Inmitten der Nacht - Rumaan Alam - E-Book
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Inmitten der Nacht E-Book

Rumaan Alam

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Beschreibung

Eines der Lieblingsbücher von Barack Obama: Der internationale Erfolgsroman und Times #1 Bestseller. Nominiert für den National Book Award. Aktuell Film #1 bei NETFLIX „Leave the world behind“.

Rumaan Alam hat einen modernen Klassiker geschrieben – einen brillanten Gesellschaftsroman, der von der Doppelmoral einer weißen US-Familie erzählt: Amanda und Clay wollen mit ihren beiden Kindern eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island verbringen. In einem Haus am Ende der Welt, weit weg von allem. Doch mitten in der Nacht steht dort plötzlich ein älteres, schwarzes Ehepaar vor der Tür. Die beiden behaupten, das Haus gehöre ihnen. Sie berichten, dass ganz New York im Dunkeln liege, das Leben an der Ostküste komplett lahmgelegt sei. Hier draußen jedoch, an diesem abgeschiedenen Ort, ohne Internet, Handy- oder Fernsehempfang, wissen Amanda und Clay nicht, was sie davon halten sollen. Stimmt das, was die beiden behaupten? Können sie ihnen trauen? Was passiert da gerade in der Welt?

  • Ab 8. Dezember 2023: Netflix-Verfilmung u.a. mit Julia Roberts, Ethan Hawke und Mahershala Ali; Produzenten: Michelle und Barack Obama.
  • »Rumaan Alam erzählt von der Doppelmoral einer weißen US-Familie – und von der Apokalypse.« DER SPIEGEL
  • Ein faszinierender Gesellschaftsroman für Leser*innen von Jonathan Franzen und Leila Slimani.
  • »Seit Ishiguros Alles, was wir geben mussten hat mich kein Roman mehr derart mitgerissen.« Carmen Maria Machado
  • »Rumaan Alam setzt sich brillant mit Themen wie Hautfarbe, sozialem Status, Familie und einer Welt auseinander, die plötzlich etwas Bedrohliches angenommen hat - gar nicht so verschieden von unserer Situation heute.« (Roxane Gay)
  • Eine Lizenz aus dem btb HC.

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Zum Buch

Zwei Familien auf Long Island. Eine Welt, die aus den Fugen gerät.

Amanda und Clay wollen mit ihren beiden Kindern eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island verbringen. Doch mitten in der Nacht steht dort plötzlich ein älteres, schwarzes Ehepaar vor der Tür. Die beiden behaupten, das Haus gehöre ihnen. Sie berichten, dass ganz New York im Dunkeln liege, das Leben an der Ostküste komplett lahmgelegt sei.

Hier draußen jedoch, an diesem abgeschiedenen Ort, ohne Internet, Handy- oder Fernsehempfang, wissen Amanda und Clay nicht, was sie davon halten sollen. Können sie den beiden trauen? Ist dieses Ferienhaus noch ein sicherer Ort für sie und ihre Kinder? Was ist in New York, was ist in der Welt da draußen wirklich los?

»Rumaan Alam setzt sich brillant mit Themen wie Hautfarbe, sozialem Status, Familie und einer Welt auseinander, die plötzlich etwas Bedrohliches angenommen hat – gar nicht so verschieden von unserer Situation heute.« Roxane Gay

»Ein absolut großartiges Buch, intelligent und fesselnd.« The Observer

»Ein packender Roman.« The New Yorker

»Atemberaubend und weitsichtig.« The Guardian

»Ein perfektes Buch für unsere Zeit.« The Times

Zum Autor

Rumaan Alam gilt als eine der großen literarischen Hoffnungen Amerikas. »Inmitten der Nacht« ist ein New York Times-Bestseller. Der Roman wurde in den USA gefeiert und kam auf die Shortlist des National Book Award 2020. Rumaan Alam schreibt u. a. für The New York Times, The New Yorker und The New Republic. Er unterrichtet an der Columbia University und lebt mit seiner Familie in Brooklyn.

RUMAAN ALAM

INMITTEN DER NACHT

ROMAN

Deutsch von Eva Bonné

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

»Leave the World behind« bei Ecco, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 Rumaan Alam

Copyright © der deutschen Ausgabe 2021 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Autorenfoto © David A. Land

Covergestaltung: semper smile, München

nach einem Entwurf von Sarah Wood

Covermotiv: »Night Swimming« (2019) © Jessica Brilli

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN978-3-641-27693-5V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Simon und für Xavier

Die Liebe geht weiter, wie Vogelgesang

Direkt nach einer Bombe.

Bill Callahan, »Angela«

1

Immerhin, die Sonne schien. Sie nahmen es als gutes Zeichen – die Menschen machen aus jeder beliebigen Gegebenheit ein Omen. Dabei war der Himmel lediglich wolkenlos, und die Sonne stand, wo sie immer steht. Die Sonne, ausdauernd und gleichgültig.

Eine Straße führte zur nächsten, der Verkehr stockte. Im Innern des silbergrauen Autos bildete sich ein eigenes Mikroklima wie unter einer Glasglocke: kalte Luft aus dem Gebläse, vom Rücksitz die Ausscheidungen pubertierender Teenager (Schweiß, Füße, Talg), Amandas französisches Shampoo. Dazu das Rascheln des unvermeidlichen Mülls. Clay war für das Auto zuständig, und dank seiner nachlässigen Art sammelte sich dort alles Mögliche an: verstreute Haferflocken von aus der Großpackung gerissenen Müsliriegeln, eine einsame Tennissocke, die Werbeeinlage aus dem New Yorker, ein zerknülltes, von getrockneter Rotze verknöchertes Taschentuch und kleine, weiße, in ferner Vergangenheit von der Rückseite eines Pflasters gezogene Papierstreifen. Kinder brauchen ständig Pflaster, ihre rosa Haut kann aufplatzen wie eine reife Sommerfrucht.

Die Sonne auf den Armen tat gut. Die Fenster waren mit einer Schutzbeschichtung versehen, die den Krebs außen vor hielt. In den Nachrichten war von einem drohenden Unwetter die Rede, von Wirbelstürmen, die irgendwelche offiziellen Stellen mit ungewöhnlichen Vornamen belegt hatten. Amanda stellte das Radio leiser. War es sexistisch, dass bei ihnen immer Clay am Steuer saß? Nun ja: Amanda fehlte das Verständnis für die heiligen Riten des Autofahrens, für die große Inspektion alle zwanzigtausend Kilometer, für Parkverbotszonen, die je nach Tageszeit die Straßenseite wechselten. Außerdem war Clay sich nicht zu schade dafür. Er unterrichtete am College, was sich wunderbar mit seiner Vorliebe für praktische Alltagsaufgaben ergänzte: gelesene Zeitungen zu Altpapierstapeln verschnüren, Streusalz auf dem Gehweg verteilen, Glühbirnen auswechseln, verstopfte Abflüsse mit der Saugglocke reinigen.

Das Auto war nicht neu genug für reiche Leute, aber zu neu für Hippies. Der Mittelklassewagen einer Mittelschichtsfamilie, der nicht beeindrucken, sondern lediglich nicht negativ auffallen sollte; erworben in einem Autohaus mit verspiegelten Wänden, wo die Luftballons auf Halbmast hingen und wo es weniger Kunden gab als Verkäufer, die zu zweit oder dritt herumstanden und mit dem Kleingeld in den Taschen ihrer Anzughosen klimperten. Manchmal steuerte Clay auf dem Parkplatz das falsche Auto an (das Modell in »Graphitgrau« war sehr gefragt) und ärgerte sich, wenn die schlüssellose Fernbedienung versagte und die Tür sich nicht öffnen ließ.

Archie war sechzehn. Seine unförmigen Sneaker waren groß wie Brotlaibe. Er roch immer noch ein wenig nach Milch, so wie kleine Babys das tun, vermischt mit Schweiß und Hormonen. Um den Mix zu entschärfen, sprühte er sich Deo in das Gestrüpp unter seinen Achseln, einen Duft, wie er in der Natur nirgends vorkam und auf den sich irgendeine Probandengruppe auf der Suche nach dem maskulinen Ideal geeinigt hatte. Rose achtete schon ein bisschen mehr auf sich. Die volle Mädchenblüte warf ihren Schatten voraus, und ein Bluthund hätte unter der Schicht von preiswerter Anfängerkosmetik und künstlichen Apfel- und Kirscharomen, wie Pubertierende sie lieben, etwas Metallisches erschnüffelt. Sie stanken, wie alle Teenager stinken, aber man konnte ja schlecht mit geöffneten Fenstern über den Expressway fahren; das wäre viel zu laut. »Ich muss da rangehen.« Amanda hielt ihr Smartphone in die Höhe, um sie vorzuwarnen, dabei hatte niemand etwas gesagt. Archie war mit seinem Handy beschäftigt und Rose mit ihrem, sie spielten oder trieben sich in den elterlich abgesegneten sozialen Medien herum. Archie schrieb mit seinem Freund Dillon, dessen schwule Väter ihm die Scheidung versüßen wollten und ihm deswegen erlaubt hatten, den Sommer kiffend im Dachgeschoss ihres Sandsteinhauses in der Bergen Street zu verbringen. Rose hatte jetzt schon etliche Fotos der Reise gepostet, obwohl sie die Stadtgrenze kaum hinter sich gelassen hatten.

»Hey, Jocelyn …« Dass Telefone heutzutage wussten, wer anrief, machte alle Höflichkeitsfloskeln überflüssig. Amanda war Etatdirektorin, Jocelyn ihre Teamleiterin und, um es im modernen Bürojargon zu sagen, eine ihrer drei Untergebenen. Jocelyn hatte koreanische Eltern, war aber in South Carolina zur Welt gekommen. Amanda fand ihren breiten Südstaatenakzent ziemlich aufgesetzt, was aber natürlich so rassistisch war, dass sie es niemandem erzählen konnte.

»Tut mir leid, wenn ich dich störe …« Jocelyn klang ein wenig kurzatmig. Nicht Amanda flößte ihr so viel Respekt ein, sondern Amandas Position. Amanda hatte ihre Karriere in der Agentur eines cholerischen Dänen begonnen, dessen Halbglatze an eine Mönchstonsur erinnerte. Letzten Winter hatte sie den Mann zufällig in einem Restaurant wiedergetroffen, ihr war übel geworden.

»Kein Problem.« Nicht, dass Amanda besonders selbstlos gewesen wäre; der Anruf war eine Erleichterung. Sie wollte von ihren Kollegen gebraucht werden, wie Gott will, dass die Menschen beten.

Clay trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, womit er sich einen schiefen Blick von seiner Frau einfing. Er sah in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass die Kinder noch da waren, eine alte Gewohnheit aus früheren Zeiten. Archie und Rose atmeten gleichmäßig. Die Handys hatten auf sie einen ähnlichen Effekt wie diese bauchigen Flöten auf Kobras.

Niemand achtete auf die Landschaft rechts und links des Highways. Das Hirn stachelt die Augen auf, und irgendwann ersetzen die Erwartungen die Wirklichkeit. Piktogramme in Schwarz und Gelb, hügeliges Gelände, das an Sichtbetonfassaden endete, gelegentlich ein unspektakuläres Haus, ein Bahnübergang, ein Baseballfeld, ein Aufstellpool. Amanda nickte beim Telefonieren, nicht ihrer Gesprächspartnerin zuliebe, sondern um sich selbst zu beweisen, wie engagiert sie war. Manchmal vergaß sie vor lauter Nicken das Zuhören.

»Jocelyn …« Amanda suchte nach einem weisen Rat. Jocelyn brauchte eigentlich keinen Vorschlag, sondern nur ihren Segen. Die Arbeitshierarchie basierte auf Willkür, wie alles im Leben. »Das ist völlig in Ordnung. Ich halte das für eine sehr gute Idee. Wir sind noch unterwegs, aber du kannst jederzeit anrufen. Wenn wir da sind, könnte der Empfang allerdings schlecht sein, das Problem hatte ich letzten Sommer auch, weißt du noch?« Sie verstummte und schämte sich; wieso sollte Jocelyn sich an ihren Urlaub vom letzten Jahr erinnern? »Dieses Mal wagen wir uns noch weiter raus!« Sie versuchte, es lustig klingen zu lassen. »Aber ruf jederzeit an, oder schreib eine Mail, natürlich, kein Problem. Viel Erfolg.«

»Alles okay im Büro?« Clay konnte sich beim Wort »Büro« einen gewissen Unterton nicht verkneifen. Es stand beispielhaft für Amandas Branche, die er größtenteils – aber nicht ganz – zu durchschauen glaubte. Eine Ehefrau sollte ein eigenes Leben führen, und Amandas Leben hatte wenig mit seinem zu tun. Vielleicht waren sie nur deswegen so glücklich. Mindestens die Hälfte ihrer Freunde und Bekannten war inzwischen geschieden.

»Alles okay.« Eine von Amandas Lebensweisheiten lautete, dass ein gewisser Prozentsatz an Jobs kaum zu unterscheiden war. In allen schrieb man E-Mails, die die eigene Wichtigkeit unterstrichen. Ein Arbeitstag bestand aus mehreren Verlautbarungen zum laufenden Arbeitstag, aus bürokratischer Höflichkeit, siebzig Minuten Mittagspause, zwanzig Minuten Hin und Her im Großraumbüro und fünfundzwanzig Minuten Kaffeetrinken. Ihre Rolle in dieser Scharade fühlte sich abwechselnd lächerlich und wichtig an.

Der Verkehr war nicht so schlimm, aber das änderte sich, als der Highway sich zu einer Landstraße verengte. Wie der letzte, beschwerliche Teil der Heimreise eines Lachses, bloß dass es hier üppig grünen Rasen auf dem Mittelstreifen gab und kleine Einkaufszentren mit regenfleckigem Putz. Sie durchquerten von Latinos bevölkerte Arbeitergegenden und die weiße Halbwelt neureicher Handwerker, Inneneinrichter und Immobilienmakler. Die richtig wohlhabenden Leute lebten in einer fremden Sphäre, ähnlich wie Narnia. Man stieß nur zufällig darauf, wenn man sich versehentlich in lange, verkehrsberuhigte Zufahrtsstraßen verirrte, in Sackgassen mit holzverschindelten Villen und Blick auf einen Teich. Die Luft dort war ein süßer Cocktail aus Meeresduft und glücklichen Fügungen, außerdem meinte man sofort, einen Hauch von Oberklassewagen zu riechen, und man sah bildende Kunst vor sich und jene weichen Kissen, wie reiche Leute sie auf ihren Sofas auftürmen.

»Sollen wir anhalten und einen Happen essen?« Am Ende der Frage musste Clay gähnen, es klang wie ein ersticktes Glucksen.

»Ich bin am Verhungern.« Archie mit seinen Übertreibungen.

»Wir gehen zu Burger King!« Rose hatte eine Filiale entdeckt.

Clay konnte spüren, wie seine Frau sich verspannte. Sie legte großen Wert auf gesunde Ernährung (besonders für Rose). Er fing ihre Missbilligung auf wie ein Radargerät, das Gefühl glich dem Anschwellen kurz vor einer Erektion. Sie waren seit sechzehn Jahren verheiratet.

Amanda bestellte Pommes frites. Archie verlangte eine absurde Anzahl kleiner, frittierter Briketts aus Hühnerfleisch. Er kippte sie in eine Papiertüte, gab Pommes frites dazu, tropfte eine süße, klebrige braune Sauce aus einem Plastikschälchen darüber und kaute zufrieden.

»Ekelhaft.« Rose hatte etwas gegen ihren Bruder, weil er ihr Bruder war. Sie aß ihren Hamburger weniger manierlich, als sie glaubte, um ihren rosa Mund zog sich ein Kreis aus Mayonnaise. »Mom, Hazel hat ihren Standort mit mir geteilt. Kannst du es dir mal ansehen und mir sagen, wie weit das von uns weg ist?«

Amanda erinnerte sich an die erschreckende Lautstärke der trinkenden Neugeborenen an ihrer Brust. Das Saugen und Schlucken hatte wie das Gurgeln in einem Wasserrohr geklungen; die Kinder rülpsten teilnahmslos, ihre gedämpften Fürze knallten in die Windel wie nasse Feuerwerkskörper. Sie waren wie kleine Tiere, die sich für nichts schämten. Amanda streckte den Arm nach hinten und ließ sich Roses Handy geben, voller fettiger Fingerabdrücke und heiß vom Dauergebrauch. »Schätzchen, das ist nicht mal in der Nähe von unserem Haus.« Hazel war weniger eine Freundin als vielmehr ein Objekt der Begierde. Rose war zu jung, um es zu verstehen, aber Hazels Vater arbeitete als Investmentbanker bei Lazard. Die beiden Familienurlaube hatten vermutlich wenig miteinander zu tun.

»Sieh es dir wenigstens mal an! Du hast gesagt, vielleicht könnten wir sie besuchen.«

Solche Vorschläge machte Amanda, wenn sie nicht richtig zuhörte, und später bereute sie es dann, denn die Kinder erinnerten sich an jedes Versprechen. Sie betrachtete das Display. »Schätzchen, die sind in East Hampton. Mindestens eine Stunde entfernt. Mehr noch, je nachdem, an welchem Tag man fährt.«

Rose ließ sich hörbar enttäuscht auf den Sitz zurückfallen. »Kann ich bitte mein Handy wiederhaben?«

Amanda drehte sich um. Ihre Tochter war frustriert, ihr Gesicht gerötet. »Tut mir leid, aber ich will nicht wegen einer Verabredung zum Spielen zwei Stunden im Stau stehen. Nicht im Urlaub.«

Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Schmollen war wie eine Waffe. Verabredung zum Spielen! Sie war beleidigt.

Archie schaute seinem Spiegelbild in der Seitenscheibe beim Kauen zu.

Clay aß, während er fuhr. Falls sie bei einem Frontalzusammenstoß umkamen, weil ein Siebenhundert-Kalorien-Burger ihn abgelenkt hatte, würde Amanda toben vor Wut.

Die Straße verengte sich weiter. Hin und wieder zweigten kleinere Wege von der Hauptstraße ab. Sie kamen an Verkaufsständen auf Vertrauensbasis vorbei; filzige grüne Pappschalen mit haarigen Himbeeren, die im eigenen Saft verschimmelten, daneben eine Holzkiste für den Fünfdollarschein. Alles leuchtete so grün, dass es fast ein bisschen verrückt war. Man wollte dieses Grün essen – aus dem Auto steigen, auf alle viere gehen und in die Erde beißen.

»Wir brauchen frische Luft.« Clay ließ die Fenster herunter, um den Gestank seiner furzenden Kinder entweichen zu lassen. Er musste abbremsen, die Straße war jetzt kurvig, verlockend wie eine sich wiegende Hüfte. Designerbriefkästen am Straßenrand gaben allen Vorbeikommenden einen Wink: Hier wohnen guter Geschmack und großer Reichtum, bitte fahren Sie weiter. Es gab nichts zu sehen, so dicht standen die Bäume. Schilder warnten vor Rehen. Die Tiere waren die Gegenwart von Menschen gewohnt und deshalb abgestumpft, sie stolzierten blindlings auf die Fahrbahn und merkten nichts. Die Kadaver lagen überall, haselnussbraun und vom Tod gebläht.

Hinter der nächsten Kurve leuchteten die Rücklichter eines Fahrzeugs. Archie hätte den korrekten Begriff schon mit vier gewusst: Schwanenhalsanhänger. Eine breite, leere, von einem zielstrebigen Traktor gezogene Ladefläche. Der Fahrer ignorierte sie mit der Nonchalance des Einheimischen, der einer invasiven Art begegnet. Der Anhänger rumpelte über die holprige Straße. Nach fast zwei Kilometern bog der Traktor auf einen Hof ab, und spätestens in dem Moment war der Ariadnefaden – oder was auch immer sie mit den Satelliten am Himmel verbunden hatte – gerissen. Das GPS wusste nicht mehr, wo sie sich befanden, und plötzlich waren sie auf die Wegbeschreibung angewiesen, die Amanda sich in weiser Voraussicht notiert hatte. Links, dann rechts, dann wieder links und der Straße einen guten Kilometer folgen, dann wieder links, drei weitere Kilometer, und zum Schluss rechts abbiegen. Sie hatten sich nicht verfahren. Nur fast.

2

Das Haus war ein weiß gestrichener Backsteinbau. Der Farbwechsel hatte für einen reizvollen Effekt gesorgt: Das Haus sah alt aus und zugleich neu. Massiv, aber elegant. Möglicherweise entsprach es damit einer uramerikanischen Sehnsucht, oder auch nur dem zeitgenössischen Wunsch, diese Art von Widerspruch in einem Haus, einem Auto, einem Buch, einem Paar Schuhe aufgelöst zu sehen.

Amanda hatte es bei Airbnb entdeckt. »Der perfekte Urlaub«, hatte da gestanden. Der plump-vertrauliche Ton der Anzeige nötigte ihr Respekt ab: Betreten Sie unser wunderschönes Haus am Ende der Welt. Sie hatte den Laptop, inzwischen warm genug, um Unterleibstumore auszubrüten, an Clay weitergereicht. Er hatte genickt und etwas Unverbindliches gemurmelt.

Amanda hatte auf dem Urlaub bestanden. Ihre Beförderung ging mit einer Gehaltserhöhung einher. Bald würde Rose auf die Highschool gehen und hinter einer Fassade der Genervtheit verschwinden. In diesem letzten Sommer waren die Kinder fast noch Kinder, selbst wenn Archie beinahe eins dreiundachtzig maß. Amanda konnte seine mädchenhaft hohe Stimme vielleicht nicht mehr hören, sich aber noch gut daran erinnern, ebenso wie an das Gewicht der kleinen Rose auf ihrer Hüfte. Es war eine Binsenweisheit, aber würde sie auf dem Sterbebett wirklich an den Abend zurückdenken, als sie die wichtigen Kunden in das alte Steakhouse in der 36. Straße eingeladen und sich nach dem Befinden ihrer Ehefrauen erkundigt hatte? Oder vielleicht nicht doch eher daran, wie sie mit den Kindern im Pool getobt hatte, an Chlorwassertropfen in dunklen Wimpern?

»Sieht nett aus.« Clay schaltete den Motor aus. Die Kinder schnallten sich ab, stießen die Seitentüren auf und sprangen auf den Kies der Einfahrt. Eifrig wie die Stasi.

»Geht nicht zu weit«, sagte Amanda, obwohl das Unsinn war. Es gab hier nichts, wo man hätte hingehen können. In den Wald vielleicht. Sie machte sich Sorgen wegen der Zecken. Beherzt dazwischenzugehen, gehörte einfach zum mütterlichen Repertoire, aber die Kinder achteten schon lange nicht mehr auf ihre Ermahnungen.

Der Kies knirschte unter Clays Ledersohlen. »Wie kommen wir rein?«

»Hier muss irgendwo ein Außensafe sein.« Amanda blickte aufs Handy. Kein Empfang. Sie befanden sich nicht mal in der Nähe einer Straße. Sie hielt sich das Ding über den Kopf, aber die kleinen Balken blieben leer. »Der Safe … hängt am Zaun neben dem Poolhaus. Der Code ist sechs, zwei, neun, zwei. Der Schlüssel passt in die Seitentür.«

Das Haus versteckte sich teilweise hinter einer dichten Hecke, vom Eigentümer offenbar voller Stolz in Form gebracht. Sie türmte sich auf wie eine Schneewehe, wie eine Wand. Der Vorgarten wurde von einem niedlichen weißen Lattenzaun begrenzt. Ein zweiter Zaun, dieser aus massivem Holz und Draht, umgab den Pool, weil das vermutlich die Versicherungsprämie drückte, und weil die Hausbesitzer um die Neugier der Rehe wussten; war man für ein paar Wochen nicht vor Ort, stolperte eines der dummen Tiere hinein, ertrank, blähte sich auf und platzte, und dann hatte man die Sauerei. Clay holte den Schlüssel. Amanda stand in der erstaunlich schwülen Nachmittagsluft und lauschte auf das Geräusch der fast perfekten Stille, das sie so vermisst hatte, beziehungsweise hatte sie das behauptet, weil sie in der Stadt wohnte. Irgendwo raschelte ein Insekt oder ein Frosch oder beides. Der Wind fuhr in die Blätter, es klang nach einem Flugzeug oder einem Rasenmäher, oder vielleicht war es auch nur der Verkehr auf dem fernen Highway, der so leise rauschte wie das Meer. Sie waren nicht am Meer. Nein, das konnten sie sich nicht leisten, aber wenn sie sich anstrengten, konnten sie es beinahe hören, wie zur Wiedergutmachung.

»Hier geht es rein.« Clay schloss die Tür auf und beschrieb den Vorgang unnötigerweise. Eine Marotte, die ihm bisweilen peinlich war. Im Haus herrschte eine Stille, wie es sie nur in teuren Häusern gibt. Die Stille kündigte von bleischweren, soliden Wänden mit in glücklicher Eintracht funktionierendem Innenleben. Das Atmen der zentral gesteuerten Klimaanlage, das Summen des betriebsbereiten, teuren Kühlschranks, die verlässliche Intelligenz der vielen Digitalanzeigen, die synchron die richtige Zeit anzeigten. Zur programmierten Stunde würde die Außenbeleuchtung anspringen; dieses Haus brauchte praktisch keine Bewohner. Die Dielenbretter des Fußbodens stammten aus einer alten Baumwollspinnerei in Utica und waren so sorgfältig verlegt, dass sie niemals knarzten oder ächzten. Die Fenster waren so sauber, dass sich jeden Monat mindestens ein Vogel verkalkulierte und mit gebrochenem Genick im Gras landete. Fleißige Hände hatten die Jalousien hochgezogen, das Thermostat eingestellt, alle Oberflächen poliert, das Staubsaugerrohr in die Sofaritzen geschoben und alle Reste von Tortillachips aus Bio-Blaumais und das eine oder andere Zehncentstück entfernt. »Hübsch ist es hier.«

Amanda streifte noch an der Tür die Schuhe ab; zum Thema Schuhe im Haus hatte sie eine feststehende Meinung. »Es ist wunderschön.« Die Fotos im Internet waren eine Verheißung gewesen, die sich nun erfüllte: die Pendelleuchten über dem Eichenholztisch, falls man abends puzzeln wollte, die Kücheninsel aus grauem Marmor, wie gemacht, um Teig darauf zu kneten, die Doppelspüle unter dem Fenster mit Blick auf den Pool. Der kupferne Wasserhahn an der Wand direkt über dem Herd, an dem man den Topf befüllen konnte, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Die Eigentümer dieses Hauses waren so reich, dass sie sich diese wohlüberlegten Details leisten konnten. Sie würde an der Spüle stehen und das Geschirr abwaschen, während Clay gleich hinter dem Fenster grillte, Bier trank und die Kinder beim Toben im Pool im Auge behielt.

»Ich hole unsere Sachen.« Der Subtext war klar: Clay würde eine Zigarette rauchen, sein heimliches Laster, das nicht mehr ganz so heimlich war.

Amanda schlenderte durchs Haus. Es gab ein großes Wohnzimmer mit Fernseher und Terrassentüren, die auf ein Holzdeck hinausgingen. Zwei kleine, in Aquamarin und Marineblau gehaltene Gästezimmer mit jeweils eigenem Zugang zum dazwischen gelegenen Bad. In einer Kammer ein Schrank voller Handtücher, daneben der Turm aus Waschmaschine und Trockner. Der lange Flur zum Elternschlafzimmer war mit gefälligen Strandfotos in Schwarz-Weiß dekoriert. Die Einrichtung war geschmackvoll, alle Stücke waren mit Bedacht gewählt: die Holzkiste, in der die hässliche Waschmittelflasche verschwand, die riesige Muschel, die als Seifenschale diente, das unberührte Seifenstück darin. Das Doppelbett war übergroß und hätte niemals durch das gewundene Treppenhaus ihrer Brooklyner Wohnung gepasst. Das dazugehörige Bad war komplett weiß (Kacheln, Becken, Handtücher, Seifen, weiße Schale mit weißen Muscheln) und verkörperte eine Traumvorstellung von Reinheit. Ideal, um der Realität der eigenen Exkremente zu entkommen. Alles ganz außergewöhnlich, und das für nur 340 Dollar pro Tag plus Reinigungsgebühr und Kaution. Vom Schlafzimmer aus konnte Amanda die Kinder sehen, die ihre Badeklamotten aus schnell trocknendem Lycra aus den Koffern gezerrt hatten und jetzt auf den friedlich blauen Pool zurannten. Archie, schlaksige Glieder und spitze Knochen, mit leicht vorgewölbter Brust und sprießenden braunen Wirbeln neben den rosa Brustwarzen. Rose mit Babyspeck und weichem Haar, der gepunktete Einteiler kniff ihr in die Leisten, darunter zeichnete sich deutlich der Schamhügel ab. Ein Schrei der Vorfreude, und dann landeten sie mit einem köstlichen Platschen im Wasser. Im Wald dahinter schreckte etwas hoch und kam aus dem Hintergrundbraun geflattert: zwei fette, tumbe Truthähne ärgerten sich über die Störung. Amanda lächelte.

3

Amanda bot sich an, einkaufen zu gehen. Auf dem Hinweg waren sie an einem Supermarkt vorbeigekommen, und nun nahm sie dieselbe Route zurück. Sie fuhr langsam und mit offenen Fenstern.

Im Laden war es eiskalt und sehr hell, die Gänge zwischen den Regalen waren breit. Amanda kaufte Joghurt und Blaubeeren. Sie kaufte Putenbrustaufschnitt, Vollkornbrot, Mayonnaise und diesen körnigen, schlammfarbenen Senf. Sie kaufte Kartoffelchips und Tortillachips und Fertigsalsa mit viel Koriander, obwohl Archie keinen Koriander aß. Sie kaufte Bio-Hotdogs und dazu die billigen Brötchen und gewöhnlichen Ketchup. Sie kaufte kalte, harte Zitronen, alkoholische Mixgetränke in Dosen, Tito’s Vodka und zwei Flaschen Rotwein zu je neun Dollar. Sie kaufte Spaghetti, gesalzene Butter und eine Knoblauchknolle. Dicke Speckscheiben, ein Kilo Mehl und Ahornsirup zu zwölf Dollar (die Glasflasche im Facettenschliff erinnerte an billiges Parfum). Sie kaufte ein Pfund gemahlenen Kaffee, dessen intensiven Duft sie sogar durch die vakuumverschlossene Packung riechen konnte, und Kaffeefilter der Größe vier aus Recyclingpapier. War die Umwelt egal? Ihr nicht! Sie kaufte drei Rollen Küchenpapier, Sonnenschutzspray und Aloe vera, weil die Kinder die blasse Haut ihres Vaters geerbt hatten. Sie kaufte diese teuren Cracker, wie man sie Gästen serviert, und dazu die normalen von Ritz, weil die alle am liebsten mochten, dazu bröckeligen weißen Cheddar, Hummus mit extra viel Knoblauch, eine luftgetrocknete Salami und jene Karotten, die so lange in der Schälmaschine herumfliegen, bis sie nur noch so groß sind wie Kinderfinger. Sie kaufte abgepackte Kekse von Pepperidge Farm und drei Becher von Ben & Jerry’s politisch unbedenklicher Eiscreme, eine Rührkuchenbackmischung von Duncan Hines und von derselben Marke ein Schälchen Schokoladenglasur mit rotem Plastikdeckel, weil sie als Mutter gelernt hatte, dass man an verregneten Urlaubstagen eine ganze Stunde mit Backen totschlagen kann. Sie kaufte zwei pralle Zucchini, einen Beutel Zuckerschoten und einen Strunk Grünkohl, so dunkelgrün, dass er fast schwarz aussah. Sie kaufte eine Flasche Olivenöl und eine Schachtel Donuts mit Streuseln von Entenmann; Bananen, eine Tüte weiße Nektarinen, zwei Plastikschalen Erdbeeren, ein Dutzend braune Eier, vorgewaschenen Spinat im Beutel, eine Plastikschale Oliven und grün-orange marmorierte Bio-Tomaten in knisterndem Zellophan. Sie kaufte drei Pfund Hackfleisch, zwei Tüten Hamburgerbrötchen mit mehlbestäubter Unterseite und ein Glas Pickles aus der Region. Sie kaufte vier Avocados, drei Limetten und einen sandigen Bund Koriander, obwohl Archie keinen Koriander aß. Der Einkauf kostete sie über zweihundert Dollar, aber egal.

»Ich glaube, ich brauche Hilfe damit.« Der junge Mann, der die Lebensmittel in braune Papiertüten packte, ging vielleicht noch auf die Highschool, vielleicht aber auch nicht. Er trug ein gelbes T-Shirt, hatte braune Haare und wirkte insgesamt eher quadratisch, wie aus einem Holzblock geschnitzt. Etwas regte sich, als sie seine Hände bei der Arbeit beobachtete, aber so war das im Urlaub, nicht wahr, man war erregt, alles schien möglich, auch ein Leben, das vollkommen anders war als das, was man normalerweise führte. Amanda könnte die mütterliche Verführerin spielen und auf dem Parkplatz des Stop & Shop an der warmen Zunge dieses gerade der Pubertät entwachsenen Angestellten saugen. Oder vielleicht war sie auch nur eine von vielen Frauen aus der Stadt, die zu viel Geld für zu viele Lebensmittel ausgaben.

Der Junge, oder vielleicht war er ein Mann, lud die Tüten in den Einkaufswagen und folgte Amanda auf den Parkplatz. Er stellte die Einkäufe in den Kofferraum, Amanda gab ihm fünf Dollar.

Dann saß sie bei laufendem Motor im Auto und überprüfte den Handyempfang. Der Endorphinrausch eintreffender E-Mails – von Jocelyn, Jocelyn und noch einmal Jocelyn, vom Leiter der Agentur und von einem Kunden, dazu zwei Rundmails des leitenden Projektmanagers – war fast so erregend wie der flüchtige Gedanke an den Tütenjungen.

In der Agentur hatte sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Amanda war erleichtert, denn andernfalls hätte sie sich Sorgen machen müssen. Sie schaltete das Radio ein, das Lied kam ihr vage bekannt vor. Sie hielt an der Tankstelle und kaufte eine Schachtel Parliaments für Clay. Warum auch nicht, sie waren im Urlaub. Später am Abend, nach Hamburgern, Hotdogs und gegrillten Zucchini, nach Schüsseln voller Eiscreme mit zerbröselten Keksen und vielleicht sogar ein paar geschnittenen Erdbeeren würden sie hoffentlich ficken. Nicht miteinander schlafen, das konnten sie auch zu Hause. In den Ferien wurde gefickt, dann wälzten sie sich verschwitzt und feucht in der aufregend fremden, teuren Bettwäsche anderer Leute. Anschließend würden sie nach draußen gehen, sich in den beheizten Whirlpool setzen und vom Wasser reinwaschen lassen, sie würden jeder eine Zigarette rauchen und sich unterhalten wie zwei Menschen, die seit vielen Jahren verheiratet sind: über Geld, über die Kinder, über Fieberträume von Wohneigentum (wie schön es wäre, so ein Haus zu besitzen!). Oder sie redeten gar nicht, das andere große Vergnügen in einer langjährigen Ehe. Sie könnten einfach fernsehen. Amanda fuhr zurück zu dem weiß gestrichenen Backsteinhaus.

4

Clay wickelte sich das Handtuch um die Hüften. Eine gläserne Doppeltür von innen aufzuschieben, fühlte sich irgendwie erhaben an. Im Haus war es kühl, draußen sehr warm. Die Bäume waren gestutzt worden, sodass ihr Schatten nicht an den Pool heranreichte. Von so viel Sonne konnte einem schwindelig werden. Clays nasse Füße hinterließen Abdrücke auf dem Holzboden, die in Sekundenschnelle trockneten. Er ging durch die Küche und zur Seitentür hinaus. Er holte seine Zigaretten aus dem Handschuhfach, hopste mit verzogener Miene über den heißen Kies. Vor dem Haus setzte er sich im Baumschatten auf den Rasen und rauchte. Er sollte ein schlechtes Gewissen haben, aber war diese Nation nicht auf Tabak gegründet worden? Rauchen verband einen mit der Vergangenheit! Es handelte sich um einen patriotischen Akt, früher jedenfalls, ähnlich wie Sklaven zu besitzen oder Cherokee zu töten.

Es war angenehm, halb nackt im Freien zu sitzen und sich von der Sonne und dem Wind auf der Haut daran erinnern zu lassen, dass man letztendlich auch nur ein Tier war. Clay hätte völlig unbekleidet dort sitzen können. Es gab keine Nachbarhäuser und keine Anzeichen von menschlichem Leben, ausgenommen der Verkaufsstand fast einen Kilometer die Straße runter. Früher waren sie oft zusammen nackt gewesen, Archie als zartes Bündel aus Knochen und Kichern zwischen ihnen in der Badewanne, aber so etwas gewöhnte man sich ab, es sei denn, man war ein Hippie.

Die Kinder am Pool waren nicht zu hören. Das Haus, das Clay von ihnen trennte, war gar nicht hoch, aber die Bäume absorbierten alle Geräusche wie Watte das Blut. Clay fühlte sich sicher, behütet, gehalten, und das Bollwerk von Hecke hielt die Welt auf Abstand. Er dachte an Amanda, wie sie, um eine würdevolle Haltung bemüht, auf der Luftmatratze im Wasser trieb (vergeblich; selbst Enten bekommen das nicht hin, die Wellenbewegung zieht alles ins Lächerliche) und dabei die Elle las. Clay löste den Handtuchknoten und ließ sich zurücksinken. Das Gras kratzte am Rücken. Er starrte in den Himmel. Ohne weiter nachzudenken – und doch irgendwie gedankenvoll –, legte er sich eine Hand auf die J.-Crew-Badehose und zupfte an seinem Penis, kalt und eingeschüchtert vom Wasser. Im Urlaub war man erregt.

Clay fühlte sich leicht und unbeschwert, und in der Tat belastete ihn derzeit nur wenig. Er hatte den Laptop mitgebracht, denn er sollte eine Buchkritik für die New York Times Book Review schreiben. Neunhundert Wörter wären ausreichend. In ein paar Stunden würde er seiner Familie eine gute Nacht wünschen, sich einen großen Wodka auf Eis einschenken und dann mit freiem Oberkörper auf der Terrasse sitzen. Das Licht des Bildschirms würde den Abend erhellen, er würde rauchen, die Ideen würden sich einstellen und damit auch die neunhundert Wörter. Clay war fleißig, aber zugleich (er wusste es selbst) ein bisschen faul. Er wollte gebeten werden, für die New York Times Book Review zu schreiben, sich tatsächlich hinsetzen wollte er nicht.

Clay war auf Lebenszeit berufen und Amanda eine leitende Angestellte, aber daheim hatten sie keine Holzböden und keine Klimaanlage. Der Schlüssel zum Erfolg waren immer noch Eltern, die zu ihrer Zeit erfolgreich gewesen waren. Immerhin konnten sie eine Woche lang so tun, als ob. Sein Penis reckte sich dem Himmel entgegen wie zum Sonnengruß, wippte und stand dann stramm beim Gedanken an das verlockende Haus. Marmorplatten, Miele-Waschmaschine, und schon bekam Clay eine Erektion. Sein Penis schwebte über seinem Bauch wie eine Kompassnadel.

Schuldbewusst drückte er die Zigarette aus. Er hatte stets ein Pfefferminzbonbon oder Kaugummi dabei. Er wickelte sich das Handtuch um die Hüften und ging zurück ins Haus. Der Mülleimer unter der Arbeitsplatte glitt auf Schienen heraus. Clay hielt die Kippe kurz unter den Wasserhahn (ein Horror, wenn das Haus abfackelte!) und vergrub sie dann im Abfall. Neben der Spüle stand ein Glasspender mit Zitronenseife. Vom Fenster aus konnte er seine Familie sehen. Rose war allein in ein Spiel vertieft, Archie machte Klimmzüge am Sprungbrett und hob den schlaksigen Körper dem Himmel entgegen. Seine knochigen Schultern schimmerten rosa wie halbgares Fleisch.

Manchmal überkam ihn beim Anblick seiner Kinder der Wunsch, etwas für sie zu tun. Ihnen ein Haus zu bauen, ihnen Pullover zu stricken, was auch immer. Ihr werdet von Wölfen verfolgt? Ich werde aus meinem Körper eine Brücke machen und euch über den Abgrund helfen. Seine Kinder waren das Einzige, was zählte, aber natürlich begriffen sie das nicht, denn so sah der Vertrag der Elternschaft es vor. Clay schaltete das Radio ein und lauschte einer Baseball-Liveübertragung. Eigentlich machte er sich nichts aus Baseball, aber die detaillierte Spielbeschreibung des Reporters war beruhigend, als würde einem eine Gutenachtgeschichte vorgelesen. Clay riss zwei Hackfleischpackungen auf und kippte das rohe Fleisch in eine große Schüssel – Archie allein aß drei Hamburger –, schnitt eine weiße Zwiebel klein, mischte sie unter und gab Salz und Pfeffer aus der Mühle dazu. Zum Schluss betröpfelte er das Ganze mit Worcestershiresauce, so vorsichtig, wie man sich Parfum aufs Handgelenk gibt. Er formte die Burger und legte sie auf einen Teller. Clay schnitt den Cheddar in Scheiben und die Brötchen auf. Das Handtuch drohte herunterzurutschen, schnell wusch er sich die rohen Fleischreste von den Händen und knotete es erneut fest. Er schüttete Kartoffelchips in eine Glasschüssel und trug sie nach draußen. Alles fühlte sich so vertraut an, als hätte er sein ganzes Leben lang in den Sommerferien in dieser Küche gestanden und Essen zubereitet.

»Abendessen ist gleich fertig«, rief er. Niemand reagierte. Clay drehte die Propangasflasche auf und hielt das Stabfeuerzeug an den Grill. Er stand halb nackt davor, wendete das rohe Fleisch und fühlte sich wie ein Höhlenmensch. Wie ein längst vergessener Urahn. Wer konnte schon wissen, ob nicht genau an dieser Stelle schon einmal ein Mensch gestanden hatte? Vor Tausenden oder vielleicht auch nur Hunderten von Jahren, ein Irokese mit nackter Brust und ledernem Lendenschurz, der im Feuer stocherte, damit sein Fleisch und Blut sich von Fleisch und Blut ernähren konnte? Bei der Vorstellung musste Clay lächeln.

5

Zum Essen setzten sie sich auf das Holzdeck. Alle waren nachlässig bekleidet, die Szene war ein Durcheinander aus grellbunten Handtüchern und ketchupverschmierten Papierservietten. Hamburger so groß wie Hockeypucks auf fluffigem Brot. Besonders Rose erlag dem säuerlichen Charme der Essigchips, an ihrem fettglänzenden Kinn klebten Krümel. Amanda freute sich darüber, dass Rose manchmal wieder ein kleines Mädchen war. Doch ihr Verstand war das eine, der Körper etwas anderes. Es musste an den Hormonen in der Milch, in der Nahrungskette, im Trinkwasser oder in der Luft liegen, wer wusste es schon.

Es war immer noch warm. Die Eltern verzichteten darauf, die Kinder unter die Dusche zu schicken. Stattdessen durften die beiden sich auf dem karierten Stoffsofa ausstrecken, Archie schmächtig und Rose pummelig, sichtbare Rippen und hier und dort ein Muttermal, fleischige Arme und flaumiges Kinn. Rose wollte Zeichentrickfilme schauen, die Archie insgeheim beruhigend fand – er sehnte sich nach seiner Kindheit! Von der klimatisierten Luft bekam er eine Gänsehaut, das Sofa war weich und fremd, sein Verstand und seine Lippen waren schwer und träge von der Hitze oder von der körperlichen Anstrengung. Er war zu müde, um aufzustehen und sich einen weiteren Hamburger zu holen, das Fleisch war längst kalt geworden und lag in einer Pfütze aus Ketchup, außerdem hätte er es im Stehen in der Küche essen müssen, barfuß auf den kalten Fliesen. Gleich, dachte er, während sein Körper, hungrig von den vielen Stunden im Wasser oder vielleicht auch nur vom langen, beengten Sitzen im Auto, unentwegt um Nahrung bettelte. In letzter Zeit war das ständig so.

Amanda ging duschen. Der Duschkopf hing oben an der Decke, das Wasser rieselte herab wie Regen. Sie stellte die Temperatur so hoch wie möglich ein, um die letzten Reste von Sonnenschutz abzuspülen. Die Cremes rochen unangenehm chemisch, aber vorbeugen war besser als heilen und so weiter. Amandas Haar war weder kurz noch lang, sie trug keinen Pony und sah jünger aus, als sie war, was im Job keinen Vorteil bedeutete. Zwei unterschiedliche Arten von Eitelkeit trafen aufeinander: Einerseits wollte sie kompetent erscheinen, andererseits wollte sie sich ihre Mädchenhaftigkeit bewahren. Amanda wusste, sie wirkte wie die Frau, die sie war. Man merkte es ihr schon von Weitem an. Ihre Haltung, ihr Auftreten, ihre Kleidung und ihre Frisur verrieten, wer sie war.

Ihr Leib hatte immer noch Sonnenwärme gespeichert. Der Pool war warm wie eine Badewanne und hatte ihr kaum Abkühlung gebracht. Ihre Glieder fühlten sich köstlich schwer an, sie wollte sich hinlegen und schlafen. Sie tastete jene Körperteile ab, die ihr am besten gefielen, nicht auf der Suche nach einer angenehmen Empfindung, sondern im Gegenteil als intellektuelle Übung, wie um sich zu bestätigen, dass alles noch da war – Schultern, Brustwarzen, Ellenbogen. Wie wunderlich, einen Körper zu besitzen, ein Gefäß, in dem man aufbewahrt wurde. Der Urlaub war dazu da, in den eigenen Körper zurückzufinden.

Amanda wickelte sich ein weißes Handtuch um den Kopf, wie eine Frau in einem alten Film. Sie verteilte Körperlotion auf ihrer Haut, schlüpfte in einen der weiten Baumwollslips, die sie nachts am liebsten trug, vor allem im Sommer, und in ein altes T-Shirt mit bedeutungslos gewordenem Logo. Unmöglich, die Herkunft ihrer irdischen Besitztümer nachzuvollziehen. Der T-Shirt-Stoff war so abgetragen, dass er glänzte. Amanda fühlte sich lebendig, und wenn nicht sexy, dann wenigstens wie ein sexuelles Wesen; die Vorfreude zählte mehr als der Akt selbst. Sie liebte ihren Mann immer noch, darauf kam es an, und er kannte ihren Körper – was sonst, sie waren seit achtzehn Jahren zusammen –, aber sie war auch ein Mensch und hätte gegen eine Abwechslung nichts einzuwenden.

Sie ging ins Wohnzimmer. Die Kinder lagen auf dem Sofa wie benommene, fette Odalisken. Ihr Mann saß über sein Handy gebeugt.

»Ab ins Bett, in zwanzig Minuten.« Amanda warf Clay einen vielsagenden Blick zu, dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Sie streifte den Slip ab und kroch zwischen die kühlen, schweren Baumwolllaken. Die Vorhänge ließ sie offen – sollten sie doch zuschauen, die Rehe, die Eulen, die tumben, flugunfähigen Truthähne. Sie würde Clays immer noch beeindruckende Rückenmuskulatur bewundern (er ging zweimal pro Woche im New York Sports Club rudern), in die sie so gern ihre Finger krallte, sie würde den köstlichen Geruch seiner haarigen Achseln einatmen und seine geübten Zungenschläge bejubeln.

Das Haus war zu weit aus der Welt für Handyempfang, aber es gab WLAN. Das Passwort war absurd lang (018HGF234 WRH357XIO). Wer sollte draußen bleiben – die Rehe? Die Eulen? Die tumben Truthähne? Sie tippte aufs gläserne Display und gab den Code ein, der ihr so willkürlich erschien wie ein Ouija-Brett oder ein Rosenkranz, und dann stand die Verbindung, und die E-Mails trudelten ein und stapelten sich übereinander. Einundvierzig! Sie fühlte sich so gebraucht, so vermisst, so geliebt.

In ihrem privaten Account konnte sie nachlesen, welche Konsumgüter im Ausverkauf waren, dass der Buchclub, dem sie längst schon hatte beitreten wollen, ein Treffen im Herbst anvisierte, und dass der New Yorker einen Artikel über einen bosnischen Filmemacher brachte. Das Arbeitspostfach war voller Fragen und Sorgen, Amanda wurde um Anteilnahme gebeten, um ihre Meinung und ihren guten Rat. Alle hatten ihre automatische Antwort erhalten, in der Formulierung ebenso fröhlich wie bestimmt, aber nun brach sie ihr Versprechen, sich gleich nach dem Urlaub zurückzumelden. Nein, lass X. Ja, schreib Y eine Mail. Frag Soundso nach diesem und jenem. Vergiss nicht, bei dieser Person in jener Frage nachzuhaken.

Ihre Arme begannen zu kribbeln, es war anstrengend, das kleine Handy in die Höhe zu halten. Sie drehte sich auf den Bauch, das Laken war jetzt körperwarm, sie spürte die eigene Körperwärme an der Vulva. Sich im Bett zu wälzen, war wie Masturbation. Sie war sauber, sie war bereit, etwas Schmutziges zu tun, aber zuerst musste sie die vielen E-Mails abarbeiten und sich ablenken, bis Clay zu ihr kam. Er roch nach heimlich gerauchten Zigaretten, und nach den Zitronenscheiben im Wodka.

Unter der heißen Dusche war ihr Rückgrat so weich geworden wie Butter bei Zimmertemperatur. Weil sie gelegentlich zum Vinyasa ging, hatte sie ein Gespür für das eigene Skelett entwickelt. Sie entspannte sich. Sie nahm Abstand von ihrem üblichen Entschluss, nicht das Schmutzigste zu tun, was ihnen im Bett einfiel. Sie ließ zu, dass er die Finger in ihre Haare schob und ihren Kopf mit sanftem Druck aufs Kissen drückte. Ihre Kehle war ein Korridor, eine zu füllende Leere. Sie gestattete sich, ein wenig lauter zu stöhnen als zu Hause, weil ein langer Flur sie von den Kinderzimmern trennte. Sie drückte den Rücken durch und hob sich seinem Mund entgegen, und später – es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dauerte aber nur zwanzig Minuten – nahm sie seinen geschrumpften Penis in den Mund und staunte über den eigenen Geschmack.

»Verdammt.« Clays Atem ging pfeifend.

»Du musst mit dem Rauchen aufhören.« Sie machte sich Sorgen um sein Herz. Sie waren nicht mehr ganz jung. Jede Mutter fragt sich, was der Verlust eines Kindes bedeuten würde; für den theoretischen Verlust des Ehemanns hatte Amanda keine Gefühle mehr übrig. Sie würde wieder lieben, das redete sie sich ein. Er war ein guter Mann.

»Mache ich.« Clay meinte es nicht ehrlich. Das moderne Leben war ohnehin schon zu freudlos.

Amanda stand auf und streckte sich. Sie fühlte sich angenehm klebrig, wollte eine Zigarette rauchen. Der erste Schwindel würde sie auf Abstand bringen zu dem, was sie eben getan hatten, und das war nach Sex dringend nötig, selbst nach Sex mit einer vertrauten Person. Das war nicht ich! Sie öffnete die Terrassentür, die Nacht war erschreckend laut. Grillen oder irgendwelche anderen Insekten, das Knistern von Schritten – möglicherweise bedrohlich – im trockenen Laub unter den Bäumen am Ende des Rasens, ein lauer Wind, der alles in Bewegung versetzte. Vielleicht kam das Geräusch auch von der wachsenden Vegetation selbst, ein leises Knirschen wie von Gras, das sich aus der Erde schiebt, das herzschlagartige Pulsieren der Eichenblätter, durch die das Chlorophyll fließt.

Plötzlich hatte Amanda das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber da draußen konnte unmöglich jemand sein. Oder? Ein kurzes, unwillkürliches Erschaudern angesichts der gruseligen Vorstellung, und dann gewann die Erwachsenenillusion von Sicherheit wieder die Oberhand.

Nackt wie die Neandertaler schlichen sie hinaus, durch die Glastüren fiel ein schmaler Streifen Licht auf das Holzdeck. Clay wuchtete die Abdeckung vom Whirlpool, und dann ließen sie sich ins schaumige Wasser sinken. Clays Brillengläser beschlugen, er grinste zufrieden. Amandas Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Clays bleiche Haut hob sich krass davon ab. Sie sah ihn, wie er war, aber sie liebte ihn trotzdem.

6

Sie hatten vergessen, Cornflakes zu kaufen. Archie sehnte sich weniger nach einem bestimmten Geschmack als nach der Konsistenz von verarbeitetem, in Milch aufgelöstem Getreide. Er gähnte.