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Danielle Trussoni

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Beschreibung

    Ingenium Eine einzigartige Gabe – und ein Rätsel, das besser nie gelöst werden sollte Nach Dan Brown und Stephen King: Der neue internationale Thriller-Star heißt Danielle Trussoni.  Seit e r sich beim Football schwer verletzte und ein Schädelhirntrauma erlitt, kann  der 32-jährige Mike Brink  in Sekundenschnelle die komplexesten  Rätsel lösen. Als ihn eine Gefängnispsycholog in aufgrund seiner besonderen Begabung um Hilfe bittet, willigt er ein: Mike  soll die  seltsamen Gemälde der verstummten Patientin  Jess Price  entschlüsseln,  die wegen Mordes  im Gefängnis sitzt . Mike  macht sich daran, die verstörenden Rätsel zu lösen, die die schweigende Mörderin ihm stellt. Schon bald wird ihm klar, dass Jess von einer verzweifelten Furcht vor einem Verfolger erfüllt ist; eine Erkenntnis, die ihn zu einem Jahrhunderte alten Mysterium führt, das nie von einem Menschen gelöst werden sollte. 

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Danielle Trussoni

Ingenium

Das erste Rätsel

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger

Hoffmann und Campe

Im Gedenken an James Alan McPherson

(1943–2016), der mich lehrte, das Schreiben

als eine Art Spiel zu betrachten.

»Das höchste Wesen ist dasjenige, das alle möglichen Spiele geschaffen und gelöst hat.«

– Gottfried Wilhelm Leibniz

Das erworbene Savant-Syndrom (auch: Inselbegabung) ist ein seltenes, aber reales medizinisches Phänomen, bei dem ein Mensch nach einem Schädelhirntrauma außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten erlangt. Es gibt weltweit weniger als fünfzig dokumentierte Fälle des erworbenen Savant-Syndroms.

Erstes RätselDas Gottesrätsel

1

24. Dezember 1909

Paris, Frankreich

Wenn Du dies liest, werde ich viel Kummer bereitet haben, und dafür bitte ich Dich um Vergebung. Wie Du weißt, mein Kind, bin ich ein heimgesuchter Mann, und obwohl der Preis hoch war, habe ich endlich Frieden mit meinen Dämonen geschlossen. Ich schreibe dies nicht als Entschuldigung für meine Taten. Ich weiß nur zu gut, dass es dafür keine Vergebung gibt – weder in den Augen Gottes noch in denen der Menschen. Vielmehr schreibe ich diesen Bericht über meine Entdeckung aus der Not heraus. Es ist meine letzte Chance, die unglaublichen Ereignisse aufzuzeichnen, die schrecklichen und wunderbaren Ereignisse, die mein Leben verändert haben und die, solltest Du Dich auf die Geheimnisse einlassen, von denen ich hier berichte, auch Dein Leben verändern werden.

Was, fragst Du, ist der Grund für solche Qualen? Ich werde es Dir verraten, aber sei gewarnt: Wer die Wahrheit einmal kennt, vergisst sie nicht so leicht. Sie hat mich in jeder Minute eines jeden Tages verfolgt. Es kam gar nicht infrage, sie zu ignorieren. Ich wurde von ihrem Geheimnis angezogen wie eine Motte, die um eine Flamme kreist – In girum imus nocte et consumimur igni. Und obwohl ich froh bin, dass ich überlebt habe, um die Wahrheit aufzuzeichnen, kann ich selbst jetzt, wo ich am Rande des Abgrunds stehe, nicht anders, als bei dem Gedanken zu erschaudern, Dir ein so gefährliches Geheimnis anzuvertrauen.

Ich habe gelitten, aber es ist das Leiden eines Mannes, der sich seine eigene Folterkammer erschaffen hat. Ich glaubte, ich könnte wissen, was nicht gewusst werden sollte. Ich wollte Dinge sehen, geheime Dinge, und so lüftete ich den Schleier zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen und blickte direkt in die Augen Gottes. Das ist das Wesen des Rätsels: abwechselnd Schmerz und Vergnügen zu bieten. Und auch wenn die Wahrheit, die ich jetzt enthüllen werde, Dich vielleicht schockiert – sollte sie Dir einen Funken Hoffnung geben, so hat diese, meine letzte Mitteilung, alles erreicht, was es zu erreichen gilt.

2

9. Juni 2022

Ray Brook, New York

Mike Brink bog auf eine Landstraße ein, fuhr durch einen dichten Nadelwald und hielt vor dem hohen Metalltor des Gefängnisses. Seine Hündin, eine einjährige Dackeldame namens Conundrum, kurz Connie, schlief auf dem Boden des Pick-up, im Schatten gut getarnt. Sie lag so still da, dass der Wachmann sie gar nicht sah, als er auf Mikes Wagen zutrat und hineinlinste. Er glich lediglich Mikes Führerschein mit einer Liste ab und winkte ihn dann zu einem imposanten Backsteingebäude hinüber, das besser zu einem Horrorfilm zu passen schien als zu diesem strahlenden Sommertag.

Mike hatte eine Verabredung mit Dr. Thessaly Moses, der leitenden Psychologin der New York State Correctional Facility, einem reinen Frauengefängnis mit geringer Sicherheitsstufe, das am Rande der kleinen Ortschaft Ray Brook gelegen war, im Bundesstaat New York. Sie hatte ihn letzte Woche angerufen und ihn um einen Besuch im Gefängnis gebeten. Eine der Gefangenen habe ein verwirrendes Bilderrätsel gezeichnet, das sie nicht zu deuten vermochte. Vielleicht könne er ihr dabei behilflich sein? Mike kannte solche Anfragen. Seit das Time Magazine ihn zum talentiertesten Enträtsler der Welt erkoren hatte, wurde der Zweiunddreißigjährige regelmäßig mit Rätseln bombardiert. Die meisten löste er innerhalb weniger Minuten. Doch der Beschreibung von Dr. Moses nach zu urteilen, war dieses Rätsel tatsächlich außergewöhnlich, anders als alle, die er je zuvor gesehen hatte. Als er sie bat, ihm per Mail ein Foto davon zu schicken, sagte sie, das könne sie nicht riskieren. Die Akten der Gefangenen seien vertraulich. »Ich sollte das eigentlich gar nicht mit Ihnen besprechen«, sagte sie. »Doch es handelt sich um eine sehr spezielle Patientin, die mir auf gewisse Weise ans Herz gewachsen ist.« Und so willigte Mike trotz Deadlines und knapp dreihundert Meilen Fahrtweg ein, es sich anzusehen. Rätsel waren seine Leidenschaft, durch sie ergab die Welt für ihn einen Sinn, und dies war eines, dem er nicht widerstehen konnte.

Das Gefängnis hatte etwas Unheilvolles mit seinen hohen Türmchen und schmalen dunklen Fenstern. Während seiner Recherchen hatte Mike erfahren, dass es 1903 als Sanatorium zur Behandlung von Tuberkulose erbaut worden war. Die saubere Luft, die erhöhte Lage und die endlosen Wälder waren ein wesentlicher Bestandteil der Kur. Wenn das Institut zu so etwas wie Ruhm gelangt war, dann aufgrund seiner Erwähnung in Sylvia Plaths Die Glasglocke. Plath hatte ihren Freund besucht, als der sich dort von einer Tuberkulose erholte, und es dann für ihren Roman genutzt. Inzwischen beherbergte das Sanatorium Hunderte weibliche Häftlinge. Vom Parkplatz aus sah Mike einen Hof, der von Maschendrahtzaun umgeben war, gekrönt von NATO-Draht, und dahinter einen modernen Anbau aus Betonstein, dessen Strenge in einem überraschenden Kontrast zu den gotischen Ausschweifungen des ursprünglichen Gebäudes stand. All das war umgeben von einem schier endlosen Meer an dichten Nadelwäldern, die eine natürliche Barriere zwischen den Häftlingen und dem Rest der Welt bildeten. Selbst wenn eine Gefangene es über den Zaun schaffen sollte, selbst wenn sie sich aus den Schlingen des Stacheldrahts befreien könnte, befände sie sich doch im Nirgendwo.

Mike parkte im Schatten, goss für Connie Wasser in eine Schale, kraulte sie hinter ihren langen, weichen Ohren, steckte einen tragbaren Ventilator in den Zigarettenanzünder und ließ das Fenster einen Spalt weit offen, damit sie es gut hatte. Normalerweise ließ er sie nicht allein, doch er würde nicht lange weg sein, und die Bergluft war kühl, ganz anders als die schwüle Hitze Manhattans. »Bin gleich zurück«, sagte er und ging zum Gefängnis hinüber.

Am Haupteingang blieb er an der Sicherheitsschleuse stehen, ließ seine Schultertasche in eine Kunststoffwanne gleiten, zeigte dem Wärter seinen Führerschein und den Covid-Impfausweis und trat durch einen Metalldetektor. Er hatte vorher die Genehmigung erhalten, seine Tasche mitzubringen, in der sich sein Laptop, sein Handy, ein Notizbuch und ein Stift befanden, und war sehr erleichtert, dass die Wachen nicht versuchten, sie ihm abzunehmen. Auf der anderen Seite stand wartend eine Frau in einem lockeren marineblauen Kleid. Sie war groß, dünn, hatte dunkelbraune Augen, dunkle Haut und das Haar zu einem Bob geschnitten. Sie stellte sich als Dr. Thessaly Moses vor, die leitende Psychologin.

Er selbst brauchte sich nicht vorzustellen. Sie hatte ihn mit Sicherheit gegoogelt. Dennoch starrte sie ihn einen Tick zu lange an, und er wusste, dass sein Aussehen sie überraschte. Er war eins fünfundachtzig, athletisch, schlank, aber auch muskulös und (wie ihm gesagt wurde) gut aussehend, entsprach also überhaupt nicht der Vorstellung, die sich Leute von einem »Rätselfreak« (wie seine Mutter ihn manchmal witzelnd nannte) machten. Er trug seine geliebten roten Converse-All-Stars, eine schwarze Levi’s und ein Sportsakko über einem T-Shirt, auf dem »Somebody Do Something« stand.

Abgesehen von Fotos hätte eine Google-Suche nach Mike Brink auch einen Videoclip-Treffer von seinem Auftritt in der Late Show with Stephen Colbert ergeben, der 2020 während des Lockdowns per Zoom-Zuschaltung stattgefunden hatte. Mike hatte Colbert auf eine Tour durch seine Rätselbibliothek mitgenommen und einen seiner japanischen Geheimniskästen geöffnet, was die Inspiration zu einem Witz über Sushi lieferte. Zudem gab es eine Wikipedia-Seite mit einem Link zur New York Times, für die er regelmäßig Rätsel entwickelte, einer Liste von Rätselwettbewerben, die er gewonnen hatte, und einem Link zu einem Vanity Fair-Artikel, in dem seine Lebensgeschichte nachgezeichnet wurde: eine gewöhnliche Kindheit im Mittleren Westen, der tragische Unfall, der sein Gehirn verändert hatte, und die wundersame Gabe, die im Anschluss daran zutage getreten war.

»Danke, dass Sie es so schnell möglich gemacht haben«, sagte Dr. Moses. »Ich wäre gerne in die Stadt gekommen, aber ich kann meine Patientinnen nicht allein lassen.«

»Sie haben meine Neugierde eindeutig geweckt«, erwiderte er. »Ihrer Beschreibung nach scheint das Rätsel recht ungewöhnlich zu sein.«

»Um ehrlich zu sein, finde ich absolut keinen Zugang dazu«, sagte sie. »Aber wenn irgendwer Licht ins Dunkel bringen kann, dann Sie.«

Ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten beunruhigte ihn. Bei seinem wachsenden Ruhm als Rätsellöser nahmen die Menschen oft an, er würde übernatürliche Kräfte besitzen. Nicht nur die Fähigkeit, Pi bis auf fünfzehntausend Nachkommastellen aufzusagen, oder das Talent, ein äußerst schwieriges Kreuzworträtsel zu erschaffen, sondern das Vermögen, die Zukunft vorherzusagen. Doch er besaß weder übernatürliche Kräfte, noch konnte er Unmögliches bewirken. Er war ein ganz normaler Typ mit einer singulären Gabe, einer »Insel der Genialität«, wie sein Arzt es nannte. Er konnte es lediglich versuchen, mehr nicht.

»Haben Sie es bei sich?«, fragte er, als er die Mappe unter ihrem Arm bemerkte.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann können wir uns ungestört unterhalten«, sagte Dr. Moses.

Obwohl er wusste, dass das Gefängnis nach einem anderen Plan gebaut worden war als moderne Einrichtungen, hatte er unbewusst doch erwartet, Betonzellen und vergitterte Fenster zu sehen, so wie er es aus Filmen kannte. Stattdessen führte ihn Dr. Moses einen ruhigen, beinahe anheimelnden Flur entlang, der zwar den Notwendigkeiten einer Anstalt entsprach – die Fenster waren verstärkt –, aber dennoch menschlich wirkte. Neben den Metalldetektoren standen Topfpflanzen, an den Wänden hingen Bilder, und der Boden war mit Teppich ausgelegt. Auf der Basis des Tuberkulose-Sanatoriums war hier eine moderne Haftanstalt entstanden, so wie man aus einer alten Kirche vielleicht ein Zen-Meditationszentrum machen würde: Die Symbole und das Dekor hatten sich verändert, doch die grundlegende Struktur war die gleiche geblieben.

Thessaly Moses führte ihn in ihr helles, schickes Büro und schloss die Tür hinter ihm. Mike sah sich um: ein makelloser Schreibtisch, nach Farben sortierte Heftmappen in einem Regal, ein Desktop-Computer von Apple, alles vollkommen uninteressant – bis sein Blick auf einen Zauberwürfel fiel, der auf der Fensterbank lag. Es war ein neueres Modell, die einzelnen Würfelchen waren aus Plastik anstatt mit Aufklebern versehen, eine Mischung aus Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot und Weiß. Die Würfelchen waren auf eine Art durcheinander, der Mike die regelmäßigen Lösungsversuche sofort ansah; die Wochen, vielleicht auch Monate des Drehens und Wendens, die jemand – vermutlich Thessaly Moses – damit gekämpft hatte, die sechs Farben in die richtige Ordnung zu bekommen. Er trommelte mit den Fingern gegen seinen Oberschenkel, eine nervöse Energie erfasste ihn. Allein den Würfel in diesem Zustand der Unordnung zu sehen erfüllte ihn mit dem überwältigenden Verlangen, ihn zu richten.

Dr. Moses bemerkte sein Interesse und wog den Würfel in ihrer Hand. »Den habe ich letztes Jahr auf einer Party gewonnen«, sagte sie. »Ich hatte auf den Magic 8 Ball gehofft. Ich versuche immer wieder, diesen Würfel zu lösen, aber es ist aussichtslos. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, warum ich es mache. Was bringt es, seine Zeit mit nutzlosen Aufgaben zu vergeuden?«

Während Dr. Moses den Würfel vor sich hin- und herdrehte, wertete Mike jede Seite aus. Drei Schritte nach vorn im Uhrzeigersinn, zwei Schritte zurück gegen den Uhrzeigersinn, ein Schritt nach rechts, fünf Schritte nach links … Im Geiste sah er die Bewegungen deutlich vor sich, die zu einer perfekten Ordnung gleicher Farben auf sechs Seiten führten.

Er zwang sich, nicht länger auf den Würfel zu starren, und blickte stattdessen der Psychologin in die Augen. »Es gibt dreiundvierzig Trillionen mögliche Kombinationen, aber nur eine Lösung.« Er sah, dass er ihr Interesse geweckt hatte. »Möchten Sie etwas so Einzigartiges nicht erleben?«

»Hier«, sagte sie und warf ihm den Würfel zu.

Er fing ihn mit der linken Hand, warf einen kurzen Blick auf jede Seite, sodass sich die Farbblöcke in seinem Kopf ordneten, und löste den Würfel in zwanzig Schritten und geschätzten fünfzehn Sekunden. Das war keine Bestleistung – Mats Valk, der Weltmeister im Speedcubing, schaffte es in 5,5 Sekunden –, aber es war dennoch recht gut. Als er den Würfel wieder in Thessaly Moses’ Hand legte, schoss ihm das Adrenalin durch die Adern. Das, genau das hier, war der Grund, aus dem er Rätsel löste: das Gefühl, dass alles im Universum einen Sinn ergab. Es war, als würde man den Touchdown zum Sieg werfen oder einen Marathon beenden. »Ich habe ein Talent für nutzlose Aufgaben«, sagte er.

Sie starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen vor Staunen. »Sieht so aus«, sagte sie, nahm den Würfel und strich mit einem Finger über die Farbfelder, über die perfekte Ordnung des Würfels, bevor sie ihn wieder auf den Schreibtisch legte. Sie hob an, Mike etwas zu fragen, zögerte einen Moment und sagte schließlich: »Ich bin mir sicher, das werden Sie ständig gefragt, und verzeihen Sie mir meine Neugierde, aber wie um alles in der Welt haben Sie das eben gemacht?«

Ja, diese Frage war ihm tatsächlich schon tausendmal in der einen oder anderen Version gestellt worden. Was genau verbarg sich hinter dieser Fähigkeit, Rätsel zu lösen? War es Instinkt? Intuition? Begabung? Magie? Hatte er eine Art Computer im Gehirn, der die Antworten ausspuckte? Hatte er sich Tausende von Lösungen zu Tausenden von Rätseln gemerkt? Worin bestand der Trick? Doch die simple Wahrheit war, dass er nicht wusste, wie es passierte. Er konnte es nicht erklären. Sein Hirn tat es ohne seine Erlaubnis, so wie sein Herz Blut pumpte. Es hängte sich – manchmal, ohne dass es ihm bewusst war – an Muster und Sequenzen und füllte seinen Kopf mit einer Flut von Zahlen und Bildern. Wenn er ein Rätsel lösen wollte, reichte schon allein die Visualisierung, um die Lösung abzurufen. Manchmal, wenn er Nachkommastellen von Pi aufsagte, die Zahlen bis in die Tausende auflistete, erschien eine Textur in seinem Kopf, ein Gewebe von Fäden, das ihn vorwärts leitete, so wie es auch eben passiert war, als er den Zauberwürfel gelöst hatte. Einige Ärzte glaubten, dass diese Vermischung von Sinnen, diese Synästhesie, die Antwort seines Gehirns auf die Verletzung war und der Schlüssel zu seinen Fähigkeiten. Aber er war sich da nicht so sicher. Meistens war es wie das Öffnen einer Tür: Die Informationen rauschten einfach herein.

Dr. Moses bedeutete ihm, es sich in der Sitzecke ihres Büros auf einem kleinen Sofa gemütlich zu machen, und nahm dann ihm gegenüber Platz. Als sie beide saßen, begegnete sie seinem Blick mit der achtsamen Aufmerksamkeit, die geübte Therapeutinnen und Therapeuten auszeichnete. Er hatte ihn nach seinem Unfall oft genug gesehen, um zu wissen, was ihn begleiten würde: ein mitfühlender Tonfall und der Versuch, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Er hasste die Heuchelei, die dem meist zugrunde lag, die fehlende Authentizität, doch Thessaly Moses schien ehrlich interessiert zu sein. Sie hatte ihn aus einem bestimmten Grund hergeholt.

Sie nahm ein Blatt Papier aus ihrer Mappe und reichte es ihm. »Das ist die Zeichnung«, sagte sie. »Ich bin gespannt zu erfahren, was es Ihrer Meinung nach bedeutet.«

3

Das Papier war dünn und leicht, beinahe transparent. Als er es auffaltete, sah er einen großen, mit schwarzer Tinte gemalten Kreis. Aus dem Kreis schossen Strahlen, wie eine Sonne, und um den äußeren Rand lag ein Ring mit den Zahlen 1 bis 72. Genau in der Mitte, mit großen, kräftigen Strichen gezeichnet, stand eine Reihe von hebräischen Buchstaben. Mühelos und ohne wirklich zu bemerken, was er tat, begann er den Kreis auseinanderzunehmen. Sein Geist suchte nach Mustern und nach der speziellen Ordnung, die ein Rätsel von allem anderen auf dem Planeten unterschied: seine Symmetrie und Eleganz, die versteckten Schätze, seine Notwendigkeit, gelöst zu werden. Das passierte immer, wenn ihm ein erstaunliches oder ungewöhnliches Muster über den Weg lief. Dann begann etwas in ihm zu knistern und Funken zu sprühen, Neugier flammte auf, und er war hilflos einem Verlangen ausgesetzt, dessen er sich nicht erwehren konnte.

Doch dieses Rätsel – wenn es überhaupt ein Rätsel war – war nicht vollständig, denn nur zehn Prozent der Quadrate waren mit Zahlen oder Symbolen gefüllt, und das Mysterium dieses Fehlens lockte und verspottete ihn. Was entging ihm? Was hatten die leeren Stellen zu bedeuten? Er legte das Papier auf den Couchtisch. »Etwas in der Art habe ich noch nie gesehen.«

»Aber Sie können mir doch sagen, was es ist, oder?«

Sein Blick glitt über die hebräischen Buchstaben und den Strudel an Zahlen. Es war eindeutig der Anfang von etwas … aber von was? »Es ist ein bisschen wenig, um damit zu arbeiten. Es gibt kein deutliches Muster, keine offensichtlichen Sequenzen, nichts, bei dem ich ansetzen könnte.«

Dr. Moses machte ein langes Gesicht. Es war genau, wie er gedacht hatte: Sie hatte erwartet, dass er einen Zauberstab schwang und die Wahrheit hinter der Illusion enthüllte. »Aber das ist unmöglich.« Sie drehte das Blatt um, sodass zwei handgeschriebene Worte sichtbar wurden: Mike Brink. »Sie hat mir gesagt, ich solle Sie finden. Sie müssen doch in der Lage sein, mir etwas darüber zu sagen?«

»Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie mich finden sollen?«

»Haben Sie schon mal von Jess Price gehört?«

Er wollte den Namen schon verwerfen, als ihm das Bild eines Zeitungsartikels in den Kopf kam. Er sah das Schwarz-Weiß-Foto einer Frau, die Hände hinter dem Rücken fixiert, darüber eine Schlagzeile: Gefeierte Autorin Jess Price wegen Mordes verhaftet. Ja, er hatte schon mal von Jess Price gehört. Ihre Geschichte war vor ein paar Jahren durch die Presse gegangen. Sie war beschuldigt worden, in einer Villa in Upstate New York einen Mann ermordet zu haben. Nach ihrer Festnahme hatte sie sich geweigert, mit irgendjemandem zu sprechen – ob mit der Polizei, ihren Anwälten oder der Presse –, und war wegen Totschlags verurteilt worden, ohne ein einziges Wort zu ihrer Verteidigung gesagt zu haben. »Sie meinen die Schriftstellerin Jess Price?«

»Nun, sie hat schon eine ganze Weile nichts mehr geschrieben«, sagte Dr. Moses. »Sie ist bereits seit fast fünf Jahren hier und hat nicht ein einziges Mal mit mir kommuniziert … Bis letzte Woche, als sie den Kreis malte und mir sagte, ich solle das Bild Ihnen geben.«

»Warum mir?«, fragte er, obwohl es nicht schwer zu erraten war.

»Jess Price kennt Ihre Talente. Und obwohl ich nicht weiß, warum sie diesen Kreis gezeichnet hat, glaube ich, dass er der Schlüssel sein könnte, um endlich die rätselhafteste, frustrierendste Patientin zu verstehen, die mir je begegnet ist. Ich versuche seit Jahren, an sie heranzukommen, ich würde alles dafür tun, aber ehrlich gesagt zweifle ich so langsam an meinen Fähigkeiten. Und nun fragt sie nach Ihnen.«

Er sah wieder auf den Kreis und spürte den intensiven Drang, sich hineinfallen zu lassen, ihn zu enthüllen, so wie ein Lichtstrahl eine im Schatten liegende Ecke enthüllt. Stattdessen schob er ihn beiseite. »Ein Rätsel lösen zu wollen ist eine Sache«, sagte er. »Aber in etwas wie das hier hineingezogen zu werden? Lieber nicht.«

Dr. Moses sah ihn einen Moment lang an, dann öffnete sie die Mappe und legte sie vor ihn. »Das ist die Akte von Jess Price«, sagte sie. »Werfen Sie einen Blick hinein. Vielleicht gibt es da drinnen etwas, das erklärt, warum sie nach Ihnen gefragt hat.«

Die Mappe beinhaltete einen Stapel maschinengeschriebener klinischer Berichte, jeder mit einer Unterschrift am unteren Rand, ein Bündel Fotos und ein paar Zeitungsausschnitte. Ein Blatt rutschte heraus und fiel auf den Tisch. Es war die Fotokopie eines Artikels aus einer Zeitung im Hudson Valley. Die Story wurde ergänzt durch ein Foto des Sedge House, einer Villa am Hudson River, wo ein fünfundzwanzig Jahre alter Mann namens Noah Cooke brutal ermordet worden war. Daneben sah er das Foto, welches nach der Festnahme von Jess Price aufgenommen worden war und das er vor fünf Jahren gesehen hatte, mit der dicken Schlagzeile darüber. Er sah es sich genau an und verglich es mit seinen Erinnerungen. Es war identisch: Jess Price, in Handschellen, wurde in ein Gerichtsgebäude geführt.

Zusätzlich zu den Zeitungsartikeln gab es ein Porträtfoto von ihr – sehr wahrscheinlich ihr Autorenfoto – und ein paar Schnappschüsse aus den sozialen Medien. Er sah darauf eine Frau mit weit auseinanderstehenden blauen Augen, einem blonden Pixi-Haarschnitt und klaren, elfenhaften Gesichtszügen. Schwer vorstellbar, dass diese Frau in der Lage sein sollte, jemandem wehzutun, geschweige denn einen Menschen zu töten.

»Sie sieht gar nicht«, beinahe wäre ihm verrückt herausgerutscht, doch er hielt sich gerade noch zurück, »labil aus.«

»Allen Berichten zufolge war sie das auch nicht. Vor der Mordnacht war sie eine ausgeglichene junge Frau, die ein relativ normales Leben führte. Inzwischen leidet sie unter einer ganzen Reihe psychischer Störungen, von denen ich keine voll diagnostizieren konnte. Sie scheint aurale Halluzinationen zu haben und meint Dinge zu hören, die nicht da sind. Sie leidet unter akuten Angststörungen, die zu Selbstverletzungen führen – sie kratzt sich die Arme auf, weigert sich zu essen, reißt sich die Haare aus. Letzte Woche hat sie an ihren Fingernägeln gekaut, bis sie blutig waren.«

»Und sie kommuniziert in keiner Weise mit Ihnen?« Er fragte sich, wie Jess Price funktionieren konnte, ohne je ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen.

Dr. Moses öffnete einen braunen Umschlag, der ein großes Notizbuch enthielt. »Am Anfang meiner Zeit mit ihr habe ich Jess das hier gegeben. Ich nahm an, es würde dabei helfen, die Mauer einzureißen, die sie um sich herum aufgebaut hatte. Schreiben kann ein ausgezeichnetes therapeutisches Mittel sein. Ihr vorheriger Therapeut, Dr. Ernest Raythe, hat Notizen hinterlassen, in denen er behauptet, mit einem ähnlichen Ansatz einigen Erfolg erzielt zu haben. Doch das Ergebnis war anders, als ich erwartet hatte …« Sie schlug das Notizbuch auf. Es war angefüllt mit Zahlen und Formen, Rastern und Wortlisten, Seiten um Seiten ausgeschnittener und aufgeklebter Rätsel aus Zeitschriften. »Sie lebt in einem Rätsel.«

Mike nahm das Notizbuch und sah es sich näher an. Es waren seine Rätsel, Hunderte davon, alle ausgefüllt in blauer Tinte.

»Sehen Sie«, sagte Dr. Moses und begegnete seinem Blick, »Ihre Ratespiele sind das Einzige, was sie interessiert.«

»Rätsel«, korrigierte er und spürte, wie etwas seine Brust verengte. »Ich entwickle Rätsel, keine Ratespiele.«

Sie blickte ihn amüsiert an, so wie man ein Kind belächelt. »Was ist der Unterschied?«

»Rätsel bestehen aus Mustern. Sie sind dafür bestimmt, gelöst zu werden. Es gibt immer eine vorherbestimmte Ordnung und eine eindeutige Antwort. Mit Können und Durchhaltevermögen wird man ein Rätsel immer lösen. Spiele werden gewonnen, durch Glück oder andere willkürliche Umstände. Der Zufall ist hier immer mit von der Partie. Sie können alles Talent und Durchhaltevermögen der Welt haben und doch nie ein Spiel gewinnen. Das ist ein großer Unterschied.«

Dr. Moses sah ihn einen Moment lang ruhig an, bevor sie erwiderte: »Ja, also dann sind Ihre Rätsel für Jess zu einer Art Besessenheit geworden. Sie hat alles gelöst, was Sie je veröffentlicht haben, und sitzt jede Woche über Ihrem Rätsel im Sunday Times Magazine. Wenn sie daran arbeitet, wirkt sie fast zufrieden. Dabei kommt sie aus sich heraus. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass Ihre Rätsel Jess Price das Leben gerettet haben.«

Er hatte seine Werke nie als etwas anderes gesehen als eine herausfordernde Ablenkung, eine nette Art und Weise, seinen Sonntagmorgen gemütlich zu verbringen – Kaffee, Bagels und ein Brink-Rätsel. Natürlich entwickelte er Rätsel mit der Vorstellung, dass dadurch eine Verbindung zu jemandem entstünde, doch diese Person war immer gesichtslos gewesen, abstrakt. Und hier war nun Jess Price, eine reale Person, deren Foto vor ihm lag. Dass seine Rätsel für diese Frau so wichtig waren, dass sie ihr Leben gerettet hatten, triggerte bei ihm ein starkes Verantwortungsgefühl. »Ich freue mich zu hören, dass sie ihr geholfen haben«, sagte er schließlich.

»Genau genommen helfen sie nach wie vor«, erwiderte Dr. Moses mit zunehmender Wärme in der Stimme. »Ihre Unfähigkeit, sich auszudrücken, schadet ihr sehr und sperrt sie möglicherweise mehr ein, als es ihre Gefängniszelle tut. Ihre Rätsel haben ihr etwas gegeben, woran sie sich festhalten kann. Sie haben ihr erlaubt, mit der Welt zu interagieren. Und, schauen Sie, ihr erster Versuch, mit jemandem zu kommunizieren, war mit Ihnen.« Dr. Moses schloss das Notizbuch und steckte es zurück in den Umschlag. »Was mich zu einem weiteren Grund bringt, aus dem ich Sie hergebeten habe. Ich habe gehofft, Sie würden in Betracht ziehen, sich mit ihr zu treffen.«

»Sie zu treffen?«, sagte er perplex. »Sie meinen jetzt?«

»Es wäre nur ein kurzes Treffen«, sagte sie. »Aber eines, das sich enorm positiv auf ihre Genesung auswirken könnte.«

»Hören Sie«, sagte er, »ich verstehe, dass Ihnen das wichtig ist, und ich würde ja auch gern helfen, aber ich kann nicht bleiben. Es ist ein weiter Weg zurück in die Stadt. Ich muss meinem Redakteur morgen ein Rätsel abliefern, und nach dem Wochenende ist ein weiteres fällig. Außerdem wartet im Wagen mein Hund auf mich.«

»Sie könnten sie jetzt sofort treffen«, sagte sie. »Es würde höchstens eine Viertelstunde dauern. Genau genommen ist bereits alles arrangiert. Sie haben sogar schon eine Besuchserlaubnis.« Sie zog einen Ausweis aus der Tasche ihres Kleides und reichte ihn ihm. »Und ich habe für Sie einen ruhigen Ort vorbereitet, an dem Sie sich unterhalten können. Bitte, denken Sie darüber nach. Sie würden nicht nur Ihren größten Fan kennenlernen, Sie erfahren möglicherweise auch etwas über diese Zeichnung.«

Der Kreis machte ihn neugierig, und er verspürte einen starken inneren Drang, ihn zu verstehen, dennoch warnte ihn etwas, sich darauf einzulassen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich da hilfreich sein sollte.«

»Mr Brink, ich habe noch nie jemanden gebeten, eine meiner Patientinnen kennenzulernen«, sagte sie. »Aber Jess Price ist nicht einfach nur eine weitere Patientin. Irgendetwas Seltsames geht hier vor sich. Etwas, das ich nicht erklären kann. Wenn ich mit ihr zusammen bin, gibt es Momente, in denen ich … Ich weiß nicht, wie ich es genau ausdrücken soll. Angst habe. Mehr als nur Angst. Panik. Als befände ich mich in der Gegenwart von etwas, das größer ist als ich. Etwas Gefährlichem. Die Zeichnung könnte uns erklären, warum das so ist.«

Er warf einen kurzen Blick auf das Papier und war hin- und hergerissen. Er könnte nein sagen und wäre zum Abendessen wieder in seinem Loft. Oder er könnte bleiben, Jess Price kennenlernen und eines der seltsamsten Rätsel lösen, das ihm je begegnet war.

Dr. Moses bemerkte sein Zögern und drängte weiter. »Ich verstehe, dass ich da viel von Ihnen verlange. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie überhaupt raus nach Ray Brook kommen und dann auch noch einer Frau helfen, die Sie noch nie gesehen haben … sie war von Anfang an gering. Aber Sie sind die einzige Chance, die ihr noch bleibt.«

Bei dem Wort Chance verschlug es ihm kurz die Sprache. Er wusste besser als jeder andere, was es bedeutete, wenn die Chancen gegen einen standen. Die Chance, dass er den Unfall überhaupt überlebte, waren nur eins zu einer Million gewesen, und eins zu einer Milliarde, dass seine Verletzung zu den Fähigkeiten führen würde, die er letzten Endes entwickelt hatte. Aber so war es: Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit hatte Mike es geschafft. Wie konnte er da jemand anderem dessen Chance verwehren?

Er ließ seine Hand in die Tasche gleiten und holte einen Silberdollar hervor. Seit seinem Unfall trug er ihn immer bei sich und glaubte mehr an ihn – den strukturierten Zufall eines Fifty-fifty-Ergebnisses – als an alles andere. Religion oder Wissenschaft, Fiktion oder Fakten, Anlage oder Umwelt. Nichts war so verlässlich wie der Wurf einer Münze.

Er legte ihn oben auf seinen Daumen und balancierte ihn zwischen Knöchel und Gelenk. »Kopf, ich treffe sie«, sagte er. »Zahl, ich fahre nach Hause. Einverstanden?«

Dr. Moses sah ihn verwirrt an. Sein Verhalten war ohne Frage merkwürdig, doch wenn sie ihn gegoogelt hatte, würde sie alle seine Exzentrizitäten kennen. Einmal hatte er seinen Silberdollar zu Anfang eines wichtigen Rätselwettbewerbs geworfen und war dann aufgrund des Ausgangs einfach wieder gegangen.

Mit einem Nicken akzeptierte Dr. Moses seine Bedingungen.

Die Münze schimmerte auf seiner Haut, und er spürte, wie er vor Erwartung und Unsicherheit zitterte. Er war kein abergläubischer Mensch. Er glaubte an die Kraft von Mustern, an die überragende Schönheit von Zahlen, an die Symmetrie der Vernunft. Und doch hatte diese Münze eine besondere Macht über sein Schicksal. Sie hatte sich als ein Kanal erwiesen, ein Tor, durch das seine Zukunft eintraf, eine Art Orakel.

Er richtete die Münze aus und schnippte sie in die Luft. Sie flog sehr hoch, drehte sich einmal, zweimal und dann wieder, bevor sie auf seiner Handfläche landete. Er drehte sie um, drückte das kalte Metall auf seine Haut und hob dann, mit angespannter Brust, seine Hand.

4

Dr. Moses nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und schloss die Tür zur Gefängnisbibliothek auf. Mike folgte ihr in einen luftigen Raum voller Bücherregale und langer Holztische. Am anderen Ende des Raumes gaben hohe Fenster den Blick auf einen Garten frei, wo Gefangene die Blumenbeete von Unkraut befreiten. Jedes Fenster bestand aus Glasquadraten, und als er ihre Anzahl – drei mal drei mal drei – registrierte, bewunderte er das Muster: siebenundzwanzig Quadrate pro Fenster, ein Stapel perfekter Würfel. Dr. Moses führte ihn zu einem Tisch vor den Fenstern.

»Ich gehe jetzt Jess holen«, sagte sie und lächelte ihn dankbar an. »Bin in fünf Minuten zurück.«

Er stellte sich ans Fenster und schaute auf den Garten hinaus. Ein paar Frauen in grauen Overalls gingen einen kleinen Pfad entlang, und dahinter lag der Parkplatz. Sein verbeulter Pick-up fiel unter den Hondas, Fords und Chevys, die in der späten Morgensonne glitzerten, auf wie ein bunter Hund. Der 1991er-Ford, tomatenrot mit Rosträndern, hatte es kaum bis nach Ray Brook geschafft. Er hatte gebebt und geschwankt, sobald die Tachonadel die hundert überschritt, und jedes Mal ein alarmierendes Kreischen von sich gegeben, wenn Mike den fünften Gang einlegte. Der Truck war schon damals, 2008, spürbar in die Jahre gekommen, als Mike mit ihm von Cleveland zum College nach Boston gefahren war, aber er hatte seinem Vater gehört und zählte zu den wenigen Dingen, an denen Mike nach dessen Tod festgehalten hatte. Er brachte es einfach nicht übers Herz, ihn verschrotten zu lassen. Und auch wenn der Wagen ständig kaputtging, akzeptierte Mike seine Mängel doch so, wie man die Schwächen eines lieb gewordenen alten Hundes akzeptierte: mit Toleranz und einem Gefühl für das unvermeidlich bevorstehende Ende, so traurig es sein mochte.

Der Truck hatte ihn bei allen wichtigen Meilensteinen im Teenageralter begleitet: Mit ihm hatte er fahren gelernt, in seinem Führerhaus hatte er sich mit seinen Freunden betrunken, und auf seiner Ladefläche hatte er zum ersten Mal Sex gehabt. Auch an jenem Tag, an dem sich alles änderte, war er mit dem Truck gefahren: am 12. Oktober 2007, dem Tag der Ohio-High-School-State-Football-Meisterschaft. Er hatte ihn auf dem Parkplatz abgestellt, von dem aus seine Mannschaft den Bus zum Stadion nahm, und hätte sich im Traum nicht vorstellen können, wenige Stunden später in einem Krankenwagen abtransportiert zu werden. Die abgenutzten Vinylsitze und der beißende Geruch von Staub und Schweiß, sogar das defekte Getriebe – all das führte ihn zu dem zurück, der er einmal gewesen war: Quarterback und Captain eines Footballteams in der Highschool-Meisterschaft, gut aussehend und selbstbewusst, einer dieser glücklichen, unbeschwerten Typen, die mühelos durchs Leben segelten.

Es war immer schwer, sich vor einem großen Spiel zu konzentrieren, aber an diesem Abend war es noch schwerer gewesen als sonst. Die Scouts der Colleges waren da und sahen aufmerksam zu, und seine Zukunft hing von seiner Leistung auf dem Platz ab. Bei einem Sieg würde man ihm ein Vollstipendium an einem der besten Footballcolleges anbieten. Bei einer Niederlage würde er sich für eines der zweitklassigen Colleges entscheiden müssen, die ihn bereits umworben hatten. So oder so würde er am Ende dieses Abends ein Stipendium in der Tasche haben.

Selbst ohne ein Sportstipendium hätten seine Eltern ihm durchs College geholfen. Sie hatten ihn immer unterstützt, selbst wenn er Mist baute wie damals, als er wegen zu schnellen Fahrens angehalten worden war oder als er in US-Geschichte durchgefallen war. Als er jetzt über den Platz blickte, entdeckte er seine Eltern in der zweiten Reihe der Tribüne direkt hinter der Mannschaft, eine Wolldecke über ihren Knien ausgebreitet. Seine Mutter winkte, als sie ihn sah, und sein Vater nickte ihm aufmunternd zu. Er spürte, dass das hier seine Chance war, ihnen endlich etwas zurückzugeben. Nach allem, was sie für ihn getan, nach all den Auswärtsspielen, die sie ertragen, nach all der Ausrüstung, die sie gekauft, nach all der Ermutigung, die sie ihm immer wieder geschenkt hatten. Es war sein Abend, sie stolz zu machen.

Der Lärm war ohrenbetäubend. Die stampfenden Füße, das stakkatoartige Skandieren der Cheerleader, der urtümliche Rhythmus der Blaskapelle – er versuchte, das alles auszublenden und sich aufs Spiel zu konzentrieren. Es war kalt, wie üblich am Ende der Saison, die Wetterbedingungen auf dem Spielfeld waren brutal, und er befürchtete, den Ball gegen den Wind werfen zu müssen. Wie es der Zufall wollte, gewann sein Team den Münzwurf. Das gegnerische Team hatte sich für Zahl entschieden, und der Schiedsrichter warf Kopf, was Mike den Vorteil verschaffte, in Windrichtung zu spielen. Nach dem Abschlag war sein Team in einer starken Position, also beschloss er, die Kontrolle zu übernehmen. Er entschied sich für einen Spielzug, bei dem er sich einen Weg durch die Mitte bahnen und den Ball bis in die Endzone tragen konnte. Es war ein ungewöhnlicher Spielzug, riskant in dieser Entfernung zum Ziel, aber dennoch ein QB-Sneak, der den Gegner aus dem Gleichgewicht bringen und seine eigene Beweglichkeit und Schnelligkeit demonstrieren würde. Ein Touchdown in der ersten Minute würde ihnen zeigen, wer hier der Boss war.

Er packte den Ball fester, zog sich ein Stück zurück, täuschte einen Pass vor und rannte los mit allem, was er hatte. Zehn Yards, zwanzig Yards, dreißig. Er spürte den in seine Seite gedrückten Ball. Den eisigen Wind in seinem Rücken. Sah die Endzone in der Ferne, weit offen, wartend. Und dann kam der Schlag. Er ging hart zu Boden, sein Kopf knallte in seinen Helm, und alles wurde schwarz.

Er kam im Krankenwagen wieder zu sich. Sein erster Gedanke war, dass er sich etwas gebrochen hatte, aber dem war zum Glück nicht so. Außer einer Sehtrübung und einer Beule so groß wie ein Gänseei schien nichts passiert zu sein. Nach einer gründlichen Untersuchung in der Notaufnahme sagte ihm ein Arzt, er habe eine Gehirnerschütterung, und schickte ihn mit der Anweisung nach Hause, den Kopf mit Eis zu kühlen und sich auszuruhen.

Anzeichen dafür, dass seine Verletzung doch komplizierter war, gab es erst einige Tage später. Er war wie empfohlen zu Hause, um sich zu erholen, als er bemerkte, dass alles um ihn herum irgendwie anders war als sonst. Geordneter, schlüssiger als zuvor. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass er in allem Muster erkannte. Der Marmorboden in der Küche – ein Schachbrett aus schwarzen und weißen Fliesen – war ein geometrisches Wunderwerk, ein dreidimensionales Puzzle mit endlosen Verbindungswegen. Eines Nachmittags verbrachte er fünfundvierzig Minuten unter der Dusche und beobachtete einfach nur die Bewegung des Wassers, seinen Weg vom Duschkopf zu den Fliesen, wie es in einer Spirale um den Abfluss herumwirbelte. Das Wasser ordnete sich selbst in kunstvollen architektonischen Strukturen – Regenbögen und Fraktale, mathematische Muster, die sich vor ihm in Farbwellen auftaten. Während er das Spiel der sich entwickelnden Muster im Wasser verfolgte, machte etwas klick in ihm. Er wusste nicht, wie, aber er verstand diese Strukturen. Es gab ein System, eine grundlegende Ordnung in der Welt, und er sah sie.

Mit der Zeit stellte er noch mehr Veränderungen in seiner Wahrnehmung der Welt fest. Wenn er an bestimmte Zahlen oder Buchstaben dachte, erschienen sie ihm in lebhaften Farben, hell und gesättigt, fast schillernd: Die Zahl 9 war kirschrot, die 6 kanariengelb, die 3 ein dunkles Stahlblau. Doppelte Ziffern zeigten sich als Farbmischungen, sodass die 63 ein klares Grün war, die 93 ein sattes Ultraviolett, die 69 ein leuchtendes Orange. Auch Töne übertrugen Farben in sein Bewusstsein, und ein Song wurde zu einem sensationellen Farbenspektakel, einem gemalten Konzert im Hintergrund seines Geistes.

Diese Veränderungen in der Art und Weise, wie er die Wirklichkeit wahrnahm, waren so fremdartig, dass er zunächst kein Wort darüber verlor. Er wusste, dass er regelmäßig stark strukturierte, geometrische Halluzinationen hatte und dass diese real waren, aber er war sich nicht sicher, ob ihm jemand glauben würde, wenn er versuchte, das zu erklären. Er war überzeugt, dass die Muster und Farben mit zunehmender Heilung der Beule an seinem Kopf verschwinden würden. Also beschloss er abzuwarten, der Sache etwas mehr Zeit zu geben und zu sehen, was passierte.

Aber sie verschwanden nicht. Vier Monate vergingen, und sein Zustand besserte sich nicht. Er war die ganze Nacht über wach und schlief am Tag. Seine Freundschaften litten darunter, und seine Freundin Kelsey, von der er ohnehin vermutete, dass sie sein Footballtrikot mehr mochte als ihn, versuchte nicht mal mehr, ihn zu erreichen. Ohne Panikattacken konnte er nicht mehr in die Schule gehen. Und dann hielt er es eines Nachts nicht mehr aus. Zahlen, Strukturen und Farben überschwemmten seinen Verstand mit einer hydraulischen Kraft – es waren so viele Bilder und Formen, dass er zu ertrinken meinte. Er ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und brach in Tränen aus. Er brauchte Hilfe, aber er wusste nicht, wie er jemandem sagen sollte, was mit ihm geschah.

Seine Mom setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie bestand darauf, dass er ihr sagte, was los war. Mike erzählte, dass er seit Monaten Muster in seinem Kopf sah, sich aber nicht getraut hätte, darüber zu reden. Er sagte ihr, er habe Angst, verrückt zu werden, und auch, dass er schon daran gedacht habe, sich umzubringen, damit es endlich vorbei war. Seine Mutter hörte aufmerksam zu, als er beschrieb, wie er das schwarz-weiße Raster des Küchenbodens wahrnahm, dass es alle möglichen Muster erzeugte – ein Schachbrett, dann ein Kreuzworträtsel, dann ein Zahlenschema –, eine schwarz-weiße Matrix sich unendlich verändernder Möglichkeiten. Sie hörte zu, als er ein Rätsel beschrieb, das ihm immer wieder in den Kopf kam, dann verblasste, um sofort zurückzukehren.

Seine Mom legte ein Blatt Papier und einen Stift vor ihn hin. »Zeig mir, was du siehst«, sagte sie, und dann zeichnete er ihr das Rätsel, ein Zahlenfeld, von dem er später erfuhr, dass es sich um ein klassisches magisches Quadrat handelte, genannt Lo-Shu-Quadrat: ein Raster aus neun Zahlen, dessen Spalten und Reihen sich auf jeder Seite zu fünfzehn addieren ließen. Dieses spezielle magische Quadrat war zum ersten Mal etwa 2300 v. Chr. in China erstellt worden. Er wusste noch nichts von der Geschichte des Quadrats, als er es in jener kalten Februarnacht des Jahres 2008 um drei Uhr morgens für seine Mom aufmalte. Sie betrachtete das Quadrat sorgfältig, erkannte, dass er etwas Außergewöhnliches erschaffen hatte, und sagte: »Du hast ein Talent erhalten. Du kannst es ignorieren, oder du kannst es nutzen. Aber du kannst dich nicht davor verstecken.«

Erst nach einer MRT-Untersuchung verstand er, dass sie recht hatte. Er würde nie mehr der sein, der er vor dem Unfall gewesen war. Ein Neurochirurg erklärte ihm, dass bei dem Aufschlag auf den Boden eine Druckwelle von achthundert Pfund pro Quadratzoll durch seinen Schädel geschossen war. Sein Gehirn hatte mit einem Gegenschlag reagiert, der seine linke Hemisphäre beschädigte. Und obwohl er nicht die üblichen Symptome eines Schädelhirntraumas zeigte – er hatte weder epileptische Anfälle noch Gedächtnisverlust, keinen neurologischen Schaden oder Schmerzen –, war Mike für immer ein anderer geworden.

5

Ein Wärter führte Jess Price zu dem Tisch vor den Fenstern, öffnete ihre Handschellen und zog sich in Richtung Gang zurück, wo er sich vorn an der Tür postierte.

»Falls Sie Schwierigkeiten bekommen …« Dr. Moses deutete auf den Wärter, nickte Mike noch einmal kurz zu und schloss dann die Tür hinter sich.

Jess Price setzte sich, das Licht fiel durch die Fenster auf sie. Als Mike sich näherte, musterte er sie verstohlen und verglich sie mit den Bildern, die Dr. Moses ihm gezeigt hatte. Obwohl diese Fotos gerade mal fünf Jahre alt waren, hatten sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Gefangenen. Die Frau auf dem Autorenfoto hatte verschmitzt und spitzbübisch gewirkt und eine verträumte Zuversicht ausgestrahlt. Die Frau ihm gegenüber wirkte sehr viel sanfter, wie eine Statue, deren scharfe Kanten von den Elementen abgeschliffen worden waren. Sie war viel zu dünn, ihre Haare waren lang und spröde, und an den Spitzen ihrer Nägel befanden sich mondsichelförmige Kränze von getrocknetem Blut – Belege für die Selbstverletzung, die Dr. Moses erwähnt hatte.

Und doch war sie auf gewisse Weise attraktiv, besaß eine geheimnisvolle Präsenz, die nichts mit ihrem Aussehen zu tun hatte. Ohne es erklären zu können, spürte er, wie sich etwas in der Luft veränderte, als er sich ihr näherte. Es war, als stünde er am Rande eines Strudels, einer dunklen und unwiderstehlichen Kraft, die ihn zugleich erregte und bedrohte.

Er hängte seine Schultertasche über die Lehne eines Stuhls, zog seine Jacke aus und setzte sich Jess gegenüber. Sie beobachtete ihn, ihre Augen voller Neugier und etwas weniger Definierbarem – intensives Interesse vielleicht, durchsetzt mit Vorsicht. Er war auf Schweigen vorbereitet gewesen, aber ihr jetzt gegenüberzusitzen machte ihn zutiefst nervös. Die Leere zwischen ihnen war breit und tief. Um Jess zu erreichen, musste er den ersten Schritt wagen.

»Dr. Moses sagt, Sie mögen Rätsel«, begann er schließlich und kam sich ziemlich unbeholfen vor.

In ihrem Blick lag eine stete Wachsamkeit, die jede Möglichkeit ausschloss, dass sie psychisch instabil war. Ganz im Gegenteil, er spürte eine Klugheit hinter ihren blauen Augen, gefangen und funkelnd wie eine Goldmünze, eingeschlossen in einem Eisblock.

»Das hier hat sie mir gegeben.« Mike legte den Kreis auf den Tisch. Er sah ihn wieder an, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Er hatte das Rätsel im Geiste perfekt vor sich. Das war vielleicht der größte Nutzen des Unfalls: Er brauchte sich ein Muster nur einmal anzusehen, für wenige Sekunden, um sich für immer daran zu erinnern. Doch trotz seiner Fähigkeit, es zu sehen, ließ ihn das Rätsel ratlos. Es brachte ihn zurück zum MIT, wo ihm sein Professor und Mentor Dr. Vivek Gupta gelegentlich ein extrem kniffliges Problem als Aufgabe stellte. Er blieb dann jedes Mal die ganze Nacht auf und betrachtete es aus jedem Winkel, nahm es auseinander und setzte es in allen möglichen Kombinationen und Varianten wieder zusammen, bis sich etwas in seinem Denken veränderte – es war wie ein Fenster, das sich öffnete und Licht in einen dunklen Raum fallen ließ – und er den Zugang fand. Von diesem Punkt an konnte er sich zurücklehnen und zusehen, wie sich der Weg offenbarte. Er sah die Schritte, die er zu absolvieren hatte, und auch die Reihenfolge, in der er sie gehen musste. Die Lösung zu finden fühlte sich wie ein Segen an, wie das, was manche Menschen als Gnade bezeichnen würden, aber für Mike war es mehr als das: Eine Lösung war ein Rettungsseil, die eine Sache, die ihn daran hinderte unterzugehen.

Aber als er jetzt diese Kraft anrief, zeitigte der Kreis nichts als Fragen: Warum diese Zahl an genau dieser Stelle? Warum die hebräischen Buchstaben im Zentrum? Welche Bedeutung hatte die Zahl 72? Er räusperte sich und versuchte es erneut. »Sie wollten, dass ich mir das hier ansehe, und ich gebe zu, meine Neugier ist geweckt. Ich würde es nur allzu gerne lösen. Aber ich brauche mehr Informationen. Können Sie mir helfen zu verstehen, was ich hier vor mir sehe?«

Sie starrte ihn schweigend an. Es ging an die Nerven, wie sie ihn anschaute. Mit einem Mal fühlte sich die Luft heiß und stickig an. Beklemmend. Er spürte, wie ein Schweißfilm auf seine Haut trat. Die Nähe zu Jess bewirkte eine chemische Änderung in ihm, so wie Salz den Siedepunkt von Wasser ändert.

»Hören Sie«, sagte er und beugte sich weiter vor. »Ich weiß nicht, was diese Zeichnung bedeutet, auch nicht, welche Bedeutung sie für Ihre aktuelle Situation hat, aber Dr. Moses glaubt, dass es etwas mit dem zu tun hat, was Ihnen passiert ist. Ich möchte gerne helfen, aber Sie müssen mir etwas geben, womit ich weitermachen kann.«

Sie musterte ihn weiter.

»Zum Beispiel«, sagte er: »Wo haben Sie diesen Kreis das erste Mal gesehen? Ist es ein Original? Eine Kopie?«

Schweigen.

»Der Zahlenkranz zwischen 1 und 72 und die hebräischen Buchstaben. Das ist eine ungewöhnliche Konstellation. Es scheint, als würde eine ganze Reihe Zahlen und Buchstaben fehlen. Wissen Sie, warum?«

Als sie nicht antwortete, schob er den Kreis beiseite. Direkte Fragen würden nichts bringen. Anscheinend wollte sie zwar mit ihm kommunizieren – warum sonst sollte sie seinen Namen auf die Rückseite des Rätsels geschrieben haben? –, aber etwas hielt sie davon ab. Sie verschränkte schützend die Arme vor der Brust, als bereiteten seine Fragen ihr Schmerzen. Als er sie so ansah, empfand er tiefes Mitgefühl. Er wurde daran erinnert, wie er selbst nach seiner Verletzung gewesen war: verängstigt, verwirrt, so sehr in seinem Kopf gefangen, dass er geglaubt hatte, nicht einmal ansatzweise erklären zu können, was er durchmachte. Dabei hatte es nur eine einzige Person gebraucht, um die Isolation zu durchbrechen und ihn zu erreichen. Eine Person, die ihm glaubte, als er das Unglaubliche beschrieb. Für ihn war seine Mom diese Person gewesen, und ihre Geduld hatte ihn gerettet. Vielleicht würde er diese Person für Jess Price sein können.

»Mir ist einmal etwas Schlimmes zugestoßen«, sagte er und beobachtete sie aufmerksam. »Ich habe Dinge wahrgenommen, die total … na ja, verrückt erschienen. Ich sah überall Muster und Zahlen und Farben. Das hat mir schreckliche Angst eingejagt. Ich wollte es erklären, aber ich wusste, niemand würde mir glauben. Man würde mich für durchgeknallt halten. Ich meine, scheiße, ich dachte, ich wäre durchgeknallt. Wissen Sie, wodurch sich das geändert hat?«

Sie schüttelte leicht den Kopf. Es war eine kaum merkliche Reaktion, aber das genügte. Ein Gefühl des Triumphs überkam ihn: Sie hatte auf ihn reagiert.

»Das hier …« Er griff in seine Schultertasche, fischte ein DIN-A5-Notizbuch mit Millimeterpapier heraus und seinen Lieblingsstift, einen Bic-4-Farb-Kugelschreiber, und malte das Quadrat, das er für seine Mutter in jener Nacht gezeichnet hatte.

Ihr Blick glitt über die Zahlen, dann sah sie Mike fragend an.

»Es ist ein uraltes mathematisches Quadrat, das Lo-Shu-Quadrat, zum ersten Mal gezeichnet vor ungefähr viertausend Jahren in China. Aus irgendeinem Grund habe ich es nach meiner Verletzung immer wieder gesehen. Es erschien in meinem Kopf, jede Zahl in einer leuchtenden Farbe, und verblasste danach wieder. Ich hatte keine Ahnung, warum, und ehrlich gesagt, ich weiß es bis heute nicht. Meine Ärzte haben Theorien, aber die sind mir nicht sonderlich wichtig. Was jedoch zählt, ist, egal wie bizarr es erscheinen mag: Das, was ich erlebt habe, war real.«

Jess betrachtete ausgiebig das Lo-Shu-Quadrat.

»Menschen erleben ständig die erschreckendsten Dinge«, sagte er. »Ich bin nicht der Einzige. Genauso wenig wie Sie.«

Als sie zu ihm aufsah, hatte sie Tränen in den Augen.

»Sagen Sie mir, was los ist.« Er schob die Zeichnung des Kreises zwischen sie. »Ich werde Ihnen glauben. Versprochen.«

Langsam wandte Jess ihren Blick von Mike ab und ließ ihn in die Ecke des Raumes wandern, zu einer Überwachungskamera, die unter der Decke der Bibliothek montiert war. Für einen kurzen Moment huschte ein ängstlicher Ausdruck über ihr Gesicht.

»Haben Sie Angst, dass wir beobachtet werden?«, fragte Mike leise.

Sie nickte, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Jeder Quadratzentimeter des Gefängnisses wurde überwacht. Sie wollte ihm etwas sagen, fürchtete aber, belauscht zu werden. Plötzlich hatte er eine Idee. Offensichtlich konnte sie Zahlen und Buchstaben und Diagramme schreiben – sie hatte nahezu jedes Rätsel gelöst, das er je entworfen hatte. Er schnappte sich seinen Stift und schrieb: Sie müssen nicht sprechen, damit ich Sie höre.

Er schob ihr das Notizbuch zu. Sie dachte einen Moment lang darüber nach, ohne etwas zu tun. Dann nahm sie den Stift und malte einen Galgen. Ein Schauer der Erregung durchlief ihn, als er das sah. Das Galgenraten funktionierte nach dem gleichen Prinzip wie sein Lieblingsbuchstabenspiel Wordle. Er spielte jeden Morgen Wordle, löste es normalerweise, bevor sein Kaffee kalt wurde. Die Regeln waren einfach: Man fand ein gesuchtes Wort, indem man die Positionen der Buchstaben erriet. Man hatte sechs Versuche, und jeder richtige Rateversuch brachte einen der Antwort näher. Beim Galgenraten wurde bei jedem falschen Rateversuch ein Teilstrich des Strichmännchens am Galgen hinzugefügt. Zu viele Fehlversuche, und das Galgenmännchen war gehängt, und man hatte verloren.

Jess malte fünf Striche unter den Galgen. Er wusste aufgrund seiner Erfahrung beim Wordle, dass er nur eine einzige richtige Buchstabenposition brauchte, um das Rätsel zu lösen. Alle möglichen Permutationen von Worten mit einem Buchstaben auf diesen Positionen würden ihm durch den Kopf schießen, er würde sie mit vorherigen Lösungen vergleichen – er wusste sie alle noch –, und schon würde die richtige Lösung erscheinen. Er erriet immer das richtige Wort. Es war simpel, viel zu simpel, und er kannte die Antwort in achtzig Prozent der Fälle beim zweiten Versuch.

Er sah Jess’ Rätsel an und begann mit dem häufigsten Buchstaben der englischen Sprache. Er nahm seinen Stift und schrieb den Buchstaben E.

Jess schüttelte kaum merklich den Kopf. Kein E. Sie malte den Kopf des Galgenmännchens.

Er versuchte es mit den nächsten vier häufigsten Buchstaben: A, I, N, O, und Jess malte Körper, Arme und ein Bein des Galgenmännchens. Er spürte, wie er sich zunehmend anspannte. Vielleicht lag es daran, dass er Jess Price so nahe war, jedenfalls hatte ihm ein Buchstabenrätsel noch nie Schwierigkeiten bereitet. Sicher, es war eher ein Ratespiel als ein echtes Rätsel, aber trotzdem. Mit einem Blick auf den Galgen sah er, dass er nur noch einen Versuch hatte, es hinzubekommen. Er entschied sich für den Buchstaben T. Jess lächelte und schrieb zwei Ts auf die Striche.

 

T_ _ _T

 

Ein triumphierendes Gefühl überkam ihn, als eine Abfolge von Worten vor seinem geistigen Auge aufblitzte. Es war, wie einen Regenbogen im Glas einzufangen, jeder Buchstabe eine Farbexplosion, schwer fassbar und flirrend. Er wusste, welches Wort sie meinte.

»Sie wollen wissen, ob Sie mir vertrauen können«, flüsterte er. Trust.

Sie begegnete seinem Blick, und die Intensität, die er zuvor gespürt hatte, war wieder da. Sie brauchte tatsächlich nicht zu sprechen, damit er sie verstand. Er konnte jeden ihrer Gedanken spüren.

»Ich bin in vielen Dingen nicht besonders gut«, sagte er. »Aber ich halte immer mein Wort. Wenn Sie mir sagen, was Sie brauchen, verspreche ich Ihnen, dass ich Ihnen helfen werde, so gut ich kann.«

Sie starrte das Notizbuch so fest an, dass er schon damit rechnete, es könne in Flammen aufgehen. Dann blätterte sie zu einer leeren Seite und schrieb etwas darauf, verdeckte es mit der Hand. Als sie fertig war, biss sie auf einen verschorften Fingernagel und öffnete eine Wunde. Das Blut sammelte sich an ihrer Fingerspitze zu einem scharlachroten Tropfen, und sie drückte das Blut aufs Blatt, tupfte es ab, als wollte sie ihre Haut sauber wischen. Dann riss sie das Blatt aus dem Notizbuch, knüllte es fest zusammen und drückte es ihm in die Hand.

Bei ihrer Berührung überkam ihn eine Art Lähmung. Es war elektrisierend, erfüllt mit einer pulsierenden, heißen Energie, ein so heftiges Gefühl, dass er kaum noch atmen konnte. Die Zeit schien stillzustehen, als sie sich über den Tisch beugte und ihn leicht auf die Lippen küsste. Die Bibliothek verblasste, und mit einem Mal befand er sich in dem Rätsel. Seine wirbelnden Zahlen und Symbole ordneten sich wie von selbst zu einer Reihe ineinandergreifender Bahnen um ihn herum, mit Jess Price im Zentrum von allem, eine Frau, gefangen in einem Labyrinth. Er zog sie an sich, erwiderte den Kuss, spürte, wie er tiefer und tiefer in ihr versank, als plötzlich ein Gefängniswärter über ihnen aufragte. »Kein Körperkontakt mit Gefangenen«, sagte er schroff und zog Jess zurück, legte ihr wieder die Handschellen an und führte sie ab.

6

Die Tür der Bibliothek schloss sich, Mike blieb allein zurück. Sein ganzer Körper pochte, und als er nach seiner Kuriertasche griff, bemerkte er, dass seine Hand zitterte. Was zum Teufel passiert hier mit mir? Nach seiner Begegnung mit Jess Price fühlte er sich schwindlig und aus der Bahn geworfen, sein Herz klopfte heftig, sein Kopf war voller Fragen. Er fühlte sich wie nach einem aufreibenden Wettkampf – zehn Stunden Zahlenrätsel oder Schach –, von dem sein Hirn gleichermaßen belebt und zerbrutzelt war.

Er sah sich in der Bibliothek um, suchte nach einer Ecke, in der er ungestört sein würde. Doch die Regale waren so aufgestellt, dass die Überwachungskamera den ganzen Raum erfassen konnte. Keine Chance auf Privatsphäre. Er streifte sich die Tasche über die Schulter, nahm seine Jacke von der Stuhllehne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging zur Fensterreihe am hinteren Ende der Bibliothek. Mit dem Rücken zur Überwachungskamera faltete er das Papier auseinander, das Jess ihm gegeben hatte. Es war zerknittert und mit Blut beschmiert. Als er es, so gut es ging, glatt strich, bemerkte er fünf Zeilen in der Mitte des Blattes. Jess hatte ihm eine Nachricht hinterlassen.

Der Granny Smith,

welch Genuss. Elstar,

McIntosh, Berlepsch und

Ingrid-Marie, wunderbare Äpfel,

allesamt, auch die rote Rubinette.

Das war’s. Fünf Zeilen von … was? Poesie? Er las es erneut, versuchte, die Bedeutung zu analysieren. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Diese Frau hatte seit Jahren mit niemandem mehr kommuniziert, und als sie es dann tat, schrieb sie ein kryptisches Gedicht über Apfelsorten? Er verspürte den Drang, das Papier zusammenzuknüllen und in den Mülleimer zu schmeißen, doch er wusste natürlich, es steckte mehr dahinter. Jess hatte Angst, belauscht zu werden, und sie würde gleichermaßen Angst haben, dass eine schriftliche Nachricht abgefangen werden könnte. Vielleicht war dieses Gedicht ja eine Knobelaufgabe.

Normalerweise stützt sich eine Knobelaufgabe auf einen gemeinsamen Wissensfundus, auf einen gemeinsamen Referenzpunkt, den zwei Menschen verstanden. Aber er und Jess hatten keine gemeinsame Vergangenheit, welcher Art auch immer, und ganz sicher hatten sie nie über Äpfel gesprochen. Er warf einen Blick aus dem Fenster, als könne er dort im Garten Apfelbäume entdecken, aber da war nichts außer diesem staubigen Weg.

Er griff in seine linke Tasche, tastete nach seinem Silberdollar. Es war ein Morgan-Dollar mit Prägestempel 1899, eine Sammlermünze im Wert von mehreren hundert Dollar. Der Schiri hatte genau diese Münze zu Beginn des Meisterschaftsspiels geworfen, nur wenige Minuten vor Mikes Verletzung. Es war Tradition, dass die siegreiche Mannschaft die Münze behielt. Sein Team hatte ohne ihn gewonnen und dennoch einstimmig beschlossen, sie ihm zu geben.

Er hatte sich angewöhnt, sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben, wenn er nachdachte, eine Angewohnheit, durch die der Rand der Münze so glatt geworden war wie ein Flusskiesel. Normalerweise half ihm das, sich zu konzentrieren, aber diesmal nicht. Er hörte auf den Klang der Silben, die Jess geschrieben hatte, hoffte, in ihrem Rhythmus einen Hinweis zu finden, aber es gab keinen regelmäßigen Takt. Er reihte die Wörter in einer Zeile aneinander, wobei er die Leerzeichen wegließ, um zu sehen, ob sich so vielleicht eine Botschaft ergab. Was nicht der Fall war. Es ergab sich kein Sinn, nicht einmal als Rätsel.

Dann bemerkte er etwas Ungewöhnliches: Die Blutflecken befanden sich an bestimmten Stellen des Blattes. Sie waren nicht willkürlich gesetzt, wie er zunächst gedacht hatte, sondern folgten einem System: Jeder Blutfleck befand sich auf einem Buchstaben. Jess hatte ihre Fingerspitze auf sechs Buchstaben in der ersten Reihe, auf sechs in der zweiten und so weiter gedrückt. Achtundzwanzig Buchstaben waren so gekennzeichnet worden.

Umgehend ging er die verschiedenen mathematischen Möglichkeiten der Zahl achtundzwanzig durch: Sie war die zweite vollkommene Zahl, ein harmonischer Divisor, eine Dreieckszahl. Eine Størmer-Zahl und die vierte magische Zahl der Physik. Aber nach einem erneuten Lesen des Rätsels wurde ihm klar, dass die Zahl achtundzwanzig in diesem Kontext keinerlei Bedeutung besaß.

Und dann machte es auf einmal klick. Natürlich hatten Zahlen nichts damit zu tun. Jess Price war Schriftstellerin – sie würde mit Worten kommunizieren, nicht mit Zahlen. Es war kein Rätsel, keine Knobelei, es war ein codierter Text, und ein ziemlich einfacher obendrein. Sie hatte Buchstaben mit Blut markiert, und diese Buchstaben waren der Schlüssel, um die Nachricht zu lösen.

Der Granny Smith,

welch Genuss. Elstar,

McIntosh, Berlepsch und

Ingrid-Marie, wunderbare Äpfel,

allesamt, auch die rote Rubinette.

Die Herausforderung löste in Mike etwas Elementares aus, eine urweltliche Sehnsucht, gemischt mit Neugierde und Verlangen. Er wollte das Rätsel packen und zähmen, es auseinandernehmen und seine Geheimnisse Stück für Stück lüften, bis es in seinen Händen zerbröselte. Kurzum, das Rätsel hatte ihn bereits fest im Griff. Er hatte gar keine andere Wahl, als es zu lösen.

Er ließ den Silberdollar in seine Tasche gleiten, nahm den Stift aus seiner Tasche und schrieb die markierten Buchstaben ans Ende jeder Zeile:

Der Granny Smith,

ERAYTH

welch Genuss. Elstar,

WEUSST

McIntosh, Berlepsch und

,ES

Ingrid-Marie, wunderbare Äpfel,

DMARU

allesamt, auch die rote Rubinette.

ESIROTTT

Die Buchstaben waren komplett durcheinander, kein Zweifel. Er würde sie in die richtige Reihenfolge bringen müssen, um ihre Bedeutung zu verstehen. Doch Mike brauchte nur wenige Sekunden, um die Buchstaben in seinem Geist aufzureihen, sie so lange zu mischen, bis sie Wortmuster ergaben. Er schrieb diese Worte in eine dritte Spalte neben die Chiffre und sah sich das Ergebnis an.

Der Granny Smith,

ERAYTH

Raythe

welch Genuss. Elstar,

WEUSST

wusste

McIntosh, Berlepsch und

,ES

es,

Ingrid-Marie, wunderbare Äpfel,

DMARU

darum

allesamt, auch die rote Rubinette.

ESIROTTT

ist er tot

Raythe wusste es, darum ist er tot.

7

Mike klopfte zweimal an die Tür von Dr. Thessaly Moses, fester, als er es gewollt hatte. Keine Reaktion. Er versuchte es wieder, in dem dringenden Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Nach der Begegnung mit Jess fühlte er sich unausgeglichen, so als hätte sich sein Schwerpunkt verschoben. Er sah ständig ihr Gesicht vor sich, spürte die undeutliche Anziehungskraft, die er auch in ihrer Gegenwart empfunden hatte. Sein ganzer Körper kribbelte noch immer von ihrem Kuss. Er wollte es nicht wahrhaben, nicht mal sich selbst gegenüber, wie sehr ihn das Treffen überwältigt hatte. Vielleicht könnte Dr. Moses ihm helfen, alles irgendwie einzuordnen.

»Mr Brink.« Dr. Moses’ Stimme erklang vom Ende des Flurs. Sie trug eine weiße Jacke zu ihrem marineblauen Kleid und über der Schulter eine Louis-Vuitton-Tasche, aus der Akten herausragten. Sie hatte einen Starbucks-Becher in der Hand, und Mike schloss daraus, dass sie soeben vom Mittagessen zurückkam.

»Dr. Moses«, sagte er. »Passt es gerade?«

»Bitte nennen Sie mich Thessaly, und natürlich, kommen Sie rein«, erwiderte sie und sperrte das Büro auf. »Ich brenne darauf zu erfahren, was in der Bibliothek passiert ist.«

Er war sich nicht sicher, wie viel von seinem Treffen er preisgeben sollte. Er kannte Jess gerade mal dreißig Minuten und fühlte sich trotzdem zutiefst mit ihr verbunden, und nach diesem Kuss kam noch das irritierende Bedürfnis hinzu, sie zu verstehen. Er wollte ihr helfen. Nur wie? Die Tatsache, dass sie eine verschlüsselte Nachricht geschrieben hatte, machte deutlich, dass sie ihm etwas Privates erzählt hatte, das vor der Gefängnisbürokratie geheim gehalten werden sollte, doch allein konnte er ihr nicht helfen. Und wenn es jemanden auf der Welt gab, der auf Jess’ Seite stand, dann war es Thessaly Moses. Tatsächlich hatte Jess ja Thessaly in diese Sache hineingezogen, indem sie sie gebeten hatte, ihn herzubringen. Das allein zeichnete sie als vertrauenswürdig aus.

Thessaly ließ ihre Tasche auf den Schreibtisch fallen und trank einen Schluck Kaffee. »Und? Wie ist es gelaufen?«

»Anders, als ich es erwartet habe, um es vorsichtig auszudrücken.«

Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Wieso?«

»Sie werden es ohnehin von den Wärtern erfahren, also kann ich es Ihnen auch gleich sagen: Sie hat mich geküsst.«

»Sie hat Sie geküsst?«, erwiderte Thessaly überrascht.

»Über den Tisch hinweg, ja. Woraufhin ein Wärter sie abgeführt hat.«

»Natürlich hat er das.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Körperkontakt ist nicht erlaubt, und Küssen ist absolut …«

»Das ist aber noch nicht alles«, sagte er.

»Was?«, fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, als würde sie sich wappnen.

»Sie hat etwas aufgeschrieben.«

Thessaly kniff ungläubig die Augen zusammen. »Sie haben schriftlich miteinander kommuniziert?«

»Ja, irgendwie schon«, erwiderte er. »Sie hat ein weiteres Rätsel erstellt. Eine chiffrierte Nachricht.«

Thessaly lehnte sich an den Schreibtisch. »Ich habe ja schon vermutet, dass sie gut auf Sie reagieren würde, aber ich bin verblüfft, dass sie sich so schnell geöffnet hat.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie auch noch so begeistert sind, wenn Sie hören, was sie geschrieben hat.«

Thessaly sah ihn verwirrt an. »Warum denn?«