In Vitro - J.P. Conrad - E-Book

In Vitro E-Book

J.P. Conrad

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Beschreibung

Hinter einer heilen Fassade lauert oft ein tiefer Abgrund. Sie wollen nur eine Nacht bei der lieben Tante in Yorkshire bleiben, doch der lästige Höflichkeitsbesuch wird für Jack und die schwangere Grace zum wahren Albtraum. Warum warnt der Mann an der Tankstelle Jack vor Tante Theodora? Wer ist der schüchterne Adam, der ihnen die Tür öffnet? Und wieso lässt sich die Tante gar nicht blicken?

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Seitenzahl: 418

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Impressum

»In Vitro - Das Angst Experiment«

© 2019 J.P. Conrad, alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Jordana Vieira

Umschlaggestaltung und Satz: Perpicx Media Design, www.perpicx.de

Veröffentlichung:

© 2022 Suspense Verlag

Höhenstraße 18, D-61267 Neu-Anspach

E-Mail: [email protected]: 978-3-910463-21-9

Soundtrack-Playlist

Für ein optimales Multimedia-Erlebnis können Sie die im Buch vorkommenden Musiktitel gerne beim Lesen abspielen. Die Playlist mit Angabe der jeweiligen Seitenzahl finden Sie auf:

www.jpconrad.com/invitro-soundtrack

Einleitung

Stell dir vor, dein Kind könnte in einer Welt

ohne Kriege und Krankheiten aufwachsen,

ohne Habgier, Neid, Mobbing oder

gesellschaftlichen Druck. Einer Welt, in der

sein geistiges und körperliches Wohl stets

gefördert und ihn zu einem moralisch

und ethisch perfekten Menschen machen würde.

Welche Opfer wärst du bereit, dafür zu erbringen?

Der Lehrmeister

In vitro (lateinisch „im Glas“)

Experimente, die in einer kontrollierten künstlichen

Umgebung durchgeführt werden.

01 - Die Gute-Nacht-Geschichte

Patrick verspürte eine Traurigkeit, die er bisher nicht gekannt hatte. Sie war viel beklemmender und hatte nichts mit der ansonsten kindlichen Emotionalität eines Siebenjährigen zu tun. Eine erdrückende Schwere lastete seit beinahe einer Woche auf seinem kleinen Herzen; seit seine Mutter und ihn die schreckliche Nachricht vom Tod seines Vaters und seines Bruders erreicht hatte. Heute nun, am Tag ihrer Beerdigung, wurde Patrick mit dem Abschiednehmen der Verlust besonders vor Augen geführt und die Schwermut hatte ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Das lag auch daran, dass seine ansonsten immer starke, gefasst wirkende Mutter ihrer Trauer freien Lauf ließ. Niemals zuvor hatte er sie so sehr weinen gesehen. Selbst der Himmel vergoss seit drei Tagen ohne Unterlass seine Tränen, als wolle er damit sein Beileid bekunden.

Die allesamt in schwarz gekleideten Trauergäste standen, dicht gedrängt, unter einem großen Dach aus Regenschirmen um das offene Grab. Schwere Tropfen prasselten wie ein Trommelfeuer darauf nieder.

Patricks Mutter drückte fest seine vom frostigen Wind kalte Hand und er tat es ihr gleich. Sie beide hatten nun nur noch einander. Die Großeltern waren im vergangenen Jahr gestorben und weitere Verwandte hatten sie keine in dem kleinen nordirischen Küstendorf Glencolumbkille. Patricks Mutter hatte zwar eine Schwester, Aoife, aber sie lebte weit weg, in Cork. Und so spürte der Junge bereits jetzt, kurz nach dem Tod von Bruder und Vater, eine tiefe Leere und Einsamkeit, die seine Mutter nicht würde füllen können. Er liebte sie über alles und sie ihn sicher ebenso, aber sein großer Bruder war immer sein Vorbild und zugleich bester Freund gewesen, während sein Vater mit viel Fleiß, Güte und Strenge die Familie geformt und beschützt hatte. Wer würde sich jetzt um den Hof und das Weideland kümmern? Seine Mutter alleine konnte das niemals schaffen. Er hatte sie auch schon mit den Nachbarn darüber reden hören, dass sie wahrscheinlich ihren Grund und Boden verkaufen und als Magd bei einem anderen Hof würde arbeiten müssen. Alles stand nun im Zeichen der Veränderung, was dem Jungen große Angst bereitete.

Patrick war tief in seiner Gedankenwelt aus Kummer und Besorgnis versunken, als der Geistliche mit lauter Stimme den Regen zu übertönen versuchte. Er nahm dessen Worte kaum wahr, nur einzelne Fetzen, wie ›ein gottesfürchtiger Mensch‹, ›liebender Ehemann und Vater‹, ›fleißig und ehrlich‹. Ja, das alles war sein Vater Aaron gewesen und dennoch fand Patrick es merkwürdig, dies aus dem Munde eines Mannes zu hören, der ihn im Grunde nicht gekannt hatte. Lediglich einmal pro Woche, am Sonntag, wenn die Familie in die Kirche gegangen war und der Geistliche dort von der Kanzel seine Predigt gehalten hatte, waren sie sich begegnet. Ansonsten hatte sein Vater nur wenig mit anderen verkehrt; seine Familie und der Hof waren sein Ein und Alles gewesen.

Patricks von Tränen und Regen getrübter Blick haftete an dem goldglänzenden Kruzifix, das, an einer Kette hängend, auf der Brust des Pfarrers ruhte. Seit er denken konnte, hatte die Kirche und alles was damit zu tun hatte, auf Patrick eine große Faszination ausgeübt und ihn zugleich Ehrfurcht gelehrt. Er wusste, dass Glaube eine große Kraft war, welche die Menschen in ihrem Leben lenkte. Gott wachte über sie und rief sie, wenn ihre Zeit gekommen war, zu sich. Niemand sonst auf Erden hatte solche Macht. Und wem Gott wohlgesonnen war, den würde er belohnen und ihm ein erfülltes Leben schenken; wenn nicht auf Erden, dann zumindest später, im Himmel. Wann es so weit war, war jedoch sehr unterschiedlich. Patrick wusste von Menschen, die, wie seine Großeltern, in hohem Alter gestorben waren und von anderen, wie jetzt Vater und Bruder, die viel zu früh ihre Lieben verlassen mussten. Wenn er die Gelegenheit bekommen hätte, Gott auch nur eine Frage zu stellen, hätte Patrick von ihm wissen wollen, warum er sie so früh zu sich genommen hatte.

Der Pfarrer sprach sein ›Amen‹, das die Anwesenden mit gesenkten Köpfen murmelnd erwiderten. Anschließend wurden die beiden schmucklosen Särge von den vier kräftigsten Männern des Dorfes langsam in die Tiefe ihres gemeinsamen Grabes hinabgelassen. Ein Nachbar und guter Freund des Vaters spielte ›Nearer My God To Thee‹ auf seiner Fiedel.

Patrick beugte sich etwas zur Seite und reckte seinen Kopf zwischen den Schirmen gen Himmel. Er musste blinzeln, als ihm die schweren Tropfen ins Gesicht fielen. Die dunklen, mächtig und bedrohlich wirkenden Wolken kamen ihm vor, als würde der Herrgott selbst über dieser kleinen Gruppe von trauernden Menschen wachen, die von seinen Lieben Abschied nahmen.

Als Patricks Mutter sah, dass sein Gesicht vom Regen glänzte, wischte sie die Tropfen mit ihrem Handschuh weg. Dann zog sie ihn leicht mit sich, bis beide direkt vor dem quadratischen Loch im Boden standen. Der Junge wusste, dass sie jetzt etwas Erde auf die Särge werfen würden, denn es war nicht die erste Beerdigung, an der er teilnahm.

Schon bei seinem Großvater und auch der Großmutter war er dabei gewesen; sie waren, nur wenige Monate auseinander, im letzten Herbst und Winter gestorben. Aber damals war vieles anders gewesen. Ihr Tod hatte sich abgezeichnet und kurz, bevor sie gestorben waren, hatte es eine Totenwache gegeben. Das Haus war voller Menschen gewesen. Die seltsame Mischung aus Trauer und Fröhlichkeit hatte Patrick fasziniert. Die Leute hatten dem Tod den Schrecken genommen, indem sie Lieder sangen, Spiele spielten und sich unterhielten. Das Motto war stets ›Ein Gebet für die Toten, ein Lied für die Lebenden‹ gewesen. Keine Stille, keine Trauer, wie jetzt bei seinem Vater und Bruder. Die waren auch nicht zuhause, im Kreis der Familie gestorben, sondern weit weg, in Belfast. Sein Vater war einmal im Jahr dorthin gereist und diesmal war sein Bruder Thomas alt genug gewesen, um ihn zu begleiten. Patrick hatte seine Mutter gefragt, was sie dort taten, doch sie hatte ihm keine Antwort gegeben. Ob sie es nicht wollte oder einfach nicht konnte, wusste er nicht. Es war auch erst das zweite Jahr, dass Patrick die Reise des Vaters und die vorangegangenen Vorbereitungen bewusst mitbekommen hatte. ›Mein Sohn, wenn ich zurück bin, wird die Sonne wieder für uns scheinen‹, hatte der Vater Patrick voller Zuversicht erklärt. Und so war es gekommen. Sie hatten plötzlich mehr Geld, als es ihr Hof und die Schafzucht hätten erwirtschaften können. Es konnte endlich ein neuer Ofen gekauft und auch das bis dahin notdürftig geflickte Dach fachmännisch repariert werden. Die Mutter war sehr skeptisch gewesen und hatte etwas von einem ›Pakt mit dem Teufel‹ gesagt, aber Patrick hatte das nicht verstanden. Jetzt waren die beiden von ihrer Reise nicht mehr heimgekehrt und die Worte seiner Mutter hallten in Patricks Kopf wider.

Vor vier Tagen waren zwei Polizisten zu ihnen gekommen. Seine Mutter hatte Patrick nervös aus dem Zimmer geschickt, doch er hatte durch die Tür hören können, was die uniformierten Männer ihr sagten: Sein Vater und sein Bruder waren in der Nacht zuvor in ihrer Unterkunft von einem Feuer überrascht worden und darin umgekommen.

Als seine Mutter ihn mit der schrecklichen Nachricht konfrontiert hatte, war sie wider Erwarten nicht traurig gewesen, sondern außer sich vor Wut. Sie hatte Dinge gesagt, die er nicht verstanden hatte. ›Sünde! Die Sünde hat sie uns genommen!‹, hatte sie immer wieder gezetert und ›Wir leben in einem Haus, das aus Sünden erbaut worden ist!‹ Patrick hatte seine Mutter beruhigen wollen, aber es war ihm nicht gelungen. Und erst heute, als ihre Lieben zu Grabe getragen wurden, war die Wut der Mutter in Trauer umgeschlagen.

Nachdem alle Anwesenden den Verstorbenen die letzte Ehre erwiesen hatten, löste sich die Menschenmenge allmählich auf. Patrick und seine Mutter verweilten noch einen Moment, sich an den Händen haltend und mit gesenkten Köpfen, am Grab.

»Mach's gut, Papa. Mach's gut, Thomas«, flüsterte Patrick leise.

»Komm, lass uns nach Hause gehen. Solange wir es noch haben«, sagte seine Mutter dann und zog den Jungen sanft mit sich.

Patrick schluckte und traute sich nun erstmals, eines der Dinge auszusprechen, die ihm die ganze Zeit schon auf der Seele lasteten: »Müssen wir wegziehen?«

Seine Mutter, den Blick starr auf den Weg vor sich gerichtet, antwortete: »Darüber reden wir morgen. Ich muss erst ein paar Gespräche führen.«

Sie liefen zum Hof; er lag keine drei Minuten zu Fuß vom Friedhof entfernt. Nachdem sie die nassen Mäntel zum Trocknen am Kamin aufgehängt hatte, kochte seine Mutter Tee. Diesen tranken sie am Küchentisch, ohne ein Wort zu wechseln. Später, nachdem sie gemeinsam die Tiere verpflegt hatten, gab es Abendessen; Reste des Eintopfs, den die Nachbarin ihnen gekocht hatte.

Als es für Patrick an der Zeit war, ins Bett zu gehen, wusch er sich und zog sich seinen Pyjama an. Er tat das seit zwei Tagen ganz alleine; früher hatten ihm Thomas oder seine Mutter dabei geholfen. Doch sie hatte gesagt: »Du bist ab jetzt der Mann im Haus und ich muss dich bitten, schneller erwachsen zu werden.«

Patrick wollte ihr keinen zusätzlichen Kummer bereiten und war folgsam. Er legte sich ins Bett und betrachtete die Holzschnitzereien über seinem Kopf, die seine Schlafstatt zu einem kleinen Kunstwerk machten. Sein Großvater hatte sie angefertigt. Er hatte zeitlebens geschnitzt. Patrick konnte sich nicht erinnern, ihn je ohne sein Messer und ein Stück Holz in den Händen gesehen zu haben. Während seine Augen die Schönheit der geschwungenen Pflanzenranken und Blüten ergründeten, lauschte der Junge dem Regen, den der Wind gegen das Fenster peitschte. Aus der Wohnstube drang das Knacken des Holzes im Kamin an sein Ohr. Seine Mutter kam, ihre Schürze abstreifend, zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Erzählst du mir noch eine Geschichte, damit ich einschlafen kann?«

Sie sah ihn an und er erkannte die Erschöpfung in ihren Augen. Dennoch lächelte sie und antwortete:

»Na gut.« Sie zog sich einen Stuhl heran und hockte sich neben sein Bett.

»Bitte die vom Ritterssohn!«, bat Patrick. Das war seine Lieblingsgeschichte; er hatte sie inzwischen bestimmt schon hundertmal gehört. Sie seufzte leise und begann nun mit ihrer sanften Stimme, die ihm immer ein besonderes Gefühl der Geborgenheit gab, zu erzählen.

»Es war einmal ein Ritterssohn. Er war fünf Jahre alt und lebte mit seiner Familie in einer Burg. Er hatte vier Geschwister; drei ältere Brüder und eine jüngere Schwester. Seine Mutter war bereits gestorben und so kümmerten sich seine großen Brüder um ihn und er sich um seine kleine Schwester. Es herrschte Frieden und daher verdiente der Vater das Brot für die Familie auf dem Felde.

Doch es zog ein Sturm heran. Am Hofe und im Dorf, überall munkelte man, dass es Krieg geben würde. Der kleine Ritterssohn sagte seinem Vater, dass er Angst hätte. Doch der Vater antwortete ihm, dass es keinen Grund gäbe, Angst zu haben. Ein Ritter dürfte keine Furcht zeigen. Der Sohn sagte, er wäre kein Ritter und wolle auch nie einer werden. Das enttäuschte den Vater sehr. Er fragte: ›Willst du nicht für dein Land und deine Familie kämpfen?‹ Doch der Sohn antwortete ihm: ›Ich will nicht kämpfen müssen. Niemand soll kämpfen müssen. Im letzten Krieg sind so viele Menschen gestorben, das ist falsch.‹ Der Vater pflichtete ihm bei. Natürlich war es falsch, aber es lag in der Natur des Menschen, immer das bekommen zu wollen, was andere hatten und es sich dann mit Gewalt zu nehmen. Das machte den Ritterssohn traurig. Er fragte: ›Gibt es denn gar keinen anderen Weg?‹ Der Vater antwortete ihm nicht gleich.

Es vergingen drei Tage und Nächte, bis der Ritter seinen Sohn zur Seite nahm und ihm sagte: ›Ein Mensch kann nur dann in Frieden leben, wenn in seiner Welt keine anderen Menschen sind, außer ihm.‹ Damit hatte der Ritterssohn etwas, worüber er nachdenken konnte. Und das tat er. Noch in der gleichen Nacht schnürte er sein Bündel mit einem halben Laib Brot, ein paar Äpfeln und einem Messer. Er verließ die Burg und seine Familie für immer und ward nie mehr gesehen.

Es folgten zwei lange Kriege, in deren Verlauf nicht nur die Burg und das Dorf zerstört worden waren, sondern dem auch alle Menschen, die dort lebten, zum Opfer gefallen waren. Die Familie des Jungen gab es nicht mehr.

Viele Jahre später fanden ein paar Holzfäller den Jungen im Wald, einen halben Tagesmarsch von der Ruine der Burg entfernt, in einer verlassenen Bärenhöhle. Er war zu einem stattlichen Mann herangereift. Die Jagd und der Kampf mit den Elementen hatten ihn schnell und stark werden lassen. Und er war reinen Herzens, hatte er doch nie auch nur einen bösen Gedanken gehabt. Die Holzfäller, verwundert über ihren Fund, fragten den Mann: ›Wie habt ihr so lange, ganz alleine, ohne eine Menschenseele überleben können?‹ Der Mann antwortete ihnen: ›Seht ihr die zerstörten Mauern dort oben auf dem Hügel? Das war mein Zuhause! Und seht ihr den Flecken schwarzer Erde zu seinen Füßen? Das war das Dorf mit den Menschen, die ich einst kannte. Sie alle hat der Krieg geholt. Nur ich bin übrig geblieben, weil ich auf das gehört habe, was mir mein Vater einst gesagt hat: Ein Mensch kann nur dann in Frieden leben, wenn in seiner Welt keine anderen Menschen sind, außer ihm selbst.«

»So, und jetzt versuch bitte, zu schlafen!« Die Mutter strich Patrick sanft durch sein rotbraunes Haar und über die Wange. »Das war ein schlimmer Tag«, resümierte sie müde und mit kaum unterdrückter Verbitterung. »Aber morgen beginnt ein neuer.« Sie sah gedankenversunken zum Fenster, hinter dem nach wie vor ein heftiges Unwetter tobte. »Und auf Regen folgt Sonnenschein, heißt es doch.«

Patrick hatte das Gefühl, dass seine Mutter ihren eigenen Worten kein Vertrauen schenkte. Das war neu für ihn und machte ihm Angst; wie so vieles seit dem schrecklichen Ereignis.

»Ich liebe dich«, sagte sie, stand auf und stellte den Stuhl in seine Ecke zurück. Patricks Kopf sank auf das Kissen. Er schloss die Augen und hörte noch, wie sie die Kammer verließ und die Tür hinter sich zuzog.

In der Nacht holte ein Geräusch Patrick aus seinem unruhigen Schlaf. Mit einer Mischung aus Benommenheit und Desorientierung setzte er sich in seinem schmalen Bett auf und rieb sich die Augen. Dabei vernahm er das Prasseln der Regentropfen gegen das Fenster; das Unwetter war noch immer nicht vorüber. Mit verschlafenem Blick schaute er sich um. Die kleine Schlafstube war vom Licht des Vollmondes, das sich seinen Weg durch die Wolken und das Fenster bahnte, in ein dunkles Blau gehüllt. Einzig der schmale Lichtschein, der sich durch den Schlitz unter der Tür trapezförmig auf den Boden legte, hatte eine warme Farbe. Er wurde plötzlich von einem Schatten durchbrochen. Patrick vernahm hektische Schritte auf den knarrenden Dielen. Gerade, als er sich fragte, was ihn geweckt hatte, hörte der Junge einen Schmerzensschrei. Er war eindeutig von seiner Mutter gekommen.

Sofort kletterte Patrick aus dem Bett und lief zur Tür. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als er eine ihm fremde, männliche Stimme vernahm. Mit bis zum Hals schlagendem Herzen schaute der Junge durch das Schlüsselloch. Durch die Beine des Esstisches sah er seine Mutter vor dem Kamin am Boden liegen; sie hielt sich eine Hand an ihr Gesicht. Neben ihr erkannte er den Kasten mit ihrem Handarbeitszeug; er war umgekippt und die Häkelnadeln sowie mehrere Wollknäuel hatten sich auf den Dielen verteilt. Zwei Männer, beide in schwarz gekleidet und mit Kapuzen über ihren Köpfen, umkreisten Patricks Mutter, wie Raubtiere ihre Beute.

»Hat dein Mann allen Ernstes geglaubt, wir finden euch nicht?«, fragte einer von ihnen mit dunkler Stimme. »Mister Dunne ist bis jetzt immer an sein Geld gekommen. Zweitausend Pfund stehen aus und die sollen wir für ihn eintreiben.«

Patrick spürte, wie ihm Tränen in die Augen schlossen und über das Gesicht liefen. Er musste sich die Hand vor den Mund halten, um sich durch sein Weinen nicht zu verraten. Seine Knie zitterten wie Wackelpudding.

»Ich … weiß nichts von Geld. Mein Mann hat mir nie etwas gesagt!«, wimmerte die Mutter.

»Hm, wir werden sehen. Erst werden wir das Haus auf den Kopf stellen, dann brennen wir es nieder und zum Schluss, wenn du um dein Leben winselst, wirst du es uns geben!« An den anderen Mann gewandt sagte er: »Sieh nach, da muss noch ein Junge sein! Mit ihm bringen wir sie zum Reden.«

»Patrick! Lauf! Lauf!«, schrie seine Mutter mit einem Mal in vollkommener Panik.

Der Junge gehorchte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, rannte er zum Fenster, öffnete es und kletterte hinaus in die von Wind und Regen gequälte Nacht. Er lief mit nackten Füßen und nichts, als seinem Pyjama am Leib, über den Hof, erklomm das Gatter, das ihn von der Weide trennte und rannte immer weiter. Er hätte den Weg mit verbundenen Augen laufen können. Hunderte Male war er ihn schon gegangen, um zu seinem Geheimversteck, der kleinen Kapelle an der Steilküste zu gelangen. Dieses alte Gemäuer war Patricks Bärenhöhle. Er erreichte sie so schnell, wie noch nie zuvor. Das kleine Gotteshaus, es maß nicht annähernd die Hälfte seiner Schlafstube, war auf unebenem Grund errichtet worden. Dafür hatten seine Erbauer ein quadratisches Fundament aus Stein gelegt, das auf der Rückseite höher war, um das Gefälle auszugleichen. Dort gab es eine Öffnung; gerade breit genug, dass Patrick hindurchschlüpfen konnte. Er hatte sie mit einem abgestorbenen Distelstrauch getarnt und diesen mit Steinen beschwert. Der Hohlraum dahinter war niedrig, aber er konnte darin liegen und auch sitzen, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Seit seine Eltern ihn vor beinahe einem Jahr erstmals alleine hatten losziehen lassen, kam er mehrmals in der Woche nach der Schule hierher. Er stellte sich dann immer vor, der Ritterssohn zu sein, der alleine sein Leben bestritt und sich so seine eigene, friedliche Welt erschuf.

Heute war es anders. Er war noch nie nach Anbruch der Dunkelheit dort gewesen. Und auch bei Regen und Sturm hatte er nicht hinausgedurft; das hatte ihm sein Vater verboten. Patrick kauerte sich in der hintersten Ecke seines Verstecks zusammen, den Rücken an die klammen Steine gepresst. Er fror durch und durch; sein Pyjama war vom Regen vollkommen durchtränkt. Er hatte nichts, um Feuer zu machen und selbst wenn, hätte er zu viel Angst gehabt, dass die schwarzen Männer ihn fänden.

Der Junge wartete angespannt und lauschte dem Sturm. Er beobachtete den Distelstrauch, der vor dem Loch zitterte, während die dahinterliegende Wolkenfront zusammen mit dem vollen Mond ein ehrfurchterregendes Schauspiel aus Kraft und Licht bot. Ein Blitz durchzuckte die Nacht und erhellte Patricks Höhle für den Bruchteil einer Sekunde. Ein lauter Donnerschlag folgte unmittelbar. Der Junge hielt sich die Ohren zu und begann erneut, furchtbar zu weinen. In diesem Moment hatte er so viel Angst, wie nie zuvor in seinem Leben. Er war vollkommen alleine, hilflos und der unerbittlichen Gewalt der Natur ausgesetzt. Jetzt dachte er wieder an den Ritterssohn. Wie hatte der seine Angst überwunden? In der Geschichte war nie von Unwettern die Rede gewesen, aber sicher hatte es sie im Laufe der Jahre auch des Öfteren gegeben. War er einfach ein Hasenfuß? Nein, das glaubte er nicht. Er war jetzt schon zwei Jahre älter als der Junge in der Erzählung und auch nie ein Feigling gewesen. Er konnte auf die höchsten Bäume klettern und über die tiefsten Gräben springen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber warum war er dann einfach weggerannt, als seine Mutter ›Lauf!‹ gerufen hatte? Warum hatte er ihr nicht beigestanden? Weil er immer auf seine Mutter gehört hatte und es eben in dieser Nacht nicht anders gewesen war.

Plötzlich legte sich ein Schatten vor das Loch der Bärenhöhle. Patrick sah zwei Beine als dunklen Scherenschnitt. Er zuckte erschrocken zurück und hielt sich die Hände vor den Mund. Aber der Sturm war viel zu laut, als dass er sich durch sein Weinen hätte verraten können. Einer der beiden schwarzen Männer stand genau vor dem Einstieg zu seinem Versteck; Patrick erkannte die schweren Schuhe wieder, die vom Regen glänzten. Wer sonst sollte auch um diese Zeit und bei dem Unwetter hierher kommen? Nur ein Dummkopf würde das tun; der schwarze Mann war aber sicher keiner. Er stand dort wie angewurzelt. Vermutlich hielt er Ausschau zur Küste, die nur etwa achtzig Meter entfernt lag. Der Junge rechnete damit, dass er sich jeden Moment umdrehen und das Loch im Fundament der Kapelle entdecken würde. Längst zitterte Patrick mehr vor Angst als vor Kälte.

Dann passierte es: Der schwarze Mann drehte sich um und ging nach kurzem Innehalten in die Hocke. Er hatte die Öffnung entdeckt! Patrick kniff die Augen zusammen. Gleich würden sie ihn haben und ihm ganz sicher ebenso wehtun, wie seiner Familie. Er wünschte sich sehnlichst an einen anderen Ort. Oder noch besser, in eine andere Zeit. Zurück in das vergangene Jahr, in dem seine Großelter, sein Vater und sein großer Bruder noch lebten. Als die Welt noch vollkommen in Ordnung war.

Aus der Ferne ertönte ein Pfiff, gefolgt von einem Ruf, den Patrick aber nicht verstehen konnte. Der schwarze Mann richtete sich unvermittelt wieder auf und lief aus Patricks Sichtfeld.

Der Junge verharrte zusammengekauert in der Ecke der Höhle und wartete. Das Zittern seines Körpers ließ kaum nach, Angst und Kälte hatten ihn in ihrem eisigen Griff. Als nach einer gefühlten Ewigkeit nichts passierte, nahm er allen Mut zusammen und löste sich aus seiner fötalen Haltung. Er kroch auf allen vieren zur Öffnung und schaute hinaus in die Nacht. Es war niemand zu sehen. Auch der Sturm war langsam weitergezogen, der Regen hatte etwas nachgelassen. Patrick hatte jetzt nur noch einen Wunsch: Er wollte zurück zu seiner Mutter und von ihr fest in den Arm genommen werden. Hastig schob er das abgestorbene Gestrüpp beiseite und kletterte aus dem Unterschlupf. Seine Arme fest um den ausgekühlten Körper geschlungen, schielte er mit bangem Blick um die Ecke der kleinen Kapelle. Dabei fielen ihm die tief hängenden Wolken auf, die, nahe des Dorfes, seltsam orangerot flackerten. Als er sich vergewissert hatte, dass keiner der schwarzen Männer in der Nähe war, lief er los. Er rannte, den Kopf eingezogen und den Blick auf seine nackten Füße gerichtet, den Hügel hinunter und über die Weide. Deren Boden war vom Regen vollkommen aufgeweicht. Die kalte Luft roch vertraut salzig, aber auch etwas verbrannt. Das warme Licht wurde heller, je näher er seinem Zuhause kam. Als er an den Zaun stieß, der ihren Hof vom Weideland trennte, hob Patrick den Kopf und erschrak. Ein gleißendes Feuer erhellte die Nacht. Sein Elternhaus, die Scheune und das kleine Nebengebäude – alles stand in Flammen. Das Dach brannte lichterloh und aus den Fenstern schlugen die Feuerzungen wie Teufelspranken. Die Nachbarn waren herbeigerannt, sie liefen teils wie aufgescheuchte Hühner umher. Während die Frauen zeterten, versuchten die Männer in ihren Pyjamas dem Unglück mit Wassereimern Herr zu werden. In der Ferne hörte Patrick die Sirene der Feuerwehr. Vollkommen erschöpft ließ sich der Junge gegen den Zaun ins nasse Gras sinken und vergrub den Kopf im Schoß. Alles, an was er jetzt noch denken konnte, war der Ritter und wie Recht er doch gehabt hatte.

02 - Die Autofahrt

»Und das muss wirklich sein?«, fragte Jack Calhey beiläufig, und durchbrach damit das seit mehreren Minuten anhaltende Schweigen. Seine Frau Grace, die am Steuer saß, rollte mit den Augen.

»Ja, es muss sein! Schließlich habe ich dich auch freiwillig zu dieser Mrs Fisher begleitet.« Ihr Ton war grummelig.

»Ja, aber da haben wir nicht übernachtet.«

»Trotzdem!« Sie verzog trotzig die Mundwinkel. »Es liegt auf dem Weg und wir hatten das so besprochen. Meine Tante freut sich sehr, dass wir eine Nacht bei ihr bleiben. Und ich mich übrigens auch.«

»Schon gut, ich bin ja still.« Nach einer kurzen Pause fragte er, um die Situation etwas zu entschärfen: »Wollen wir noch mal tauschen?«

Sie waren bereits seit mehr als vier Stunden unterwegs und hatten sich regelmäßig mit dem Fahren abgewechselt, obwohl Jack die komplette Strecke am liebsten alleine bewältigt hätte. Doch entgegen des gängigen Klischees über die Dauermüdigkeit von Schwangeren, zeigte Grace bisher keinerlei Anzeichen von Erschöpfung.

Sie zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« Ihr Blick suchte den linken Fahrbahnrand ab. Als eine kiesbedeckte Einbuchtung in Sicht kam, hielt sie darauf zu und brachte den weißen Range Rover Discovery, eine Leihgabe ihres Vaters, zum Stehen. Stumm vollführten sie das bereits eingeübte Ritual und wechselten die Sitzplätze.

Als Jack die Wärme, die vom Polster des Fahrersitzes ausging, spürte, musste er grinsen. »Dein Hintern ist besser als jede Sitzheizung.«

»Der ist ja auch heiß«, entgegnete sie schelmisch, schloss die Tür und legte den Gurt um. Dann wackelte sie mit ihrem Gesäß prüfend hin und her. »Kann ich von deinem nicht behaupten. Fühlt sich an, als hätte hier niemand gesessen.«

»Ich bin eben ein Kaltblüter.« Während Jack wieder Gas gab und den Wagen zurück auf die mäßig befahrene Straße lenkte, schaute er kurz prüfend zum Navigationsbildschirm in der Mittelkonsole. »Noch knapp siebzig Kilometer«, verkündete er.

»Schön, dann mach ich noch einen Moment die Augen zu.« Grace griff zwischen den Sitzen nach hinten und holte ihr kleines Nackenkissen hervor. Nachdem sie es um den Hals gelegt und den Sitz leicht zurück gekippt hatte, drehte sie den Kopf zur Seite.

»Also doch«, murmelte Jack amüsiert.

Grace sah über ihre Schulter. »Was?«

»Och, nichts. Schlaf gut.«

Inzwischen dämmerte es bereits. Jack konnte im Rückspiegel die Sonne als verschwommenen Fleck zwischen den Wolken erkennen; sie würde bald am Horizont verschwinden. Während sie nun schweigend weiterfuhren und das Radio leise mit Pop-Musik der letzten Dekaden vor sich hin dudelte, ließ er die vergangenen Tage noch einmal Revue passieren. Ihr Schottland-Urlaub, die letzte größere Reise, bevor sie im Mai ihr erstes gemeinsames Kind bekommen würden, war sehr angenehm und stressfrei gewesen. Sie hatten eine dreiwöchige Tour gemacht und dabei keine der wichtigen Sehenswürdigkeiten ausgelassen. Grace hatten es dabei die Highlands mit ihren rauen und ursprünglichen Landschaften besonders angetan. Und auch er selbst hatte sich mit dieser Gegend langsam wieder anfreunden können, nachdem er vor einem Jahr in einem kleinen Dorf an der Küste beinahe ums Leben gekommen war. Mit Grauen dachte er an die Zeit zurück, als er seinen verschollenen Freund Felix gesucht und dabei Intrigen und Mord gefunden hatte. Ohne die Hilfe der Hofbesitzerin Blair Fisher wäre er von diesem Trip nicht lebend zurückgekommen. Daher hatte Jack seine Frau auch nicht lange überreden müssen, sie auf ihrer Tour zu besuchen.

Nun stand als letzte Station, bevor sie morgen Abend wieder in Loughton sein würden, ein Besuch bei Graces Tante Theodora auf dem Programm. Sie wohnte in Yorkshire, in einer kleinen Ortschaft namens Harbythorpe, der Heimatstadt von Jacks Schwiegermutter. Grace hatte als Kind und bis in ihr Teenageralter hin und wieder die Ferien bei ihrer Tante verbracht. Diese war Mitte fünfzig und seit drei Jahren verwitwet. Viel mehr wusste Jack nicht über sie. Er konnte sich allerdings noch gut daran erinnern, wie Grace die Nachricht über den Tod ihres Onkels Gabriel damals ein ›Gott sei Dank‹ entlockt hatte. Sie hatte Jack daraufhin gestanden, dass sie ihn nie wirklich hatte leiden können.

Er schielte zu seiner Linken. »Schläfst du?«

»Hm? Nein.« Grace drehte sich wieder auf den Rücken. »Ist dir langweilig?«

»Erzähl mir von deiner Tante. Was muss ich wissen?«

Sie ließ etwas Luft aus ihrem Mund entweichen und nahm die Wasserflasche aus der Ablage. »Da gibt’s nicht viel.«

»Dann erzähl mir halt das wenige. Ich bin neugierig.« Neugier war praktisch Jacks zweiter Vorname, was aber auch eng mit seinem Beruf als Journalist zusammenhing. Er arbeitete für die kleine Regionalzeitung ›Loughton Courier‹, die dank seines investigativen Spürsinns und seiner Hartnäckigkeit bereits mehrfach landesweit mediale Aufmerksamkeit erhalten hatte. Gemeinhin wurde er als Skandalreporter tituliert, was ihm einerseits zwar schmeichelte, andererseits aber die Seriosität, die er mit seiner Arbeit verband, etwas untergrub.

»Tante Thea ist ein unheimlich herzlicher und liebenswerter Mensch«, erklärte Grace, nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte. »Ich bin früher gerne bei ihr gewesen.«

»Trotz deines Onkels?«

»Hm, ja. Er war ja zum Glück oft unterwegs.«

Jack kramte in seinem Gedächtnis. Natürlich hatte sie ihm irgendwann mal gesagt, welchen Beruf der Onkel gehabt hatte, aber diese Information lag bei ihm in irgendeiner Hirnwindung unter ›unnützes Wissen‹. »Was hat er noch mal gemacht?«

»Er war Bauingenieur. Hat an vielen Hilfsprojekten mitgearbeitet; unter anderem in Somalia, glaub ich.«

Daran konnte Jack zunächst nichts Verwerfliches finden. »Klingt doch nach einem Menschenfreund.«

Sie winkte ab. »Pah, du hast ja keine Ahnung! Nach außen hin verhielt er sich immer höflich und alles. Aber meiner Tante und meinem Cousin gegenüber war er ganz anders.«

»Deine Lieblingstante hat Kinder?«

»Hatte, ja. Lucas.«

»Oh, was ist passiert?«

»Gute Frage. Niemand weiß es. Er ist eines Tages plötzlich verschwunden.«

»Was heißt verschwunden?«

»Na, weg eben. Eines Morgens war sein Bett leer und es fehlte von ihm jede Spur.« Sie trank erst noch einen Schluck, bevor sie fortfuhr: »Die Polizei hat lange nach ihm gesucht. Am Flussufer hat man einen Schuh von ihm gefunden, mehr aber nicht. Er soll ertrunken sein.«

Jack schluckte bei dem Gedanken an einen kleinen Jungen, der panisch und letztendlich vergeblich versucht, gegen die reißende Strömung anzukommen. »Keine Leiche, nichts?«, hakte er nach.

»Nein.«

»Wie alt war er?«

»Fünf, glaube ich«, kam die unsichere Antwort. Dann nickte Grace. »Ja, fünf. Ein lieber Kerl. Etwas schüchtern; aber ich habe ihn gemocht.«

»Wie haben deine Tante und Onkel das verkraftet?« Es kam Jack vor, als hätte sich die Miene seiner Frau gerade noch etwas mehr verfinstert.

»Zunächst hatte meine Tante einen Zusammenbruch. Diese Ungewissheit hat sie fertiggemacht. Dann später, als man den Schuh gefunden hatte, konnte sie, glaube ich, langsam akzeptieren, dass er tot war.«

Jack schüttelte den Kopf. »Grausam.« Als werdender Vater spürte er inzwischen bei solchen Themen eine tiefere Emotionalität, an die er sich erst noch gewöhnen musste. »Und dein Onkel?«, fragte er weiter.

»Er hat der Polizei damals große Vorwürfe gemacht. Sie würden ihren Job nicht ordentlich machen und so. Das Ganze ist auch in der örtlichen Presse ziemlich breitgetreten worden.«

»Ja, ja, so sind sie, die Pressefritzen. Also werde ich nachher einer depressiven, einsamen Fünfzigjährigen gegenüberstehen?«

»Nein, es wird schon nicht so schlimm werden. Als ich sie vor knapp drei Jahren zuletzt gesehen habe, war sie eigentlich ganz normal.«

»War das nicht zur Beerdigung deines Onkels?«

»Ja. Ich denke, sein Tod hat ihr wirklich gutgetan, so makaber das auch klingt.«

Diese Aussage entlockte Jack ein Grinsen. »Bin ich froh, dass offenbar nicht nur meine Familie total verkorkst ist.« Sein stets gut gelaunter Vater George und seine temperamentvolle griechische Mutter Elena bildeten in der Tat ein explosives Duo. Bei nahezu jeder Familienfeier gab es mindestens einen großen Krach, bei dem die Fetzen flogen und Jack und seine fünf Geschwister Feuerwehr spielen durften.

»Nein, das ist kein Calhey-Privileg«, entgegnete Grace.

»Wie lange ist das mit deinem Cousin her?«

Sie schaute mit leicht zusammengekniffenen Augen zur Fahrzeugdecke. »Warte, das war 2003, also fünfzehn Jahre inzwischen. Gott, bin ich schon so alt?«, tat sie gespielt entsetzt.

»Ja, aber das macht nichts. Für mich wirst du immer die junge attraktive Blondine bleiben, die ich damals im Suff auf der Party angegraben habe.« Das lag mittlerweile über zehn Jahre zurück. Zur damaligen Zeit war Jack noch ein selbst ernannter Frauenheld und weit von einer gesunden Erdung entfernt gewesen. Diese hatte er erst durch Grace erhalten.

Sie stöhnte. »Erinnere mich nicht daran! Mein erster Eindruck von dir war: Igitt!«

»Mag sein, aber jetzt trägst du sogar die Frucht meiner Lenden in dir.« Er streichelte ihr mit der Hand sanft über den Bauch.

Grace verdrehte die Augen. »Ich muss gleich brechen. Und sicher nicht wegen der Schwangerschaft!«

Sie lachten und schwiegen dann einen Moment. Die Straße führte gerade durch ein kleines Waldstück; links und rechts der zweispurigen Fahrbahn standen die Bäume dicht aneinandergereiht. Im Radio erklangen die ersten Takte des Popsongs ›Twilight‹ von Electric Light Orchestra, was Jack veranlasste, die Lautstärke etwas aufzudrehen.

»Noch eine halbe Stunde, dann haben wir es geschafft«, sagte er nach einem erneuten Blick auf den kleinen Bildschirm in der Mittelkonsole.

»Wird auch Zeit, mein Nacken bringt mich um!« Grace fasste sich an den Hals, bewegte den Kopf leicht hin und her.

Er legte ihr eine Hand ins Genick und begann mit geübten Fingern eine sanfte Massage.

»Das tut zwar gut, aber es wäre mir doch lieber, wenn du beide Hände ans …« Sie brach abrupt ab und rief, mit weit aufgerissenen Augen: »Pass auf!«

Jack sah voraus. Ein Tier stand mitten auf der Fahrbahn, keine fünf Meter vor ihnen.

03 - Die Tankstelle

Das Reh schaute sie direkt an, seine Augen reflektierten das Scheinwerferlicht als zwei helle Punkte. Jack riss das Lenkrad herum, woraufhin der Range Rover von der Straße in die seitliche, mit grobem Schotter belegte Abgrenzung schoss. Die kleinen Steine polterten wie Artilleriefeuer gegen das Wagenblech.

»Scheiße!« Er trat das Bremspedal bis zum Anschlag durch. Nach wenigen Sekunden hatte er den Wagen zum Stehen gebracht; nur ein paar Zentimeter von einer der für die Region typischen Trockensteinmauern entfernt.

Grace und er waren kurzzeitig wie gelähmt vor Schreck, während die Jungs von ELO gerade ironischerweise ›Across the night I saw your face, You disappeared without a trace‹ sangen.

Nachdem Jack sich wieder gefangen hatte, galt seine Aufmerksamkeit sofort seiner Frau. Er fasste sie am Arm und beugte sich etwas zu ihr. »Alles in Ordnung?«

Ein vorwurfsvoller Blick traf ihn. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Tut mir leid.« Er streichelte ihr sanft über den Oberarm. Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel. Die Straße hinter ihnen war leer. »Ist abgehauen, das Miststück.«

»Besser so.«

Jack schaltete die Zündung aus, löste seinen Gurt, beugte sich zum Handschuhfach und holte die kleine schwarze Stabtaschenlampe heraus. »Ich schau mal nach, ob alles okay ist.« Er stieg aus, lief einmal prüfend links und rechts um das Auto herum, den Lichtstrahl auf die Karosserie und die Reifen gerichtet. Schäden konnte er keine ausmachen. Als er sah, wie dicht der Range Rover an der niedrigen Mauer aus grob gehauenen Steinen zum Stehen gekommen war, schluckte er; keine Hand hätte mehr dazwischen gepasst. Sein Schwiegervater war zwar ein äußerst netter und verständnisvoller Mensch; trotzdem wollte Jack gerne Grace und den Wagen unversehrt zurückbringen.

»Scheint alles ok zu sein«, verkündete er, als er wieder hinter dem Steuer Platz nahm und die Handleuchte an ihren Platz zurücklegte.

»So etwas braucht kein Mensch«, stöhnte Grace.

»Und auch kein Reh.« Er startete den Motor. Behutsam gab er wieder Gas und rollte auf die Straße zurück. Während sie fuhren, lauschte er aufmerksam den Geräuschen, die das Fahrzeug machte. »Hört sich alles normal an.«

»Gott sei Dank. Hoffentlich sind wir bald da. Ich muss aus diesem Sitz raus! Drei Wochen sind doch genug.«

»Nur noch ein klein wenig Geduld, Madam.«

Nachdem sie noch sechs weitere Kilometer gefahren waren und zwei kleinere Ortschaften passiert hatten, kam, einer Erlösung gleich, das schmucklose Ortsschild von Harbythorpe in Sicht.

»Wir haben nur vier Minuten verloren, seit ich wieder übernommen habe«, erklärte Jack mit leichtem Stolz. Inzwischen war es halb acht Uhr abends und stockdunkel.

»Bravo. Und wir sind ja auch nur fast draufgegangen.«

»Mit so etwas muss man immer rechnen«, konterte er mit gespielter Unbekümmertheit.

Grace ließ seine Aussage unkommentiert, nahm ihr Handy aus der Mittelkonsole und zog das Ladekabel ab. »Dann warne ich meine Tante mal vor, dass wir gleich vor ihrer Tür stehen.«

»Da hinten ist eine Tankstelle. Lass uns erst mal für morgen tanken. Dann können wir gleich nach dem Frühstück los.«

»Von mir aus. Am besten nehmen wir auch noch ein paar Flaschen Wasser mit. Heute gehe ich in keinen Supermarkt mehr!«, erklärte sie erschöpft, während sie das Telefon an ihr Ohr führte.

»Ok, machen wir so.«

Die Tankstelle, die zu keiner Kette gehören schien und an die sich direkt eine kleine Autowerkstatt anschloss, war mit vier Zapfsäulen nicht sonderlich groß. Jack stoppte direkt gegenüber des Eingangs zum Shop.

»Komisch. Sie geht nicht ran«, sagte Grace und kontrollierte die Nummer im Display.

»Wann hast du zuletzt mit ihr telefoniert?«

»Am Mittwoch.«

»Vielleicht ist sie gerade einkaufen«, mutmaßte Jack. »Oder sie hört das Telefon nicht.«

»Irgend so etwas wird es sein. Na ja, sie weiß ja grundlegend, dass wir heute kommen.«

Sie stiegen aus. Grace streckte ihre Glieder und riss die Arme in die Höhe, während Jack die Zapfpistole nahm, und begann, den Wagen vollzutanken.

»Ich geh schon mal rein«, sagte seine Frau, nachdem sie sich kurz vor Kälte geschüttelt hatte. Sie trug nur eine dünne Strickjacke über ihrem Top und hier hatte es gefühlt unter zehn Grad.

»Alles klar, ich komme gleich!«

»Spritz nicht daneben!«

»Ha, ha.«

Nach anderthalb Minuten war der Tank voll. Jack schloss den Wagen ab und betrat den Laden. Er wurde von dezenter Musik begrüßt, die aus den Deckenlautsprechern kam; Elton Johns ›Song For Guy‹. Der Shop war der Größe der Tankstelle und sicher auch der des kleinen Ortes angemessen. Trotzdem gab es alles, was Mann und Frau brauchte: Getränke, Zeitschriften, Zigaretten, eine kleine Auswahl an Süßwaren und eine schmale Snacktheke, in der Sandwiches lagen. Jacks Magen begann unwillkürlich zu knurren. Sie hatten geplant, nach dem Einchecken bei der Tante noch essen zu gehen. Grace hatte ihm versichert, dass man das im ortsansässigen Pub ruhigen Gewissens tun könne, aber er war, nach wie vor, skeptisch.

Jack entdeckte seine Frau an der Verkaufstheke, wo sie sich angeregt mit dem Kassierer unterhielt. Diesen schätzte er auf Mitte dreißig. Er war schlank, einigermaßen gut aussehend und trug einen Dreitagebart. Grace und er lachten überschwänglich.

Neugierig trat Jack näher, die Hände in den Jackentaschen vergraben. »Na, du hast hier ja schnell wieder Anschluss gefunden, Sweety.«

Sie fuhr herum. »Ah, siehst du: Das ist er! Das ist Jack.« Dem stand ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. »Schatz, das ist Ethan. Wir kennen uns von früher«, sorgte Grace sogleich für Aufklärung.

Der Mann mit dem dichten braunen und wuscheligen Kopfhaar reckte die Hand über den Tresen. »Hi, freut mich!« Seine Stimme war markig und passte zu seiner Erscheinung. Unter seinem rot karierten Holzfällerhemd zeichnete sich ein durchtrainierter Körper ab.

Zögerlich erwiderte Jack die Begrüßungsgeste. Der Händedruck des Mannes war äußerst kräftig. »Hallo, gleichfalls.« An seine Frau gewandt stellte er fest: »Alte Freunde, wie?«

»Kann man sagen. Ethan verdanke ich meinen ersten Kuss mit einem Jungen.«

»Aha, schön.« Ein eisiger Blick traf den Kassierer, der sich sofort erklärte:

»Aber nicht, was Sie vielleicht denken! Ich hatte ihr ein Date mit einem Jungen verschafft, den sie damals heiß fand.«

Grace nickte verlegen. »Stimmt.« Sie beugte sich leicht zu ihrem Mann rüber und flüsterte, so laut, dass man es auch jenseits des Bedientresens hören konnte: »Ethan steht nicht auf mein Geschlecht, weißt du.«

Jack verstand und lächelte schräg. »Aha.«

»Sie hat recht. Habe ich noch nie.«

»Arbeitest du hier hauptberuflich?«, fragte Grace.

»Ja, allerdings. Ist toll. Viel Kundenkontakt und so.«

»Du hast doch damals schon an der alten Tankstelle gejobbt, oder?«

»Ja, in den Ferien. Das Business hat mich dann auch nicht mehr losgelassen. Na ja, ich war mal zwei Jahre auf einer Wirtschaftsschule, aber das war dann doch nicht mein Ding.« Nachdem er Grace nochmals von oben bis unten gemustert hatte, stellte er fest: »Die Schwangerschaft steht dir echt gut!«

Sie lächelte und sofort wanderte ihre Hand auf den erkennbaren Bauchansatz. »Danke.«

Jack räusperte sich. »Die Eins.«

Ethan sah ihn fragend an.

»Zapfsäule Eins. Wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier.«

»Jack!«, zischte Grace peinlich berührt.

»Ist doch so.«

»Ähm, wie geht es denn meiner Tante?«, versuchte sie, das Thema zu wechseln. »Ich war lange nicht mehr bei ihr.«

Ethans Heiterkeit wich aus seinem Gesicht. »Ich habe sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Und sie fährt ja auch kein Auto mehr.«

»So? Wieso das denn?«

»Na ja, seit dem Schlaganfall.«

Graces Augen weiteten sich. Sie sah erst Jack und dann Ethan verdutzt an. »Schlaganfall? Mein Gott, davon weiß ich ja gar nichts. Wann ist das passiert?«

»Vor etwa einem Jahr; hat mir ihr Nachbar erzählt.«

»Das hat sie in euren Telefonaten nie erwähnt?«, fragte Jack stutzig.

Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

»Demnach wusste ja nicht mal deine Mutter davon.«

»Aber sie hat sich wohl ganz gut erholt«, erklärte Ethan. »Ihr linkes Bein soll etwas in Mitleidenschaft gezogen sein. Ansonsten kann sie wohl noch weitgehend selbst für sich sorgen. Und der Pflegedienst kümmert sich auch um sie.«

»Puh ...« Diese neuen Informationen verarbeitend, ging Graces Blick ins Leere. Jack strich ihr über den Arm.

»Na ja, ich weiß alles ja nur aus zweiter Hand«, relativierte der Kassierer. »Ihr übernachtet bei ihr?«

»Ja. Und morgen früh geht’s wieder zurück nach Loughton«, antwortete Jack.

Dem Mann war seine Enttäuschung anzusehen. »So schnell schon?« Er schaute zu Grace. »Schade. Hätte mich gerne noch mal mit dir, äh, mit euch, getroffen.«

»Tja, wirklich schade«, kommentierte Jack gespielt seufzend und mit wachsender Ungeduld. Normalerweise war er nicht der eifersüchtige Typ und bei Ethan hatte er ja definitiv nichts zu befürchten; doch hier hatte Grace klar Heimvorteil und das ließ ihn sich wie einen Außenseiter fühlen. Er zog die Kreditkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie Ethan. Im selben Moment hörte er, wie sich die Türen zum Shop mit einem leisen Zischen öffneten. Jemand kam auf sie zu.

»Äh, Entschuldigung!?«

Jack und Grace fuhren herum. Vor ihnen stand ein übermüdet wirkender, leicht untersetzter Mann mit tiefen Augenringen und Bartstoppeln im Gesicht. Er trug einen schlecht sitzenden, grauen Businessanzug. In seiner Hand baumelte ein Autoschlüssel. »Gehört Ihnen zufällig der Range Rover da draußen?« Er nickte in Richtung der Zapfsäulen.

»Ja«, antwortete Grace. Sie und Jack sahen sich an.

»Wahrscheinlich haben Sie es noch nicht bemerkt, aber da läuft was aus. Sieht aus wie Öl.«

»Was?« Jacks Puls war sofort auf Höchstniveau. Er drückte Grace seine Geldbörse in die Hand und lief eilig an dem Mann vorbei nach draußen.

An der Zapfsäule hinter ihrem Wagen stand nun ein silbergrauer Saab 9-5. Er war schon ziemlich in die Jahre gekommen und hatte deutlich sichtbare Rostflecken an den Kotflügeln.

Auf den ersten Blick konnte Jack am Range Rover nichts Ungewöhnliches feststellen. Doch als er ans Heck ging, offenbarte sich ihm die unangenehme Bescherung: Unter dem Wagen lief eine dunkle Flüssigkeit aus; Öl. Sie rann in Richtung der Tanksäule und sammelte sich dort am Betonabsatz.

Scheiße! Er ging in die Hocke und beugte seinen Oberkörper zur Seite, bis er unter das Auto schauen konnte. Im Zwielicht war allerdings nicht auszumachen, wo genau sich das Leck befand. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Nervosität holte er die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Im Lichtkegel konnte er jetzt sehen, dass die Ölwanne die Ursache zu sein schien; ein Tropfen löste sich von dort und klatschte auf den Boden; gleich darauf der nächste. Die Wanne war vermutlich durch einen der scharfkantigen Steine, die während des Ausweichmanövers gegen das Chassis geprallt waren, beschädigt worden.

»Vielen Dank, du blödes Reh«, grummelte Jack. In Gedanken spielte er bereits durch, wie er das seinem Schwiegervater Gregory beibringen würde. Ich habe gerade deine Tochter massiert, als das Vieh in uns reingelaufen ist.

Er zog ein paar Papierhandtücher aus dem Spender an der Säule und legte sie über das Öl, das sich sofort hineinsog. Ein wenig ratlos darüber, was er darüber hinaus noch tun konnte, ging er zurück in den Shop. Dort traf er den Anzugträger auf halbem Weg zur Tür. Seine Brieftasche verstauend, fragte der neugierig: »Und?«

»Danke, dass Sie was gesagt haben. Scheint ein Riss in der Ölwanne zu sein.«

Der Mann verzog das Gesicht. »Uh, üble Sache. Schönen Abend trotzdem.« Er setzte sich wieder in Bewegung und verließ den Laden.

»Die Ölwanne?«, wiederholte Ethan, als Jack an den Verkaufstresen trat.

Der nickte brummend. »Es tut mir leid wegen der Sauerei. Ich helfe natürlich beim Saubermachen!«

Sein Gegenüber winkte gelassen ab. »Kein Thema, das kriege ich schon hin! Ich schau mir das gerade mal an.« Er kam hinter der Theke vor und lief zum Ausgang.

Graces Körperspannung löste sich kurz resignierend. »Na toll. Und jetzt?«

»So können wir auf jeden Fall nicht weiterfahren«, bewertete Jack die Lage ernüchtert. »Wie weit ist es noch bis zu deiner Tante?«

»Zu Fuß? Vielleicht zehn Minuten.«

Nach einem kurzen Moment ratloser Stille kam Ethan zurück. »Sieht böse aus«, verkündete er. »Das mit dem Schaden an eurem Auto meine ich. Hab sicherheitshalber einen Eimer untergeschoben, aber es läuft wohl nichts mehr aus.«

»Gott sei Dank!«, sagte Grace, wenig erleichtert.

»Ich kann euch anbieten, den Wagen hierzulassen. Nebenan ist ja die Werkstatt. Cillian kann sich das gleich morgen früh anschauen. Der ist ab sieben Uhr da.«

»Ja, das wäre sicher das Einfachste«, entgegnete Grace dankbar und sah Jack eindringlich an.

Der nickte zustimmend. »Ok, vielen Dank! Aber was ist mit dem ganzen Öl?«

»Ach, da schmeiß ich gleich Katzenstreu drüber und in einer halben Stunde kann ich das dann aufwischen«, erklärte Ethan unaufgeregt und trat hinter seine Theke.

Nachdem er sich nochmals, peinlich berührt, entschuldigt hatte, zahlte Jack das Benzin und legte noch eine Zwanzig-Pfund-Note auf den Wechselgeldteller.

»Für die Unannehmlichkeiten. Ich hoffe, das reicht?«

Anders als vermutet, bedankte sich Ethan und ließ den Schein schnell in seiner Hosentasche verschwinden.

Jack zog Grace sanft am Arm. »Kommst du? Wir müssen noch die Taschen aus dem Auto holen.« Er freute sich nicht gerade sehr darauf, nach der langen Fahrt nun auch noch ihr Gepäck wie ein Muli quer durch den Ort schleppen zu müssen.

»Hm, ja. Ethan, war schön, dich mal wiederzusehen! Sag Mark einen lieben Gruß! Und Entschuldigung noch mal für alles!«

»Kein Thema. Euch noch eine schöne Zeit! Und melde dich mal wieder, hörst du?«

Die Glastüren glitten auseinander und kalter Wind strömte ihnen entgegen. Grace zuckte sofort zusammen.

»Warte, ich hol dir deine dicke Jacke!« Er öffnete den Kofferraum, zerrte ihre petrolfarbene Windjacke zwischen den Reisetaschen heraus und ließ sie hineinschlüpfen.

Grace nahm die Beanie aus der Außentasche und zog sie sich über den Kopf. »Hätte das nicht im Hochsommer passieren können?«

»Wegen mir hätte das gar nicht sein müssen«, erwiderte Jack, während er die beiden Reisetaschen auslud und noch einmal auf das Rinnsal des Motoröls schielte. Die Papierhandtücher hatten sich inzwischen vollgesaugt und waren komplett schwarz.

»Wird das nicht zu schwer?«, fragte Grace.

Er hob beide Gepäckstücke zeitgleich prüfend an. »Nein, das schaff ich schon. Ist gut für die Oberarmmuskeln.«

»Wenn du meinst. Aber blöd ist es schon.«

»Lässt sich ja jetzt nicht mehr ändern. Das Reh hat gesprochen!« Jack stellte die Taschen neben der Tür zum Shop ab. Dann sah er sich nach der Werkstatt um. Diese schloss sich direkt rechts an das Tankstellengebäude an. Über einem großen Rolltor prangte auf einem gelben Schild die Aufschrift ›Cillian's Autoreparatur - Alle Marken‹ in schnörkellosen blauen Buchstaben.

Er schloss den Kofferraumdeckel und klopfte dem Wagen aufmunternd auf die Motorhaube. »Wir sehen uns hoffentlich morgen in aller Frische.« An Grace gewandt sagte er im Vorbeigehen: »So, ich bringe deinem Ethan noch den Schlüssel«, was sie aufgrund seiner Wortwahl mit einem leisen Stöhnen quittierte.

Als er in den Laden kam, war Graces Bekannter gerade dabei, Zigarettenpäckchen in das lange Regal an der Rückwand einzuräumen.

»Danke noch mal für die Hilfe«, sagte Jack und versuchte dabei, so freundlich zu sein, wie er konnte. Er hielt ihm den Autoschlüssel hin. Doch, statt ihn zu nehmen, umschloss Ethan Jacks Hand mit seiner. »Was wird das?«

Der Mann beugte sich etwas vor. »Hören Sie, ich wollte das vor Grace nicht sagen, aber …« Merklich leiser fuhr er fort: »Nach dem, was ich so gehört habe, soll Mrs Onslow ziemlich merkwürdig geworden sein, seit dem Tod ihres Mannes.«

Jack kniff, gleichermaßen überrascht wie neugierig, die Augen zusammen. »Was heißt merkwürdig?«

Ethan ließ ihn los und nahm den Schlüssel an sich, als er wenig konkret antwortete: »Na ja, merkwürdig eben. Wie gesagt, ich selbst habe sie eine ganze Zeit lang nicht mehr gesehen. «

»Wie lange?«

»Seit knapp zwei Jahren. Kurz, nachdem ihr Mann gestorben war, hat sie sich zurückgezogen. Und dann letztes Jahr der Schlaganfall … . Eine Freundin von meinem Mann arbeitet beim ambulanten Pflegedienst. Sie hat Mrs Onslow kurzzeitig betreut, bis diese sie rausgeschmissen hat. Sie muss sie wüst beschimpft haben. Und auch vorher soll sie komisches Zeug gesagt haben. So religiösen Stuss, wissen Sie?«

Jack war sich nicht sicher, wie er diese Information bewerten sollte. Und warum hatte Ethan das Grace nicht selbst sagen können? »Denken Sie, sie ist irgendwie gefährlich?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich will auch nicht, dass Grace was passiert. Oder Ihnen.«

»Danke für Ihre Besorgnis«, entgegnete Jack trocken. »Aber ich denke, wir können schon ganz gut auf uns selbst aufpassen. Und mit einer abgedrehten Tante werde ich sicher fertig.«

»Wenn Sie meinen. Jetzt lassen Sie Grace nicht so lange alleine da draußen stehen!«

Jack nickte und rang sich ein Lächeln ab. »Gute Nacht!« Mit einem mehr als komischen Gefühl im Bauch verließ er den Tankstellenshop.

04 - Das Haus

Während sie durch das abendlich beleuchtete Harbythorpe liefen, zeigte Grace Jack ein paar Plätze, an denen sie sich früher gerne aufgehalten hatte oder mit denen sie eine Erinnerung verband. Am Brunnen auf dem kleinen Platz in der Ortsmitte hatte sie Eis gegessen, das ihr die Tante im nahegelegenen Supermarkt gekauft hatte. Sonntags waren sie in die Kirche gegangen; sie lag nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Straßenseite.

»Der Coffeeshop ist neu, den gab es früher nicht«, stellte sie weiterhin fest und deutete im nächsten Moment eine schmale Gasse hinunter. »Das ›Kings Head‹ ist da hinten, die Seitenstraße lang. Da haben meine Freundinnen und ich hin und wieder abgehangen. Die haben wirklich leckeres Essen.«

Jack, der die Taschen trug, und dessen Arme gefühlt immer länge wurden, nahm ihre Aussagen mit knappen Entgegnungen zur Kenntnis. Die seltsame Warnung von Ethan schwirrte ihm im Kopf rum und er wog nach wie vor ab, ob er Grace davon erzählen sollte. Andererseits wollte er sie nicht unnötig beunruhigen, denn schließlich hatte ihr Freund von der Tankstelle die Informationen ja auch nur aus zweiter Hand erhalten. Es handelte sich also vermutlich nur um klassischen Dorftratsch, dessen Wahrheitsgehalt selten bei einhundert Prozent lag.