblick meiner kofferlosen Hände blieb er stehen und drehte sich zum Auto um. »He, was ist mit dem Gepäck?«

»Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn es gut erzogen ist, kommt es möglicherweise nach.«

Er starrte mich an. »Soll das ein Scherz sein?«

»Oh, Verzeihung.« Ich machte einen Knicks, den ich mir von Sophie abgeguckt hatte. »Aber ich ungeschickte Dienstmagd mache womöglich noch einen Kratzer in den Lack. Und ich könnte die Reparatur in hundert Jahren nicht abbezahlen.«

»Arbeiten Sie hier oder nicht?«

Ich warf ihm einen, wie ich stark hoffte, herablassenden Blick zu. »Ich wohne hier.«

Seine grauen Augen musterten mich wieder. Ich wandte mich ab und stampfte ohne ein weiteres Wort die Stufen zum Eingang hinauf. Ich wollte nur noch in mein Zimmer, das blöde Zimmermädchenkleid in die Ecke pfeffern und mich mit Emma in Iffington treffen. Erst der ätzende Albtraum, dann dieser Schnösel – der Tag ging mir jetzt schon gehörig auf die Nerven. Ich brauchte dringend eine große Menge Zucker, am liebsten in Form eines Stück Kuchens im Iff Only.

Ich schickte Emma diesbezüglich eine Nachricht und betrat den Eingangsbereich.

»Ah, da ist sie ja.« Bedauerlicherweise war Mum ausgerechnet jetzt wieder eingefallen, dass sie eine Tochter hatte. Sie kam freudestrahlend auf mich zu, packte mich an den Schultern und bugsierte mich geradewegs auf Estelle zu.

Mein Bedarf an Starallüren war für diesen Vormittag bereits gedeckt und ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, doch Estelles Strahlen wirkte aufrichtig nett und ließ meinen gröbsten Ärger verpuffen.

»Hallo, Lu. Darf ich dich so nennen, ja? Ich bin Estelle. Hoffentlich haben wir beide Gelegenheit, uns ein bisschen kennenzulernen.« Sie umarmte mich und ich roch ihr Parfum, einen warmen, holzigen Duft mit frischer Zitrusnote. »Deine Mutter und ich waren früher unzertrennlich, weißt du? Und du hast viel von ihr.« Sie legte ihren hübschen Kopf schief und betrachtete mich eingehend. »Aber noch mehr kommst du nach der Familie deines Vaters. Du siehst aus wie …«

Ich konnte ihren Worten nicht mehr folgen, denn plötzlich überkam mich Übelkeit. Meine Knie wurden weich, mein Magen zog sich zusammen und ich spürte ein heftiges Brennen in der Brust. Ich sah Estelles Gesicht vor mir, ihr Mund bewegte sich, doch ich konnte nichts hören. Ich schwankte leicht und ihr Lächeln verwandelte sich in eine besorgte Miene.

»Geht es dir gut, Lu?«

Der Ton war wieder da. Das Unwohlsein war verschwunden, meine Knie fühlten sich wieder ganz normal an und mein Atem beruhigte sich. Ich holte einmal tief Luft und nickte. »Ja, alles in Ordnung, danke.«