In Rente - Wolfgang Prosinger - E-Book

In Rente E-Book

Wolfgang Prosinger

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Beschreibung

«Was für eine Zumutung, dachte Hecker, dass wir gerade im Alter gezwungen sind, aus diesem Trott, den wir uns wohlweislich geschaffen haben, herauszutreten und das Leben neu zu erfinden. In Rente, fand Hecker, und er hielt das für eine nüchterne Betrachtung, sollte man eigentlich mit zwanzig gehen, dann hätte man Kraft für diesen Lebensumschwung. Aber ihn mit seinen 65 Jahren damit zu belästigen – ‹Nein danke›, rief er laut, und er fand sich wunderlich, weil er allein in der Küche stand, Pilze putzte und nirgendwo ein Zuhörer war.» Nichts bedeutet eine größere Veränderung für unser Leben als der Renteneintritt. Denn wir werden ab der Grundschule vom Leistungsgedanken bestimmt: Schule schaffen, Job bekommen, Karriere machen etc. Plötzlich aber geht es nicht mehr um Leistung. Eine Konstante, die das Leben 60 Jahre lang bestimmt hat, bricht weg. Ist das ein Glücksfall, weil leidige Pflichten und Zwänge endlich wegfallen? Oder bedeutet es den Absturz in die Bedeutungslosigkeit und den Verlust des Lebenssinns? Einfühlsam, dicht und humorvoll beschreibt Prosinger den Weg in die Rente, der uns alle – ganz unmittelbar oder als Angehörige – angeht.

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Seitenzahl: 226

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Wolfgang Prosinger

In Rente

Der größte Einschnitt unseres Lebens

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Was für eine Zumutung, dachte Hecker, dass wir gerade im Alter gezwungen sind, aus diesem Trott, den wir uns wohlweislich geschaffen haben, herauszutreten und das Leben neu zu erfinden. In Rente, fand Hecker, und er hielt das für eine nüchterne Betrachtung, sollte man eigentlich mit zwanzig gehen, dann hätte man Kraft für diesen Lebensumschwung. Aber ihn mit seinen 65 Jahren damit zu belästigen – ‹Nein danke›, rief er laut, und er fand sich wunderlich, weil er allein in der Küche stand, Pilze putzte und nirgendwo ein Zuhörer war.»

Nichts bedeutet eine größere Veränderung für unser Leben als der Renteneintritt. Denn wir werden ab der Grundschule vom Leistungsgedanken bestimmt: Schule schaffen, Job bekommen, Karriere machen etc. Plötzlich aber geht es nicht mehr um Leistung. Eine Konstante, die das Leben 60 Jahre lang bestimmt hat, bricht weg. Ist das ein Glücksfall, weil leidige Pflichten und Zwänge endlich wegfallen? Oder bedeutet es den Absturz in die Bedeutungslosigkeit und den Verlust des Lebenssinns?

Über Wolfgang Prosinger

Inhaltsübersicht

MottoWidmungDie UnterschriftDas Dolomiten-DesasterDie EinladungThe times they are a-changin’Ja, mach nur einen PlanFehl am PlatzDie QuittungIm NiemandslandDer letzte TagAlte LiebeDie verschwendete ZeitAußer DienstFranziskas EntscheidungEin TodesfallAnfängeDie Botschaft der SchwäneNachbemerkung und DankZum Weiterlesen

A perpetual holiday is a good working definition of hell

Immer Urlaub ist eine gute Arbeitsdefinition von Hölle

George Bernard Shaw

Für Annette

Die Unterschrift

Thomas Hecker stellt den Rentenantrag, begegnet dabei seinen Altersgenossen und erschrickt

Hecker hatte sich vor diesem Tag gefürchtet. Aber dass es so schlimm kommen würde, das hatte er nicht geahnt.

Es war im März gewesen, als er bei der Deutschen Rentenversicherung angerufen hatte. In ein paar Monaten würde er seinen 65. Geburtstag feiern, Zeit, sich endlich darüber zu informieren, was da auf ihn zukam. Rente. Thomas Hecker hatte sich bisher nicht darum gekümmert, also bat er um einen Termin für ein Beratungsgespräch. «Na, wann ist es denn bei Ihnen so weit?», hatte der Mann am Telefon gefragt mit jener Servicefreundlichkeit, die in den vergangenen Jahren die Behörden ergriffen hatte. «In einem guten halben Jahr, glaube ich», hatte Thomas Hecker geantwortet. «Dann können Sie doch gleich Ihren Rentenantrag stellen, wenn Sie schon mal bei uns sind», sagte der Mann und versprach sofort, er werde Hecker in den nächsten Tagen einen Brief zugehen lassen mit einer Liste aller jener Dokumente, die für ein reibungsloses Ausfüllen des Rentenantrags unabdingbar seien, er betonte: unabdingbar.

Hecker hatte sein ganzes Leben ungern Listen abgearbeitet. Aber in der Unordnung seiner Aktenordner fand er dann doch das unabdingbar Benötigte: Sozialversicherungsnummer, Steueridentifikationsnummer, IBAN-, BIC- und Kontonummer, Krankenversicherungsnummer, Schul- und Hochschulzeugnisse. Das, beruhigte er sich, werde wohl reichen für einen Antrag, der ihn in jeder Hinsicht auf neues Terrain führen würde.

Hecker lebte seit 15 Jahren in Berlin. War von Süddeutschland hierhergezogen, der Arbeit wegen. Hatte nach Stationen bei verschiedenen Tageszeitungen eine Stelle als Redakteur bei einer Monatszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur bekommen und war in all den Jahren in der Stadt heimisch geworden. Aber wo sich das Gebäude der Deutschen Rentenversicherung befand, hatte er bis dahin nicht gewusst. Er musste die Straße erst umständlich suchen, die Gegend war ihm gänzlich unbekannt.

Kaum hatte er das Gebäude betreten, fühlte er ein Unwohlsein. Hecker kannte dieses Gefühl beim Betreten einer Behörde seit Jahrzehnten, vermutlich eine Behördenphobie, Behördenallergie, er fühlte sich, kaum trat er durch eine Amtstür, augenblicklich kleinmütig und verzagt, ausgeliefert jenen geheimnisvollen Mächten, die in den zahllosen Zimmern zu Hause waren, die an grauen Gängen lagen. Auch jetzt, im Gebäude der Rentenversicherung, vierte Etage, bitte, sagte der Pförtner, erging es ihm so, wie es ihm immer ergangen war. Aber diesmal war es mehr als die gewöhnliche Behördenunpässlichkeit, diesmal bedrängte und bedrückte ihn das Gefühl der Endgültigkeit: Dann können Sie doch gleich Ihren Rentenantrag stellen! Jetzt war er also gekommen, dieser Moment, er würde ein Formular unterschreiben. Und diese Unterschrift besiegelte etwas. Das Ende seines Arbeitslebens. Hecker mochte das Wort «besiegeln» nicht. Öffnen hatte er immer besser gefunden als schließen.

So war es also keine geringe Last, die Hecker an einem sonnigen Vorfrühlingstag in den vierten Stock schleppte, wo er einen Anmeldetresen vorfand sowie die Aufforderung, sich ein wenig zu gedulden. Hecker sah sich um, ein großer Warteraum, Zimmerpflanzen in schwarzen Kübeln, grauer Filzboden, graue Vorhänge, braune Stuhlreihen. Geriatrische Farben, dachte er mit einem unpassenden Anflug einer Heiterkeit, eines kleinen Lachens in die eigene Brust hinein, und setzte sich auf einen der braunen Stühle.

Dann passierte es. Er sah die Gesichter, sah diese Körper, Hecker sah die Menschen neben und vor und hinter sich, die auf den Stühlen saßen. An die vierzig mochten es sein, hauptsächlich Männer. Er sah Müdigkeit, Erschöpfung, Missmut. Er sah Gesichter, die er verlebt fand, zu Ende gelebt. Augen, die nicht blickten. Köpfe, die sich nicht aufrecht hielten. Hecker sah: das Alter. Hecker sah Menschen, die bald 65 wurden. Und Hecker sah: Das bin ich.

Noch nie hatte er eine so unmittelbare, so schonungslose Begegnung mit seinem eigenen Alter erlebt wie in diesem Moment. Er sah diese Altersgenossen in der vierten Etage, alle vermutlich hier, um dasselbe Endgültige zu tun, wie Hecker es sich anschickte zu tun, und er war einer von ihnen. So, wie ich sie sehe, dachte er, so sehen sie mich. Müde, erschöpft, missmutig.

In ihm war keine Solidarität, kein Gemeinschaftsgefühl, er fühlte im Gegenteil einen Unmut in sich hochsteigen, eine Übellaunigkeit. Ich bin nicht so wie die, knurrte er, ich bin nicht müde, erschöpft, missmutig, ich werde 65, aber ich bin nicht alt, nicht so alt wie alle die. Beigefarbene Blousonjacken. Pullis aus dem vergangenen Jahrtausend. Großvaterschuhe, Marke «Mephisto», manche trugen Plastiktüten in der Hand. Allenthalben schien Hecker jetzt sogar Zeichen der Verwahrlosung bei den Wartenden wahrzunehmen. Rasiert euch!, donnerte seine innere Stimme. Lächelt! Haltet euch gerade! Aber niemand hörte ihn. Seine eigene Stimme drehte sich in seinem Kopf wie in einer Endlosschleife und wollte sich gar nicht beruhigen. Du bist wie sie. Du unterscheidest dich nicht.

Dann ertönte eine andere Stimme. Nicht zu überhören. Sie kam aus einem Lautsprecher. «Herr Thomas Hecker, bitte Zimmer 423.»

Hecker erhob sich, klemmte sich die Klarsichtmappen mit den unabdingbar benötigten Dokumenten fest unter den Arm, umrundete mit feindseligen Blicken, mit hilflosen zugleich, seine Alters- und Leidensgenossen auf den braunen Stühlen und machte sich auf den Weg zu Zimmer 423.

Als er die Tür öffnete, war Hecker sogleich besänftigt. Ihn begrüßte eine blonde Dame in den vierziger Jahren, die ein Schild auf ihrem Schreibtisch als Frau Klausen auswies, Henriette. Und Frau Klausen begegnete Herrn Hecker mit der größten Wohltat, die man einem in einer solchen Situation gewähren kann – mit der Wohltat der seit langem geübten Routine.

Sie fragte sachlich und beharrlich nach Rentenlaufzeiten, Bankverbindungen, Krankenkassen- und Steueridentifikationsnummern – und Hecker wurde augenblicks klar, dass es um weitere Identifikationen hier nicht mehr ging. Also sagte er auf Frau Klausens Fragen ungerührt «Ja» und «Nein» und am häufigsten «Weiß nicht», worauf Henriette Klausen die Augenbrauen hob, aber keineswegs Vorwürfe, sondern einen Eintrag in das Computerformular machte, das Hecker nicht sehen konnte.

Frau Klausen war am Ende durchaus zufrieden mit ihm. Hecker reichte Dokument um Dokument über den Schreibtisch in die vernünftigen Hände der Sachbearbeiterin. Langsam begann sich seine Behördenbeklemmung zu legen, und am Ende unterzeichnete er in vollkommener Nüchternheit das Papier, das Frau Klausen ausgedruckt hatte. Rentenantrag. Und er hat gar nicht gebohrt, schoss es Hecker durch den Kopf.

Ausgerechnet jetzt dieser dümmliche Satz, jetzt in diesem lebensbestimmenden Moment. Man hat sich nicht unter Kontrolle, dachte Hecker. Das Gehirn spielt einem Streiche. Er hatte von sich wahrlich etwas anderes erwartet als diesen peinlichen Zahnarzt-Satz. Etwas Erhabeneres, etwas, das von Größe zeugte oder meinetwegen auch von meiner Verzagtheit, dachte er. Jedenfalls etwas, das dem Ernst dieses Moments entsprach. Schließlich hatte er eine Unterschrift geleistet, die sein Leben von Grund auf verändern würde. Rente. Ruhestand. Rentner Thomas Hecker. Auch wenn es noch mehr als ein halbes Jahr hin war.

Andererseits, überlegte er, war die Banalität des Satzes vom Bohren womöglich angemessen angesichts der Banalität dieser Situation. Er hatte doch genau das getan, was all die Leute um ihn herum auch taten, was die meisten zu tun gezwungen waren, wenn sie sich den 65 näherten. Das war eben nichts Erhabenes. Das war nur der Lauf des Lebens.

Frau Klausen bedeutete ihm nun, dass die Sache hiermit erledigt sei, lediglich die Geburtsurkunde seiner Tochter sei nachzureichen, die habe bei den Papieren gefehlt, ansonsten wünsche sie noch einen schönen Tag.

Hecker erhob sich, verließ Zimmer 423, ging zurück zum Wartesaal, nahm nicht den Fahrstuhl, sondern die Treppe, weil er das Gefühl hatte, er müsse sich jetzt dringend bewegen, grüßte den Pförtner, stand auf der Straße und wunderte sich. Was war nur in ihm vorgegangen, dort oben? Dieser irritierende Ausbruch von Zorn, als er seine Altersgenossen ansah. Und Hecker, in einem Moment der plötzlichen Selbsterkenntnis, dachte: Angst. Ja, das musste es gewesen sein. Angst, als er seinem Alter in die Augen blickte. Angst vor der Begegnung mit seiner Wirklichkeit. Er schüttelte sich, als könnte er sein Alter damit loswerden und sich zurückverwandeln in jene Person, für die er sich all die Jahre stets gehalten hatte: kein junger Mann mehr, gewiss nicht, aber doch kein alter. Mitten im Leben. Aber die Verwandlung wollte ihm nicht gelingen. Jetzt nicht. Er hatte einen Antrag unterschrieben.

Das Dolomiten-Desaster

Hecker unternimmt eine Bergwanderung, erlebt ein blaues Wunder und trauert seiner Jugend nach

Hecker haderte mit sich. Maulte, schimpfte. Den Rest des Tages und den Abend über auch. Was war das nur für eine Vorstellung ganz besonderer Wehleidigkeit, die er da im Rentenamt hingelegt hatte! Sieht in die Gesichter seiner Ruhestandskollegen, findet sie uralt und graust sich davor. Und graust sich zugleich vor sich selbst, vor diesem Mann, der kein anderes Gesicht hat als die anderen und sich plötzlich in der Lächerlichkeit einer angemaßten Jugendlichkeit ertappt.

Aber auch jetzt, Stunden später, drängte sich immer wieder und ganz unabweisbar eine Frage in seinem Kopf nach vorne: Ob das mit der Jugendlichkeit oder, besser gesagt, dem Noch-nicht-ganz-so-alt-Sein wirklich nichts als Anmaßung war? Ob es nicht doch einen Grund dafür gab? Nur einen kleinen, dachte Hecker, von mir aus einen winzig kleinen. Aber eben doch einen Unterschied zwischen seinem alten Gesicht und den uralten Gesichtern der anderen auf den braunen Stühlen. Es musste doch etwas geben, was zu seinen Gunsten spräche. Es waren geradezu flehentliche Gedanken, die in Heckers Kopf kreisten.

Natürlich hatte auch er seine Alterserfahrungen gemacht, nicht erst jetzt mit seinen 64 Jahren machte er sie, auch in den Jahren zuvor waren die Zeichen nicht zu übersehen gewesen. Die körperlichen zumal, obwohl er sich sein Leben lang einer robusten Gesundheit erfreut hatte. Immer öfter wurde er neuerdings von einer ungewohnten Müdigkeit überfallen, sein Rücken plagte ihn schon seit langem. Und neulich erst hatte er sich einen Leistenbruch operieren lassen müssen, Altmännerkrankheit, spottete Hecker, morsches Gewebe. Spott, fand Hecker, war ein gutes Mittel gegen die Morschheit.

Schlimmer war es im Jahr zuvor gekommen, als er mit seiner Frau in den Dolomiten war. Hecker war in jungen Jahren ein unermüdlicher Bergsteiger gewesen. Nicht gerade ein großer Kletterer, da hatte er es nie über den vierten Schwierigkeitsgrad hinaus geschafft, Angsthase, dachte Hecker, aber die großen, langen Gletschertouren in der Schweiz, in Österreich, in Frankreich, die waren seine Spezialität gewesen. Jeden Sommer war er mit seinen Freunden in die Berge gezogen und ihnen stets ein Ärgernis gewesen: weil er alle übertrumpfen wollte mit seiner offenbar unbegrenzten Kondition. Und das, obwohl er damals an die zwei Päckchen Zigaretten pro Tag geraucht hatte. Vielleicht, dachte Hecker, stammt dieses Gefühl der Jugendlichkeit, das er immer noch hegte und pflegte und das so sehr seiner Wirklichkeit widersprach, aus jenen Zeiten. Aus den Zeiten der Unbesiegbarkeit.

Natürlich war die Sache mit den Zigaretten inzwischen längst vorüber, die Sache mit dem Konditionswunder allerdings auch. Also verließ Hecker, was er nicht gerne tat, die Steilwände sowie das ewige Eis und wurde ein älterer Herr, der die Berge auf eher gemächlichen und nicht allzu steilen Wegen durchwanderte, von Hütte zu Hütte. Aber, und darauf bestand er, jedes Jahr, zumindest eine Woche, sollte es diese kleinen Vergegenwärtigungen seiner Jugend immerhin noch geben. Er ging die Wege, die nun Wanderwege waren, mit einer Begeisterung, die nur dadurch geschmälert wurde, dass es eben Wanderwege waren.

Bis diese Sache in den Dolomiten geschah. Es war ein sonniger Oktobertag, wie er für Wanderungen nicht schöner sein konnte. Aber etwas stimmte nicht. Hecker hatte es schon nach wenigen Minuten bemerkt. Die Beine wollten nicht laufen, wie sie immer gelaufen waren, die Schritte fielen ihm schwer, und seine Frau, Franziska, mit der er nach einer gescheiterten ersten Ehe nun schon seit zwanzig Jahren ein Paar war und die gerade mal vier Jahre jünger als er war, blieb stehen und immer wieder stehen, bis der Ehemann endlich angetrottet kam. Die Zeiten des Wartens wurden immer länger. Hecker hatte Krämpfe in den Beinen, Schmerzen in den Muskeln und war doch kaum zwei Stunden unterwegs. Noch nie hatte er so etwas erlebt. Jetzt verfluchte er seinen Widerstand gegen die ausdauernden Mahnungen seiner Frau, er möge endlich einem Fitness-Studio beitreten. Du schlaffst ab, hatte Franziska gesagt, Hecker, alter Mann.

Hecker hatte laut gelacht. Thomas Hecker, junger Mann.

Jetzt schleppte er sich mit brennenden Muskeln und knapper Not zur nächsten Berghütte und wachte am anderen Morgen in einem Zustand der Unbeweglichkeit auf. Kein Problem, hieß es, man sei hier kaum zwanzig Minuten von einer Sesselliftstation entfernt, von der man ins Tal fahren und anschließend mit dem Bus weiterkommen könne. Hecker bedankte sich höflich, bis zum Sessellift brauchte er zwei Stunden.

Die folgenden Tage verbrachte er mürrisch in einem Hotel, humpelte durch die Flure, zog sich am Geländer die Treppenstufen hoch und behandelte die schmerzenden Waden und Oberschenkel mit einem duftenden Öl, Latschenkiefer-Extrakt, probates Mittel für solche Fälle, hatte die fürsorgliche Dame an der Rezeption gesagt. Man habe Erfahrung mit dergleichen, hier im Dolomiten-Wandergebiet. «Unsere Senioren», sagte sie, «übernehmen sich gerne mal.»

Das Wort stand im Raum wie ein Gespenst. Senioren. Hecker hatte es immer verabscheut. Diese schönrednerische Besänftigung, wohlmeinender Vertuschungsversuch. Senioren. Jetzt hörte er dieses Wort zum ersten Mal über sich selbst. Er war in diesem Sommer des Missvergnügens doch erst 64 Jahre alt gewesen. Wahrscheinlich bieten sie mir heute zum Abendessen einen Seniorenteller an, grollte es in ihm.

Thomas Hecker, Senior. Thomas Hecker sen.

Das Dolomiten-Desaster war eine Episode geblieben, nach wenigen Tagen waren die Schmerzen verschwunden, und Thomas Hecker sen. fühlte sich alsbald wieder wie Thomas Hecker jun., jedenfalls beinahe. Immerhin hatte das alpine Erlebnis eine Konsequenz. Zurück zu Hause, fand er es nun doch an der Zeit, den Mahnungen seiner Frau zu genügen, und er suchte einen jener Orte auf, an denen schlaffe Muskeln im Handumdrehen zu straffen Muskeln werden, jedenfalls versprach das die Werbung des Fitness-Studios. Des Weiteren verhieß der Prospekt «Nackt besser aussehen», und Hecker, belustigt, fragte sich, ob er hier wirklich am rechten Platz sei, schien ihm das Thema der wohlgeformten Nacktheit nicht eben vorrangig, jedenfalls was seine Person betraf. Aber er unterschrieb den Mitgliedsantrag, ließ sich von einem sehr jugendlichen Trainer, der sich mit den Worten «Ich bin dein Coach» vorstellte und nackt bestimmt blendend aussah, in die Geheimnisse der zahllosen Muskelmaschinen einweisen. Von nun an besuchte Hecker das Studio jede Woche, manchmal sogar zweimal.

Die Verhältnisse an diesem Ort waren so eindeutig, dass Hecker wider seine Natur keinen Moment einen Zweifel hegte, welcher Gruppe der Turner er hier angehörte. Im Grunde waren es zwei ganz verschiedene Menschenarten, die hier Gewichte stemmten, Bauch, Beine, Po modellierten: ganz Junge und ganz Alte, die einen bemüht um Schönheit, die anderen besorgt um Gesundheit. Hecker betrachtete beide mit Sympathie und Verständnis. Natürlich gehörte er der Gesundheitsfraktion an.

Je länger Hecker das Studio besuchte, umso mehr fand er sich einverstanden mit diesem Ort der Generationsunterschiede. Hier bin ich alt, hier darf ich’s sein, lachte er, betrachtete die Körper der anderen Menschenart mit nicht ganz neidlosem Wohlgefallen, aber ohne inneren Protest.

«Du wirst erwachsen», sagte Franziska, die schon seit Jahren ins Fitness-Studio ging.

«Freu dich nicht zu früh», sagte Hecker.

Weil er wusste, dass hier der Ort der Körper war. Und an Körpern lässt sich nicht zweifeln. An den Köpfen aber schon. Denn Köpfe sind launisch und folgen der schlichten Vernunft der Körper meistens nicht.

Das erfuhr er ein paar Monate später. Er hatte eine Einladung bekommen.

Die Einladung

Hecker geht zu einer Rentner-Party, hört den Gesprächen seiner früheren Kollegen zu und ärgert sich

Ein Kollege hatte eine E-Mail geschickt, er war ein paar Jahre älter als Hecker, Ruheständler seit geraumer Zeit. Viele Jahre hatten sie zusammen gearbeitet bei der Monatszeitschrift. Eine Zeitlang waren sie sogar in einem gemeinsamen Büro gesessen, waren mittags miteinander in die Kantine gegangen, hatten Alltagserlebnisse und Alltagssorgen miteinander besprochen, den jüngsten Klatsch im Betrieb und auch die Texte, die sie für die Zeitschrift schrieben. Hatten sich gegenseitig kritisiert und verbessert. Sich dann aber ein wenig aus den Augen verloren, hie und da ein Telefonat, immer seltener, und seit einem guten Jahr hatten sie gar nichts mehr voneinander gehört. Hecker war nicht verwundert darüber, Ruhestand hat eben etwas mit Ruhe zu tun. Beruf, dachte er, verbindet, Rente trennt.

Und jetzt diese unverhoffte E-Mail. Er plane für den letzten Freitag im März eine kleine Einladung, hatte es darin geheißen, keine große Sache, zehn, zwölf Leute, alles ehemalige Kollegen, Ruheständler wie er, es wäre ihm eine große Freude, wenn er Zeit hätte. Denn Zeit, fügte er hinzu, sei bei ihm gewiss ein kostbares Gut. Schließlich genieße er, Hecker, noch nicht die Vorteile des Rentnerdaseins, diese Zeit im Übermaß. Aber er gehöre, auch wenn er noch nicht pensioniert sei, ganz unbedingt zur Seniorengruppe der Zeitschrift, die er eingeladen habe. Jedenfalls sei diese Freitagseinladung ein Pflichttermin für Hecker, ein Wiedersehen mit der alten Zeit, ein echtes Ehemaligentreffen, er freue sich schon ungemein darauf. Ein Abend voller Erinnerungen, feuchtfröhlich womöglich. Für das leibliche Wohl sei gesorgt.

Hecker schauderte kurz, als er den Satz vom leiblichen Wohl las. Hatte er die Formulierung doch in all seinen Redakteursjahren konsequent aus Texten gestrichen. Sein Kollege hatte das, daran zweifelte er nicht, bestimmt genauso gehalten. Leiblich, spottete Hecker, leiblich! Verbotene Wörter hatten sie so etwas zu ihren gemeinsamen Arbeitszeiten genannt, ganze Listen solcher Wörter zusammen angelegt. «Maßnahmen durchführen» stand da zum Beispiel oder «Erholung pur», «Drahtesel» oder «vorprogrammieren», «Sohnemann» oder «menscheln» oder «kriseln» oder «urlauben» oder «kuren». Mehr als hundert Wörter waren es am Ende, die sie auf ihre Listen geschrieben hatten. Und jetzt benutzte der Kollege selbst so ein Wort! Aber Hecker nahm eine Anwandlung von Altersmilde bei sich wahr, vielleicht, dachte er, würde es ihm auch so ergehen, wenn er erst einmal aus dem Beruf ausgeschieden war. Deshalb war die Rührung über die Einladung größer als der Spott. Die alten Freunde wiedersehen, die Kollegen von gestern: Hecker gefiel die Idee. Ein Rentnerabend, auch wenn er noch nicht ganz dazugehörte.

Für halb sieben war die Einladung angesetzt. Hecker hatte sich nicht über die Uhrzeit gewundert. Rentner sind oft Frühschläfer, das wusste er, zeitige Bettgänger, obwohl er das nicht verstand. Der einzige Vorteil dieses Daseins schien ihm stets der Zeitgewinn am Morgen zu sein: die ungewohnte und ungeheuerliche Freiheit, den Wecker nicht stellen zu müssen, in den Tag hinein zu träumen, ohne Pflicht, ohne Zwang, ohne Frühstückshektik. Und deshalb mit dem Glück, abends nicht auf die Uhr schauen zu müssen, die Zeit unbeschwert dehnen zu dürfen, feuchtfröhlich womöglich.

Das war offenbar nicht so. Rentner, so hatte er oft gehört, folgten noch immer einer inneren Uhr, Macht der Gewohnheit, waren ihr untertan, wahrscheinlich für alle Zeiten, und hörten ihr Ticken, auch wenn dieses Ticken längst aufgehört hatte.

Halb sieben also. Hecker schaffte es nicht. Ein Autor hatte seinen Text verspätet abgeliefert, aus Italien wurde eine Regierungskrise gemeldet, in Spanien hatte eine Demonstration gegen die Jugendarbeitslosigkeit zu Gewaltausbrüchen geführt, in Brüssel redeten Finanzminister über den nächsten Euro-Rettungsschirm. Hecker hatte zu tun. Auch wenn bei seinem Monatsblatt die journalistische Hektik mit der einer Tageszeitung nicht vergleichbar war. Hecker erinnerte sich noch gut an die Stresszeiten mit dem täglichen Redaktionsschluss an seinen früheren Arbeitsstellen. Aber auch jetzt kam es immer wieder vor, dass es plötzliche Terminballungen gab, Engpässe, Zeitdruck.

Als er schließlich kurz vor acht beim Treffen der Zeitungsveteranen ankam, waren alle voller Verständnis. Kennen wir, sagten die Kollegen, Ex-Kollegen, mach dir nichts draus, bist ja die Last auch bald los, und hoben ihre Sektgläser. Prost, Arbeitstier, schön, dass du da bist. Wir sind schon beim dritten Glas.

Hecker, das erste Glas in der Hand, sah sich vergnügt um. Fühlte sich sofort eingemeindet in die Gruppe der Sekttrinker. Kannte sie schließlich alle seit Jahren. Ihre Eitelkeiten, ihre Scherze, ihre Klugheiten, ihre Macken. Er fühlte sich zugehörig, er war einer von ihnen.

Gerade mit dem Kollegen, mit dem er einst das Büro geteilt hatte, war das Wiedersehen eine Freude. Ein kurzes Wort genügte, eine Anspielung, und schon wusste der andere Bescheid. Intimität der Vergangenheit. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein.

Die Gespräche wogten, die alkoholischen Befeuerungen taten das ihre. Hecker bemerkte allerdings, dass ihn schon bald eine Müdigkeit überfiel, und er wurde immer stiller. Der Vorrat an Neuigkeiten schien allzu schnell erschöpft zu sein. Also wandten sich die Gespräche mehr und mehr rückwärts, ergingen sich in bekannten Betriebsanekdoten, Geschichten von früher, aus den alten Zeiten, erzählten das so oft Erzählte. Weißt du noch? Kennst du noch? Erinnerst du dich noch?

Hecker, mittlerweile ein wenig gelangweilt, versuchte, der Vergangenheit zu entkommen, begann die Ereignisse des heutigen Tages anzusprechen, die italienische Regierungskrise, überhaupt das schwierige Thema Europa. Das war stets sein journalistisches Spezialgebiet gewesen. Außenpolitik, besonders die Mittelmeerländer und da vor allem Italien. Immer war er ein glühender Verfechter eines Vereinten Europas gewesen, und er wusste, dass allen, die hier zusammenstanden und tranken, das Thema am Herzen lag, ja zu Herzen ging. Waren sie doch fast alle in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, eine Generation mit ganz eigenen Erfahrungen. Kriegskinder, Nachkriegskinder. Oft aus verletzten Familien, die böse Erfahrungen gemacht hatten. Und deshalb immer voller Überschwang für die Idee eines Europas ohne Grenzen und ohne jene nationalen Torheiten, die die Massaker der Weltkriege angerichtet hatten. Bei diesem Thema, Hecker wusste es, waren sich alle einig, und diese Einigkeit hatte ihr gemeinsames Alter geschaffen.

Umso verblüffter war er, dass kaum jemand Notiz nehmen wollte von dem, was er zu sagen hatte. Weshalb er insistierte. Früher hatten die Kollegen seinen Eifer stets geteilt. Über das Europa der Bürokraten hinwegsehen!, hatten sie immer gesagt, das Europa des Friedens beschwören! Das war ihre Devise gewesen, ihre tiefste Überzeugung. Hecker hatte sich all die Arbeitsjahre an diesem gemeinsamen Geist erfreut. Gleichgesinnte Kollegen.

Der Fall Italien schien an diesem Abend jedoch niemanden sonderlich zu interessieren. Regierungskrise!, das sei doch in Italien an der Tagesordnung, alle paar Monate eine neue Regierung, mehr als fünfzig in sechzig Jahren, und früher sei das alles doch noch schlimmer gewesen.

Früher, ärgerte sich Hecker, früher, früher.

Und schon erzählte einer die Geschichte von früher, von jenem Redakteur aus den achtziger Jahren, der damals mit einer sehr jungen Volontärin nach Rom durchgebrannt war. Hecker hatte die Geschichte schon zwanzig Mal gehört.

Er spürte, wie sich Widerwille in ihm aufbaute, der von Minute zu Minute größer wurde. Wie man denn hier die Ereignisse in Spanien bewerte, versuchte er es erneut, und es klang schon ein wenig ungeduldig. Es sei ja so, antwortete die Ex-Kollegin aus der Kulturredaktion, dass sie seit einiger Zeit, seit ein paar Jahren eigentlich schon, ein extremes Problem mit ihrer Galle habe. Appetitlosigkeit, plötzliche Fieberschübe, rätselhafte Angelegenheit, das häufe sich, sie wisse gar nicht, wie sie der Sache Herr werden solle. «Versteht ihr?», sagte sie. «Wochenlang kein Appetit, Lust auf nichts. Nicht mal auf Alkohol.»

«Prost», rief einer dazwischen.

«Und auf Sex schon gar nicht», sagte die Kulturredakteurin.

Hecker fragte sich, ob er in die ausbrechende Heiterkeit einstimmen sollte, aber er blieb stumm, weil er eigentlich lieber etwas Tröstliches gesagt hätte. Trost spenden – das war oft seine Rolle in der Redaktion gewesen. Immer war er einer gewesen, den die Kollegen gerne aufgesucht hatten mit ihren Sorgen. Hecker war ein guter Ratgeber, verständnisvoll, einer, der zuhören konnte. Aber an diesem Abend blieb er still, hatte sein Sektglas ausgetrunken, holte sich jetzt ein Glas Weißwein und beschloss, dass es damit genug sein sollte. Es war Zeit, bald zu gehen, fand er.

Apropos Europa, sagte jetzt der frühere Wirtschafts-Ressortleiter, er war gerade siebzig geworden, ihn störe dieses Europa-Denken ja schon seit etlichen Jahren, immer nur Europa. Endlich, endlich habe er die Ferne entdeckt, Bali, Alaska, Malediven – ihr glaubt gar nicht, wie ich rumgekommen bin in den vergangenen Jahren. Ruhestand, sagte er, die neue Freiheit.

«Unruhestand!», rief einer.

Unruhestand, dachte Hecker. Das Wort stand auch auf seiner Liste der verbotenen Wörter. Er zählte es zu den «Verniedlichungswörtern». Eine ganze Reihe gab es davon, etwa die Formulierung «50 Jahre jung» oder der Ausdruck «Nobelherberge» für ein Luxushotel oder «Edelkarosse» für die Mercedes S-Klasse.

Der Drang, nach Hause zu gehen, wuchs. Aber wie sollte er sich entschuldigen? Es war gerade erst neun Uhr geworden. Wieso war seine Aversion so heftig?, fragte er sich. Hier war doch eine Ansammlung freundlicher Menschen, kluger Menschen zusammengekommen. Viele Jahre war er mit ihnen durch dick und dünn gegangen. Schon wieder so eine schreckliche Formulierung, dachte Hecker. Er war von verbotenen Wörtern umzingelt.

Hecker nahm sich nun doch noch ein Glas Wein, ein ganz kleines nur, überlegte und begriff. Es war keine Gegenwart in diesen Gesprächen, es war nur ein Früher, ein Damals, ein Einstmals. Hecker erschrak, weil er den Grund dafür erkannte. Die Gespräche waren Ausdruck einer Wirklichkeit. Hier in dieser Wohnung waren Menschen ohne Leben in der Gegenwart. Es gab nichts Gegenwärtiges zu erzählen.

Hecker tat ihnen unrecht. Denn plötzlich fragte einer etwas durchaus Gegenwärtiges. Ob denn jemand schon das neue, umstrittene Stück am Deutschen Theater gesehen habe. Hecker hatte. Und war sogleich begeistert, endlich ein Gesprächsthema. Er war viel unterwegs zu den Bühnen der Stadt, Schauspiel, Oper – ein Grund, warum er sich in Berlin so wohl fühlte. Er erklärte nun, warum dieses Stück am Deutschen Theater wirklich gar nichts tauge, eine einzige Enttäuschung. Andere hielten dagegen, sie waren im schönsten Streitgespräch, und Hecker freute sich, dass er sich offenbar getäuscht hatte. Doch nicht so gegenwartsblind, dachte er, geht doch.