Innere Unsicherheit - Markus Kompa - E-Book

Innere Unsicherheit E-Book

Markus Kompa

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Beschreibung

Der rasante Polit-Thriller des Geheimdienstspezialisten und Anwalts Markus Kompa bewegt sich extrem nah an der Realität von Verfassungsschutz, BND und rechtem Parteiensumpf.

Dr. Ellen Strachwitz hat sich in einer von Männern dominierten Welt durchgesetzt. Als Chefin des Inlandsgeheimdienstes aber steht sie vor massiven Problemen. Nachdem die rechtspopulistische Partei (AEP) neuerdings in der Regierung sitzt, wird mit dem Abbau demokratischer Rechte nicht nur gespielt. Alte und neue Nazis machen mobil, bedrohen Andersdenkende und rüsten sich für einen Tag X auf, der aufgrund einer drohenden außenpolitischen Krise in greifbare Nähe rückt. Als schließlich Terroristen eine Ministerin entführen, die ausgerechnet der AEP angehört, werden die Schuldigen von der Berliner Politik umgehend im linken Lager verortet. Ellen gerät zwischen die Fronten, gewinnt ungewöhnliche Verbündete und setzt alles aufs Spiel – es kommt zum Showdown mit einem überraschenden Ausgang.

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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-780-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Markus Kompa

Innere Unsicherheit

Inhalt

Titel
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Organigramm

Einen Überblick über alle vorkommenden Behörden findet sich am Ende des Buches.

1

»Ich freue mich, dass Sie meine etwas kurzfristige Einladung angenommen haben. Auf Ihr Wohl, liebe Ellen!« Der ergraute Mann mit dem Menjoubärtchen erhob mit einem freundlichen Lächeln das Glas in Richtung seiner ein Vierteljahrhundert jüngeren Besucherin. Ellen erwiderte mit ihrer charmantesten Mimik, als ob sich das Paar zu einem privaten Anlass träfe. Der Privatkoch servierte beiden sensationell geratenes Lammfleisch, wies auf den bereitgestellten Nachtisch hin und zog sich zurück. Niemand würde das diskrete Gespräch in der im Wald gelegenen Villa belauschen, erst recht nicht die von Arno Breker gefertigten Statuen, die draußen in der Sommernacht den angelegten Teich säumten. Die Männer, die in den benachbarten Gebäuden auf dem hermetisch abgeschirmten Gelände rund um die Uhr professionell Gespräche aus aller Welt abhörten, verfolgten andere Zielpersonen.

Zuletzt Ende der 1960er Jahre hatten es etablierte Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) gewagt, ihren eigenen Präsidenten hier in dessen Dienstvilla in München-Pullach abzuhören. Damals hatte das mit Willy Brandt neu besetzte Bundeskanzleramt den erzkonservativen Spionen einen neuen Chef von außen verordnet. BND-Präsident Jens Fricke allerdings genoss bei seinen Leuten großen Rückhalt. Der alte Fuchs hatte sogar die Snowden-Affäre überstanden, die den BND bei der Bevölkerung Ansehen wie Vertrauen gekostet hatte. Der großväterliche Kavalier alter Schule hatte mit seinem charismatischen Auftreten, eleganten Maßanzügen und dank nachhaltiger Kontaktpflege zu einflussreichen Medienvertretern alle Klippen souverän umschifft.

Als Fricke seine Amtskollegin vom Inlandsgeheimdienst zu einer überraschenden Besprechung »wegen neuer Erkenntnisse über den Islamischen Staat« ausgerechnet für einen Samstagabend eingeladen hatte, war Ellen sofort klar, dass der wahre Anlass ein anderer sein würde. Während der Snowden-Enthüllungen vor drei Jahren hatte sich Fricke wegen der NSA-Verstrickung mit dem BND auf eine drohende Entlassung vorbereitet und Ellen diskret gebeten, sich für seine Nachfolge bereit zu halten. Damals wäre wegen der Empörung über den NSA-Skandal kein Bewerber aus dem BND politisch vermittelbar gewesen. Umgekehrt lag Fricke erkennbar daran, Kandidaten aus dem Bundeskanzleramt zu verhindern. Denn es war der ehrgeizige Kanzleramtsminister, der Deutschland unbedingt in den legendären »Five-Eyes-Club« bringen wollte, in dem die USA, Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Australien ihre Erkenntnisse teilten. Doch der Verrat von Geheimnissen der eigenen Bürger an die US-Geheimdienste war in der Bevölkerung inzwischen nahezu vergessen. Bei den Bundestagswahlen hatte Datenschutz für die Wähler keine Rolle gespielt, ebenso wenig waren im deutschen Geheimdienst Köpfe gerollt. Die Medien wandten sich ohnehin wichtigeren Themen zu wie der Bundesliga und dem Dschungelcamp.

Aus der Tatsache, dass er Ellen an seinen repräsentativen Dienstsitz eingeladen hatte, war zu schließen, dass der Taktiker sie nach wie vor noch als Kronprinzessin in Betracht zog. Die Karrierebeamtin, die 2004 das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum der deutschen Sicherheitsbehörden mit aufgebaut hatte, genoss als Behördenchefin des Bundesamts für Verfassungsschutz einen exzellenten Ruf. Vor einigen Jahren hatte sie die Leitung des ungeliebten Inlandsgeheimdienstes übernommen, als dieser den Tiefpunkt des öffentlichen Ansehens erreicht hatte. Das Bundesamt und die ostdeutschen Landesämter für Verfassungsschutz waren tief mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) verstrickt und mauerten bei der Aufklärung. Die charismatische Dr. Ellen Strachwitz hatte es nicht nur mit Sachverstand geschafft, den stets unheimlichen Inlandsgeheimdienst im Rahmen des Möglichen in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Erstmals seit Bestehen der umstrittenen Behörde nahm man diese dank ihrer telegenen Chefin in den Medien auch ab und zu positiv wahr.

Dennoch war Ellen im Verfassungsschutz selbst eine Fremde geblieben, was Fricke kaum entgangen war. Während das Überwachen der eigenen Bevölkerung als anrüchig galt, war die Leitung des für das Ausland zuständigen BND hingegen eine reizvollere Aufgabe. Die Koordination von geheimen Missionen in fremden Ländern war ungleich spannender als das Verwalten von heimischen Spitzeln. Der personalstärkste deutsche Nachrichtendienst baute gerade in Berlin das größte Bundesgebäude überhaupt und genoss in der Bevölkerung ein gewisses Prestige. Hier in Pullach, gleich neben dem Nobelviertel Grünwald, residierte der BND-Präsident in einer dreistöckigen Villa mit Holztäfelung und Kronleuchtern. Als einziger deutscher Beamter verfügte er sogar über einen Learjet, während selbst die Bundeskanzlerin sich die »Konrad Adenauer« mit anderen Spitzenbeamten teilen musste. Und er hatte Zugang zu mehr Geheimnissen als irgendjemand sonst im Staat. Selbst die Vorgesetzten im Bundeskanzleramt waren faktisch Bittsteller.

»Was gibt es denn so Neues vom Islamischen Staat?«, fragte Ellen mit dem für sie typisch ironischen Unterton. Fricke förderte einen USB-Stick aus seiner Tasche und schob ihn Ellen rüber. »Das hier sind neue Erkenntnisse der Partnerdienste. Sie können sie gerne auf dem Rückweg studieren. Mir geht es heute Abend nämlich mehr um den deutschen als um den islamischen Staat … Könnten Sie sich vorstellen, sich sehr kurzfristig beruflich zu verändern?«

Dass Fricke, ein leidenschaftlicher Schachspieler, so direkt auf seine Nachfolge zu sprechen käme, hatte Ellen nicht erwartet. Verlegen widmete sie sich zunächst ihrem Teller. »Ist das Thema denn noch aktuell? Der NSA-Skandal ist doch lange vorbei, und Sie haben bis zur Pension noch einige Jahre vor sich. Wer weiß, was dann sein wird?«

»Was ist, wenn ich Ihnen sage, dass mein Platz hier sehr bald frei wird?«

Ellen hatte keine Vorstellung, warum Fricke überraschend abtreten sollte, verkniff sich jedoch neugierige Fragen hierzu. Natürlich würde sie ein solches Angebot nicht ausschlagen, doch die Realistin wusste nur zu gut, dass man im Leben nichts geschenkt bekam. Schon gar nicht die Leitung über 6 000 karrierebewusste Geheimdienstler. Ellen wollte zum Weinglas greifen, entschied sich aber im letzten Moment für Wasser. »Würde man denn im BND eine Frau an der Spitze akzeptieren? Hier in Pullach soll in gewisser Hinsicht ja die Zeit stehen geblieben sein, hört man so …« Genauer wollte Ellen nicht werden, schnippte aber spöttisch an einen ihrer silbernen Ohrhänger.

Fricke lächelte verlegen. »Ja, wir haben hier beim BND nach wie vor auf allen Ebenen viel zu viele delikate Disziplinarverfahren, weil den Herren der Schöpfung ihre Rolle häufig zu Kopf steigt. Sie wissen selbst, dass qualifiziertes Personal im Geheimdienst ungleich schwerer zu bekommen ist als neue Sekretärinnen. Aber Sie werden sich schon Autorität verschaffen. Immerhin haben Sie sehr erfolgreich den Verfassungsschutz geleitet. Eine Frau an der Spitze des BND würde wohl automatisch einige zum Umdenken bewegen. Ob Sie es glauben oder nicht, auch in diesem Haus hier gibt es einen Generationenwechsel. Und als leidenschaftliche Tangotänzerin sind Sie im Nahkampf mit Männern doch wohl mehr als geübt, oder?«

Ellen entschied sich bewusst undiplomatisch für den direkten Angriff. Hätte sie an diesem Abend eine Brille getragen, hätte sie die jetzt demonstrativ abgenommen. »Jens, ich frage mich, warum Sie mich wirklich für Ihre Nachfolge in Betracht ziehen.«

Statt einer Begründung schwieg sie Fricke provokant grinsend an. Gespannt wartete sie, welchen Kuhhandel der beste Präsident, den der BND je hatte, ihr antragen würde.

»Aber Ellen, das wissen Sie doch. Meine Vertrauten hier im BND sind gegenüber dem Bundeskanzleramt chancenlos, und von dort will man bei uns niemanden sehen. Sie hingegen haben schon einmal einen Geheimdienst aufgeräumt und werden dem BND etwas geben, was ihm so sehr fehlt: Glamour!« Ellen lächelte verlegen, ihr Schweigen und ihre Blicke verrieten jedoch, dass sie sich damit nicht abspeisen ließ. Fricke grinste diplomatisch zurück. »Na schön. Ich werde es Ihnen verraten, wenn Sie mir Ihre Zusage geben. Wenn man Sie in wenigen Tagen fragt, ob Sie mein Haus übernehmen werden, kann ich da mit Ihnen rechnen?«

Ellen griff nun doch zum Weinglas, um Fricke auf die Folter zu spannen. Vermutlich wusste der Schachspieler genau, dass sein Angebot eines baldigen Wechsels seinem Gegenüber mehr als gelegen kam. Schon einmal hatte Fricke einen Plan Ellens durchschaut, in einem politisch opportunen Moment den Schleudersitz beim Verfassungsschutz gegen das Amt der Innenministerin einzutauschen. Die Leitung von Deutschlands umstrittenster Behörde war ein undankbares Geschäft. Jahrelang hatte Ellen den Kopf für die Mitarbeiter hingehalten, die sich vor ihrer Zeit die Hände am NSU schmutzig gemacht hatten. Entweder war man der ungeliebte Spitzeldienst oder aber der Versager, wenn tatsächlich ein Terroranschlag passierte.

»Natürlich dürfen Sie mit mir rechnen!«

Zufrieden schenkte Fricke Wein nach. »Wir sehen im BND nicht nur ein Problem im Kanzleramt, sondern vor allem im Innenministerium. Schon seit Jahren versucht man dort, die Kontrolle über die Geheimdienste zu übernehmen. Wie Sie wissen, gab es zwischen Ihren Vorgängern und den Innenministern stets eine gewisse Distanz, insbesondere mit Schwerd. Obwohl das Innenministerium die vorgesetzte Behörde ist, war es Ihrem Haus stets gelungen, den Verfassungsschutz gegen jegliche Kontrolle von außen faktisch abzuschirmen. Als Ihr Vorgänger den Hut nahm, hätte der werte Herr Innenminister Schwerd die Stelle am liebsten mit einem eigenen Mann besetzt. Damit das nicht passiert, hatten wir uns damals für Sie eingesetzt. Formal gehörten Sie zum Innenministerium, sodass Schwerd schlecht etwas gegen Ihre Berücksichtigung sagen konnte. Und nun habe ich läuten hören, dass Schwerd jemanden für meine Nachfolge aufbauen will. Ich will jedoch mein Haus bestellt sehen, wenn ich es verlasse. Und für Schwerd-Fische ist darin kein Platz.«

»Jens, ich bin ein bisschen verwirrt. Wieso sollte jemand aus dem Innenministerium für die Leitung des Auslandsgeheimdienstes in Betracht gezogen werden?«

»Weil Schwerd ein Arschloch ist. Glauben Sie mir, er plant den BND mit einem Vertrauten zu besetzen, genau wie er es in seiner Partei gemacht hat. Seine langfristigen Ambitionen auf das Bundeskanzleramt sind ja kein Geheimnis. Ich weiß es ganz sicher, dass er die Dienste im Sack haben will und dass er sie für seine Zwecke missbrauchen wird. Sie trauen ihm ja auch nicht weiter, als Sie einen Kühlschrank werfen können. Aber ich werde ihm zuvorkommen. Aktuell sind seine Leute gebunden, auch der neue Koalitionspartner wird sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Ich werde dafür sorgen, dass die Kanzlerin die Stelle sofort neu besetzen und keine Zeit auf eine Nachfolgediskussion verschwenden wird. Wir werden Schwerd vor vollendete Tatsachen stellen, bevor er überhaupt Chancen für seine Spezis erkennt.«

»Wer ist denn ›wir‹?«

»Ein paar Geheimnisse werden Sie mir wohl lassen müssen.«

Ellen zog verschmitzt die Augenbrauen hoch. »Und wegen Ihrer Feindschaft mit Schwerd wollen Sie wirklich Ihre Karriere beenden?«

»Feindschaft? Dazu müsste Schwerd erst einmal wissen, dass ich sein Feind bin. Ich beabsichtige auch nicht, meine Karriere zu beenden. In ein paar Monaten geht unser Botschafter in Indien in Pension, ich habe gute Aussichten, ihn in seinem Amt zu beerben. In Indien wäre ich weit weg von Berlin. Mit unserer neuen Regierung werde ich wohl nicht wirklich warm werden, ich stamme aus einer anderen Zeit. Daher kommt mir ein baldiger kontrollierter Abgang gelegen. Bitte halten Sie sich bereit! Es wäre sehr ärgerlich, falls Sie dann etwa im Urlaub wären – so wie es Schwerd sein wird, wenn wir demnächst handeln …«

Ihr Schweigen verriet, dass sie noch immer nicht glaubte, dass Fricke ihr die spannendste Aufgabe im deutschen Staatsdienst ohne Gegenleistung zu Füßen legen würde.

»Eines aber müssen Sie mir versprechen: Wenn unser Plan aufgeht, müssen Sie mir einen Tango schenken.«

»Tango Argentino?«

»Was sonst?«

Ellen fuhr sich durchs Haar und erhob das Glas. »Auf den BND!«

»Auf den BND!«

2

Das Wasser war stockdunkel. Zwei Seemeilen vor dem Ziel tauchte Jörg zur Wasseroberfläche auf. Der Seegang des Indischen Ozeans und die Nacht erschwerten es ihm, den noch über eine Seemeile entfernten Frachter zu sichten. Das unter deutscher Flagge fahrende Containerschiff »Juanita« war vor zwei Tagen von somalischen Piraten geentert worden. Der Großteil der Crew hatte sich in einen speziellen Panikraum gerettet, der in den Ballasttanks versteckt war, doch die gefangenen Matrosen hatten unter Folter den Standort der getarnten Tür verraten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Piraten mit Werkzeugen zur restlichen Besatzung vordrangen.

Die deutsche Marine durfte zwar Piraterie verhindern, das Entern gekaperter Schiffe war ihr jedoch aus juristischen Gründen, die niemand verstand, untersagt. Ein Bundespräsident war einst zurückgetreten, nachdem er militärisches Eingreifen mit dem Schutz wirtschaftlicher Interessen gerechtfertigt hatte. Außerdem scheute die Politik das Risiko missglückter Geiselbefreiungen. Vor Ort war auch kein Boardingteam verfügbar, Kampftaucher der Kommandospezialkräfte der Marine hätte man erst aus Eckernförde einfliegen müssen – unrealistisch bei nur zu 25 Prozent einsatzbereiter Flugbereitschaft. Alle sechs U-Boote der Marine, die man für eine geheime Kommandoaktion brauchen konnte, waren derzeit nicht einsatzbereit. Normalerweise hätte man in dieser Situation die US-Marine angefragt, doch aus irgendeinem Grund wollte das Einsatzführungskommando der Bundeswehr das Problem lieber selber regeln – diskret.

Eigentlich war Jörg beim Heer für konventionelle Aufgaben abkommandiert, doch seine Vergangenheit beim KSK war für die Vorgesetzten trotz Vertraulichkeit bekannt. Als man ihm als dem erfahrensten Fachmann vor Ort die Leitung einer unkonventionellen Geiselbefreiung antrug, hatte er kategorisch abgelehnt. Als Profi kam für ihn nur ein eingespieltes Team mit exzellent ausgebildeten KSK-Kollegen infrage, nicht aber würde er mit Marineoffizieren improvisieren, deren Fähigkeiten er nicht aus erster Hand kannte. Stattdessen hatte er einen Alleingang angeboten. Entgegen aller Regeln hatte das Einsatzführungskommando den Plan akzeptiert.

Ein Piepton signalisierte, dass wieder Funkkontakt zur Einsatzleitung auf der »Zr. Ms. Karel Doormann« bestand. »Haifisch, bitte kommen!« Eine Drohne mit Nachtsichtfähigkeit überwachte seit Stunden, wer sich wo an Bord der gekaperten »Juanita« bewegte. Außer vier Piraten hatten sich die noch achtzehn weiteren offenbar zum Schlafen gelegt. Jörg, der unter seiner Sauerstoffmaske nicht reden konnte, betätigte die Ja-Taste am Handgelenk.

»Okay. An Bord ist alles unverändert. Zielpersonen ›Achim‹ und ›Bernhard‹ halten immer noch die Ankerwache, ›Cäsar‹ und ›Daniel‹ bewachen nach wie vor Deck und Geiseln auf der Brücke. Du hast grünes Licht. Dann viel Glück, Haifisch!«

Jörg korrigierte die leichte Kursabweichung auf dem Navigationsgerät, ließ sich von einem Tauchscooter drei Meter in die Tiefe ziehen und nahm Kurs auf das Zielobjekt.

Er machte sich keine Illusionen darüber, dass man seinen Alleingang wohl auch deshalb akzeptiert hatte, weil das Verteidigungsministerium im Fall eines letalen Verlustes mit ihm auch eine problematische Personalie elegant losgeworden wäre. Doch dieses Risiko akzeptierte Jörg, denn sein aktuelles Leben führte ohnehin zu nichts mehr. Der Einsatz bot ihm die Chance auf eine Rückkehr zum KSK, das für ihn sein Ein und Alles war. Ihn reizte allerdings nun einmal auch das Abenteuer und er wollte nicht nur den Helden spielen, sondern einer sein.

3

Regen klatschte an den Beton des Bundeskanzleramts. Das Gebäude fungierte nicht nur als Dienstsitz der Kanzlerin, vielmehr tagten dort neben dem Kabinett regelmäßig auch die Vertreter der Spitzen anderer Bundesbehörden.

Wie jeden Dienstag trafen sich in einem großen abhörsicheren Raum die Präsidenten der Nachrichtendienste des Bundes, des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei, der Generalbundesanwalt, die beamteten Staatssekretäre des Bundesinnenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des Auswärtigen Amtes und des Bundesjustizministeriums sowie des Bundeskanzleramts. Die Routinesitzung diente zum Informationsaustausch der beteiligten Behörden sowie zum Erteilen von ergänzenden Aufträgen und Weisungen durch die Bundesregierung.

Diesmal präsentierten die Staatssekretäre des Bundesinnenministeriums die Pläne für noch schärfere Polizeigesetze wie die Befugnis zur Onlinedurchsuchung, Präventivhaft und Bodycams. Vor allem die auf Big Data und künstlicher Intelligenz basierende Einschätzung von Verhalten, das sogenannte Predictive Policing, sollte künftig der Polizei die Arbeit erleichtern. Diesmal wurde das Speichern des Fingerabdrucks im Personalausweis propagiert, das aus Sicht von Bürgerrechtlern jeden Mensch auf eine Ebene mit auffällig gewordenen Kriminellen stellte.

Während die Ministerien normalerweise durch ihre Staatssekretäre vertreten waren, nahm überraschend Heimatministerin Felizitas Delius persönlich an der Sitzung teil. Die Kreation eines Heimatministeriums war ein Ergebnis der vor wenigen Wochen beendeten Koalitionsverhandlungen gewesen, den zähesten, welche die Bundesrepublik je gesehen hatte. Im Herbst 2017 hatte die rechtspopulistische Anti Euro Partei (AEP) mit einem Erdrutschsieg von über 27 Prozent die Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag gewonnen und schließlich mit der knapp unterlegenen Union koaliert. Parteichef Thürmer verfügte jedoch naturgemäß nicht über Personal mit Regierungserfahrung, insbesondere hätte sich die Union nicht auf einen AEP-Kanzler eingelassen. Vor dem Eindruck der unprofessionellen Regierungsübernahme des 2016 gewählten US-Präsidenten kam man überein, dem Land solches Chaos zu ersparen und die Kontinuität der Regierungsarbeit zu sichern. Zähneknirschend hatte die AEP schließlich der knapp unterlegenen Union die Position des Bundeskanzleramts sowie des Innenministers zugestanden. Vom Bereich des unionsgeführten Innenministeriums, das nach wie vor von Schwerd geführt wurde, hatte man aber in einem Kuhhandel für die AEP ein sogenanntes Heimatministerium mit bislang unklarem Aufgabenbereich abgespaltet.

Heimatministerin Delius war eine telegene Mittdreißigerin mit dunkelblond geflochtenem Haar, geheimnisvollen Augen und perfektem Auftreten. Während sich Rechtspopulisten häufig um Kopf und Kragen redeten und dumpfe Töne anschlugen, machte Newcomerin Delius stets eine zivile Figur und präsentierte ihre konservativen Themen mit Sachverstand, Eloquenz und Charme, dem weder politische Gegner noch TV-Moderatoren etwas entgegenzusetzen hatten. Als erfolgreiche IT-Managerin genoss die in Betriebswissenschaft promovierte Newcomerin Autorität und gesellschaftliches Ansehen. Den Grünen nahm Delius den Wind aus den Segeln, da sie nicht nur über ökologischen Sachverstand verfügte, sondern sogar Mitinhaberin eines Patents zur CO2-Aufforstung der Meere durch schwimmende Pflanzen war und vehement alternative Energien propagierte. Selbst Kabarettisten taten sich schwer, der erfolgreichen Unternehmerin am Zeug zu flicken. Wie auch die Bundeskanzlerin hatte sich Delius nie in innerparteilichen Streitigkeiten verfranzt, sondern offenbar lange genug am Fluss gewartet, um irgendwann die Leichen ihrer Feinde vorbei­treiben zu sehen.

Im Anschluss an die »Große Lage« am Dienstag trafen sich stets die Präsidenten der drei Geheimdienste, Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesamt für Militärischen Abschirmdienst, sowie des Bundeskriminalamts im siebten Stock zur sogenannten »Präsidentenlage«, wo man unter Führung des »Beauftragten für die Nachrichtendienste des Bundes«, Dr. Georg Klawitter, die sensibelsten Geheimnisse erörterte.

Klawitter war einst Ellens Stellvertreter im BfV gewesen, das er nach über zwanzig Dienstjahren faktisch kontrolliert hatte. In seinem Verantwortungsbereich hatte die umstrittene Beobachtung der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gelegen. Nachdem ihm nach dem NSU-Skandal die aus dem Innenministerium stammende Karrierebeamtin Ellen als neue Chefin vor die Nase gesetzt wurde, war die Zusammenarbeit lange gut gelaufen, bis es dann doch zu aufgestauten Rivalitäten kam. Vor vier Jahren jedoch war Klawitter ins Bundeskanzleramt zum Chef der Geheimdienste befördert worden. Ellens Verhältnis zu ihm war professionell, sie duzten sich noch unter vier Augen, aber seit dem Streit damals unterkühlt.

Erstaunlicherweise hatte Klawitter Ministerin Delius im Schlepptau. »Ich begrüße als neuen Gast der Präsidentenrunde Frau Ministerin Dr. Delius! Frau Delius wird zukünftig an unseren Sitzungen als Beobachterin teilnehmen. Dieses Recht wurde der AEP in den Koalitionsverhandlungen zugestanden, allerdings ist ihre Teilnahme vorerst streng geheim.«

Die anderen Anwesenden wechselten ungläubig Blicke.

»Ist denn Frau Dr. Delius für den Zugang irgendwelcher eingestufter Informationen überhaupt sicherheitsüberprüft?«, erkundigte sich BND-Chef Fricke. »Schließlich erörtern wir hier höchst sensible Staatsgeheimnisse, deren Bekanntwerden den Bestand der Bundesrepublik gefährden können.«

»Das muss sie nicht!«, dozierte Ellen, deren Behörde auch für die Sicherheitskontrolle von Beamten mit Zugang zu Verschlusssachen zuständig war. »Die Frau Ministerin istals Mitglied eines Verfassungsorgans keine vom Sicherheitsüberprüfungsgesetz betroffene Person.«

Frau Delius lächelte verschmitzt herüber. Das Charisma, das man der ungewöhnlichen Politikerin häufig zugestand, konnte Ellen nun ebenfalls bestätigen.

»Dann werden wir uns mal auf die schönen Augen von Frau Delius verlassen müssen«, stichelte Fricke.

»Danke, Frau Dr. Strachwitz! Sie waren letzte Woche beim Treffen der Landesämter für Verfassungsschutz zur Koordination der Abteilungen für Linksterrorismus. Bitte tragen Sie vor!«

»Am Donnerstag haben wir in Leipzig die bisherigen Ergebnisse bei der Gründung neuer linker Zellen erörtert,« referierte Ellen. »Vor dem Hintergrund der Ereignisse des letzten Jahres sowie der Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts hat die Gefahr des in den letzten zwanzig Jahren kaum militanten Linkextremismus deutlich zugenommen. Wir verzeichnen einen erheblichen Zulauf bei antifaschistischen Gruppierungen, die häufig auch gewaltbereite, meist junge Personen anziehen. Wir beobachten derzeit eine bundesweite Serie von Anschlägen auf Autos von AEP-Politikern, zu der wir derzeit keine Ermitlungsansätze haben. Erfolge sind jedoch im Ausbau der Vorfeldaufklärung zu verzeichnen. Es ist den Kollegen in Frankfurt gelungen, zwei neue, voneinander unabhängige Zellen zu gründen, die von der Szene offenbar akzeptiert werden. Auch in München und Stuttgart sind wir auf einem guten Weg. In Berlin, Hamburg und Dresden ist das Potential für Gruppierungen in der linken Szene zwar bereits gesättigt, aber wir haben dort viele V-Leute an qualifizierten Stellen platzieren können. In NRW konzentrieren wir uns auf den Raum Dortmund, wo inzwischen das Bundesamt eine nativ gewachsene linksextreme Struktur durch V-Leute infiltriert und unter Kontrolle gebracht hat. In Hannover steht die Gründung einer autonomen Gruppe bevor, die Anspruch auf bundesweite Geltung erheben wird und entsprechende Aktionen plant. In München haben wir ein parteiübergreifendes Bündnis gegen den dort geplanten AEP-Parteitag gegründet. Insoweit steht derzeit ein Undercover-Mann meiner Behörde vor Gericht, weil er beim Diebstahl von AEP-Wahlplakaten erwischt wurde. Das wird ihm zweifellos weitere Streetcredibility einbringen.«

»Entschuldigung …«, unterbrach Delius. »Habe ich das gerade richtig verstanden, dass der Verfassungsschutz linksextremistische Zellen selber gründet? Und dass Ihre Mitarbeiter unsere Wahlplakate abreißen und sogar ein Bündnis gegen unseren Parteitag initiieren?«

Die Geheimdienstchefs sahen erst einander und dann Klawitter an, der schließlich Ellen ein Zeichen gab.

»Aber ja. Natürlich machen wir das! Das Gründen extremistischer Organisationen gehört zum Standardverfahren jedes Geheimdienstes. Es wäre bedeutend schwieriger, wenn wir erst das Entstehen solcher Gruppierungen abwarten und dann versuchen müssten, von außen in gefestigte Strukturen einzudringen. Das Unterwandern fremder Gruppen etwa wäre dann sogar nahezu unmöglich, wenn diese kein neues Personal mehr akzeptieren und sich konspirativ verhalten, wie etwa diese Autoanzünder, die Ihrer Partei ja gerade so viel Ärger machen. Seit Wochen fackeln unbekannte Personen bundesweit Autos von AEP-Politikern ab, hinterlassen ein Bekennerschreiben ›Nie wieder 33!‹, aber sonst keinerlei Spuren. Wenn sich aus diesen Aktivisten langfristig eine für Menschen gefährliche Organisation entwickelt, wird ein Eindringen sehr schwierig sein. Dort wird man im Zweifel keine Neumitglieder werben oder akzeptieren. Daher stellen wir sozusagen Honigtöpfe für gewaltbereite Personen auf, um solche Bewegungen von Anfang an auf der Führungsebene zu kontrollieren. Gerade vor Ihrem Parteitag sind solche Informationen wertvoll, um das Sicherheitskonzept von an Anfang an effizient zu planen.«

»Seit wann gründet der Verfassungsschutz denn selbst terroristische Organisationen?«, erkundigte sich Delius erstaunt.

Die Geheimdienstchefs tauschten erneut betreten Blicke aus, Klawitter nickte Ellen zu.

»Das ist ein Standardverfahren aller Geheimdienste. Fast alle extremistischen Gruppierungen seit den 50er Jahren waren ursprünglich solche Sting-Operationen des Verfassungsschutzes. Wenn sich dann tatsächliche Gewaltbereite den so legendierten Gruppen anschließen, hat man sie von Anfang an unter Kontrolle. Daher ist es nachrichtendienstlich wertvoll, solche Organisationen so früh wie möglich zu gründen und sie so lange wie möglich laufen zu lassen. Um unsere Methode zu schützen, nehmen wir kleinere und manchmal auch größere Delikte in Kauf.«

»Hatten Sie etwa auch die Rote Armee Fraktion gegründet?«

Die übrigen Anwesenden sahen verschämt zu Boden, Klawitter seufzte und nickte Ellen erneut zu.

»Das ist nach wie vor ein sehr sensibles Staatsgeheimnis. Ja, der Verfassungsschutz hatte die linksextremen Bewegungen ganz am Anfang weitgehend unter Kontrolle, auch später hatte man weitaus mehr V-Leute in der RAF, als bislang öffentlich bekannt ist. Haben Sie sich denn nie gewundert, warum bei der RAF die Zünder von Sprengsätzen so häufig versagten? Einige Attentate hat der Verfassungsschutz sogar selbst inszeniert, etwa den Sprengstoffanschlag auf die JVA Celle. Auch die ganzen Neonazis hatten wir durch selbst gegründete Gruppen überwiegend eingehegt und etliche islamistische Anschläge verhindert.«

»Na schön. Aber ich frage Sie noch einmal: Sie als Geheimdienst befehlen Ihren Leuten, unsere Plakate zu sabotieren?! Als Staat greifen Sie zu unseren Lasten in den Wahlkampf ein?«

»Aber selbstverständlich! Ich würde auch zulassen oder sogar anordnen, dass man Ihr Auto anzündet, wenn man hierdurch einen V-Mann plausibel legendieren könnte. Wenn es hilft, Personen zu finden, die einen tödlichen Anschlag auf Sie verüben wollen, sind ein paar gestohlene Plakate mehr doch wohl das weitaus geringere Übel. Die RAF hat 34 Menschen getötet, darunter auch aufwendig geschützte Politiker. Es wären sehr viel mehr Tote zu beklagen gewesen, hätte der Verfassungsschutz nicht mit V-Leuten weitgehend mitgespielt. Wir können nicht abwarten, bis etwa diese ›Nie wieder 33!‹-Leute eines Tages nicht nur Autos anzünden, sondern vielleicht auch Menschen töten. Also beobachten und unterstützen wir solche Organisationen und nehmen kleine Straftaten in Kauf, um größere zu verhindern. So arbeiten nun einmal Geheimdienste.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich das wirklich gut finde. Sie züchten extremistische Gruppierungen, die es ohne den Verfassungsschutz nicht gäbe.«

»Das tun wir doch in Ihrem ureigensten Interesse. Sie brauchen nur auf Twitter zu gehen, um zu erfahren, wie viele Leute Ihnen persönlich den Tod wünschen. Wenn ein Bombensatz erst einmal gelegt ist oder ein Schütze mit einem Präzisionsgewehr auf Sie zielt, wäre es zu spät, irgendetwas zu unternehmen. Jeder Teenager könnte eine Nagelbombe an eine Drohne hängen und bei einer Wahlkampfveranstaltung ins Ziel fliegen. Die beste Chance, die wir haben, sind die Vorfeldaufklärung und Vorfeldkontrolle.«

»Bei der RAF und dem NSU scheint dieses Konzept ja dann wohl deutlich aus dem Ruder gelaufen zu sein! Was macht Sie denn so sicher, dass sich Ihre Züchtungen nicht ebenfalls wieder selbständig machen?«

»Wir waren bei der RAF deutlich effizienter, als es der Öffentlichkeit bekannt ist, und heute haben wir moderne Überwachungstechnik. Zu Zeiten der RAF telefonierte man noch mit der Wählscheibe. Wir haben heute im Zeitalter von Smartphone, Big Data und Social Media dramatisch andere Möglichkeiten der Früherkennung und Überwachung.«

»Beim NSU hat das bekanntlich aber nichts genutzt! Die haben weder telefoniert noch Smartphones benutzt. Bereits im Nordirlandkonflikt in den 70er und 80er Jahren haben sich die IRA-Terroristen so konspirativ verhalten, dass keine Abhöraktion erfolgreich war. Sie haben ihre Besprechungen nicht in Häusern und nicht einmal in Autos gemacht, weil sie wussten, dass dort Abhörvorrichtungen installiert werden können. Warum sollten moderne Terroristen nicht auch lieber ihre fünf Sinne benutzen?«

Ellen war beeindruckt. Die Ministerin hatte ihre Hausaufgaben gemacht.

»Nach heutigem Stand der Technik würden sie erst recht auffallen. Wer sich heute ohne Handy bewegt, Benzin mit Bargeld bezahlt, nichts im Internet bestellt und keine Mails verschickt, macht sich automatisch verdächtig. Jeder Mensch unter 60 Jahren hat heute eine Social-Media-Story, bei der es auffallen würde, wenn sie abbricht. Oder Junge Leute, die nicht alle zwei Minuten ihr Smartphone checken, fallen aus dem Raster. Wenn heute jemand in den Untergrund geht, bemerken wir das digitale Schweigen sofort!«

»Entschuldigen Sie, meine Damen,« unterbrach Fricke paternalistisch. »Ist das hier die Präsidentenrunde, oder ist das der Anfängerkurs in der Spionageschule? Ich hätte nämlich noch dringende Sachen, die ich gerne erledigen würde.«

»Warum machen Sie nicht einfach einen Antrittsbesuch in meiner Behörde?«, rettete Ellen die peinliche Situation. »Dann nehme ich mir gerne die Zeit, Sie umfassend über unsere Arbeit zu informieren.«

»Sehr gerne«, konterte Delius lächelnd. »Ich komme dann morgen um 11.00 Uhr bei Ihnen in Köln vorbei. Sie können das doch einrichten?« Mit ihrer autoritären Verfügung über Ellens Terminkalender hatte Delius elegant kommuniziert, wer ihrer Ansicht nach Koch und wer Kellner war.

»Selbstverständlich!«, erwiderte Ellen lächelnd und verdrängte den Gedanken an das zu erwartende Unverständnis ihrer Kollegen darüber, dass sie der morgen anstehenden Beerdigung eines verdienten Verfassungsschützers fernbleiben würde. Das positive Arbeitsverhältnis zum politischen Personal hatte Vorrang.

4

Das Mehrzweckversorgungsschiff »Karel Doormann« galt Außenstehenden als solches der Königlichen Marine der Niederlande. Aufgrund eines zwar nicht geheimen, jedoch weitgehend unbekannten Partnerschaftsabkommens mit der Bundeswehr teilten sich beide Streitkräfte das 400 Millionen Euro teure Superschiff. Den wenigsten war die Existenz ausgerechnet dieses größten und modernsten Schiffs der Bundesmarine überhaupt bekannt. Das jederzeit mögliche Umflaggen der »Karel Doormann«, je nachdem, welcher Kapitän gerade auf der Brücke stand, erleichterte insbesondere die Tarnung heikler Missionen nach innen, indem man die Aufsichtsbehörden der jeweiligen Länder gegeneinander ausspielte. Gestern Nacht war offiziell nur ein »niederländisches Schiff« in der Nähe des deutschen Frachters »Juanita« gewesen.

Am Morgen fand sich Jörg ausgeruht beim Kapitän im abgeschirmten Funkraum ein. Pünktlich erschien auf dem Monitor der Führungsstab des Einsatzführungskommandos aus der Leitstelle bei Potsdam. Die Soldaten grüßten einander militärisch. »Herr Kapitän, wir sind schon sehr gespannt auf Ihren Bericht!«

»Um 02:18 Uhr MEZ betrat der Hauptfeldwebel verdeckt und ohne Hoheitszeichen das Zielobjekt. Zum Transport nutzte er einen Tauchscooter und ein Kreislaufsauerstoffgerät, beides von den niederländischen Kameraden gestellt. Unterstützt wurde er zu diesem Zeitpunkt nur von unserer Luftaufklärung, die eine Aufklärungsdrohne Luna X-2000 im Einsatz hatte. Der Hauptfeldwebel nutzte zum Boarding von der Wasseroberfläche aus eine pneumatische Harpune mit einem Seil und Greifhaken. Der Zutritt erfolgte am Bug, der vom Gegner nicht bewacht wurde, und blieb unbemerkt. Als Erstes blockierte der Hauptfeldwebel eine Tür zu einem Schlafraum, in dem neun Gegner nächtigten. Dann drang der Hauptfeldwebel durch eine Hintertür zu den beiden überlebenden Geiseln vor, evakuierte diese aus der möglichen Kampfzone in einen anderen Raum und leistete beiden erste Hilfe. Nach Sicherung des Raums griff der Hauptfeldwebel im Handstreich zwei Gegner an, welche die Nachtwache hielten. Der Hauptfeldwebel setzte beide durch Schläge mit dem Gewehrkolben außer Gefecht und fixierte sie mit Kabelbindern. Bei einem weiteren Handstreich gegen die Ankerwache kam es mit einem der beiden Gegner zu einem Gerangel, das ebenfalls ohne Gebrauch von Schuss- oder Stichwaffen beendet werden konnte. Nach Fixierung der Gegner drang der Hauptfeldwebel in die Offiziersräume ein, in denen der gegnerische Anführer mit vier Kämpfern übernachtete, und entwaffnete diese im Schlaf. Beim anschließenden Fixieren kam es zu weiteren Handgreiflichkeiten, allerdings konnte der Hauptfeldwebel auch hier das Überraschungsmoment nutzen und schließlich alle fixieren. Die Gegenseite erlitt mehrere Knochenbrüche, darunter einen Unterkieferbruch und zwei Rippenfrakturen, sowie fünf Gehirnerschütterungen. Um 02:57 Uhr traf per Schlauchboot ein vierköpfiges Team ohne Hoheitszeichen ein, sicherte den provisorisch blockierten Schlafraum der Piraten mit soliden Hindernissen und leistete medizinische Versorgung. Zudem wurde der verbarrikadierte Weg zum Rettungsraum geräumt und gesichert. Der vertäute Tauchscooter und das Kreislaufsauerstoffgerät wurden geborgen und umgeladen. Um 03:42 Uhr verließen sämtliche Einsatzkräfte den Frachter. Andere Spuren als die handelsüblichen Kabelbinder wurden nicht hinterlassen. Die Mannschaft wurde um 04:12 Uhr per Funk darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie den Schutzraum gefahrlos verlassen konnte. Mit dem Kapitän der Juanita haben wir uns dahingehend verständigt, dass es offiziell seine Mannschaft war, welche die Piraten überwältigt hat. Akten über den Vorfall wurden hier nicht angelegt. Das geliehene Gerät wurde den Holländern übergeben und ist offiziell nie bewegt worden. Die Aufzeichnungen der Drohne wurden zuverlässig gelöscht.«

»Danke, Herr Kapitän! Gratulation an den Herrn Hauptfeldwebel! Das war wirklich eine außergewöhnliche Leistung.«

»Danke, Herr Generalleutnant. Aber zu viel der Ehre! Ich habe ja alle aus dem Hinterhalt überrumpelt.«

»Wie Sie meinen. Eine Frage an den Herrn Hauptfeldwebel: Ist Ihnen an Deck irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

»Nein, Herr Generalleutnant.«

»Sie haben das Schiff vom Bug her betreten. Einige Container waren aufgebrochen. Haben Sie die Fracht gesehen?«

»Nein, Herr Generalleutnant. Ich habe mich auf meine Arbeit konzentriert.«

Natürlich hatte Jörg gesehen, was in den offenen Containern verborgen war. Waffen und anderes Kriegsgerät, offenbar Embargo-Güter aus deutscher Produktion, deren Lieferung in ein Krisengebiet untersagt war. Deutschland hatte eine lange Tradition, derartige Verbote pragmatisch zu unterlaufen. Und es gab kaum einen Krisenherd der Erde, an dem nicht mit deutschen Waffen geschossen wurde. Es war ein offenes Geheimnis, dass solche illegalen Geschäfte nach wie vor vom Bundesnachrichtendienst abgedeckt wurden. Die zahlreichen Skandälchen, die seit den 50er Jahren den Geheimdienst regelmäßig in Verlegenheit brachten, änderten nichts am System, allenfalls an der Tarnung. Jörg interessierte das nicht. Den meisten Deutschen waren Kriege in Ländern egal, die sie nicht einmal auf der Karte fanden. Politiker schätzten die Arbeitsplätze der heimischen Rüstungsindustrie, die sich wiederum durch Parteispenden und Posten in Aufsichtsräten für pensionierte Generäle erkenntlich zeigte.

»Gut, Herr Hauptfeldwebel. Wir danken für Ihren außergewöhnlichen Einsatz. Sie werden allerdings verstehen, dass wir Ihren Verdienst in keiner Akte verzeichnen können. Aber seien Sie unbesorgt, wir werden uns anderweitig erkenntlich zeigen!«

Jörg bewies ein Pokerface, tatsächlich aber war er hocherregt. Gleich würde ihm der Generalleutnant die Rückkehr in das KSK anbieten, die ihm nach den Vorfällen von 2013 aus Sicherheitsgründen versagt war.

»Wir geben Ihnen zusätzlichen Heimaturlaub, sodass Sie Gelegenheit für eine besondere Nebentätigkeit haben werden. Ich bin mir sicher, Sie werden zufrieden sein. Sie kennen ja wohl den Speidel-Bund?«

»Natürlich, Herr Generalleutnant.«

»Jemand vom Speidel-Bund wird sich bei Ihnen melden. Er möchte Sie gerne für einen privaten Lehrgang gewinnen. Da sind ein paar Zivilisten, die gerne einmal Kommandoeinsätze mit einem echten KSK-Mann trainieren möchten. Man wird Ihnen für ein Wochenende im Wald inklusive Kameradschaftsabend ein komplettes Monatsgehalt anbieten.«

»Danke sehr, Herr Generalleutnant.« Jörg verbarg seine Enttäuschung mit militärischer Disziplin.

5

An der Pforte des gut gesicherten Bundesamts für Verfassungsschutz in Köln-Chorweiler wartete die Hausherrin mit ihren vierzehn engsten Mitarbeitern auf die spontan anberaumte Visite der Heimatministerin.

Ellens Stellvertreter Georg Höch, inzwischen ihr engster Vertrauter im Verfassungsschutz, nahm seine Chefin beiseite. Dem knuffeligen Beamten mit markanter Hornbrille, Waschbärbauch und breitem hessischen Akzent konnte nichts die gute Laune und Herzlichkeit verderben, selbst wenn die Lage unerfreulich war. »Ellen, die Kollegen sind gerade ziemlich verärgert. Die meisten hätten dem Kollegen gerne die letzte Ehre erwiesen. Seine Witwe wird das nicht verstehen.«

»Glaubst du, mir macht das Spaß? Ich habe eigentlich keine Lust, sensible Geheimnisse des Verfassungsschutzes mit einer Amateurin teilen zu müssen. Und dann auch noch mit dieser …«

»Hat die eigentlich was dazu gesagt, dass wir die ›Jungen Eurokritiker‹ noch im letzten Jahr als Verdachtsfall eingestuft haben?«

»Mir gegenüber hat sie das noch nicht angesprochen. Soweit ich gehört habe, steckte sie persönlich hinter der plötzlichen Auflösung der ›Jungen Eurokritiker‹, damit wir sie nicht mehr beobachten können.«

»Seien wir mal froh, dass sie heute kommt und nicht nächste Woche. Ich weiß nämlich von einem Journalisten, dass der COMET gerade an einem Artikel über deine Anordnung von letztem Jahr arbeitet, dass im Verfassungsschutz keine Bewerber mit AEP-Parteibuch eingestellt werden dürfen.«

»Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es wohl dauert, bis das durchsickert. Ich warte, ehrlich gesagt, noch darauf, dass die Sache mit Regierungsrat Dr. Bindhard rauskommt.«

Höch zog die Schultern hoch. Vor zwei Jahren hatte Ellen den im Referat Rechtsterrorismus arbeitenden Bindhard in den Ruhestand versetzt, weil er seinen rechtsradikalen V-Leuten politisch zu nahe stand und dann schließlich der Union öffentlich eine Koalition mit der AEP empfohlen hatte – die nun Realität war.

Pünktlich um 11 Uhr traf die Wagenkolonne ein. Wegen des besonders hohen Gefährdungsstatus reiste die Ministerin in einem von zwei identischen Wagen, die von mehreren Polizeiautos und Motorradpolizisten eskortiert wurden.

»Frau Ministerin, herzlich willkommen hier bei uns in Köln! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?«, begrüßte Ellen ihren hohen Gast.

»Guten Tag, Frau Dr. Strachwitz. Danke für die Einladung!«

»Ich möchte Ihnen gerne mein Team vorstellen. Das hier ist mein Stellvertreter Herr Höch.« Doch die Ministerin reagierte auf Höchs herzliche Begrüßung kühl. Pflichtschuldig gab sie allen leitenden Verfassungsschützern die Hand.

»Eigentlich hatte ich nicht mit großem Bahnhof gerechnet. Das ist sehr nett von Ihnen allen, aber das persönliche Kennenlernen holen wir besser ein andermal bei einem formalen Antrittsbesuch nach! Heute aber habe ich leider nur für ein Gespräch mit Frau Dr. Strachwitz Zeit. Sie haben sicherlich auch Dringenderes zu tun, als Höflichkeiten mit der Politik auszutauschen.«

Ellen warf ihren düpierten Männern entschuldigend einen Blick zu, die innerlich wohl erleichtert waren, es vielleicht doch noch zur Beerdigung zu schaffen. Stillschweigend strich Ellen den geplanten Rundgang durch das zickzackförmige Gebäude aus den 1980er Jahren und begleitete Delius in ihr Büro. »Kommenden Monat werden wir den jährlichen Verfassungsschutzbericht präsentieren. Wir haben im letzten Jahr insgesamt 22 600 Rechtsextremisten gezählt, darunter 11 800 Gewaltorientierte. Dem standen 27 400 Linksextremisten gegenüber, von denen wir 7 700 als gewaltorientiert einstufen. Wir erwarten jetzt nach der Regierungsbildung mit der AEP durch die Polarisierung an den Rändern einen deutlichen Anstieg in der linksextremen Szene.«

»Wird es eine neue RAF geben?«

»Schwere Gewaltverbrechen aus dem linken Spektrum erwarten wir derzeit eigentlich nicht. Der letzte der RAF zugeschriebene Mord war 1993, körperliche Gewaltdelikte gibt es vorwiegend bei Demos. Seit der Wiedervereinigung gab es demgegenüber aber etwa mindestens 200 rechtsextreme Morde, sodass wir diese Szene deutlich intensiver überwachen. In letzter Zeit beobachten wir vermehrt Fälle im sogenannten Prepper-Milieu. Das sind Personen, die für schlechte Zeiten Nahrungsmittel, Medizin und Waffen horten, weil sie einen Tag X erwarten. Dieser Tag X ist meistens ein erwarteter Großkonflikt mit dem Islam, der angeblich die Revolution in Deutschland anstrebt. Prepper im rechten Milieu propagieren sogar, selbst gegen den Islam loszuschlagen. Beunruhigend ist, dass in letzter Zeit immer häufiger Waffen und Munition aus Beständen von Polizei und Bundeswehr verschwinden und offenbar in diesem Milieu landen. Aktuell haben wir keine Erkenntnisse darüber, ob diese Personen aus eigenem Antrieb handeln oder ob das irgendwie koordiniert wird. Weder war insoweit die elektronische Aufklärung ertragreich noch konnten wir bislang V-Leute an interessante Positionen einschleusen. Diese Szene ist extrem misstrauisch. Während wir den Großteil an aktiven Rechtsextremisten identifiziert haben, vermuten wir ein großes Dunkelfeld an eigentlich bürgerlichen Personen, die bei geeigneter Ansprache bereit wären, sich an gewaltsamen Aktionen oder privaten Bürgerwehren zu beteiligen. Da draußen schläft ein großer Drachen, der eines nicht so fernen Tages vielleicht geweckt werden könnte.«

Den Hinweis, dass etliche dieser problematischen Personen politisch zur AEP tendierten und der Hass, den auch die AEP und ihre Anhänger befeuerten, der Nährboden für mindestens verwirrte Alleintäter war, verkniff sich Ellen, um die Ministerin nicht zu düpieren. Delius verzog keine Miene.

»Und was dürfen wir von Islamisten in nächster Zeit erwarten?«

»Über Islamisten verfügen wir in toto über keine gesicherten Zahlen, wir rechnen jedoch mit über 25 000 islamistischen Fanatikern. 700 davon stufen wir als Gefährder ein, denen wir gemeingefährliche Attentate zutrauen. Außerdem beobachten wir diverse in Deutschland agierende ausländische Gruppierungen, zu denen wir 29 050 Personen identifiziert haben. Große Sorgen machen uns auch die Eigenmächtigkeiten des türkischen Geheimdienstes.«

»Hier laufen Leute rum, die den türkischen Staatspräsidenten für den rechtmäßigen Anführer von zwei Milliarden Muslimen halten!«

Ellen nickte. »Ja, wir haben das im Blick. Diese Leute sind aber von einer kritischen Masse noch weit entfernt und machen nur einen sehr geringen Teil der hier lebenden Moslems aus.«

»Ist das so? Ich hörte, die ›Grauen Wölfe‹ hätten in Deutschland 18 000 Mitglieder. Ist es nicht sonderbar, dass die größte rechtsextremistische Organisation in Deutschland türkisch ist?«

»Diese Zahl scheint mir etwas hochgegriffen zu sein. Wir nehmen die Situation ernst, zu Hysterie besteht jedoch kein Anlass. Die Leute leben ganz überwiegend friedlich nebeneinander, jedenfalls beobachten wir keine politische Kriminalität. Weitaus konkreter sind unsere Sorgen vor Wirtschaftsspionage, vor allem durch sogenannte Cyber-Angriffe aus dem Ausland. Unsere technischen und personellen Kapazitäten sind begrenzt, zumal diese Aufgabe absehbar das Bundesinstitut für Sicherheit in der Informationstechnologie übernehmen soll und sich fähige Informatiker lieber dorthin bewerben. Die Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung sind Ihnen als IT-Unternehmerin ja sicherlich bekannt.«

»Allerdings. Heute interessieren mich aber vorrangig Ihre Arbeitsmethoden. Immerhin überwachen Sie ja auch unsereins.«

»Da muss ich widersprechen. Gezielte Überwachung von Politikern wäre uns nur gestattet, wenn …«

»Danke, ich kenne die Rechtslage. Ich bin hier, weil ich Ihre Arbeitsweise so konkret wie möglich kennenlernen möchte!«

»Wo soll ich anfangen? Unser Methoden folgen in erster Linie den Aufgaben, die sich uns stellen, soweit die Rechtslage und insbesondere das Grundgesetz dies zulassen.«

»Sie haben neulich die Fähigkeiten Ihrer Behörde bei der elektronischen Überwachung gepriesen. Ist denn die elektronische Überwachung geeignet, Terroristen zu finden? Ich habe gehört, dass bei den ganzen NSA-Programmen so gut wie nichts herausgekommen ist. Wie ist Ihre Einschätzung?«

»Wir haben Vorgaben aus der Politik, wo man an die Segnungen von Vorratsdatenspeicherung und der Analysetools der NSA unerschütterlich glaubt und meint, beim Überwachen international mithalten zu müssen. Sicherheit lässt sich politisch nun einmal gut verkaufen! Und ja: Wenn man Zielpersonen quasi googeln kann, vereinfacht das natürlich tatsächlich unsere Arbeit im Alltag. Aber das hilft vorrangig dann, wenn wir Verdächtige bereits auf dem Schirm haben und diese zielgerichtet durchleuchten. Verrückte Einzeltäter, die überhaupt nicht kommunizieren, können mit dieser Methode erst recht nicht gefunden werden.«

»Hatten Sie denn nicht in Ihrer letzten Presseerklärung die Überwachungstechnologie über den grünen Klee gelobt?«

»Als brave Beamtin widerspreche ich nicht öffentlich der Linie meiner Bundesregierung. Aber mal unter uns: Um Gefährder wie die Nadel im Heuhaufen zu identifizieren, wie man es uns lange glauben machen wollte, ist die Massenüberwachung nicht effizient. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die NSA auch nur einen einzigen Terroranschlag verhindert hätte. Ich persönlich teile die Befürchtung, dass das Missbrauchspotential einen möglichen Nutzen dramatisch überwiegt. Aber wenn ich meinen Job behalten will, heule ich mit den Wölfen! Eine für uns sehr praktische Funktion hat die Massenüberwachung jedoch …«

»Nämlich?«

»Viele Ergebnisse, die wir von V-Leuten oder Partnerdiensten erhalten, legendieren wir der Presse gegenüber als solche der elektronischen Überwachung. So tarnen wir gleichzeitig unsere Quellen. Außerdem sind die Politiker happy, dass wir so ihren Glauben an die Massenüberwachung bestätigen, und wir erhöhen natürlich die Akzeptanz von Überwachung in der Öffentlichkeit. Wenn unsere scheinbar so kompetenten Journalisten unbesehen glauben, was ihnen der Geheimdienst auftischt, kann ich es auch nicht ändern!«

»Dass die Überwachung kein Allheilmittel gegen Terror ist, haben wir ja letzten Sommer in Hamburg bitter erfahren. Treiben Sie wirklich diesen Aufwand nur wegen Vorgaben aus dem Bundeskanzleramt?«

»Der Aberglaube an den Ertrag der Vorratsdatenspeicherung ist nun einmal europäischer Konsens. Wir können zwar keinen Terror ausfiltern, sehr wohl aber Rädelsführer politischer Strömungen, die der Staat als existenzbedrohlich betrachtet. In Wirklichkeit geht es weniger um Terror als um Aufstandsbekämpfung. In Europa und den USA befürchtet man, dass die Leute massenhaft auf die Straße gehen, weil ihnen so einiges missfällt. In Spanien sehen wir Spannungen bei den Katalanen, der Nordirland-Konflikt könnte durch den drohenden Brexit wieder aufflammen, in Griechenland ist es unruhig, in Frankreich registrieren wir starke soziale Spannungen, und hierzulande könnte durch die anhaltende Flüchtlingskrise aus der nächsten Pegida-Demo vielleicht eine bundesweite Massenbewegung werden. In einem Jahrzehnt erwarten wir zudem wegen des Klimawandels Masseneinwanderung aus dem Süden, aber auch eine Migration, die langfristig wegen der Erhöhung des Meeresspiegels von den Küstenbereichen ins Landesinnere erfolgen wird, bietet Spannungspotential. Die DDR war damals nicht auf eine dezentrale Revolution vorbereitet, wir aber werden es sein.«

»Dann haben wir von der AEP ja noch Glück gehabt, dass Sie uns nicht bekämpft haben! Oder haben Sie unsere Partei etwa auch bespitzelt? In der Linkspartei haben Sie ja offenbar V-Leute, dann ja wohl auch bei uns, oder?«

»Unsere Arbeit geschieht doch zu Ihrem eigenen Schutz! Wie wir im letzten Sommer gesehen haben, benötigen wir eine möglichst intensive Vorfeldaufklärung. Auch in politischen Parteien sickern nun einmal schräge Personen ein. Wenn wir eine Entwicklung für bedenklich halten, benötigen wir nun einmal V-Personen, die sich als zuverlässig erwiesen haben. Der Aufbau gegenseitigen Vertrauens ist eine langfristige Angelegenheit.«

»Sie verwenden vornehme Worte für das, was ich ›Spitzel‹ und ›Denunziant‹ nennen würde.«

»Geheimdienstarbeit ist nun einmal nicht durchgehend appetitlich.«

»Dann zeigen Sie mir doch mal, was Sie denn über mich so haben!«