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Inenodabilis- Ein deutsch-deutscher Kriminalroman, der etwas andere Kriminalroman. Ein Roman mit realem Hintergrund und Bezug zur deutsch-deutschen Geschichte und politischen Geschehnissen. Im Jahr 1965 versuchten die Kommissare Georg Rosa und Max Reinhardt einen Fall lösen, der eigentlich ganz einfach zu sein scheint. Doch im Laufe der Bearbeitung nimmt der Fall immer komplexere Formen an. Ein toter Junge wird gefunden, der einen Zettel mit der Adresse eines vermissten Mannes bei sich trägt. Dieser Mann scheint ein Chamäleon zu sein. Nachdem beide Männer keine Chance bekommen, den Fall während ihrer aktiven Dienstzeit abzuschließen, versuchen sie es nach ihrer Pensionierung erneut. Aufregende Dinge passieren, unsichtbare und gefährliche Gegenspieler erscheinen auf der Bildfläche. Es scheint ein Schachspiel zu sein, bei dem die Spieler unbekannt und die Regeln außer Kraft gesetzt sind. Werden die beiden Männer damit fertig werden? Ein Kriminalroman der besonderen Klasse.
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Seitenzahl: 550
Veröffentlichungsjahr: 2016
© 2016 George B. Wenzel
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-0533-1
Hardcover:
978-3-7345-0534-8
e-Book:
978-3-7345-0535-5
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George B. Wenzel
Ein Deutsch-Deutscher Kriminalroman
DIES IST KEIN GESCHICHTSBUCH, AUCH WENN DIE VERGANGENHEIT EINE GROßE ROLLE IN DIESEM ROMAN SPIELT. GLEICHWOHL, DAS BESCHRIEBENE GESCHEHEN HÄTTE DURCHAUS SO ODER SO ÄHNLICH ABLAUFEN KÖNNEN.
PERSONEN UND HANDLUNGEN DIESES ROMANS SIND FREI ERFUNDEN.
JEDE ÄHNLICHKEIT MIT PERSONEN, DIE GELEBT HABEN ODER LEBEN, JEDE ÜBEREINSTIMMUNG DER NAMEN UND ORTE WÄRE BLOßER ZUFALL.
WER SICH HIER DENNOCH IN DER EINEN ODER ANDERN ROMANFIGUR WIEDERERKENNEN SOLLTE, TUT GUT DARAN IN SICH ZU GEHEN UND ZU SCHWEIGEN.
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ZUR RECHTEN ZEIT ZU SCHWEIGEN, IST EIN
ZEICHEN VON WEISHEIT UND BESSER ALS ALLES REDEN.
PLUTARCH VON CHÄRONEA (45 - 120),
GRIECHISCHER PHILOSOPH,
Von 1947 bis 1989 herrschte zwischen den Westmächten, unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Ostblock, unter der Führung der Sowjetunion, ein Konflikt, der mit allen Mitteln rund um den Erdball ausgetragen wurde. Der Kalte Krieg! Er war eine Folge der politischen Entwicklungen im20. Jahrhundert. Der Erste, aber vor allem der Zweite Weltkrieg veränderte das Politikverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika, die zu Beginn des Jahres 1942 zum zweiten Mal den demokratischen Staaten in Europa militärisch zu Hilfe eilen mussten. Die massive Unterstützung der Sowjets gegen den deutschen Faschismus, um das NS-Regime auch im Osten zu stoppen, war eine militärische Notwendigkeit. Das bedeutete aber nicht, dass man dem hegemonialen Machtstreben und damit der Verbreitung des Kommunismus durch die UdSSR in Europa tatenlos zusehen würde. Eben feierte man noch gemeinsam am 08. Mai 1945 den Sieg über Nazi-Deutschland, stand man sich doch schon unversöhnlich gegenüber. Während der Berlin-Blockadei oder der Kuba-Kriseii stand die Welt knapp vor einem neuen heißen Krieg. In anderen Ländern, wie in Koreaiii oder in Vietnamiv wurde der Konflikt offen als Stellvertreterkrieg der Blöcke (einschließlich der Beteiligung Chinas) ausgetragen.
Dennoch liefen zwischen den Blöcken, auch zwischen den vier Zonen bzw. später den beiden deutschen Staaten, Geschäfte ab. Nicht immer waren diese Geschäfte normal und nicht immer waren sie legal. Doch Geld regierte die Welt, auch im realen Sozialismus der DDR. Vordergründig betrachtet erschien dabei manches anders, als es in der Realität, hinter den Kulissen, tatsächlich war. Wer sich anschickte, es zu durchschauen, lief Gefahr auf der Strecke zu bleiben. Zu viel Neugier, zu viel Offenheit oder gar ein Fluchtversuch in die westliche Freiheit, konnte die Freiheit generell oder im schlimmsten Fall das Leben kostenv. Das SED-Regime hatte Lehren aus der NS-Zeit gezogen und einen perfekten Überwachungsstaat etabliert. So mancher Journalist, Künstler, Regimekritiker oder Republikflüchtling musste diese bittere Lektion erfahren. Das stand im krassen Gegensatz zu den theoretischen sozialistischen Zielen der DDR, wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Doch trotz aller schönen Versprechungen schaffte es die SED-Führung nicht, die gleichmäßige Versorgung der Bürger im ganzen Land mit allen notwendigen Nahrungsmitteln sicherzustellen. Sicher, es mag Bereiche gegeben haben, die besser versorgt waren, doch meine eigene Erfahrung bei einem Besuch in Sachsen im Jahr 1979 ließ dies anders erscheinen. Von anderen Dingen (z. B. Autoreifen, Ersatzteile, etc.) will ich gar nicht erst berichten, da die ohnehin im damaligen Fünf-Jahresplan (damalige Erklärung von DDR-Bürgern) nicht vorgesehen waren. Dennoch, die meisten Menschen arrangierten sich mit den Verhältnissen, manche aber auch nicht. In jedem Fall waren Beziehungen und Organisationstalent so wichtig, wie die Mark der DDR selbst. Im Gegensatz dazu stand das Wirtschaftswunder der BRD, das bereits in den 50er Jahren für volle Auslagen in den Geschäften sorgte. Die als Begründung für den Unterschied zwischen Ost und West herangezogenen und oft zitierten Reparationsleistungen an den sozialistischen großen Bruder UdSSR mussten auch im Westen an die Westalliierten geleistet werden. Allerdings wurde bereits 1948 der Marshallplan im US Kongress verabschiedet. Das war ein großes Wirtschaftswiederaufbauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg, dem an den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa zugutekam. Es bestand aus Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren. Davon profitierten auch Westberlin und Westdeutschland. Aus Sicht der USA war dies eine absolute Notwendigkeit, um ein Abdriften der europäischen Länder in den sowjetischen Einflussbereich zu verhindern.
Trotzt aller Schwierigkeiten, die es gab, war es jedoch manchmal sinnvoll sich nicht mit allem abzufinden. Wer Geduld aufbrachte, bekam vielleicht irgendwann eine Chance. In diesem Umfeld waren die Hauptkommissare Georg Rosa, genannt Schorsch, und sein Kollege Hauptkommissar Max Reinhardt in Westdeutschland tätig und arbeiteten an der Aufklärung eines sonderbaren Falles. Die Arbeit daran verlief nur ganz anders, als sie es sich jemals ausgemalt hatten.
George B. Wenzel
Dienstag 12. Mai 1965: Die Bundesrepublik Deutschland kündigt die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu Israel an. Daraufhin brechen neun arabische Staaten, darunter Irak und Ägypten, ihre Beziehungen zur Bundesrepublik ab.
Mittwoch, 13. Mai 1965 – 20:00 Uhr. Der Raum, in dem sich die zwei Männer aufhalten, ist nur dürftig beleuchtet. Ein stattlicher dunkler Eichentisch steht in der Mitte und darum herum sind einige Stühle aufgestellt. An der Wand steht eine dunkle Vitrine mit vielen Büchern, daneben hängt ein Kreuz. Der Boden besteht aus Holzdielen, die bei jedem Schritt knarren, ächzen.
„Wie dem auch sei, das ist ein Jammer, ein Unglück, sage ich Dir“, sagte der dunkelhaarige Mann mit dem Mittelscheitel und rückte seine Brille mit dem Handrücken zurecht. „Es kann doch nicht sein, das man kein bisschen tun kann“, spricht er leise.
Doch wieder erhält er keine Antwort von seinem Gegenüber. Er steht auf, blickt auf den Kalender an der Wand. Es ist Mittwoch, 13. Mai 1965. Er geht zum Fenster, schaut auf den leeren Platz vor dem Gebäude und denkt über die vergangenen Jahre nach. Im trüben Licht der Stehlampe steht er da und steckt beide Hände in die Hosentaschen seines dunklen Anzugs. Das Jackett hängt dabei etwas zerknüllt zwischen den Armen nach vorn. Er schaut immer noch ins Freie und schweigt. Nach geraumer Zeit spricht er wieder
„Sag doch was, es kann in der Tat nicht sein, dass das alles ohne Folgen bleibt. Ich meine, es ist so viel geschehen und das ist buchstäblich alles ein Irrsinn.“
Er hört ein kaum vernehmliches „Njet, nichts bleibt ohne Folgen.“ Mehr nicht, dann war es wieder still. Er schüttelt den Kopf und murmelte vor sich hin
„Das geht doch so nicht weiter, das musst doch auch Du verstehen. Das Risiko ist enorm, nicht nur für Dich. Denk doch auch an die Anderen“, sagt er und drehte sich zu seinem Gegenüber um.
Doch der war nicht mehr im Raum.
„Verdammt“, stößt er hervor.
„Verdammt“, und nach einer Weile „ich sollte so nicht reden“, murmelte er dann.
Er blickt wieder aus dem Fenster und sieht seinen Gesprächspartner, wie der eilig durch den Regen läuft und verschwindet.
„Narr“, flüsterte er, „Du armer Narr. Wir werden das alle bezahlen müssen.“
Dann geht er gebückt aus dem Raum. In der Kirche angekommen, steht er lange vor dem Altar und sieht das Kreuz mit Christus an.
„Kannst Du ihm helfen?“, fragt er wortlos, „Ich weiß mir keinen Rat mehr. Wenn nicht Du, wer dann.“
Nach einer Weile verlässt er mit gesenktem Haupt die Basilika St. Ulrich und geht mit schweren Schritten die wenigen Meter zu seiner Wohnung, die über dem Hof liegt. Es regnet noch immer und die trübe und feuchte Nacht passt nur zu sehr zu seiner Stimmung. Er öffnet die schwere Haustüre, schüttelt die Nässe aus seinem Umhang heraus und blickt noch einmal zur Basilika zurück. Würde es nicht regnen, könnte man die Tränen in seinem Gesicht erkennen. Dann dreht er sich um und geht ins Haus, die Türe fällt wuchtig hinter ihm ins Schloss.
Donnerstag, 14. Mai 1965 – 17:30 Uhr. Im Haus auf der anderen Seite der Straße waren zwei Räume schon hell erleuchtet, da der Himmel noch immer regenverhangen war. Die Vorhänge waren aufgezogen. Infolgedessen konnte man von der Straße aus durch die Fenster hineinsehen. Ein Mann räumte seit Stunden fieberhaft im Haus auf und hat im Arbeitszimmer eine Menge Papiere auf dem Schreibtisch aufgestapelt. Es war im Laufe der letzten Stunden sehr viel geworden. Den ganzen Tag saß er bereits am Schreibtisch und las Briefe. Manchmal las er einen Brief auch zweimal, doch die meisten davon schob er danach in einen Aktenvernichter. Nur wenige blieben übrig und die steckte er in einen großen Briefumschlag. Fast alle Briefe hatte er nun gelesen, nur einer lag noch auf dem Schreibtisch. Dieser war verschlossen und trug einen Poststempel aus 1956. Er öffnete das Kuvert vorsichtig mit einem schweren metallenen Brieföffner, der am Griff den alten deutschen Reichsadler aufzeigte, und zog den Brief heraus. Es war nur ein einzelnes Blatt Papier mit einer sehr schönen Handschrift. Aufgeregt las er es immer wieder. Er hielt das Papier lange in der Hand und man konnte bei genauem Hinsehen erkennen, dass ein paar Tränen sein Gesicht hinunter liefen. Dann aber steckte er auch diesen Brief zusammen mit dem Kuvert in den Aktenvernichter. Am Ende leerte er die Papierschnitzel in eine große Papiertüte. Er stand auf und packte eilig einige persönliche Sachen in einem Koffer zusammen, zog einen schweren dunklen Mantel über, griff nach der Papiertüte und verließ das Haus. Der Hund wollte mit, doch ihn schob er mit der Hand zurück.
„Du musst heute hierbleiben, ich komme bald wieder. Pass gut auf das Haus auf“, sagte er.
Dann schloss er die Haustüre ab und überquerte mit großen Schritten den Hof, warf die Papiertüte in den Mülleimer und ging in die gegenüberliegende Garage. Wenige Augenblicke später bog ein dunkler Wagen vom Grundstück auf die Straße in Richtung Stadt.
Der Mann, der die gesamte Zeit auf der anderen Straßenseite an einer Hauswand lehnte und die Geschehnisse im Haus gegenüber verfolgte, verließ nun seinen regengeschützten Platz. Er stieg in einen VW Käfer ein, fuhr langsam an und folgte dem vorausfahrenden Wagen in gebührendem Abstand.
Wie schon seit Tagen regnete es leicht und fein, der Scheibenwischer hatte jedoch keine Mühe das Wasser auf der Frontscheibe zu verdrängen. Auf der Straße spiegelte sich das Licht der Laternen und die Menschen eilten am Straßenrand entlang, um nach Hause zu kommen oder ihre letzten Besorgungen zu erledigen. Manche standen vor Schaufenstern, andere rannten über die Straße, um die Straßenbahn zu erreichen oder packten ihre Einkäufe in ihr Auto. Viele erledigten ihre letzten Einkäufe an diesem Donnerstag. Es war ein paar Minuten vor 18 Uhr, also noch 30 Minuten bis Geschäftsschluss. Der Mann fuhr inzwischen in der Gögginger Straße in Richtung Stadtzentrum. Immer wieder schaute er angestrengt nach draußen, als würde er etwas oder jemanden suchen. Doch hier waren um diese Zeit einfach nur viele Menschen unterwegs, die es eilig hatten. Es war nicht schneller vorwärtszukommen, ohne dabei zu riskieren jemanden zu übersehen und anzufahren. Die Leute passten nicht auf den Verkehr auf und der Regen machte es für den Fahrer nicht einfacher. Am Königsplatz angekommen, bog er dann nach leicht rechts in Richtung Maximilianstraße ab. Dort hielt er vor einem kleinen Laden. Spielwaren aller Art waren im Schaufenster ausgestellt und einige Kinder standen davor und drückten ihre Nasen an den Ladenfenstern platt, während ihre Eltern nörgelnd weitergehen wollten. Blechspielzeug, Modelleisenbahnen und Puppen waren ausgestellt. Doch dafür hatte er keinen Blick übrig, er wandte sich dem Laden daneben zu. Ein kleiner unscheinbarer Laden, das Schaufenster war dämmrig. Er schloss die Türe auf, sah sich nach links und rechts um und ging hinein. Die Glocke über der Türe, die leise schellte, ignorierte er. Er schloss die Türe hinter sich und ging schnellen Schrittes durch den schmalen unbeleuchteten Raum. Er kannte sich aus, so fand er den Weg auch ohne Licht und das, ohne irgendwo anzustoßen oder hängen zu bleiben. Es standen links und rechts des Raumes Regale mit alten Büchern, viele davon hatten einen Buchrücken mit kyrillischer Schrift. Niemand außer ihm befand sich im Laden. Er ging weiter nach hinten und durchschritt eine andere Türe, die quietschend nachgab und sich öffnete. Die Stufe darunter knarrte, als er sie mit seinem Schritt belastete. Er blieb einen Moment stehen und hörte nach vorne in den Laden. Doch es war nichts, er war allein. Nun betrat er das kleine fensterlose Büro, knipste das Licht an und setzte sich vor den Schreibtisch. Im Schein der Glühbirne, die von der Decke baumelte, durchsuchte er die Schubladen des Schreibtisches und später das Regal dahinter. Die gesuchten Papiere legte er sorgsam zusammen auf den Schreibtisch. Als er alles in seiner Tasche verstaut hatte, ging er in die Toilette, kämmte sich vor dem Spiegel die Haare aus dem Gesicht und putzte seine Brille. Er sah sich kritisch im Spiegel an und knurrte „Nun dann.“ Nach etwa einer Stunde, in der Hand eine Reisetasche, erschien er wieder im Laden und ging in Richtung Ausgang. Er verließ den Laden, schloss die Türe sorgfältig hinter sich ab und stieg in sein Auto. In dem Licht der Schaufenster und der Laternen konnte man nun erkennen, welches Fabrikat der Wagen war. Es war ein dunkelblauer BMW 501 A, Baujahr 1954. Soweit man das bei diesem Wetter und dem inzwischen stärker gewordenen Regen sehen konnte, war der Wagen sehr gepflegt. Alle Leute, die daran vorbeigingen, schauten sich nach dem Auto um. Ein Wagen mit Sechszylinder-Motor war schon etwas Besonderes. Der Mann fuhr los und steuerte die Maximilianstraße entlang. Er fuhr nicht besonders schnell, da das Straßenpflaster den Wagen gehörig durchrüttelte und ab und zu gab es große Schlaglöcher im Belag, die dem Wagen, aber vor allem dem Fahrer nicht gut bekamen. Wenige Minuten später parkte er erneut, diesmal vor einer Kirche. Es war die Basilika Sankt Ulrich & Afravi, vor der er stehengeblieben war. Er schaltete das Licht aus. Einen Moment blieb er noch im Wagen sitzen und schaute aus dem rechten Seitenfenster seines Fahrzeuges auf den Eingang der Kirche, als würde er auf jemanden warten. Doch dann stieg er aus, schloss den Personenwagen ab und lief eilig auf die Eingangstüre zu. Er griff nach der Türklinke, nicht jedoch ohne sich noch einmal umzusehen und zu prüfen, ob ihm jemand folgte. Doch da war niemand, der ganze Vorplatz der Kirche war wie leergefegt, denn die Geschäfte hatten inzwischen geschlossen. Nun trieb der Regen die Menschen zurück in die Häuser, in ihre Wohnungen. Er drückte die schwere Türe auf und betrat die Kirche. Auf den ersten Blick sah er, dass kein anderer Besucher in der Basilika war. Er ging mit den Händen in den Taschen seines dunklen Mantels nach vorn zum Altar, vor dem ein weißhaariger Priester stand. Der Mann blieb wenige Schritte hinter dem Priester stehen. Nach einer Weile räusperte er sich. Der Priester drehte sich nach ihm um und schaute den Mann mit großen Augen an.
„DU“, fragte er, „DU bist wieder hier? Ich dachte, ich würde Dich nie wiedersehen.“
Der Mann im Mantel nickte nur und antwortete nicht. Der Priester legte seinen Arm auf des Mannes Schulter und sagte:
„Komm.“
Beide gingen aus der Kirche, durch die Sakristei in die Privatgemächer des Gottesmannes.
Weit nach Mitternacht erschien der Mann im dunklen Mantel wieder auf dem Vorplatz der Kirche. Es hatte derweil aufgehört zu regnen und die Straßenbeleuchtung war ausgeschaltet worden. Es war nun nur noch Dunkel, nichts spiegelte sich mehr im nassen Pflaster der Gehwege oder Straßen. Selbst die Beleuchtung für die Kirche, die auf der anderen Straßenseite auf den Hausdächern montiert ist, war nun ausgeschaltet. Bei seinem Auto angekommen, blieb er noch einen Augenblick stehen, sah sich langsam um und suchte den Vorplatz der Kirche und die Straße ab. Es war niemand unterwegs, er war allein. Dann stieg er in seinen Wagen und sah noch eine Weile nachdenklich zum Eingang der Basilika. Er drehte den Schlüssel, startete den Wagen und fuhr dann ohne Umwege und ohne einen weiteren Halt zurück zu seinem Haus nach Göggingen, einem Vorort von Augsburg. Außer ihm war niemand mehr unterwegs, kein Auto war ihm bisher begegnet oder gefolgt. Er empfand das fast als beunruhigend und versuchte sich noch mehr auf die Straße zu konzentrieren. Zuhause angekommen parkte er den Wagen wieder in der Garage neben einem jüngeren Wagen der gleichen Marke. Das Garagentor verschloss er sorgfältig und schien dabei jedes Geräusch vermeiden zu wollen. Er öffnete leise die Haustüre und wurde schwanzwedelnd von seinem Hund begrüßt. Bevor er die Tür hinter sich schloss, blickte er sich wieder um, als würde er prüfen, ob ihm jemand gefolgt sei. Es gab drei verschiedene Schlösser an der Türe. Er verriegelte alle und vergewisserte sich sorgfältig, dass sie wirklich verschlossen waren. Danach ging er durch alle Wohnräume des Hauses, überprüfte die Fenster und zog die Vorhänge zu. Im Lichtschein einer Lampe sah man ihn noch mehr als eine Stunde in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzen. Etwas später konnte man ihn, trotzt der zugezogenen Vorhänge, in die Küche gehen und etwas trinken sehen. Kurz darauf verloschen die Lichter in der Küche und wenige Minuten danach auch im Schlafzimmer. Alle Fenster waren nun dunkel und es drang kein Geräusch mehr aus dem Haus hinaus. Die Nacht war absolut schwarz und ruhig. Der Hund hatte sich vor der Schlafzimmertür hingelegt, wie er das immer tat, wenn sein Herr zu Hause und zu Bett gegangen war. Bis zum frühen Morgen änderte sich daran nichts.
Auf der anderen Straßenseite parkte wieder der VW Käfer. Der Fahrer saß in seinem Fahrzeug, zog an seiner Zigarette und blies den Rauch aus dem geöffneten Fenster hinaus. Er beobachtete das Haus gegenüber noch eine ganze Weile. Am nächsten Morgen war der Wagen verschwunden
Freitag, 15. Mai 1965 – 11:00 Uhr – Am nächsten Tag, so gegen 11 Uhr, klingelte eine Postbotin, die ein Päckchen unter dem Arm hatte, an der Tür der Lindauer Straße 51. Doch es öffnete niemand. So ging sie vorsichtig durch das Gartentor an die Haustüre und läutete erneut. Sie wartete einen Augenblick, dann lief sie um das Haus herum, zur Rückseite des Hauses, auf die Terrasse. Doch die Vorhänge waren zugezogen. Alles war still. Der Hund, der sonst zu bellen anfing, war ebenfalls nicht zu hören. Wegen ihm hatte sie erst an der Gartentüre geklingelt. Der Vierbeiner war meist friedlich, doch es war ein großer Hund und sie hatte ein wenig Angst vor großen Tieren. Außerdem, es schien fast so, als sei er ebenfalls so launenhaft wie sein Herr. Das hatte sie schon einige Male erlebt. Doch heute schien alles anders zu sein. Sie ging um das Haus zurück zum Gartentor und kam an der Garage vorbei. Sie sah, dass das Tor verschlossen war und lief darauf zu. Sie sah durch das Fenster nur den älteren Wagen da stehen, der andere fehlte.
„Er wird wohl weggefahren sein“, murmelte sie und legte das Päckchen vor der Haustür ab.
Einen Tag später kam die Postbotin wieder zur Lindauer Straße 51. Es gab diesmal kein Päckchen, dafür aber einen Brief aus den USA, das sah sie gleich. Das farbige Kuvert und die Marken waren ihr aufgefallen und außerdem bekam der Mann sonst nur wenig Post aus dem Ausland. Auf dem Brief stand als Adresse Herrn Martin Blume, Lindauer Straße 51, Augsburg. Keine Postleitzahl. Das war zwar nicht selten, doch ihr erschien es ungewöhnlich. Sie steckte den Brief in den Briefkasten und fuhr mit ihrem gelben Fahrrad weiter die Straße hinauf. Der Nachbar und seine Frau standen im Vorgarten und warteten schon. Sie freuten sich jeden Tag darauf, wenn die Postbotin kam. Der Hausnachbar war an den Rollstuhl gefesselt und es gab für ihn nicht viele Abwechslungen. Auf die Frage, ob sie ihren Nachbarn gesehen hätten, antwortete die Nachbarin:
„Nein, wir haben ihn schon seit Tagen nicht zu sehen bekommen, auch seinen Köter scheint er ausnahmsweise mitgenommen zu haben. Allerdings hat er noch nie die Vorhänge während seiner Reisen zugezogen gelassen und das ist seit vielen Jahren das erste Mal, dass Herr Blume längere Zeit nicht zu Hause ist, ohne uns Bescheid zu sagen.“
„Normalerweise lässt er es uns wissen, damit wir einen Blick auf das Haus haben“, ergänzte der Nachbar.
Das ist allerdings seltsam, dachte sich die Postbotin. Vorhänge zu, das Garagentor keinen kleinen Spalt offen, wie sonst. Das alles erschien ihr komisch, doch sie unternahm nichts weiter. Sie wird bei ihrer täglichen Tour in den nächsten Tagen mal nachsehen, ob der Mann wieder da ist.
Zwei Tage später, am Montag, kam sie wieder mit Post zum Haus des Herrn Blume. Wieder öffnete niemand auf ihr Klingeln. Als sie das Haus betrachtete, dachte sie, hinter einem der Fenster etwas gesehen zu haben. Sie ging durch das Gartentor und klingelte an der Haustüre. Niemand machte auf. Als sie sich gerade umwenden wollte, um zurückzugehen, spürte sie im Rücken einen Blick. Schnell drehte sie sich in Richtung Fenster. Doch da war niemand.
„Hm“, murmelte sie, „spinne ich jetzt schon."
Da rief ihr Kollege, der die Tour während ihres Urlaubs übernehmen sollte, vom Zaun herüber:
„Ist was? Wieso brauchst Du so lange?“
„Hier stimmt was nicht“, rief sie zurück. „Wir sollten die Polizei rufen.“
In dem Moment fiel eine Tür zu und man hörte Schritte im Kies des Weges, die sich sehr schnell entfernten.
„Otto, wir sollten die Polizei rufen“, rief sie wieder, „geh zum Nachbarn und telefoniere."
Der Kollege stieg von seinem gelben Fahrrad und lief die paar Schritte zum nächsten Haus. Er klingelte bei den Nachbarn und bat darum, telefonieren zu dürfen.
Montag, 18. Mai 1965 – 12:00 Uhr.
„Hallo, ich bin Kriminalhauptkommissar Georg Rosa und das hier ist mein Kollege Kommissar Max Reinhardt. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Wie kamen Sie darauf, das hier was nicht stimmt?“, fragte ich die Postbotin.
Sie erzählte, was in den letzten Tagen passierte bzw. was ihr aufgefallen war und weshalb sie das Gefühl hatte, dass heute jemand im Haus war, obwohl niemand die Türe öffnete. Sie erklärte, dass sie sich beobachtet fühlte und es ihr komisch erschien, dass die Vorhänge zugezogen und die Garagentüre, nicht wie sonst üblich, einen Spalt offen war.
„Sie haben vermutlich Recht, es sieht so aus, als wenn jemand im Haus war, da die Terrassentüre nicht verschlossen war. Herr Blume ist jedoch nicht da und von seinem Hund fehlt ebenfalls jede Spur“, erklärte ich. „Die Garagentüre war heute nicht offen, oder“, fragte ich noch mal nach.
Die Postbotin war sich nun nicht mehr sicher.
„Ich danke Ihnen, dass Sie uns gerufen haben. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, falls wir noch Fragen haben sollten“, sagte ich zu ihr, nickte und ging mit Max zurück ins Haus.
„Teufel, Teufel“, murmelte die Postbotin, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr mit ihrem Kollegen weiter.
In ihrer Tasche lagen noch eine Menge Briefe und Päckchen, die alle noch heute ausgetragen werden mussten. Sie hatten zu viel Zeit verloren. Erst durch das Warten auf die Polizei, dann durch die Befragung. Doch sie selbst wusste nun nicht viel mehr als zuvor. Nun traten beide mit Kraft in die Pedale, um die verlorene Zeit aufzuholen.
Zurück in der Stadt. An der Bürotür vor mir steht auf einem Schild Hauptkommissar Georg Rosa. Ich trat ein und warf meinen dünnen Mantel über den Stuhl. Ich fror ein wenig. Durch den tagelangen Regen hatte es sich abgekühlt und der Mantel war eindeutig zu dünn für dieses Wetter. Max, der in Uniform neben mir stand, ließ für sich und mich einen Kaffee aus einer Kaffeemaschine, die unmittelbar neben dem Büroeingang stand.
„Was nun, Max?“, fragte ich.
Max drehte sich um. „Ich denke, wir sollten eine Nachforschung nach diesem Herrn Blume starten. Das sieht doch sehr komisch aus. Wir haben in dem Haus nichts gefunden, was irgendwo auf persönliche Dinge hindeutet. Das Haus war klinisch rein, vor allem aber so gut wie leer und die Post, von der die Postbotin erzählte, fehlte auch. Es gab kein Päckchen und auch keinen Brief aus den USA.“
Ich nickte und setzte mich und dachte laut nach.
„Irgendjemand muss aber doch etwas gesehen haben. Die ganzen Sachen aus dem Haus konnten nicht so ohne weiteres abtransportiert werden. Dass es Dinge gab, die nun fehlten, war eindeutig. Bei den wenigen übriggebliebenen Möbeln standen die Schubladen offen und waren leer. An den Wänden waren helle Stellen, wo vorher Bilder oder Einrichtungsgegenstände hingen oder standen. Schränke konnte man nur mit einem größeren Auto, vermutlich sogar nur mit einem Transporter oder LKW wegschaffen. Doch die Nachbarn hatten nichts gesehen und gehört. Das ist wie verhext. Keine Zeugen, nicht einmal Spuren sind gefunden worden. Es gab keine im Haus, keine im Garten, keine Reifenabdrücke, nichts. Die Fenster und Türen waren unversehrt und abgeschlossen. Einzig ein kleines Kellerfenster war angelehnt. Doch da konnte man keine Möbelstücke aus dem Hause schaffen. Wer hier drin war, hatte einen Schlüssel, oder“, erklärte ich und meinte „gehen wir nach Hause und machen morgen weiter.
Ich kann nicht mehr, es ist schon zu spät. Willst Du noch ein Bier irgendwo trinken, Max?“
Doch Max schüttelte den Kopf.
„Lass mal, nicht heute. Meine Frau hat mich die letzten Tage nur wenig gesehen.“
Wir verließen gemeinsam das Büro und fuhren getrennt nach Hause. Während der Fahrt nach Hause dachte ich über den abhandengekommenen Mann nach. Max und ich arbeiteten nun schon einige Jahre zusammen, doch so einen komischen, ja seltsamen Fall hatten wir vorher noch nie gehabt. Seit langem fühlte ich mich unwohl dabei, in Anbetracht dessen, was noch auf mich zukommen könnte.
Kaum zu Hause angekommen wurde ich von meiner Frau Maria überfallen.
„Schorsch, da rief vor einer halben Stunde jemand für Dich an. Der wollte mir nicht sagen, was er von Dir will. Er will nur mit Dir sprechen. Er ruft in einer halben Stunde wieder an.“
Ich nickte und begrüßte meine Frau mit den Worten:
„Hallo mein Schatz, schön das Du heute schon zu Hause bist, ich habe Dir auch was Schönes gekocht“, und dabei grinste ich sie an.
Sie dachte, Er ist nicht mehr so jung, doch nun sieht er wie ein Lausbub aus. Sie lachte und meinte:
„Alles klar, wie immer, ich muss Dich wohl wieder aufrichten.“
Gerade hatten wir gegessen, läutete das Telefon. Ich stand auf und hob den Hörer ab.
„Reden Sie nicht, hören Sie zu“, sagte eine leise Stimme am anderen Ende der Leitung. Die Stimme fuhr fort. „Ich erzähle Ihnen jetzt nur einmal, was ich zu sagen habe. Wenn Sie nicht aufpassen oder nicht zuhören, ist das Ihr Problem. Ich werde nicht wieder anrufen.“
Ich stimmte zu und unterbrach den Mann die nächsten Minuten nicht. Ich hatte mir ein paar Notizen während des Telefonats gemacht. Als der Gesprächsteilnehmer aufgelegt hatte, schaute ich meine Frau an. Sie schwieg.
„Sag nichts, Maria, sag nichts.“
Ich drehte mich um und ging unter Mitnahme meines Mantels aus dem Haus. Unterwegs hatte ich Max über Funk erreicht und nun stand ich vor dessen Hauseingang. Max kam, diesmal nicht in Uniform.
„Was zum Teufel ist los? Meine Frau fragte mich, ob ich mit Dir oder mit ihr verheiratet sei. Du musst gute Gründe haben, sonst wird sie Dich nie wieder zum Essen einladen“, und dabei grinste er.
„Ich habe gute Gründe, ich habe sie.“
Dann fuhren wir los. Nach einiger Zeit kamen wir auf dem Grundstück Lindauer Straße 51 an. Es standen schon einige Polizeiautos da und viele Männer in Uniform. Einige von ihnen hatten Schaufeln in der Hand.
„Es geht los“, sagte ich zu dem Gruppenführer, „lassen Sie die Männer das Grundstück umgraben. Ich will, dass jeder Fußbreit umgedreht wird. Ist das klar?“
Der Mann nickte und ließ seine Truppe antreten. Am nächsten Morgen sah der Garten aus, als wäre eine Horde Wildschweine durch das Grundstück gerast. Der Rasen war nicht mehr da, es war eine einzige Ackerfläche mit tiefen Furchen. Aber gefunden, gefunden hatten sie nichts. Müde, abgekämpft und unsagbar entmutigt standen Max und seine Kollegen vor dem Haus.
„Das gibt‘s nicht, das gibt es doch nicht. Da hat Dich einer ganz schön geleimt, Schorsch.“
Ich nickte und ging langsam zum Gartentor. Doch dann blieb ich stehen.
„Hey, komm mal her. Siehst Du das da?“ Max sah nichts. „Na das da“, wiederholte ich und zeigte auf den Boden.
Da sah man deutlich an der Kante einer Betonplatte vor der Ausfahrt eine schwarze Spur. Und daneben lag Erde, die von ihrer Farbe und Konsistenz nicht hierher gehörte, die Einfahrt war mit Kies belegt. Wir beide drehten uns in Richtung Garage und liefen darauf zu.
Meine Güte, wie war das möglich. Sie hatten den Hund von Herrn Blume in der Garage in einem alten Blechfass mit Altöl gefunden.
„Den muss jemand da ertränkt haben, von allein kam er nicht da rein. Wir sollten das aber vorsichtshalber überprüfen lassen. Wo ist nun das Herrchen dazu? Lass uns die Garage auseinandernehmen, und dann das Haus nochmal. Der Garten ist schon umgedreht. Der Mann wird seit mehr als zwei Wochen vermisst. In der Zeit konnte man ihn leicht beiseiteschaffen.“ Mit diesen Worten wies ich die Männer zu erneuten Anstrengungen an.
Sie fanden nichts. Max seine Frau war sauer und hatte kein bisschen Lust am Sonntag zu Maria und mir zum Essen zu kommen. Also kam Max allein. Doch Maria hatte auch keinen schönen Tag. Die beiden Polizisten saßen die ganze Zeit zusammen und diskutierten intensiv über diesen Fall.
Es war Montag, 18. Mai 1965 um 8 Uhr.
„Schorsch, der Chef will uns sprechen“, empfing mich Max mit vielsagendem Blick.
Wir beide gingen zum Abteilungsleiter. An dessen Bürotür stand Karl Bassmann, Leiter Gewaltdelikte.
Der Name passte auf diesen Mann. Seine Stimme war ein einziger Bass und seine Statur passte auch dazu. Sicher 120 Kilo hatte der knapp 1,80 Meter große Mann.
„Hört zu Jungs, wir bekommen Ärger. Nix ist zu wenig. Wie soll das weitergehen? Der da Oben fragt schon nach, ob wir Unterstützung brauchen.“ Dabei zeigt er mit dem Daumen nach oben.
„Das ist nicht so einfach, wir müssen einen Weg finden, wie wir zu einer Spur, einem Hinweis oder Sonstigem kommen. Im Moment haben wir nur dieses Telefonat und den Hund. Der ist tatsächlich im Altöl ertrunken oder erstickt“, sagte ich.
„Was ist mit dem Telefonat?“, knurrte Bassmann etwas ungehalten.
„Dieses Telefonat ist seltsam. Wir sind nicht in der Lage, diesen Hinweis richtig zu verstehen und zu verwerten. Er sagte, wir würden alles finden, wenn wir nur graben würden. Daraufhin haben wir das gesamte Grundstück umgegraben. Offensichtlich meinte er aber nicht den Garten. Er sagte weiter, dass Hinweise da wären, wo nichts ist. Was meint er damit?“
Bassmann schaut uns nur an.
„Ihr beiden geht jetzt mit der Spurensicherung nochmal zurück in das Haus und die Garage des Mannes und vergesst das Ladengeschäft nicht. Dreht alles auf den Kopf und sucht alles nochmal ab. Sucht nach allen erdenklichen Verstecken und beeilt Euch. Ich bin sicher, Ihr werdet was finden.“
Er wandte sich damit von uns ab und widmete sich wieder anderen Dingen. Bassmann war weder besonders sensibel oder höflich, noch geduldig und schon gar kein feinsinniger Mann. Sein Lebensspruch lautete Sei der Hammer, nicht der Amboss. So verhielt er sich auch.
In der Zwischenzeit hatte man festgestellt, dass Blume im Jahr 1925 in Leipzig geboren war. Über seine Lebensgeschichte wusste man nicht viel, nur dass er mit allem handelte, das alt war und einigen Wert besaß. Dazu gehörten alte Autos, Bilder, Möbel und auch Schmuck. Es musste nur einen entsprechenden Wert besitzen und ein Markt musste dafür vorhanden sein. Der Name Blume war in einschlägigen Kreisen bekannt und sein Ruf war, was wir bisher herausfanden, tadellos. Dieses Geschäft betrieb er seit 1959. Er kam kurz zuvor aus der Zone über die Grenze und war einige Wochen in Friedland im Flüchtlingslager, bevor er danach im Raum Augsburg auftauchte. Zuerst hatte er einen alten Heustadel außerhalb von Haunstetten, einem kleineren Ort vor den Toren Augsburgs, angemietet. Doch schon bald hatte er in der Stadtmitte von Augsburg einen kleinen Laden. Innerhalb kurzer Zeit wurde er zur ersten Adresse in Bayern für osteuropäische Antiquitäten für vermögende Leute mit besonderem Geschmack. Aber auch von außerhalb kamen immer wieder mal Kunden, die ein gutes Stück bei ihm zum Verkauf anboten oder selbst etwas kaufen wollten. Selbst im Ausland hatte er Kunden, die sich seine Stücke leisten konnten oder wollten. Er selbst erweckte allerdings immer den Eindruck, als wenn er immer gerade so zurechtkommt. Man sah ihm nicht an, dass er eigentlich vermögend war und ab dem Vorjahr ein kleines Anwesen in der Lindauer Straße in Göggingen besaß. Nun gut, der Kaufpreis des Anwesens war nicht umwerfend gewesen, jedoch mit den Renovierungskosten überstieg das leicht ein Mehrfaches eines Facharbeiter-Jahresgehaltes. Das war schon sehr viel Geld. Nach außen sah das Wohngebäude nicht sonderlich auffallend aus. Die Inneneinrichtung war einem Antiquitätenhändler durchaus würdig. Ungeachtet dessen hatte es die technische Innenausstattung des Hauses in sich. So etwas ließen sich nur solche Leute einbauen, die etwas zu schützen hatten und nur wenige konnten sich das auch leisten. Aber die Alarmanlage war ausgeschaltet und das Haus war leer, auch Papiere fanden sich in dem Haus nicht. Alles, was wir nun wussten, hatten wir von Ämtern oder von den Nachbarn des Ladens in der Stadt bzw. den Nachbarn in der Lindauer Straße. In der Maximilianstraße lag der kleine Laden, für jeden sichtbar, doch völlig unauffällig. Der Schriftzug „Antiquitäten“ auf dem Ladenfenster war in einer Frakturschrift als Bogen angebracht. Hierher kamen nur Leute, die genau wussten, was sie hier für Geschäfte tätigen konnten.
Wir sahen uns beide Gebäude nochmal an. Den Laden in der Augsburger Innenstadt zuerst. Wir erhofften uns, dass wir dort in den wenigen Objekten, die da noch rumstanden und hingen, etwas Verwertbares finden würden. Wir suchten alles ab, jede Schublade, jedes Fach, jede Ecke. Doch Fehlanzeige, nicht ein Schnipsel Papier. Das, was noch da war, waren nur Gegenstände mit geringem Wert. Das widersprach der Darstellung, die man bisher von Blumes Geschäften hatte.
„Weißt Du, was ich glaube?“, fragte Max, „ich denke, dass man auch hier alles raus geschafft hat, was von Nutzen gewesen war. Es ist nichts Kostbares mehr da, aber auch keinerlei Unterlagen oder Dokumente. Fast so, als hätte ein Umzugsunternehmen das Haus leergeräumt und danach geputzt. Das ist doch seltsam, oder?“
Ich stimmte zu. „Ja, das ist sehr seltsam, das ist wohl wahr. Doch wir sollten auch die wertlosen Dinge ansehen. Wenn ich etwas verstecken wollte, würde ich das sicher nicht in wertvollen Möbeln oder Bilder tun.“
Nachdem wir alles durchsucht hatten, fuhren wir in die Lindauer Straße. Dort arbeiteten bereits die Kollegen und Kolleginnen der Spurensicherung. Sie waren nicht sonderlich erbaut, dass sie auf Bassmanns Anweisung das Anwesen nochmal überprüfen mussten. Auch hier sahen wir uns ebenfalls nochmal gründlich um, doch es war nichts mehr da.
„Schorsch“, rief einer der Männer. „Schorsch, ich glaube das interessiert Euch.“ Er gab mir einen Splitter.
„Was ist das“, fragte Max.
„Vielleicht ein Teil eines Bilderrahmens“ erklärte der Mann. „Gehört vielleicht zu einem Kirchenbild. Man muss es untersuchen, um es genau bestimmen zu können. Aber ich bin schon ziemlich sicher. Das habe ich oft bei Bildern dieser Art in Kirchen gesehen.“
Der Splitter war gerade mal fünf Zentimeter lang und etwa drei Zentimeter breit. Er schien von der Vorderseite des Rahmens zu stammen. Wir brachten ihn zur Untersuchung ins Präsidium.
„Meine Herren, wir haben etwas für Sie“, sagte ich dem Kollegen aus der forensischen Abteilung. „Der Splitter könnte vielleicht aus einer orthodoxen Kirche stammen.“ „Vielleicht aus Russland, möglicherweise ein Bestandteil eines Kirchenbildes. Solche Bilder kommen zu uns, nachdem sie in Russland gestohlen und bei uns eingeschmuggelt wurden. Der Wert eines solchen Bildes kann einige tausend DM betragen, aber wir müssen es noch genau untersuchen“ sagte der Kollege und wollte den Splitter an seinen Kollegen Johann weitergeben.
Mir und Max blieb der Mund offen stehen.
„Ehrenwerter Mann, soso“, sagte Max, „Ein ehrbarer Mann mit hochanständigen Lieferanten und Kunden. Was fehlt, ist das Bild. Das ist vermutlich der Hinweis Deines Anrufers“, sagte Max.
Ich murrte „Ja, das kann sein. Doch nun müssen wir mal sein Umfeld genauer abklären. Wer sind seine Lieferanten, wer seine Kunden. Ohne Papiere wird das sehr schwierig werden.“
Wir nahmen den Splitter wieder in Empfang und ich ging selbst zu Johann. Johann, der den Splitter begutachten sollte, war ein Spezialist in Sachen Kunst. Außerdem kannte er jeden, der in irgendeiner Art in diesem Metier auffällig geworden war. Er wusste deren Schwächen und deren Stärken.
„Jo, wir brauchen Dich. Wir haben da einen Splitter eines russischen Kirchenbildes. Du musst rauskriegen, wo das her ist.“ Der Mann schaute sich den Splitter an und betrachtete ihn genauer unter dem Mikroskop, das auf seinem Tisch stand. Er grinste, als er sich umdrehte.
„Wollt ihr mich verarschen, Jungs?“ Auf Grund der fragenden Augen erklärte Jo, was er sah. Dieser Splitter stammte weder von einem russischen Kirchenbild noch überhaupt von einem Bild. Es war schlicht und einfach ein Holzsplitter mit Farbresten. „Vermutlich von einem Schrank oder Regal, vielleicht aus dem 19. Jahrhundert. Aber vermutlich nix wirklich Wertvolles und schon gar nichts für Euch.“ Er grinste.
Auf die Nachfrage, ob er denn ganz sicher sei und er dies bejahte, sah er uns mitleidig an und wir gingen beide mit gesenktem Kopf aus dem Büro. Was nun?
„Vermutlich ist der Splitter von einem der Möbel, die weggeschafft wurden. Falls wir das Möbelstück finden würden, könnten wir den Weg zurückverfolgen“, murmelte ich.
Doch Max knurrte ärgerlich zurück. „Vermutlich, vielleicht, möglicherweise. Alles nur Annahmen, nix Handfestes.“
Er ließ seiner Frustration freien Lauf und ich tat so, als würde ich nicht zuhören. Dabei konnte ich ihn gut verstehen. Dieser Fall war verzwickt und seltsam zugleich. In den letzten Jahren hatte ich nicht oft das Gefühl, nicht zu wissen, nach was ich suchen soll. Doch diesmal sah ich keinen Anknüpfungspunkt.
„Hey, ich hab was für Euch.“ Ein junger Mann der KTUvii betrat unser Büro. „Der Hund wurde nicht ertränkt. Er fiel in das Ölfass hinein. Er musste wohl lange versucht haben wieder raus zu kommen, doch das Öl ließ ihn immer wieder abrutschen und so ertrank bzw. erstickte er.“
Max und ich schauten uns fragend an. „Das auch noch“, murmelte Max, „Dann muss der Hund die ganze Zeit allein auf dem Grundstück gewesen sein."
Der junge Mann erwiderte „Nein, so wie es aussieht, war er in die Garage eingesperrt. Es gab Kratzspuren an der Garagentür. Da er da nicht raus kam, hatte der Hund versucht, über das Regal zum Fenster der Garage zu kommen. Bei dem Versuch, vom Regal durch das gekippte Fenster zu springen, rutschte er ab. Das Regal war durch ausgelaufenes Schmierfett glitschig geworden. Er fiel von dem Regal runter in das Fass mit Altöl. Das war’s dann.“
„Wieso hat den Hund keiner gehört, frage ich mich“, sagte ich zu dem KTU Kollegen.
„Hm, vermutlich, weil die Garage zu weit weg vom nächsten Haus im hinteren Teil des Grundstücks steht“, entgegnete dieser.
„Kein Bild, ein ertrunkener Hund, kein Herrchen. Wir haben auch die ganze mögliche Verwandtschaft versucht ausfindig zu machen, doch vergebens. Es gibt niemanden. Wir sollten das alles nochmal überprüfen“, erklärte ich.
Wir verließen das Büro, um bei Bassmann Bericht zu erstatten. Das Gespräch war ernüchternd, denn Bassmann ließ seinen Ärger an uns aus. Offensichtlich stand er unter Druck und wir hatten genügend Erfahrung damit, wenn Bassmann unter Druck stand. Dann war es von Vorteil nicht in seiner Nähe zu sein. Maria und ich hatten Urlaub geplant und damit war ich erst mal ausser Reichweite.
Ich war mit Maria nun schon drei Wochen am Bodensee im Urlaub. Max hatte sich während dieser Zeit andere Fälle vornehmen müssen. Bassmann hatte entschieden, den Vorgang „Blume“ nur mit deutlich weniger Aufwand weiterzuverfolgen. Um genau zu sein, sagte er:
„Wenn Zeit dafür ist, dann mach weiter daran.“
Max hatte keine Zeit dafür, da er einen sehr unangenehmen Fall auf dem Tisch hatte. Ein kleiner Junge wurde im Gelände einer holzverarbeitenden Firma am Fabrikkanal, einem Kanal des Flusses Wertach, tot aufgefunden. Keine Gewalteinwirkung, keine verdächtigen Hinweise auf Missbrauch, nichts. Nun lag der Junge auf dem Tisch des Gerichtsmediziners und wurde eingehend untersucht.
„Nichts, überhaupt nichts“, sagte Dr. Keller. „Es gibt keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wir werden den Jungen auf andere Dinge untersuchen müssen. Möglicherweise eine Krankheit, oder so.“ Dr. Keller beugte sich über das Gesicht des Jungen und stöhnte: „Kommen Sie morgen wieder, dann weiß ich mehr.“
Max verließ Dr. Keller in seinem Keller und stieg leise schimpfend die Stufen hinauf zum Eingang des Gebäudes, in dem auch sein Büro war. Er ging langsam über die Straße und suchte das Café auf, in das er sich ab und zu setzte, wenn er etwas Abstand brauchte. Das Caféhaus Heiniger lag an der Straße und man konnte die Passanten beobachten, wie sie eilig die Straße rauf und runter liefen. Wie Kinder hin und her rannten und alte Menschen, die sich mühten, ihre Einkäufe nach Hause zu bringen. Max starrte ein wenig auf diese Menschen und vergaß völlig die Zeit. Die Bedienung fragte irgendwann
„Möcht'ns, noch was?“ Doch er schüttelte den Kopf, sah auf die Uhr und sagte:
„Zahl‘n." Er legte ein paar Münzen inklusive Trinkgeld auf den Tisch und ging ohne ein Wort des Grußes.
Am nächsten Morgen lag ein Zettel auf dem Tisch Keine Vergiftung, Herzschlag, unterschrieben mit Dr. Keller. Max eilte mit großen Schritten zu Dr. Keller die Stufen hinunter.
„Wie Herzschlag, wie kann das sein?“ Dr. Keller runzelte die Stirn,
„Guten Morgen. Ja, das ist sehr seltsam, aber ich kann mir nur vorstellen, dass der Junge unter extrem großem Stress stand, das zeigen die Blutwerte. Seine eosinophilen Granulozytenviii waren sehr niedrig. Das tritt oft bei körperlicher Überbelastung oder übermäßigem Stress auf. Möglicherweise wurde er durch irgendwas extrem geschockt oder er hatte vielleicht sehr große Angstzustände. Vielleicht hat beides zusammen dann zum Herzschlag geführt. Insgesamt war sein Zustand ohnehin nicht sehr gut. Er hatte vermutlich seit Tagen nichts oder nur sehr wenig gegessen. Ich habe keine andere Erklärung, der Befund gibt nichts anderes her. Wir fanden bei ihm übrigens in der Hosentasche einen Zettel. Hier.“
Er reichte den Zettel zu Max rüber. Auf dem Zettel stand
Blume, Lindauer Straße 51.
Max las und fragte Dr. Keller
„Einen anderen Grund für den Tod des Jungen haben Sie nicht gefunden? Wäre eine spezielle Art der Vergiftung möglich?“
Dr. Keller sah Max an und meinte:
„Ausschließen kann ich es nicht, gefunden habe ich jedoch keinerlei Anzeichen für eine Vergiftung, auch keine Injektionsanzeichen. Allerdings sind seit seinem Todeszeitpunkt einige Tage vergangen und nicht jedes Gift ist dann noch so ohne weiteres nachweisbar. Wir haben alles überprüft, was nach derzeitigem Stand notwendig ist. Sollten noch andere Fakten oder weitere Hinweise vorliegen, bin ich gerne bereit auch weiterführende Untersuchungen vorzunehmen. Aber wie gesagt, bei dem derzeitigen Stand der Dinge, kann ich keine so aufwendigen und teuren Analysen befürworten.“
Montag, 15. Juni 1965
Als ich am Montag ins Büro kam, schickte mich die Sekretärin umgehend zu Bassmann. Dort wartete schon Max. Sofort wurde ich in die Neuigkeiten eingeweiht. Nun mussten wir den Vorgang Blume mit dem neuen Fall zusammen bearbeiten. Der gesamte Fall hieß von nun ab für beide Fälle Blume, bezogen auf Martin Blume und den Jungen, der nur ca. 8-10 Jahre alt wurde. Wir wussten noch nicht, wie er hieß, woher er kam, ob er irgendwo vermisst wurde. Eigentlich wussten wir gar nichts, doch wo ein kleiner Junge war, gab es im Normalfall auch Eltern. Wir ahnten nur einen Zusammenhang. Unser Team wurde von Bassmann mit ein paar weiteren Beamten verstärkt, die mit Nachdruck festzustellen versuchten, wer der Junge war. Sie klapperten alle Vermisstenmeldungen der letzten Monate durch, sprachen mit Kollegen aus anderen Städten, doch nichts kam dabei raus. Einen Tag später brachte eine Kollegin aus diesem Team einen Hinweis. Vor einigen Tagen war ein Junge in dem Alter bei einer Grenzkontrolle an der tschechischen Grenze aufgefallen, doch er konnte den Beamten entwischen. Da war sie, die Spur. Max und ich fuhren noch am gleichen Tag zur Grenzstation, um die beteiligten Beamten zu sprechen. Am Abend fuhren wir zurück nach Augsburg in die Dienststelle. Es war bereits nach 20:00 Uhr, als wir in Augsburg ankamen. Die meiste Zeit saßen wir still im Auto. Was wir an der Grenze gehört hatten, machte uns stumm. Im Büro angekommen wartete Bassmann auf uns, nachdem wir ihn von der Grenze aus angerufen hatten und ihm mitteilten, er möge doch noch auf uns warten.
„Erzählt“, raunzte er uns an, ohne uns zu begrüßen.
Ich setzte mich, und begann zu sprechen.
„Der Junge war bei einer Routineprüfung eines tschechoslowakischen LKWs aufgefallen. Er befand sich auf der Ladefläche zwischen Kisten und war einer von ca. 20 Jugendlichen, die an diesem Abend vom deutschen Zoll entdeckt wurden. Als die deutschen Grenzer sie entdeckten und sie vom LKW steigen mussten, haute er ab. Die Grenzpolizisten konnten ihn nicht finden, er war wie vom Erdboden verschluckt. Sie vermuten, dass er auf einen anderen LKW, der bereits abgefertigt war, aufgestiegen ist und damit wegfuhr, bevor sie mit Hunden nach ihm suchen konnten. Die anderen Jungs sagten nichts zu ihm aus. Sie kannten ihn nicht. Sie waren alle aus verschiedenen Städten im Ostblock zusammengekommen. Überwiegend Bulgarien und Rumänien. Der verschwundene Junge kam vermutlich aus der Sowjetunion, da die anderen Kinder ihn nicht verstanden. Nur zwei aus der Ukraine konnten sich mit ihm unterhalten, aber sie wussten nicht, woher er kam. Keiner kannte den anderen. Es sieht so aus, als hätte man sie mit Absicht so zusammengewürfelt, damit keiner eine Aussage machen kann, wenn sie gefasst werden sollten. Wie sie überhaupt bis an die deutsche Grenze kommen konnten, ohne von den Grenzbeamten in den anderen Ländern abgefangen zu werden, ist eigentlich unerklärlich. Vermutlich haben Profis die Kinder durch den Ostblock gebracht. Unter den Sachen der Jungen fand man einen Rucksack mit Brot und einer deutschen Zeitschrift. Sie behandelt Kunst und Antiquitäten. Wichtig für uns ist ein Artikel über alte Möbel und Bilder aus Russland. Blume wird hier erwähnt. Der Junge war ganz offensichtlich auf der Suche nach ihm. Jetzt ist er tot. Wenn wir wüssten, woher er kam, könnten wir möglicherweise die Spur wieder aufnehmen, die jetzt abgerissen scheint.“
Bassmann hatte die ganze Zeit geschwiegen. Er nickte und sagte nur:
„Geht nach Hause, morgen ist auch noch ein Tag.“
Wir sahen uns erstaunt an. Das hatten wir von Bassmann noch nie gehört, doch nach den letzten langen Tagen ließen wir uns das nicht zweimal sagen. Doch Zuhause ging mir der Junge und sein Schicksal nicht aus dem Kopf und Maria sah mich nachdenklich an.
Am Tag darauf gingen wir noch einmal an den Fabrikkanal der Wertach und befragten die Leute des holzverarbeitenden Betriebes. Doch dort hatte niemand etwas gesehen. Nur einer der Arbeiter hatte vor einiger Zeit zwischen den Holzstapeln des Holzlagers eine Tüte mit Essensresten gefunden. Er dachte sich aber nichts dabei, weil es immer mal wieder vorkam, dass Arbeiter ihr Mittagessen dort einnahmen und dabei auf den Brettern saßen. Auf Nachfrage bei dem Betriebsleiter erfuhren wir, dass es auf dem Betriebsgelände eigentlich für fremde Personen oder gar Kinder viel zu gefährlich ist. Die Holzstämme, die im Kanal liegen, stellten eine tödliche Gefahr für dar. Deshalb war das Gelände, obwohl die Gebäude schon alt waren, gut abgesichert. Der Betriebsleiter, der früher mal im Bereich Arbeitsschutz tätig war, legte viel Wert darauf, dass nichts passieren konnte. Allerdings, das Werkstor war tagsüber immer offen, damit Kunden und Lieferanten ungehindert einfahren konnten. So war es sicher kein Problem, in einem unbeaufsichtigten Moment auf das Betriebsgelände zu gelangen. Sich dann zwischen all dem gelagerten Holz zu verstecken, war für den jungen Burschen noch weniger ein Problem.
„Wenn es denn so war“, murmelte ich vor mich hin.
Wir verließen das Betriebsgelände und liefen entlang der Mauer bzw. Zaunes am Fabrikgelände entlang. Der Betriebsleiter hatte recht, es gab keine Lücke, kein Loch im Zaun. Nur für einen Jungen stellte es sicher keine allzu große Schwierigkeit dar, darüber zu klettern.
Max und ich kamen am nächsten Tag fast gleichzeitig ins Büro. „Und?“, fragte Max
„Was und?“, gab ich zurück.
„Es ist beschissen, ich habe keine Idee, wie es weitergehen soll. Haben denn die anderen aus dem Team …“
Bevor er seinen Satz beenden konnte, ging die Tür auf. Eine ältere Kollegin kam herein und grüßte
„Männer, ich hab was für Euch.“
Wir beide schauten die Frau an und ich erwiderte:
„Sag schon, Monika, was gibt‘s? Wir haben nichts Neues, was uns wirklich weiterhilft. Wir hören.“
Daraufhin erklärte Monika, dass sie es mit viel Mühe geschafft hatten, mit der Moskauer Polizeidienststelle, die auch für verschwundene Kinder zuständig war, zu sprechen. Die suchten tatsächlich einen Jungen, der so aussah wie unser totes Kind. „Sie werden uns die Informationen zukommen lassen, die wir brauchen. Darüber hinaus wollen sie überprüfen, ob der Name Blume bei ihnen irgendwo aufgezeichnet ist, ob Blume schon mal polizeilich überprüft wurde. Wir bekommen alles, was wir brauchen. Sie werden auch die Angehörigen des Jungen informieren. Vermutlich wird dann jemand kommen um ihn zu identifizieren und mit nach Hause zu nehmen. Der Junge heißt Igor Lankowski und ist 10 Jahre alt. Er wurde von seinen russischen Eltern adoptiert. Möglicherweise ist er aber gar kein Russe, sondern stammt aus der DDRix. Das war alles, was sie uns erzählen konnten.“ Den Rest bekommen wir zugesandt. Max und ich staunten nicht schlecht.
„Gute Arbeit, Monika“, sagte Max. „Wirklich gute Arbeit. Wie kommt man an solche Auskünfte beim sozialistischen großen Bruder?“
Monika drehte sich zur Tür und sagte nur
„Mir fiel ein, dass wir vor Jahren mal einen Vorgang hatten, bei dem wir einem russischen Major der Moskauer Polizei geholfen hatten. Er hatte damals angeboten mir zu helfen, wenn ich Hilfe bräuchte. Nun erinnerte ich ihn daran, und bat ihn sein Versprechen einzulösen.“
Max zeigte mit dem Daumen nach oben
„Das ist sie, die Spur. Lass uns mal versuchen festzustellen, ob es mehr Kinder aus der DDR gab, die verschwunden sind. Es gab doch da immer wieder Gerüchte, dass von verurteilten Frauen und Männern in der DDR die Kinder in Heimen verschwanden und manchmal auch zwangsadoptiert wurden. In einigen Fällen sollen sogar russische Soldatenfamilien Kinder mit nach Hause genommen haben.“
Ich drehte mich zum Fenster und schaute auf die Straße
„Wenn das stimmt, dann haben wir hier möglicherweise auch den Zusammenhang zwischen dem Jungen und Blume. Wo kam Blume her? Er kam aus der DDR, als Flüchtling. So um 1958 muss das gewesen sein. Wir brauchen mehr Informationen über die Zeit vor 1958, bevor er hier auftauchte. Wir müssen wissen, was er war, ob er Familie hatte, was er beruflich machte, usw., alles eben. Lass uns das veranlassen und dann gehen wir essen. Jetzt habe ich wirklich Hunger.“
Wir gingen zu den Kollegen und veranlassten die Überprüfung von Blume für die Jahre vor dessen Erscheinen im Westen, soweit das eben möglich war. Hier war man auch auf die Unterstützung Anderer angewiesen. Danach gingen wir in die Kantine und trafen Bassmann.
„Was gibt‘s Neues?“, fragte er.
Wir erzählten, was Monika geschafft hatte und wie wir nun weiterverfahren wollen.
„Gut, macht das so. Das wird ein paar Tage dauern. Geht nochmal zu Blumes Haus, und versucht festzustellen, ob es vielleicht irgendwas gibt, was Ihr oder die KTU übersehen habt und was auf die Zeit vor 1958 hinweist. Lasst Euch Zeit dabei, schaut Euch die Dinge an, die eigentlich nicht auffällig sind oder die Ihr als nicht wichtig anseht.“
Unseren Einwand, dass wir den Laden und das Haus millimetergenau abgesucht hätten und die KTU schon beim letzten Mal sauer auf ihn war, ließ er nicht gelten. Dann aßen wir schweigend fertig und verließen die Kantine in Richtung Parkplatz, um nach Göggingen zu fahren.
„Lass uns erst mal in seinem Laden schauen, der liegt auf dem Weg, danach fahren wir nach Göggingen, oder?“, meinte ich. Max nickte nur. Das machte schließlich Sinn im Büro und im Laden des Mannes nachzusehen, ob es vielleicht doch noch was Verwertbares für uns gibt. Wir suchten in aller Ruhe den Laden zentimeterweise ab und packten das Wenige ein, was wir noch fanden. Genauso machten wir es im Haus in Göggingen, obwohl auch da nicht mehr viel vorhanden war. Wir fuhren mit einem Karton, in dem eine alte Zeitung und zwei Fotos lagen, zurück ins Präsidium. Es dauerte nicht lange, bis alles gesichtet und in die bereits vorhandenen Dinge einsortiert wurde. Die Zeitung des Sächsischen Tagblatts war von 195x. Leider war das genaue Datum und Jahr nicht mehr lesbar. Max sah den Ausschnitt durch, doch fand nichts, was uns helfen konnte. Ich nahm die Zeitung und Max sah mich fragend an.
„Warum hebt jemand ein altes Tagblatt auf? Doch nur weil etwas Wichtiges darin steht. Ich will wissen, was für Blume von Belang war, um diese Zeitung all die Jahre aufzuheben“, entgegnete ich ungefragt.
Nachdem ich jeden Artikel las, fand ich auf Seite drei eine kleine Meldung der Volkspolizei.
Gefängnisinsasse bei Verlegung von Bautzen xnach Dresden tödlich verunglückt.
Die Mitteilung in der Zeitung selbst war nur wenige Zeilen lang. Sie beschränkte sich darauf zu beschreiben, dass im dichten Schneetreiben ein Gefängnistransport verunglückte. Der Gefängnisinsasse und die begleitenden Polizisten seien bei der Ausübung ihres Dienstes tödlich verunglückt.
Es befanden sich keine weiteren Angaben zu den Personen darin. Aber das war sicher der Grund, weshalb Blume diese Zeitung aufgehoben hatte. Auf einem der zwei Bilder war ein junges Pärchen zu sehen, auf dem anderen hatte die Frau ein kleines Kind im Arm. Die Bilder waren nicht beschriftet. War das Blume mit Frau und Kind? Wir wussten es nicht.
„Verdammt, es ist verflucht kalt heute“, murmelte der Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen und sein Nebenmann, der seinen Hut noch mehr ins Gesicht zog, bestätigte das.
„Wie lange müssen wir denn noch warten?“, sagte der mit Hut und der andere, der so fror, meinte nur, „Keine Ahnung, der ist doch nie pünktlich."
„Scheiße, ich habe diese blöde Warterei satt. Immer wenn der uns sehen will, kommt er nicht pünktlich oder gar nicht. Der nimmt sich überaus wichtig“, schimpfte der mit Hut.
„Der ist wichtig!“, sagte daraufhin der andere.
Schritte waren nicht zu hören, doch ein Mann kam die Straße herunter. Die beiden schauten in die Außenspiegel.
„Ist er das?“, fragte der Mann mit Hut.
„Nein,“ entgegnete der andere, „Nein, das ist er nicht.“
Sie warteten weitere 30 Minuten, plötzlich ging die hintere Türe auf der Fahrerseite auf und ein Mann im grauen Mantel und Hornbrille stieg ein.
„Wo waren Sie, verdammt? Wir warten seit mehr als einer Stunde auf Sie“, schimpfte der Frierende und der Andere mit Hut bestätigte das durch sein Nicken.
„Lassen Sie mal, Sie kennen doch die Situation“, entgegnete der Hornbrille Tragende etwas arrogant.
„Überall ist die hiesige Staatsgewalt oder unsere Gegenspieler der CIA oder des BND. Ich musste schauen, dass ich unbemerkt hierher komme. Es gibt eben in unserem Beruf solche Unwägbarkeiten. Doch ich musste kommen, denn schon Lenin sagte, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, deshalb bin ich da“, fuhr der mit der Hornbrille wieder mit arrogantem Ton fort.
Die beiden anderen sahen sich an, sagten jedoch nichts. Doch nachdem der Hornbrillenträger alle möglichen Details abfragen wollte, schimpfte der immer noch frierende Fahrer:
„Lenin hat das nicht gesagt!“
„Was hat Lenin nicht gesagt?“, kam von der Hornbrille barsch zurück.
„Na der Spruch, der ist nicht von ihm.“ Alle drei sagten einen Moment nichts, dann kam von hinten:
„Na und. Es passt trotzdem.“
Nach einer Weile, alle drei hatten die Straße die ganze Zeit im Auge behalten, stieg der Mann mit Hornbrille wieder aus. Bevor er sich jedoch abwandte, um die Straße entlang zu gehen, klopfte er an die Seitenscheibe. Der Fahrer drehte die Scheibe herunter.
„Passt schön auf, dass nichts daneben geht. Habt ihr verstanden? Wenn das schief geht, werden sie Euch nach Sibirien schicken.“
Damit drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Die beiden im Auto sahen sich an und sagten nichts, bis der Mann im Spiegel nicht mehr zu sehen war.
„Arschloch!“, sagte der Mann mit Hut und der andere nickte, sagte jedoch nichts.
Dann beobachteten sie die Straße weiter.
Einige Tage später brachte Monika die von der Moskauer Polizei versprochenen Unterlagen. Wie sie das geschafft hatte, war uns nicht klar, aber egal. Das Ergebnis zählte. Der russische Polizeimajor hatte zu unserem Erstaunen tatsächlich Wort gehalten und uns einen Stapel Schriftstücke über verschlungene Wege zugeschickt. Das meiste davon war in kyrillischer Schrift. Auch hier war Monika die richtige Hilfe, denn sie konnte es lesen. Doch es gab auch deutsche Dokumente, die aus Leipzig und Dresden stammten.
„Erzählt, was haben wir? “ grummelte Bassmann. Er war wieder einmal übel gelaunt, ja grantig, weil alles so lange dauerte, wie er meinte.
Ich ging nicht auf seine schlechte Laune ein und erklärte, was uns vorlag und in welchem Zusammenhang die Belege zu sehen sind. Max legte jeweils die Unterlagen auf den Tisch.
„Wir fanden mit Monikas Hilfe ein Dokument in den Unterlagen der Moskauer Polizeidienststelle. Das war eine Adoptionsfreigabe aus Dresden von 1956, unterschrieben von Heinrich und Anni Meissner. Heinrich und Anni Meissner waren seit zwei Jahren verheiratet. Heinrich war wegen antisozialistischer Äußerungen und der Vorbereitung zur Republikflucht zu 10 Jahren Haft verurteilt und Anni zu 5 Jahren. Heinrich kam in die Sonderhaftanstalt der Staatssicherheit in Bautzen in der Weigangstraße und Anni in das größte Frauengefängnis der DDR, Schloss Hoheneckxi, in Stollberg im Erzgebirge. In Hoheneck saßen meist Frauen, die nur hatten ausreisen wollen. Dafür gab es in der DDR eine ganze Zahl von Strafparagrafen, wie versuchte Republikflucht, illegale Verbindungsaufnahme, staatsfeindliche Hetze, bis zu landesverräterischer Agententätigkeit."
Nun wussten wir also deutlich mehr. Die Meissners hatten ein Kind, das gerade ein ½ Jahre alt war, als sie es zur Adoption freigeben mussten. Das Kind hieß Fritz Heinrich Meissner. Wir hatten festgestellt, dass die Adoptionseltern sowjetische Soldaten waren. Er war Oberst Alexej Lankowski und sie war Leutnant, beide ohne Kinder. Sie gingen Ende 1957 in die UdSSR zurück. Die Frau starb 1962, als der Junge etwa 7 Jahre alt war. Der Oberst verstarb bei einem Autounfall 1964 in Moskau. Der Unglücksfahrer wurde nie festgestellt. Der Junge kam in ein Kinderheim. Von dort ist er vor Wochen ausgerissen. Allerdings hatten die Polizeibehörden festgestellt, dass unser Blume in dieser Zeit in Moskau war. Er war als Geschäftsmann eingereist und hatte alte russische Antiquitäten gekauft, die er bei der Ausreise bei den Behörden und auch bei uns bei der Einreise korrekt deklariert hatte. Ob die beiden sich getroffen haben, ob es irgendeinen Kontakt zwischen den Beiden gab, konnte nicht festgestellt werden. Insgesamt erscheint mir das aber ein so großer Zufall zu sein, dass es vielleicht doch kein Zufall ist. Der Polizeimajor in Moskau wird deshalb auf unseren Wunsch hin versuchen, die Reiseroute von Blume nachzuvollziehen. Damals konnte man nicht so ohne weiteres herumreisen. Das ist allerdings der letzte Gefallen, den der Polizeimajor in Moskau für uns tun wird. Ich vermute inzwischen, dass unser Martin Blume eigentlich Heinrich Meissner ist. Nun müssen wir das nur noch beweisen und ihn finden.
„Kaum zu glauben, dass die Sowjets uns die Unterlagen gegeben haben“, sagte ich.
„Doch offensichtlich war die persönliche Beziehung zu unserer Monika ausschlaggebend“, ergänzt Max meine Ausführung und grinste.
„Mein Gott“, sagt meine Frau, „Das ist ja eine tolle Geschichte. Wie geht‘s jetzt damit weiter?“
Max, der sich gerade den Schaum vom Mund wischte und das Bierglas auf den Tisch zurückstellte, sagte: