Ins Herz geschrieben - Richard Rohr - E-Book

Ins Herz geschrieben E-Book

Richard Rohr

4,8

Beschreibung

Richard Rohr ist eine prophetische Stimme für spirituell suchende Menschen auf der ganzen Welt. Sein Buch über die Bibel ist in gewisser Weise eine Summe seines Lebens. Richard Rohrs herausfordernde Botschaft ist: Die Auslegung der Bibel hätte sich niemals abkoppeln dürfen von der lebendigen spirituellen Suche der Menschen. Rohrs Verbindung von Bibeltext und gegenwärtiger Erfahrung ist nichts weniger als ein Schlüssel, die ganze biblische Botschaft zu verstehen und sie als spirituellen Weg für die Gegenwart zu entdecken.

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RICHARD ROHR

Ins Herz geschrieben

Die Weisheit der Bibelals spiritueller Weg

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Bernardin Schellenberger

Impressum

Titel der Originalausgabe

Things Hidden. Scripture as Spirituality

2008, Franciscan Media (formerly St. Anthony Messenger Press)

Cincinnati, U.S.A.

© Richard Rohr und John Feister 2008

Deutsche Erstausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

Dritte Auflage 2010

Für die Taschenbuchausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Weiß-Freiburg GmbH − Graphik & Buchgestaltung

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Philip Lee Harvey/gettyimages

Autorenfoto Richard Rohr: © Franciscan Media

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80126-6

ISBN (Buch): 978-3-451-06688-7

Ich will zu euch in Gleichnissen sprechen und euch Dinge offenbaren, die seit Grundlegung der Welt verborgen waren.

Psalm 78,2, zitiert in Matthaus 13,35

Ich schreibe euch nicht, weil ihr die Wahrheit nicht kennen würdet, sondern weil ihr sie bereits kennt.

1 Johannes 2,21

Für Stephen und Mary Jo Picha

Ihre Liebe zur Botschaft,

zum Zentrum für Aktion und Kontemplation

und zu mir

ermöglicht meinen Worten

und hoff entlich auch dem Wort Gottes,

so viele Menschen zu erreichen,

und sie teilen mit mir die Enkel,

die ich selbst nie hätte:

Grace Ann und Luke Jonah.

Inhalt

EinführungDie Bibel und unser spiritueller Weg

Erstes KapitelErklärungen sind kein Ersatz für Erfahrung

Die Einbeziehung des Negativen und selbstkritisches Denken · Das kosmische Ei · Heiliges Verwundetsein

Zweites KapitelWer Gott ist – wer wir sind

Die Ur-Scham · Noachs Arche der Vergebung · Der Garten der Erkenntnis · Wie unser «Sündenfall» aussieht · Alle sind erwählt · Einswerden mit Gott

Drittes KapitelBegegnung und Gegenwart

Der eine Gott · Das Geheimnis erfahren · Gegenwärtig-Sein · Wie über Gott sprechen?

Viertes KapitelIm Boxring von Gesetz und Gnade

Gesetz – Propheten – Weisheit · Mit dem Schatten leben · Was wirklich böse ist · Der Beitrag des Paulus

Fünftes KapitelGute Macht, böse Macht

Abschied vom Gott der Gewalt · Unfruchtbare Frauen und verstoßene Söhne · Die Psalmen · Gibt es eine gute Macht? · Übergangsriten · Architektur als Theologie

Sechstes KapitelAuf Messers Schneide: Wissen und Nichtwissen

Spiritualität des Lichts, Spiritualität der Dunkelheit · In der Wüste, auf dem Gipfel · Die fundamentalistische Versuchung Gebet als ein Prozess · Das Schweigegebot · Zwischen die Zeilen geschrieben · Der notwendige Umweg · Der Name Gottes

Siebtes KapitelDas Böse in uns und der Sündenbock-Mechanismus

Wie Kritik funktioniert · Das verborgene Geheimnis · Der Sündenbock-Mechanismus · Der Krieg des Lammes · Der Horizont des Paulus · Jesus: Vergebung und Gemeinschaft

Achtes KapitelDas anstößige Fest – von Leistung und Gnade

Erwählung: frei, umsonst · Ein biblisches Glaubensbekenntnis · Was ist mit der Hölle? · Das Fest für die Armen · Maria: das personifizierte Bild des Heils · «Babettes Fest»

Neuntes KapitelDas Geheimnis des Kreuzes

Jesus als Sündenbock · Musste Jesus «für unsere Sünden» sterben? · Gott braucht kein Opfer · Das Kreuz als Weg der Versöhnung

Zehntes KapitelIneinander-Wohnen: Das Ziel der spirituellen Reise

Anhang AZwei Wege der biblischen Spiritualität

Der Weg der «Wunde» · Der Weg des Geheimnisses, des Paradoxen, der Nicht-Dualität (apophatische Tradition)

Anhang BUngelöste Themen des dualistischen Denkens

Bibelstellenverzeichnis

Personen- und Sachregister

Zur Person: Richard Rohr

Ach, wie verehrungswert ist das Mysterium,

das sich in mir vollzieht.

Die Zunge kanns nicht künden,

nicht diese schwache Hand es niederschreiben

zum Lobpreis dessen, für den in Wahrheit

alles Rühmen, alle Rede Stammeln bleibt …

… und was in mir geschieht,

das sieht mein Geist zwar ein,

doch sagen kann ers nicht.

Er schaut es und er will es künden,

doch findet er nicht Worte, es zu sagen.

Denn Unschaubares schaut er,

aller Gestaltung gänzlich bar,

ganz einfach, ohne Teile, und doch:

an Größe ists Unendlichkeit …

Wenn ichs so nennen soll, ist es

im Höchsten eine Ganzheit, wie mir scheint.

Und doch wird keineswegs sein Wesen selbst geschaut:

man schaut es nur, indem mans mit ihm teilt.

Denn nur am Feuer zündet man das Feuer an,

und ganz in Feuer umgeformt nimmt man es an.

Symeon der Neue Theologe (949–1022)

Einführung

Die Bibel und unser spiritueller Weg

Wir lehren nicht so, wie man Philosophie lehrt, sondern

auf die Art, wie der Geist lehrt. Wir möchten auf

spirituelle Weise Spirituelles lehren.

1 Korinther 2,13

In deiner Güte lässt du die Blinden über dein Licht

sprechen.

Nikolaus von Kues

Im Jahr 1973 hielt ich eine Vortragsreihe mit dem Titel Die großen Themen der Bibel. Die Tonaufnahmen der Vorträge wurden dann veröffentlicht, ebenso wie ihre Mitschrift als Buch. Die deutsche Übersetzung erschien in mehreren Auflagen, zuletzt 2003 unter dem Titel Das entfesselte Buch. Eine Einführung in die Bibel (Verlag Herder, Freiburg im Breisgau). Fünfundzwanzig Jahre später hat man mich gefragt, was ich denn heute für «die großen Themen der Bibel» halte. Ich habe darauf in einer Reihe von Vorträgen zu antworten versucht. Das vorliegende Buch enthält diese Antwort.

Ich wage es, sie den Leserinnen und Lesern vorzulegen, nicht weil ich ein überaus großes Zutrauen in meine Fähigkeiten zu schreiben hätte. Viel stärker als eine solche Selbsteinschätzung ist mein Vertrauen auf die objektive Präsenz eines «Beistands», «der euch alles lehren wird» (Johannes 14,26) und dessen Wort bereits «in euer Herz geschrieben ist» (vgl. Jeremia 31,33). Ein spiritueller Lehrer hat nur die eine Aufgabe, die Regungen und Bewegungen zu unterstützen, die der Heilige Geist selber herbeiführt.

Die erste dieser Regungen hat Gott bereits bei unserer Erschaffung in uns gelegt (Jeremia 1,5; Jesaja 49,1). Das ist wahrscheinlich der Grund, wenn spirituelle Weisheit nach innen überzeugend und nach außen glaubwürdig ist. Ich habe schon immer am liebsten das Kompliment gehört: «Richard, du hast mir überhaupt nichts wirklich Neues gesagt. Das wusste ich alles schon irgendwie selber. Aber erst seit du es gesagt hast, bin ich mir dessen bewusster geworden und weiß jetzt: Das stimmt.»

Das ist die göttliche Symbiosis, die wechselseitige Wirkung zwischen Gliedern des Leibes Christi; es ist der «Hebammendienst» des Sokrates, der davon überzeugt war, dass er als Lehrer nicht die Erkenntnis in jemandem «erzeuge», sondern bloß wie eine Hebamme dem Kind zur Geburt verhelfe, das bereits in jeder und jedem steckt. In gewisser Hinsicht erfahren wir spirituelles Erkennen immer als ein «Wieder-Erkennen». Sogar im Zweiten Petrusbrief im Neuen Testament steht geschrieben, der Verfasser wolle vor allem seine Leserinnen und Leser «durch Erinnerung aufrütteln», damit sie jederzeit in der Lage seien, sich «an diese Dinge zu erinnern» (siehe 2 Petrus 1,12–15). Aus irgendeinem Grund haben wir das vergessen. Darum nehmen wir Prediger und Lehrer uns oft viel zu wichtig und die Gläubigen vertrauen viel zu sehr auf äußere Autoritäten.

In seinem Bestseller Blink! Die Macht des Moments (2005) hat Malcolm Gladwell für mich recht überzeugend vorgestellt, wie wir nach Sinnmustern und Weisheit suchen sollten. Er nennt das «Die Theorie der dünnen Scheibchen». Es geht darum, eine Situation zu überblicken, alles Unwichtige auszusortieren und sich absolut auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf das «dünne Scheibchen», das zählt. Durch diese Fähigkeit entstehen wesentliche Einsichten oder geniale Einfälle. «Unser Unbewusstes schneidet eine Situation in dünne Scheibchen, und darin hat es eine wahre Meisterschaft entwickelt, sodass diese Methode oft zu besseren Ergebnissen führt als langes Nachdenken und ausführliche Analysen.»

Ich hoffe, das kann auch ich hier tun: «dünne Scheibchen» schneiden, damit Sie sich ganz und gar «auf das Wesentliche» konzentrieren können. Offen gesagt bin ich von einem Großteil dessen, was man alles über die Bibel predigt und lehrt, ziemlich enttäuscht, weil es fast nie bis zu dieser Ebene vorstößt, auf der wir in Berührung kommen mit dem, was uns wirklich trägt. Es bleibt allzu oft in kleinen Geschichten oder in historisch-kritischen Analysen stecken. Das kann durchaus inspirierend sein und sogar gute Theologie. Aber ich habe selten den Eindruck, dass man die Punkte, die man dabei findet, miteinander verbindet und so die großen Linien, um die es geht, zum Vorschein bringt. Darauf aber kommt es für unseren spirituellen Weg an: dass wir diese Punkte verbinden und die großen Linien entdecken. Sonst ergeben sich keine Markierungen und wir erkennen nicht, wie die einzelnen biblischen Texte auf die wesentlichen Linien verweisen, die wir für unseren spirituellen Weg suchen. Wir müssen sehen können, wohin uns die Punkte führen.

Das geschieht viel zu wenig: dass wir die Texte der Bibel in «dünne Scheibchen» schneiden, also in einer Konzentration auf das Wesentliche ihre Ausssage erfassen, sie auf den «Punkt» bringen und dann die Punkte zu den großen Linien verbinden, die den Zusammenhang erkennen lassen. Dieser Mangel, ob aus fehlender Bereitschaft oder aus Unfähigkeit, hat zu einem weit verbreiteten christlichen, jüdischen und islamischen «Fundamentalismus» geführt, der ironischerweise gewöhnlich ausgerechnet für das blind ist, was wirklich fundamental ist. Wer nicht die Richtung und die Antriebskraft kennt, merkt auch nicht, wenn er rückwärts fährt! Am Ende erklärt man dann Nebensächlichkeiten für «fundamental» und stolpert an dem vorbei, was zählt. Ein einzelner Punkt liefert keine spirituelle Weisheit. Mit einem einzelnen Bibelzitat kann man so gut wie alles beweisen.

Durch dieses ganze Buch zieht sich eine Grundannahme: Ich unterstelle, dass der Bibeltext verblüffend gut widerspiegelt, wie unser menschliches Bewusstsein beschaffen ist. Er enthält Abschnitte, in denen die wesentlichen Ideen entfaltet werden und ebenso Abschnitte, die den Zugang zu diesen Ideen regelrecht blockieren. Kühn gesagt: Der Bibeltext selbst enthält Glauben und auch Unglauben.

Unsere spirituelle Suche richtet sich auf das Geheimnis Gottes. Der Weg ins Geheimnis Gottes hinein ist ein Weg in unbekanntes Land, er muss es sein. Ein Großteil der Bibel besteht bloß aus Wiederholungen vertrauter Landschaften; diese muten der Geschichte nichts Neues zu und bescheren der Seele nichts Neues. Doch zugleich bietet die Bibel regelmäßig Durchbrüche, die wir zu Recht «Offenbarungen» des göttlichen Geistes nennen (weil wir mit unserem beschränkten Sinn von uns aus nie darauf gekommen wären).

Wer einmal auf dieser Flugbahn des Geistes Erfahrungen mit dem «unbekannten Land» gesammelt hat, bleibt von da an immer auf Überraschungen gefasst. Diese Haltung ist das, was ich «Glauben» nennen möchte. Mein Buch ist der Versuch, Sie auf diesen Weg mitzunehmen. Das mag am Anfang verunsichernd wirken, neu oder sogar aufregend. Aber wenn Sie konsequent am Text der Bibel bleiben, werden Sie den Mut gewinnen, Ihre eigenen tiefsten Hoffnungen und Intuitionen in ihm zu erkennen. Damit beginnt der spirituelle Tanz: eine Bewegung zwischen der äußeren und der inneren Autorität, zwischen der heiligen Überlieferung und der eigenen inneren Erfahrung. Die Balance dieser Bewegung ist das Thema dieses Buches.

Die meisten Einführungen in die Bibel gehen in der Regel die einzelnen biblischen Bücher der Reihe nach durch und stellen sie vor. Ich will anders ansetzen. Ich möchte zu zeigen versuchen, wie die wesentlichen Einsichten der Heiligen Schrift bereits alle, noch in eingekapselter Form, in den ersten Texten der Hebräischen Bibel stecken. Ausgehend von dieser frühen Ermittlung des Themas spüren wir dann der Entwicklungsgeschichte nach, wie sich die zentralen Einsichten im ganzen Mittelteil der Bibel entfalten. Das führt uns schließlich gegen Ende der Bibel, und zwar besonders im auferstandenen Christus (und in der Theologie des Paulus von ihm) in eine Art Crescendo hinein: Da wird voll und ganz Einer offenbar, dem wir glauben und vertrauen dürfen, ein gewaltloser und durch und durch gnädiger Gott – Gott, der uns einlädt, mit ihm in Liebe eins zu werden.

Das Buch ist also die Einladung zu einer Reise, auf der wir die Bibel als spirituellen Weg entdecken. Wir brauchen den Weg durch die gesamte Bibel, um alle die Charakterzüge von Rache, Strafe und Kleinkariertheit loszuwerden, die wir auf Gott projizieren, weil sie uns in den Knochen stecken. Aber zunächst einmal müssen wir die Aufgabe erledigen, anhand unserer punktuellen Einsichten einen spirituellen Weg zu erkennen. Denken Sie daran: Die Art, wie Sie die Punkte Ihrer Reise miteinander verbinden, wird darüber bestimmen, wo Sie am Ende ankommen. Der Prozess als solcher ist also wichtig; er bestimmt, was dabei herauskommt. Es gibt Bibeltexte, die uns auf unserem spirituellen Weg zwei Schritte zurückzuwerfen scheinen; aber immerhin verstärken sie unser dringendes Bedürfnis, vorwärtszukommen, und sie werden unser Verständnis vertiefen, wenn wir dann tatsächlich weitergekommen sind.

In diesem Buch geht es mir vor allem anderen darum, eine Verbindung herzustellen oder möglichst klar herauszustellen: die Verbindung zwischen den zentralen Einsichten, die die Bibel für mich enthält, und dem Anliegen einer praktischen, lebbaren, menschenfreundlichen Spiritualität für Menschen von heute. Es geht mir um die Weisheit der Bibel als spiritueller Weg für die Gegenwart.

Die großen Linien, die ich ziehe, um die Einsichts-Punkte der Bibel zu einem spirituellen Weg zu verbinden, führen für mich eindeutig in Jesus zusammen, den wir Christen den Christus nennen; aber ich wage zu hoffen, dass auch ein Liebhaber der Hebräischen Bibel einige wertvolle Anregungen finden kann. Ich liebe die Zusammenhänge zwischen der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament, die sich durch die ganze Bibel hindurchziehen, und Jesus sehe ich klar zuallererst als Juden. Er hat auf geniale Weise seine Tradition auf das Wesentliche konzentriert und uns eine wunderbare Sicht eröffnet, mit der wir die jüdische Tradition lieben lernen und unseren Weg nach vorn gemeinsam mit dem Judentum gehen können (dieser Weg, das Christentum, ist ja dessen Kind).

Ich bin katholisch, hoffe jedoch, dass auch meine Brüder und Schwestern aus anderen christlichen Konfessionen in diesem Buch etliches finden werden, was sie für ihren spirituellen Weg inspiriert und weiterbringt. Für mich ist klar: Derzeit bildet sich eine Kirche heraus, die aus jedem Teil des Leibes Christi das Wertvollste einsammelt, was es an Weisheit in den verschiedenen Bereichen gibt: spirituelle Weisheit aus der Bibel, aus Meditation und Kontemplation, aus der Wissenschaft, aus dem politischen Ringen um Gerechtigkeit.

Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der Charakter und die Zukunft des Christentums ökumenisch sein werden. Die Globalisierung hat eine religiöse Seite: Wir können einander nicht länger aus dem Weg gehen. Sollten wir das tun, so würden wir nur uns selber schaden (vgl. 1 Korinther 12,12–30) und auch dem Evangelium.

In diesem Buch führe ich viele Schriftzitate nur mit einer kurzen eigenen Bemerkung an. Ich tue das in der Hoffnung, dass diese kurzen Hinweise Sie reizen und einladen, sich selbstständig tiefer auf den Text und seinen Kontext einzulassen. Ich möchte Sie dazu verführen, die Bibel zu lieben und ihr aus eigenem Antrieb nachzulaufen, sie als spirituellen Weg zu entdecken. Sie werden feststellen: In der Bibel finden Sie für Ihre ureigene innere Erfahrung Wörter, Sätze, Namen, und Sie erfahren durch die Bibel eine Bestärkung von außen.

Nur wenn dieses beides zusammenfindet: die innere und die äußere Autorität, entsteht echte spirituelle Weisheit. Wir haben allzu lange einseitig die äußere Autorität betont – ohne auf die Erfahrung von Gebet, innerem Weg, Reifung des Bewusstseins einzugehen. Die Folgen davon waren für die Welt und die Religion katastrophal.

Ich bin zunehmend zur Überzeugung gekommen, dass das Wort «Gebet», aus dem eine Tätigkeit gemacht wurde, eine fromme Pflichtübung für Gläubige, genau genommen die Beschreibung der inneren Erfahrung ist. Jesus selbst hat den Zusammenhang von Gebet und innerer Erfahrung ganz anschaulich beschrieben: Beten heißt in deinen eigenen Raum gehen, die Tür schließen, etwas im Verborgenen tun (vgl. Matthäus 6,16). Alle spirituellen Lehrer sagen: «Geh in dich und erkenne dich selbst!»

Mein Anliegen hier ist nicht zuletzt, wieder zusammenzuführen, was eigentlich nie hätte getrennt werden dürfen: die Weisheit der Bibel und den spirituellen Weg.

Zitate aus der Bibel wurden vom Autor in der Regel selbst ins Englische übersetzt. Sie wurden für die deutsche Textfassung entsprechend der Intention des Autors übertragen.

Erstes Kapitel

Erklärungen sind kein Ersatz für Erfahrung

Wo zu viel erklärt wird, da staunt niemand mehr.

Eugène Ionesco

Was wir heute brauchen, sind nicht bloß Menschen, die für alles eine Erklärung parat haben, sondern Menschen, deren Leben eine Erfahrung bezeugt. Daher habe ich diesem Kapitel das Zitat von Ionesco vorangestellt. Was ich auf keinen Fall möchte: Ihnen durch allzu viele Worte das Staunen austreiben oder Ihnen einen Ersatz für Ihre eigene innere Erfahrung liefern. Zu vielen Menschen ist das schon mit theologischen Erklärungen und Bibelauslegungen angetan worden.

Wenn diese wunderbare Sammlung von Büchern und Briefen namens Bibel etwas auslösen soll, dann bestimmt zuerst einmal, dass wir staunen! Wir sollen derart außer uns geraten, dass wir eine Erfahrung machen, die uns verwandelt (theosis, «Vergöttlichung» nannten das die griechischen Kirchenväter), statt es uns mit intellektuellen Antworten oder Streicheleinheiten für unser liebes Ich gemütlich zu machen.

Von D. H. Lawrence stammt der Satz: «Mehr als vor allem anderen fürchtet sich die Welt vor einer neuen Erfahrung. Eine neue Erfahrung verdrängt nämlich viele alte Erfahrungen.» Ideen dagegen seien kein Problem. «Die Welt kann jede neue Idee einsortieren und damit unwirksam machen.» Aber eine echte innere Erfahrung ist etwas anderes als eine bloße Idee. Sie verändert uns. Allerdings verändern wir Menschen uns nicht gern. Rosemary Haughton sprach in diesem Zusammenhang von der «Messerschneide der Erfahrung».

Die biblische Offenbarung lädt uns zu einer ganz neuen Erfahrung ein. Das Bewusstsein der Menschen des 21. Jahrhunderts ist für eine solche Erfahrung mehr denn je aufgeschlossen – und hat sie auch bitter nötig! Das Problem ist nur, dass wir aus der Bibel ein Sammelsurium von Ideen gemacht haben – die man richtig oder falsch verstehen kann –, aber wir empfinden sie kaum mehr als Einladung, uns komplett neue Augen zuzulegen. Schlimmer noch: Viele dieser Ideen, auf die wir die Bibel reduzieren, sind der gleiche alte Hut wie eh und je: Abklatsch eines Systems von Lohn und Strafe, das die vorherrschende Kultur ohnehin prägt. Kein Wunder also, dass die meisten Menschen nicht einmal erwarten, etwas Gutes oder auch nur etwas Neues in dieser ungeheuren Offenbarung zu finden, die wir Bibel nennen.

Im Anfang war das anders. Man sieht das daran, dass die vier Evangelisten und Paulus dieser neuen Offenbarung einen eigenartigen Namen gaben: Sie nannten sie «Evangelium». Wir übersetzen das heute mit «Frohe Botschaft» oder «Gute Nachricht». Ursprünglich war das ein Begriff aus einer Welt, die von Kriegen und Schlachten beherrscht wurde. Ein «Evangelium» war die Siegesnachricht, die einer begeistert vom Schlachtfeld heimbrachte, und das hieß damals: «Der Krieg ist aus! Jetzt kann ein neues Leben anfangen!» So verstanden die ersten Christen die Botschaft Jesu: als Nachricht, dass der Durchbruch zu einem neuen Leben gelungen ist. Das ist sie auch heute noch – vorausgesetzt, wir stellen die richtigen Fragen und verfügen, wie Jesus sagte, über die Haltung der «Armut im Geist» (Matthäus 5,3). Mit dieser «Armut» ist das innere Offensein gemeint: die Freiheit von Selbstzufriedenheit und fixen Vorstellungen davon, wie alles werden und sein müsse – denn sonst verschließen wir uns für alles Neue und bleiben immer die Gleichen.

Jesus sprach davon, wir müssten wie Kinder werden. Kinder sind voller Neugier und haben jenen «Anfängergeist», den wir nie verlieren sollten. Er ist der beste Weg zur spirituellen Weisheit. Um ihn geht es in diesem Buch. Wem es vor allem um den Status der religiösen Gruppe geht, zu der er gehört, oder um eine Art religiöser Lebensversicherung für alle Fälle, wird das verheißungsvoll Neue und Anziehende des Evangeliums nicht entdecken, sondern fortfahren, mit angezogener Handbremse zu leben, auch wenn er die biblischen Texte liest. Denn dann bleiben sie «Religion» in dem Sinne, wie unsere Kultur eben Religion versteht, aber sie führen nicht zu diesem grundlegenden «Staunen», das alles in ein anderes Licht taucht.

Interessanterweise haben einige Wissenschaftler die Auffassung vertreten, Jesus sei gekommen, um die bisherige Religion zu beenden. Das ist gar nicht so schlecht, wie es klingen mag. Jesus kam tatsächlich, um die Religion, so wie sie war, zu beenden. Weltweit war die historische Religion, die archaische Religion gewöhnlich der Versuch, zu gewährleisten, dass nichts Neues passierte. Ganz bestimmt trifft das auf die Ägypter und ihre Pyramiden zu und auf die Maya und ihre Kalender, und es zieht sich auch als gleichbleibendes Thema durch die alten Kulturen des Mittleren Ostens: Die Menschen wollten, dass ihr Leben und ihre Geschichte vorhersehbar und kontrollierbar waren, und die beste Möglichkeit, das zu erreichen, sahen sie im Versuch, die Götter in Schach zu halten oder sogar zu manipulieren. Die meisten Religionen brachten den Menschen sozusagen bei, welche spirituellen Tasten sie drücken sollten, um die Geschichte und Gott vorhersehbar zu machen.

Wir müssen uns vor Augen halten, dass im längsten Teil der Menschheitsgeschichte Gott durchaus keine liebenswürdige und erst recht keine liebenswerte Gestalt war. Noch in der Bibel fängt jede «Theophanie», also jedes Ereignis, bei dem Gott in die Geschichte hereinbricht, mit dem gleichen Zuruf an: «Fürchte dich nicht!» Das ist in der ganzen Bibel die häufigste Aufforderung. Sooft ein Engel oder Gott ins Leben von Menschen einbricht, lauten unvermeidlich die ersten Worte: «Fürchte dich nicht!» Warum? Weil die Menschen sich immer vor Gott gefürchtet haben – und als Folge davon auch vor sich selbst. Gott war gewöhnlich nicht «nett», und davon, ob Menschen «nett» sind, waren sie auch nicht allzu überzeugt.

Wenn Gott auf den Plan trat, empfanden das die meisten Menschen nicht als gute Nachricht; es war eher eine schlechte: «Wer muss jetzt sterben? Wer wird jetzt bestraft? Welchen Preis muss ich bezahlen?»

Für viele Menschen ist es vielleicht überraschend zu erfahren, dass vor der biblischen Offenbarung die Menschheit im Großen und Ganzen nicht Liebe von Gott erwartete. Genau genommen hat sich das bis heute nur wenig geändert: Die meisten Menschen haben immer noch das Gefühl, sich die Liebe und Aufmerksamkeit Gottes verdienen zu müssen. Irgendwann führt dieses Muster zu einer latenten Aggression, so wie gegenüber unseren leiblichen Eltern. (Anders kann ich mir das überwältigend passive, ja passivaggressive Wesen vieler Kirchgänger nicht erklären.)

Dieses Muster aus Erwartung und Angst ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sich in den zweitausend Jahren seit der Menschwerdung Gottes in Christus nicht viel geändert hat – ausgenommen in einer ziemlich kleinen kritischen Masse der Menschheit. Nach meinem Eindruck bedeutet religiöse Praxis für die meisten Menschen nach wie vor, Gott zu fürchten und Gott zu kontrollieren, anstatt Gott zu lieben. Sie haben niemals erfahren, dass das möglich ist, denn das Modell von Macht und Konkurrenz wurde für sie nie infrage gestellt. Wenn die eine Seite, Gott, die ganze Macht hat (und das ist für die meisten geradezu die Definition Gottes), dann ist das Einzige, was bleibt, die Furcht und der Versuch, diese Macht irgendwie unter Kontrolle zu halten.

Die einzige Möglichkeit, daran etwas zu ändern, liegt bei Gott. Nur von Gott her kann dieses Modell von Macht und Konkurrenz aufgelöst werden, nur Gott kann uns in eine Welt einladen, in der Beziehungen wechselseitig und verletzlich sind. Unser lebendiges Bild dafür, dass Gott die Machtverhältnisse geändert hat, ist Jesus! In ihm hat Gott die Initiative ergriffen, unsere Angst zu überwinden und unser Bedürfnis, Gott zu manipulieren. Gott hat echte Beziehung zu sich möglich gemacht. Diese undenkbare Beziehung ist dem menschlichen Bewusstsein bereits eingepflanzt durch die jüdische Idee des «Bundes»: Gott schließt einen Bund mit seinem Volk, «nicht weil ihr größer wart als die andern Völker – nein, ihr wart ja das kleinste von allen Völkern –, sondern weil JHWH euch liebt» (Deuteronomium 7,7).

In den meisten Religionen glaubte man, Gott lasse sich von den Menschen mit Hilfe von Opfern einigermaßen in Schach halten. Diese Vorstellung ist auf allen Erdteilen verbreitet. Zur Zeit Abrahams milderte sich dieser Zwang, einem schrecklichen Gott Opfer bringen zu müssen: Er wollte wenigstens keine Menschen mehr, aber immer noch Tiere, also Ziegen, Schafe und Ochsen. Dass es diese Vorstellung immer noch gibt, habe ich auf meinen Reisen in Afrika, Indien und Nepal miterlebt. Die sogenannten «zivilisierten Kulturen» haben die Idee des Opfers in vielfältige Formen der Selbstaufgabe und des moralischen Heroismus verwandelt, so als ob wir alle wüssten, dass auf alle Fälle irgendetwas geopfert werden müsse, um diesen Gott zu uns zu ziehen.

Wir glauben nicht wirklich, dass Gott seine Schöpfung einfach lieben könnte und dass wir Gottes Liebe tatsächlich erwidern könnten (und ihn dabei sogar wirklich lieben würden!). Genau darin liegt der Bruch im Zentrum von allem, ein Bruch, der dazu geführt hat, dass Kirche und Kultur im Westen so über alle Maßen auf Scham und Schuld fixiert sind. (Davon zeugen auch die meisten Auseinandersetzungen der europäischen Reformationszeit, auf beiden Seiten.)

Ich hoffe, dass ich eines in diesem Buch deutlich machen kann: Das unfassbare Wunder der biblischen Offenbarung besteht darin, dass Gott sehr anders ist, als wir gedacht, und sehr viel besser, als wir befürchtet haben. Was ein Quantenphysiker einmal über das Universum sagte, möchte ich abwandeln: «Gott ist nicht nur verblüffender, als wir denken, sondern sogar verblüffender, als wir denken können.» Die Nachricht von Gott ist keine schlechte Nachricht, sondern tatsächlich eine über alle Maßen trostvolle und gute.

Der Exeget Walter Brueggemann schrieb, die gesamte hebräische Bibel sei von einem «Credo der fünf Eigenschaftswörter» geprägt: Der Gott, den Israel – und Jesus – entdeckten, werde durchgängig als «barmherzig, mitfühlend, vergebungsbereit, in der Liebe beständig und treu» gesehen.

Wir haben lange gebraucht, um überhaupt mit der Möglichkeit rechnen zu können, dass das wahr sein könnte. Aber die Einzigen, die wirklich wissen, dass es für sie selbst wahr ist, sind Menschen, die aufrichtig suchen, beten und oft auch leiden. Sie leben auf der «Messerschneide der Erfahrung». Ohne diese Erfahrung im eigenen Inneren bleiben das bloß fünf fromme Wörter. Ohne die eigene innere Erfahrung dieses ganz besonderen Gottes, wird sich das Meiste an der Religion in Ritus, Moral, Lehre erschöpfen, eine ziemlich freudlose Angelegenheit.

Auf den folgenden Seiten möchte ich die Bibel als «text in travail» (René Girard), als einen «Text in Arbeit» beschreiben. Der Bibeltext selbst ist in einer Bewegung nach vorn und manchmal zurück, gerade so wie wir Menschen. Mit anderen Worten: Die Bibel gibt Ihnen keine Schlussfolgerungen und fertigen Antworten an die Hand, sondern öffnet einen Raum und lässt eine Richtung erkennen: Die Punkte nach vorn und hinten zu verbinden ist unsere eigene Aufgabe. Ich bin fest davon überzeugt, dass weder erklärende Texte noch äußere Glaubenssysteme in der Lage sind, uns diese Aufgabe abzunehmen, die nur die innere Erfahrung leisten kann. Im Blick auf Ihren spirituellen Weg mit der Bibel gesprochen: Es hilft Ihnen nicht weiter, möglichst schnell fertige Antworten zu erhalten, bevor Sie sich nicht auf eine innere Reise gemacht haben. Ohne innere Reise führen diese Antworten nur zu Missverständnissen und Fehlanwendungen und hindern Sie vielleicht eher an der einen notwendigen Erfahrung: dem Staunen.

Ich befürchte also, dass Ihnen die mühsame Aufgabe nicht erspart bleibt, sich persönlich auf den Weg zu machen, und die Einladung auf diesen Weg und die Verantwortung der inneren Reise kann Ihnen kein Papst und kein Bibelzitat abnehmen. Glücklicherweise sind Sie, wenn es sich wirklich um das Evangelium handelt, mit Ihrem Teil an Einsichten in das göttliche Geheimnis nicht die oder der Einzige auf dem Weg. Das Bewusstsein, dass wir gemeinsam mit anderen Anteil daran haben, bewahrt uns alle vor spirituellem Hochmut.

Am Anfang wünschen sich die meisten von uns die Bibel als eine Art Anleitung im Stil von «Sieben Schritte zum Erfolg». Sie denken vielleicht «Warum sagt er uns nicht einfach klipp und klar, worum es geht und was wir tun sollen, statt uns das Lesen dieser Bücher der Könige und Chroniken, des Buchs Levitikus und der Paulusbriefe (die wir nicht einmal mögen) zuzumuten? Was haben denn diese ganzen langatmigen Geschichten und überholten wissenschaftlichen Ansichten heute noch mit irgendetwas zu tun, das zählt?» Aus diesem Grund legen erschreckend viele Menschen die Bibel beiseite; viele Katholiken nehmen sie gar nicht erst in die Hand.

Aber das Geniale an der biblischen Offenbarung ist gerade, dass sie uns Einsicht nicht als fertige Ergebnisse liefert. Sie ist bewusst so angelegt, dass sie uns auf den spirituellen Weg setzt, auf dem wir selbst Einsicht finden. Und auf diesem Weg versorgt sie uns mit der inneren und der äußeren Autorität, die uns helfen, mit Vertrauen diesem Weg zu folgen. Ich will noch einmal wiederholen, was mir ganz grundlegend scheint: Das Leben selbst – und ebenso die Bibel – ist ein Prozess, der sich immer drei Schritte vorwärts und zwei Schritte zurück bewegt. Wir finden immer wieder einen Punkt, den wir dann wieder verlieren oder in Zweifel ziehen. Darin ist der Bibeltext ein Spiegel unseres menschlichen Bewusstseins und unserer Lebensreise. Unsere Aufgabe besteht darin, zu erkennen, in welche Richtung die Texte führen, die drei Schritte vorwärts gehen. Es sind die Texte, die unablässig in Richtung Erbarmen, Vergebung, Nicht-Ausgrenzen, Nicht-Gewalt, Vertrauen weisen. Diese Erkenntnis versetzt uns in die Lage, klar und deutlich diejenigen Texte zu erkennen und sie richtig einzuordnen, die zwei Schritte zurück führen. Gewöhnlich handeln diese von Rache, göttlicher Kleinlichkeit, der Überordnung von Gesetz über Gnade, Form über Substanz, Technik über Beziehung.

Ohne innere Erfahrung, wie Gott in ihrem eigenen Leben am Wirken ist, können Menschen diese Unterscheidung nicht sicher treffen. Dann neigen sie dazu, die Wahrheit des inneren Geistes durch den Text zu ersetzen. Oder, wie Paulus es mutig ausdrückt: «Der bloße Buchstabe tötet; der Geist dagegen bringt Leben» (2 Korinther 3,6).

Die Bibel ist eine Sammlung von vielen unterschiedlichen Schriften. Wenn wir an «Inspiration» glauben, also darauf vertrauen, dass der göttliche Geist diesen jahrhundertelangen Prozess des Hinhorchens und Aufschreibens begleitet und geleitet hat, wenn auch, wie alle menschliche Erkenntnis, «nur in rätselhaften Umrissen» (1 Korinther 13,12), dann können wir uns selbst diesem Prozess der Bibel überlassen. Wir können darauf vertrauen, dass es eine Entwicklung von entscheidender göttlicher Weisheit in dieser Sammlung von Schriften gibt. Eingewoben in diesen Entwicklungsprozess sind die Ideen, die ich früher als die «großen Themen der Bibel» vorgestellt habe.

Wenn wir am Ende dem auferstandenen Jesus begegnen, dann wird es nichts mehr in Gott geben, wovor wir Angst haben müssten. Jesu Atem wird direkt mit der Vergebung und dem göttlichen Schalom gleichgesetzt (siehe Johannes 20,20–23). Wenn der auferstandene Jesus uns die Natur des Herzens Gottes endgültig offenbart, dann leben wir plötzlich in einem Universum, das ein sicherer, bergender Ort für uns ist. Nicht, als ob Gott sich im Lauf der Zeit geändert hätte. Nicht, als ob der Gott des Ersten Testaments ein anderer Gott als der Gott Jesu wäre. Vielmehr: Wir werden im Lauf unseres spirituellen Wegs durch diese Texte reifer und unsere Erfahrung vertieft sich. Es ist nicht Gott, der sich verändert, sondern unser Bewusstsein, und es dauert eine ganze Weile, bis wir reif und bereit sind, Gott wirklich zu erkennen. Bleiben Sie beharrlich sowohl im Lesen des Textes als auch in Ihrem inneren Leben mit Gott: dann wird Ihre Fassungskraft für Gott immer größer und tiefer. Suchen Sie bei Ihrer Lektüre der Bibel nicht nach fertigen Ergebnissen und «Wahrheiten», mit denen Sie etwas bestätigt wissen wollen, und schlagen Sie sich die Vorstellung aus dem Kopf, jede Zeile der Bibel enthalte eine vollendete dogmatische Aussage. Sonst blockieren Sie Ihr spirituelles Reiferwerden und werden, sowohl für sich selbst als auch für Ihre Mitwelt, ein ziemlich unverträglicher Zeitgenosse.

Wir alle brauchen lange, bis wir unser Bedürfnis überwinden, auf alles mit einer dualistischen, urteilenden, anklagenden, ängstlichen, egozentrischen und selbstgerechten Haltung zuzugehen. Ganz ähnlich führt uns auch die Bibel durch viele Bewusstseinszustände und eine lange Heilsgeschichte. Dieser «Text in Arbeit» spiegelt und registriert unser Arbeiten an uns selbst und führt uns die einzelnen Stufen vor Augen, die wir durchlaufen. Wir finden in ihm die reifen und auch die unreifen Antworten auf fast alles, und Sie werden es lernen müssen, zwischen den beiden zu unterscheiden.

Ich finde es entlastend und tröstlich, zu wissen, dass Leben eben nicht grundsätzlich geradlinig verläuft. Ich weiß, viele von uns hätten das gern so, oder es wurde ihnen beigebracht, dass es so sein müsste. Aber bis jetzt bin ich noch keinem Menschen begegnet, dessen Leben ganz geradlinig auf Gott zulief. Nicht einmal bei Mutter Teresa war das so! Das Leben ist eine ständige Abfolge von Situationen, in denen man ins Schwarze und dann wieder ganz daneben trifft. Da zieht Gott in unser Leben ein, und dann wehren wir diese Erfahrung ab, gehen ihr aus dem Weg, laufen vor ihr davon. Da gibt es einen Augenblick, in dem wir uns Gott unwiderruflich nahe spüren, und dann Zeiten, in denen wir einen Rückzieher machen und uns sagen: «Das ist zu schön, um wahr zu sein. Das mache ich mir wahrscheinlich bloß vor.» Zum Glück bedient Gott sich all dessen zu unserem Vorteil, «Erbarmen» heißt das und «unverbrüchliche Liebe».

Aber wie stoßen wir auf diese großen Themen der Bibel? Welche Grundeinsichten sind es, die die Menschheitsgeschichte zu einer Befreiungsgeschichte machen können? Henri de Lubac (1886–1991), einer der großen katholischen Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils, schrieb einmal, bei der Auslegung der Bibel komme es meistens zum Wechselspiel von zwei Ansätzen, die beide unzulänglich seien. Der eine Ansatz ist der wohlfeile Moralismus und die einfältige Frömmigkeit derer, die sich nie darum gekümmert haben, in welchem historischen und kulturellen Kontext die Bibeltexte entstanden sind (das ist die Versuchung der Konservativen). Da zählt nichts als das Herz; der Kopf wird fast ganz ausgeschaltet. Diese Art, die Bibel zu lesen, mag rührend und erbaulich sein, aber sie wird die Geschichte nicht zum Guten verändern. Zudem wird sie, wie man ehrlicherweise zugeben muss, kaum jemanden ansprechen, der über etwas mehr Bildung verfügt, und sie dient als Deckmantel von schrecklich viel Stolz und Vorurteilen.

Der andere Ansatz, so de Lubac, ist die engstirnige historischkritische Auslegung derer, die keine wirkliche Gotteserfahrung haben (das ist die Versuchung der Progressiven). Diese Art, die Bibel auszulegen, liefert üblicherweise «aufgeklärte» Formulierungen, hinter denen aber keine innere Erfahrung steht, die die Wirklichkeit des spirituellen Lebens wachrufen könnte. Eine Rede über Gott ohne Liebe zu Gott! Hier bleibt als einzig möglicher Weg, den Geist durch Buchstaben zu ersetzen, die innere Autorität durch Formeln, das tatsächliche Erkennen durch angelerntes Wissen. Da ist nur der Kopf im Spiel, aber kaum das Herz. Am Ende stehen genaue Erklärungen, was der griechische Text wörtlich bedeutet und ob Jesus das wirklich selbst gesagt haben könnte, aber es bleibt bei den Erkenntnissen eines kontrollierenden Verstandes, ohne eine Einsicht, in der das Herz wirklich etwas Neues, wirklich Gnade erfährt.

Wir wollen hier versuchen, zwischen diesen beiden unzureichenden Ansätzen einen gesunden Mittelweg einzuschlagen. Wir wollen also zum einen solide kulturgeschichtliche Informationen berücksichtigen und psychologische und historische Erkenntnisse aufgreifen; aber zum anderen soll all das dazu dienen, Sie zur inneren Achtsamkeit auf den göttlichen Geist anzuleiten, der Sie bereits jetzt führt. Es geht darum, den Text der Bibel nicht mit einem kontrollierenden Besserwissen zu lesen, sondern im Vertrauen auf die innere Begleitung des Geistes – statt ihm rasche Ergebnisse abzuverlangen.

Bei diesem Ansatz wird Ihre Einsicht von innen wachsen, und nicht bloß, «weil es eben so in der Bibel steht» oder weil Richard Rohr das schreibt. Der Ökonom E. F. Schumacher schrieb, ein spirituell reifer Mensch zeichne sich immer dadurch aus, dass er zuversichtlich zwischen äußerer und innerer Autorität hin- und hertanzen könne. Meiner Erfahrung nach setzen Konservative übermäßig auf äußere Autorität, während Liberale dazu neigen, sich im Übermaß auf ihre eigene innere Autorität zu verlassen. Ein reifer Mensch bewegt sich in jenem offenen Raum dazwischen, den Gott und die Gnade bieten. Ganz sicher und bequem ist er nie.

Deshalb möchte ich meine Leserinnen und Leser gleich im Voraus warnen: Wenn Sie sich darauf einlassen, mit dem Text wirklich zu ringen, kann das sehr spannend werden, aber es stellt auch Ihre Art und Weise, die Bibel und sich selbst zu sehen, infrage. Wenn wir den Kontext kennenlernen, in dem Jesus dieses sagte oder Jeremia jenes tat; wenn wir tiefer graben und das Motiv hinter den Handlungen der biblischen Gestalten erkennen, geht uns auf, wie revolutionär und gegen unsere erste Intuition der Bibeltext oft ist. Machen Sie sich also darauf gefasst, dass Sie verwandelt werden.

Albert Einstein und C. G. Jung äußerten – jeder auf seine Weise – die grundlegende Frage des Menschen sei: «Sind wir auf etwas Unendliches bezogen oder nicht?» Diese Frage ist wesentlich auch für die spirituelle Männerarbeit, die vom Zentrum für Aktion und Kontemplation in New Mexico ausgeht. Bei den Initiationsriten für Männer, die wir halten, stelle ich die Frage: «Sind wir Teil eines ‹kosmischen Eis› voller Sinn? Sind wir Teil eines geheimnisvollen Universums? Oder bleiben wir alle nur in unserer verzweifelten Suche nach ein bisschen privatem Sinn stecken?» Die biblische Offenbarung sagt uns, dass wir unserem Wesen nach auf etwas Unendliches bezogen sind. Und sie macht uns darauf aufmerksam, dass uns der volle Sinn unseres Lebens erst dann aufgehen kann, wenn wir uns als kleiner Faden in einem viel größeren Gewebe verstehen. Die Astrophysiker und Sozialbiologen sagen heute das Gleiche. Die Einsichten aller Wissenschaften konvergieren mehr denn je.

Innerhalb des «Kreislaufs des Lebens» können wir unseren persönlichen Sinn suchen und finden; aber die biblische Offenbarung bringt etwas Neues: Der Sinn wird uns als Geschenk gegeben. Auch die Bibel sagt uns: Ihr seid Teil von etwas Unendlichem, auf ganz wunderbare Weise, aber es wird euch auf ganz besondere Weise zuteil. Und diese Erfahrung nennen wir Gnade, ein unverdientes Geschenk. Gott kommt immer und für immer als ganz und gar Verborgener und dennoch vollkommen Offenbarter, und zwar in ein und demselben Augenblick oder Ereignis. Dabei zwingt er sich uns nie auf und wir müssen nicht sehen, wenn wir nicht sehen wollen. Gottes «Epiphanie» lässt sich am besten durch ein «nicht-duales Denken» wahrnehmen. (Was ich damit meine, werde ich gleich noch genauer erklären.)

Historisch gesehen steht «Religion» zum größten Teil für die Erwartung, wir Menschen könnten auf dem Weg über bestimmte geistliche Orte, präzise Rituale oder richtige Worte zu Gott kommen. Unser korrektes Verhalten oder unsere Moral würden uns zu Gott bringen oder Gott zu uns. Tatsächlich fängt fast jeder Mensch so an: Er sieht sich nach den richtigen Wanderkarten um oder hofft, die Kriterien einer Art himmlischer Eignungsprüfung erfüllen zu können. Dem liegt die Annahme zugrunde: Wenn ich die richtigen Antworten weiß und alles richtig mache, wird Gott mich mögen! Gottes Liebe hielt man für recht voraussetzungsreich und dachte sich, dass eben die besonders Tüchtigen sie gewinnen würden. Aber die Bibel macht die Verwandlung des Menschen überhaupt nicht von menschlicher Tüchtigkeit abhängig, sondern sieht sie am Werk in einem der beliebtesten und wirksamsten Verstecke Gottes: in der Demut. (Lesen Sie dazu in Matthäus 5,1–12 die acht Seligpreisungen.) Jesus warnt davor, dass wir diese «Armut im Geist» zu verlieren drohen, wenn wir ins angebliche Erwachsensein hineinwachsen (Matthäus 18,2; Markus 9,3–6).

In der biblischen Offenbarung gelangen wir zu Gott durch das, was ich als «das Augenblickliche» bezeichnen möchte, das Hier und Jetzt oder ganz einfach: das, was ist. Die Bibel wendet unseren Weg ab von sakralen Orten (darum musste der Jerusalemer Tempel ein Ende nehmen), von sakralen Handlungen (deshalb mussten die religionsgesetzlichen Vorschriften relativiert werden) und von denkerischen Glaubenssystemen (weshalb Jesus diesbezüglich keine Vorbedingungen machte). Stattdessen richtet die Bibel unsere Aufmerksamkeit auf die Zeit als heilige Zeit. Der letzte Satz des Matthäusevangeliums lautet: «Seid gewiss: Ich bin bei euch bis ans Ende der Zeit.»

Es ist die Zeit selbst und die Geduld mit ihr, die offenbaren, wie die Gnade beschaffen ist. Aus diesem Grund brauchen die meisten von uns so viel Zeit, bis wir zum Glauben finden. Am Ende verlagert sich der Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit von der Sorge um perfekte Handlungen jeglicher Art auf die nackte Gegenwart selbst (das Schlüsselwort dafür heißt «Gebet»). Jesus bezeichnet das oft als «Wachsamkeit», «Sehen» oder «Wachsein». Wer achtsam und erwacht ist, erkennt von selbst. Die Aufforderung «Bleibt wachsam» ist fast das Letzte, was Jesus zu den Aposteln – zweimal – sagt, bevor er abgeführt wird, um getötet zu werden. Aber dann erkennt und anerkennt er ihr Unvermögen und spricht so mitfühlend zu ihnen und zu uns: «Schlaft weiter und ruht. Aber die Stunde ist gekommen» (vgl. Markus 14,35–41).

Eckhart Tolle macht in seinem Buch Jetzt! Die Kraft der Gegenwart (Bielefeld 2002) darauf aufmerksam, dass man nicht an einem bestimmten Ort sein, ja nicht einmal ein perfekter Mensch sein muss, um die Fülle Gottes erfahren zu können. Gott ist immer gegeben, ist in jedem Augenblick inkarniert und denen gegenwärtig, die es selbst verstehen, gegenwärtig zu sein. Merkwürdigerweise sind es oft unvollkommene Menschen und Menschen in ganz weltlichen Umfeldern, die «der Gegenwart» (Parousia, «Fülle») begegnen. Das wird in der ganzen Bibel immer wieder deutlich gezeigt.

Klar und deutlich gesagt: Ein Grundgedanke der biblischen Offenbarung ist, dass sich Gott im Gewöhnlichen, im Gegenwärtigen, im Täglichen, im Jetzt manifestiert, also in den konkreten Inkarnationen des Lebens. Das steht im Gegensatz zur Vorstellung, dass Gott auf reine, spirituelle, richtige Umstände und einen Idealzustand wartet, bis er sich mitteilt. Deshalb stellt Jesus die Religion auf den Kopf! In der katholischen Theologie war sogar der Begriff der «aktuellen Gnade» üblich, also der Gnade, die uns im aktuellen Augenblick geschenkt wird. Und deshalb sage ich, dass unsere Erfahrungen es sind, die uns verwandeln, wenn wir dazu bereit sind, uns unseren Erfahrungen wirklich von Anfang bis zum Ende auszusetzen.

Das ist aber auch der Grund, weshalb wir uns all diesen scheinbar mühsamen und langweiligen Büchern der Könige, der Chroniken, Levitikus, Numeri und der Geheimen Offenbarung aussetzen müssen. Wir lesen in diesen Büchern von Sünde und Krieg, Ehebruch und anderen Affären, von Königen und Mordaktionen, von Intrigen und Betrügereien – also von den ganz gewöhnlichen wunderbaren und traurigen Ereignissen des menschlichen Lebens. Diese Bücher dokumentieren das Leben realer Gemeinschaften und konkreter gewöhnlicher Menschen, und damit sagen sie uns, dass «Gott zu uns in der Verkleidung unseres Lebens kommt» (eine wunderbare Formulierung, die von meiner lieben Freundin und Kollegin Paula D’Arcy stammt). Aber für die meisten «religiösen» Menschen ist das wohl eine Enttäuschung. Offensichtlich würden sie es vorziehen, wenn Gott in ihren Gottesdiensten zu ihnen käme.

Gottes Offenbarungen sind immer konkret und spezifisch. Sie stammen nicht aus der platonischen Welt der Ideen und Theorien, mit denen man richtig oder falsch liegen kann. Die Offenbarung ist nicht etwas, das man in Kategorien einordnet, sondern etwas oder Jemand, dem man begegnet! Dies alles wird als das «Geheimnis der Inkarnation» bezeichnet. Es erreicht seine Fülle in der Menschwerdung Gottes in einem ganz gewöhnlich aussehenden Menschen namens Jesus. Walter Brueggemann nennt das den «Skandal des Partikulären».

Es geht dabei weniger darum, dass wir besondere spirituelle Wesen, sondern dass wir Menschen werden. Die biblische Offenbarung sagt, dass wir bereits spirituelle Wesen sind, wir wissen es bloß noch nicht. Die Bibel versucht Ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen, indem sie Gott im Gewöhnlichen offenbart. Deshalb finden wir ihren Text auf weite Strecken so weltlich, konkret und – ehrlich gesagt – unspirituell! Viele von uns würden statt der Bibel lieber die inspirierende Lebensbeschreibung eines/r Heiligen lesen.

Wir haben es zu einem schlimmen Dualismus zwischen dem Spirituellen und dem sogenannten Nicht-Spirituellen kommen lassen. Diesen Dualismus wollte Jesus als grundfalsch entlarven. Das Prinzip der Inkarnation, der Menschwerdung, besagt, dass Materie und Geist sich nie trennen lassen. Jesus kam, um uns beizubringen, dass diese beiden scheinbar verschiedenen Welten eine einzige Welt sind und immer waren. Wir hatten dafür bloß keinen Blick. Darum musste Gott sie in seinem eigenen Leib zusammenführen (siehe Epheser 2,11–20).

In der Bibel sehen wir, wie Gott sich ganz gewöhnlicher Menschen und ihrer verwundeten Lebensgeschichten bedient, Menschen, die die Kriterien der späteren römischen Heiligsprechungsprozesse niemals hätten erfüllen können. Mose, Debora, Elija, Paulus und Ester waren, zumindest als Komplizen, an Morden beteiligt. David war ein Ehebrecher und ein Lügner. Propheten wie Ezechiel, Obadja und Jeremia scheinen sehr neurotische Persönlichkeiten gewesen zu sein. Dazu eine lange Geschichte lächerlich böser Könige und Krieger – und doch waren es all diese Leute, mit denen Gott gewirkt hat.

Das jüdische Volk steckt immer mitten in der blutigen Menschheitsgeschichte, ohne den Schutz einer ausgefeilten Theologie oder besonderer Lehren, ausgerüstet allein mit dem Glauben, dass JHWH mit ihm ist und es führt. Ich fürchte, der wahre biblische Glaube lässt auch Sie sehr verletzlich für die Realität werden, denn wer ihn teilt, für den gibt es keinen Ort mehr, an dem sie oder er sich verstecken kann. Kein Wunder also, dass uns Abstraktionen lieber sind als das Tatsächliche! Hinter Abstraktionen können wir uns verstecken, aber die Inkarnation macht uns zu Menschen, die äußerst schutzlos und zugleich ständig angesprochen und eingeladen sind.

Die Einbeziehung des Negativen und selbstkritisches Denken

Wenn Sie eingewilligt haben, Ihre Erfahrungen wirklich zu erfahren – wenn sie akzeptieren, dass Gott sich in der gegenwärtigen Realität findet, stehen Sie vor einer weiteren Aufgabe: Sie müssen mit der positiven Seite der gegenwärtigen Realität auch deren negative Seite erfahren! Kein Wunder also, dass wir zum Aufspalten neigen, zum Vermeiden und Verleugnen; kein Wunder, dass uns abstrakte Ideen lieber sind, bei denen man das inakzeptable Material weglassen kann. Aber die Hebräische Bibel bezieht, und das ist alles andere als selbstverständlich, das Negative mit ein. Ebenso Jesus, wenn er «vierzig Tage lang vom Teufel versucht wird» (beachten Sie, dass zur Versuchung mindestens ein Stück weit immer auch gehört, dass man sich von etwas Negativem angezogen fühlt und folglich in einen Konflikt gerät).

Das jüdische Volk behielt in seinen heiligen Schriften alles, was man vielleicht gerade nicht erwarten würde. Die Bibel schildet unzensiert, wie das Volk ständig gegen Gott murrte und Gott auswich; sie erzählt von überheblichen und bösen Herrschern; sie lässt die äußerst kritischen Propheten zu Wort kommen. Aber die jüdische Gemeinde las all diese Dinge öffentlich vor und liest sie bis heute, und wir lesen sie auch. Es sind Texte, die den Zuhörern nicht durch eine rühmlich verklärte Geschichte schmeicheln.

Was in die hebräische Bibel eingebaut ist und bei Jesus und den Propheten besonders stark zum Ausdruck kommt, ist die Fähigkeit zum selbstkritischen Denken. Das ist der erste Schritt über die dualistische Denkungsart hinaus. Selbstkritisches Denken lehrt uns, Geduld zu haben mit der Zwiespältigkeit und dem Geheimnis. Kritisches Denken ist ein Wesenszug des abendländischen Geistes. Es hat zu den naturwissenschaftlichen und industriellen Revolutionen und auch zu den protestantischen Reformationen geführt. Die jüdische und die christliche Religion hatten dank dieser Art von Texten immer die Kraft, sich von innen heraus zu korrigieren.

Das kommt in der Religionsgeschichte ziemlich selten vor. Aber diese Selbstkritik ist notwendig, um die Religion vor ihrer natürlichen Tendenz zu bewahren, überheblich und selbstgefällig zu werden. Sie verhindert, dass die Selbstvergöttlichung bestimmter Gruppen lange andauert, auch wenn Kritik zu Zynismus oder Skeptizismus verkommen kann.

Das jüdische Volk verfügte über eine ungewöhnliche Kraft, sich negativen Realitäten zu stellen und sich dabei auf niemanden außer Gott zu verlassen. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was wir heute oft vorfinden. Religion heute fühlt sich häufig an wie eine Spiritualität der glücklichen Augenblicke im Leben. Jüdische Spiritualität ist geboren aus dem Durchschreiten der schlimmsten Augenblicke. Das dürfte der Grund sein, weshalb die jüdische Gemeinde so tapfer bis heute durchgehalten hat, sogar nach dem Holocaust.

Jüdischer Glaube ist eine herausfordernde Religion. Stellen Sie sich vor, wie Mose vor dem Durchzug durch das Rote Meer sagt: «Ihr habt nichts weiter zu tun, als euch still zu verhalten. JHWH wird für euch kämpfen» (Exodus 14,13–14). Oder: «Niemand, der auf JHWH hofft, wird zugrunde gehen» (Psalm 25,3).

Solche Aussagen lassen einen nackt vor seinen Feinden und vor dem gegenwärtigen Augenblick stehen. Kein Wunder, dass ein Drittel der Psalmen Klagepsalmen sind. In der Geschichte des Christentums war man weithin unfähig, sich so zu verhalten (und fühlte sich dem Judentum überlegen; davon wird im 9. Kapitel noch ausführlicher die Rede sein).

Unsere Versuchung besteht jetzt und immer darin, nicht auf Gott zu vertrauen, sondern auf unsere Glaubenstradition des Gottvertrauens zu vertrauen. Das sind zwei verschiedene Dinge! Wir verlegen unseren Glauben oft in unsere Tradition, aus der wir erzählen können, welch großes Gottvertrauen alle unsere Heiligen und Theologen hatten. Das ist eine sehr geschickte Art, sich persönlich um diese Erfahrung zu drücken und eine erschreckend lebendige Begegnung mit dem Gott zu vermeiden, und damit auch der fortlaufenden Inkarnation aus dem Weg zu gehen. Wir neigen dazu, auf die Vergangenheit um ihrer selbst willen zu vertrauen, so als ob Gott auf die Welt gekommen wäre, um menschliche Traditionen zu schützen oder als ob die Vergangenheit irgendwie heiliger wäre als die Gegenwart. Jesus sagt ganz ausdrücklich, dass das nicht stimmt (siehe Matthäus 15,3).

Ja, ich liebe die Tradition, aber ich verstehe darunter die fortwährende Überlieferung einer Geschichte, in der es um die Auslieferung an das wunderbare und immer größere Geheimnis Gottes geht. So verstanden, wird sie immer eine Tradition des Nichtwissens sein. Man bezeichnet das als die apophatische Tradition oder die «Wolke des Nichtwissens». Hier geht es um einen ganz eigenen Begriff von Glauben, nämlich um die Freiheit, nicht zu wissen, weil ich tiefer erkannt bin, als ich selbst erkenne oder zu erkennen brauche (1 Korinther 13,12). Wir müssen genügend erkennen, um fähig zu sein, das Geheimnis des Nichtwissens auszuhalten und mit ihm zu leben. Aber davon soll ausführlicher im 6. Kapitel die Rede sein.

Es ist erstaunlich, wie in der Religion dieser biblische Glaubensbegriff umgedreht wurde, so dass er jetzt genau das Gegenteil bedeutet: Glaube wurde zu einer Überlieferung des sicheren Wissens, einer vorgeblichen Vorhersagbarkeit und vollständigen Gewissheit darüber, wen Gott mag und wen er nicht mag. Ich vermute, dass wir heute meinen, wir hätten Gott in die Tasche gesteckt. Wir wissen, was Gott als nächstes sagen wird, weil wir der Überzeugung sind, unsere eigene Konfession habe das ganz genau herausgefunden. In diesem Denkschema ist Gott nicht mehr frei, sondern er muss sich an unsere Regeln und Entscheidungen halten. Wenn Gott aber nicht frei ist, kommen wir ins Schleudern, denn jedes Mal, wenn Gott vergibt oder Erbarmen erweist, erscheint es uns, als breche Gott seine eigenen Regeln und lege eine unerträgliche Unzuverlässigkeit an den Tag!

Das Erstaunliche an den biblischen Hebräern ist, dass sie ihre Wirklichkeit nicht verdrängten. Sie lehnten es ab, sich von abergläubischen Mythen trösten zu lassen. In gewisser Hinsicht distanzierte sich Israel nicht von seinen eigenen Widersprüchen oder von den Widersprüchen des Lebens, und auch nicht von den Entsetzlichkeiten und Abgründen der Menschheitsgeschichte – ein Abgrund, der für Jesus zum «Kreuz» wurde. Aber diese harten Realitäten waren in Israel ja bereits gegenwärtig: in den Erzählungen über den leidenden Ijob, in den Erfahrungen des Exodus und des Exils und im Leben unter einem ständigen Wechsel von Eroberern und Besatzern. Israel muss sich gegenüber Gott oft so gefühlt haben, wie es ein Teresa von Ávila zugeschriebener Satz in Worte fasst: «Wenn das die Art ist, wie du deine Freunde behandelst, dann möchte ich überhaupt nicht sehen, wie du mit deinen Feinden umgehst.»

Das kosmische Ei

Für unsere Überlegungen in diesem Buch möchte ich Sie bitten, sich ein Bild vorzustellen, das ich bereits in einigen meiner anderen Werke verwendet habe. Ich nenne es das Bild vom «kosmischen Ei». Stellen Sie sich vor, die gesamte Wirklichkeit werde von drei übereinanderliegenden Sinn-Kuppeln überwölbt. Die kleinste Sinn-Kuppel ist meine private Geschichte: «Das bin ich», «Das ist meine Geschichte». Vermutlich verfügten Menschen noch nie in der Geschichte über die Sprache und die Freiheit, ihren persönlichen Lebenssinn derart ausführlich zum Thema zu machen, wie sie das etwa in den letzten dreißig Jahren im Westen tun können. Es ist die Sprache der Talkshows – eine subjektive, interpersonale, auf Selbsthilfe angelegte, psychologische Sprache. Es ist eine sehr gute Sprache, aber sie hat ihre Grenzen.

In der Vergangenheit hatten die meisten Menschen nicht einmal den Zugang zu dieser Art von Sprache. Sie überlebten weithin deshalb, weil sie sich an die größeren Sinn-Kuppeln hielten. Wir haben diese private Sprache erst unlängst entdeckt, obwohl sie im Christentum bereits mit den Bekenntnissen von Augustinus und den brillanten Auslotungen der inneren Seelenzustände durch Johannes vom Kreuz beginnt. Diese Sprache beantwortet eine Menge Fragen, und daher schwelgen wir derzeit ausführlich in ihr.

Der kritische Punkt daran ist: Sie ist derart reichhaltig, dass sie zum Ersatz für echte Transzendenz wird. Denn meine Geschichte ist nun einmal nicht die Geschichte schlechthin. Diese Sprache erschafft Einzelpersönlichkeiten und sogar gute Einzelpersönlichkeiten, aber keine Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft oder Geschichte verstehen. Es ist nicht die Sprache der Heiligkeit und der Ganzheit des Lebens.

Das kosmische EiDie biblische Religion und jede gesunde, lebensfördernde Religion umfassen das ganze kosmische Ei.