Insel der Vergessenen - Victoria Hislop - E-Book
NEUHEIT

Insel der Vergessenen E-Book

Victoria Hislop

0,0

Beschreibung

Ihr ganzes Leben lang wünscht sich die Londoner Archäologin Alexis Fielding, mehr über ihre Wurzeln zu erfahren. Doch ihre Mutter Sofia weigert sich, von ihrer griechischen Familie und ihrer Kindheit zu erzählen. Mit fünfundzwanzig beschließt Alexis, sich selbst ein Bild zu machen und reist nach Kreta. In Sofias Heimatort macht sie eine schockierende Entdeckung: Vor der Küste, direkt gegenüber dem Dorf Plaka, liegt die verlassene Felseninsel Spinalonga, wo sich bis in die 1960er-Jahre eine der letzten europäischen Leprakolonien befand. Als Alexis einer alten Freundin ihrer Mutter begegnet, erfährt sie endlich die ganze tragische und zugleich wunderschöne und berührende Geschichte ihrer Familie, die eng verknüpft ist mit dem Schicksal der Leprakranken auf Spinalonga.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 571

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Victoria Hislop

Insel der Vergessenen

Roman

Aus dem Englischen von Angelika Felenda

Oktopus

Für meine Mutter Mary

Plaka, 1953

Ein rauer Wind fegte durch die Gassen von Plaka und erfasste die Frau. Die eiskalte Herbstluft raubte ihr fast die Sinne, doch ihren Kummer vermochte sie nicht zu betäuben. Während sie die letzten Meter zum Kai zurücklegte, stützte sie sich schwer auf ihren Vater, wie eine alte Frau, der jeder Schritt stechende Schmerzen bereitete. Doch ihr Schmerz war nicht körperlich. Ihr Körper war so stark wie der einer jeden anderen jungen Frau, die ihr Leben lang die saubere Luft Kretas geatmet hatte, und die Haut so jugendfrisch und ihre Augen so braun und strahlend wie die eines jeden Mädchens auf der Insel.

Das kleine Boot mit seiner Last aus seltsam geformten Bündeln wippte und schlingerte auf dem Wasser. Der ältere Mann beugte sich langsam hinab und versuchte, mit einer Hand das Gefährt ruhig zu halten, während er die andere ausstreckte, um seiner Tochter zu helfen. Sobald sie sicher an Bord war, legte er eine Decke über ihre Schultern, um sie vor Wind und Wetter zu schützen. Das einzige Anzeichen, dass sie nicht ein weiteres Stück Fracht war, waren ihre langen dunklen Haarsträhnen, die offen im Wind flatterten. Vorsichtig machte er sein Boot aus der Vertäuung los – es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun –, und ihre Reise begann. Es war nicht der Anfang einer kurzen Fahrt, um Waren auszuliefern. Es war der Anfang einer Reise in ein neues Leben. Dem Leben in einer Leprakolonie. Dem Leben auf Spinalonga.

Erster Teil

1

Plaka, 2001

Nachdem das Seil losgebunden war, flog es durch die Luft und besprühte die bloßen Arme der Frau mit Meerwasser. Es trocknete schnell in der Sonne, die aus dem wolkenlosen Himmel auf sie niederbrannte, und hinterließ ein feines Muster aus Salzkristallen auf ihrer Haut. Alexis war der einzige Passagier in dem kleinen, verwitterten Boot, und als es vom Kai in Richtung der einsamen, unbewohnten Insel tuckerte, erschauerte sie bei dem Gedanken an all die Männer und Frauen, die vor ihr dorthin gefahren waren.

Spinalonga. Sie spielte mit dem Wort wie mit einem Olivenkern, den man langsam im Mund hin und her bewegt. Die Insel lag direkt vor ihnen, und als sich das Boot der großen venezianischen Festung am Ufer näherte, meinte sie die Vergangenheit dieses Ortes förmlich spüren zu können, eine Vergangenheit, die nicht vergangen war. Dies ist ein Ort, dachte sie, an dem Geschichte noch immer lebendig ist, wo echte Menschen leben, keine Sagengestalten. Was für ein Unterschied zu den antiken Palästen und Sehenswürdigkeiten, die sie während der vergangenen Wochen, Monate, sogar Jahre besucht hatte.

Alexis hätte natürlich ebenso gut in den Ruinen von Knossos herumklettern können, um sich anhand der Trümmerreste ein Bild davon zu machen, wie das Leben vor viertausend Jahren ausgesehen haben mochte. Doch seit Kurzem hatte sie das Gefühl, dass diese Vergangenheit einfach zu weit entfernt war, um sie wirklich zu berühren. Obwohl sie ein Diplom in Archäologie und einen Job in einem Museum hatte, spürte sie, dass ihr Interesse an dem Gegenstand mit jedem Tag abnahm. Ihr Vater war ein Gelehrter, der seine Studien mit Leidenschaft betrieb, und ganz naiv hatte sie immer angenommen, sie würde einfach in seine Fußstapfen treten. Für jemanden wie Marcus Fielding konnte eine antike Zivilisation gar nicht antik genug sein, um sein Interesse zu wecken. Für Alexis hingegen, inzwischen fünfundzwanzig, hatte der Ochse, den sie auf dem Weg hierher überholt hatte, entschieden mehr Bedeutung für ihr Leben, als es der Minotaurus im Innern des kretischen Labyrinths je haben konnte.

Wie es in ihrem Berufsleben weitergehen würde, war im Moment für sie weniger wichtig als die Frage, was mit Ed werden sollte. Denn während sie die spätsommerliche Wärme auf ihrer griechischen Ferieninsel genossen, schien sich ihre junge, vielversprechende Liebe dem Ende zuzuneigen. Ihre Zuneigung war im intellektuellen Treibhausklima einer Universität aufgeblüht, doch draußen in der wirklichen Welt verwelkt. Nach Ablauf von drei Jahren glich sie einem Setzling, der es nicht geschafft hatte, im Blumenbeet zu gedeihen.

Ed sah gut aus. Das war eine Tatsache, nicht nur ihre persönliche Meinung. Aber gerade sein gutes Aussehen störte sie manchmal ganz entschieden, war ihrer Ansicht nach der Grund für seine arrogante Haltung und sein zuweilen beneidenswertes Selbstwertgefühl. Sie hatten sich nach dem Motto »Gegensätze ziehen sich an« gefunden: Alexis mit ihrer blassen Haut, dem dunklen Haar und den dunklen Augen, und der blonde, blauäugige Ed. Machmal jedoch hatte sie das Gefühl, dass ihre eigene, ungestümere Natur durch Eds Neigung zu Disziplin und Ordnung zurückgedrängt wurde, und sie wusste, dass sie das nicht wollte. Selbst das kleinste Quäntchen an Spontaneität, nach dem sie sich sehnte, schien ihm ein Gräuel zu sein.

Viele seiner guten Eigenschaften, die alle Welt an ihm so schätzte, trieben sie inzwischen in den Wahnsinn. Sein unerschütterliches Selbstbewusstsein etwa. Es beruhte auf der Tatsache, dass Ed zu jeder Zeit haargenau wusste, was auf ihn zukam, und zwar schon vom Zeitpunkt seiner Geburt an. Ed war eine lebenslange Stellung in einer Anwaltskanzlei garantiert, und die kommenden Jahre waren für ihn eine vorhersagbare Folge von Posten und Wohnungen in angemessener Lage. Was Alexis haargenau wusste, war nur, dass sie nicht füreinander geschaffen waren. In den Ferien hatte sie immer öfter über die Zukunft nachgegrübelt. In der kam Ed allerdings nicht vor.

Selbst im Alltagsleben passten sie nicht zusammen. Die Zahnpasta wurde am falschen Ende ausgedrückt. Aber sie war die Missetäterin, nicht Ed. Seine Reaktion auf ihre angebliche Schlampigkeit war symptomatisch für seine ganze Lebenseinstellung. Immer wieder versuchte sie seine übertriebene Ordnungsliebe anzuerkennen, ärgerte sich aber jedes Mal aufs Neue über die unausgesprochene Kritik an ihrer chaotischeren Art. Und dann dachte sie daran, wie sie sich im Durcheinander des Arbeitszimmers ihres Vaters immer wohlgefühlt, das Schlafzimmer ihrer Eltern jedoch, wo ihre Mutter für helle Wände und klinische Sauberkeit sorgte, grässlich gefunden hatte.

Immer war alles nach Eds Kopf gegangen. Er war ein Glückskind: immer Klassenbester und jedes Jahr unangefochtener Sieger bei allen Wettkämpfen. Der geborene Schulsprecher. Es wäre schmerzlich mitanzusehen, wenn diese Seifenblase platzte. Er war in dem Glauben erzogen worden, dass die Welt ihm gehörte, aber Alexis begann allmählich einzusehen, dass sie in seiner Welt keinen Platz hatte. Sollte sie wirklich ihre Unabhängigkeit aufgeben und mit ihm leben? Zugegeben, einiges sprach dafür: eine schäbige Mietwohnung in Crouch End gegen ein schickes Apartment in Kensington einzutauschen – war sie wahnsinnig, das auszuschlagen? Doch auch wenn Ed davon ausging, dass sie im Herbst bei ihm einziehen würde, gab es einige Fragen, die sie sich stellen musste: Was für einen Sinn sollte es haben zusammenzuwohnen, wenn sie nicht die Absicht hatten, zu heiraten? Und war er überhaupt der Mann, den sie sich als Vater ihrer Kinder wünschte? Derlei Zweifel waren ihr seit Wochen, sogar schon seit Monaten durch den Kopf gegangen, und früher oder später musste sie den Mut aufbringen, einen Entschluss zu fassen. Doch Ed übernahm den größten Teil des Redens und war voll und ganz mit der Organisation dieser Ferien beschäftigt, sodass er nicht zu bemerken schien, wie sie von Tag zu Tag schweigsamer wurde.

Wie anders waren doch die Reisen in ihrer Studentenzeit gewesen, als sie von einer griechischen Insel zur nächsten geschippert war, als sie und ihre Freunde frei und ungebunden in ihren Entscheidungen waren und unbeschwert in die langen, sonnendurchglühten Tage hineinlebten. Als die Frage, in welche Bar, an welchen Strand man gehen, wie lange man auf einer Insel bleiben wollte, durch das Werfen einer 20-Drachmen-Münze entschieden wurde. Kaum zu glauben, wie sorglos das Leben einst gewesen war. Dieser Urlaub war so voller Konflikte, Streitigkeiten und Selbstzweifel. Es war ein Kampf, der schon lange vor ihrer Ankunft auf Kreta begonnen hatte.

Wie kann ich mit fünfundzwanzig so entsetzlich ziellos sein, hatte sie sich gefragt, als sie ihre Reisetasche packte. Da sitze ich in einer Wohnung, die mir nicht gehört, mache Ferien von einem Job, der mir nicht gefällt, gemeinsam mit einem Mann, der mir kaum etwas bedeutet. Was ist los mit mir?

Als Sofia, ihre Mutter, in ihrem Alter war, war sie bereits seit einigen Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder. Warum war sie in so jungen Jahren schon so erwachsen gewesen? Wie konnte sie in dem Alter schon eine Familie gründen, während Alexis sich noch immer wie ein Kind vorkam? Wenn sie mehr darüber wüsste, wie ihre Mutter ihr Leben gemeistert hatte, würde ihr dies vielleicht helfen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Doch Sofia war immer sehr zurückhaltend gewesen, was ihre Vergangenheit betraf, und im Lauf der Jahre war ihre Verschwiegenheit zu einer Barriere zwischen Mutter und Tochter geworden. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, fand Alexis, dass die große Menschheitsgeschichte in ihrer Familie so wichtig genommen wurde, während man sie, Alexis, daran zu hindern versuchte, die eigene Geschichte genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Gefühl, dass Sofia vor ihren Kindern etwas verbarg, warf einen dunklen Schatten des Misstrauens auf die Familie. Sofia Fielding schien ihre Wurzeln nicht nur begraben, sondern die Erde darüber auch noch festgestampft zu haben.

Alexis hatte nur einen einzigen Hinweis auf die Vergangenheit ihrer Mutter: ein verblichenes Hochzeitsfoto, das seit Menschengedenken auf Sofias Nachttisch stand und dessen reich verzierter Silberrahmen vom Polieren ganz dünn geworden war. In ihrer frühen Kindheit, als Alexis das große Bett ihrer Eltern als Trampolin benutzte, hatte sie das Bild von dem lächelnden, aber ziemlich steif posierenden Paar immer vor Augen gehabt. Manchmal stellte sie ihrer Mutter Fragen über die schöne Frau in dem mit Spitzen besetzten Kleid und den wie gemeißelt wirkenden weißhaarigen Mann. Wie hießen sie? Warum hatten sie graues Haar? Wo waren sie jetzt? Sofia hatte nur sehr knapp geantwortet: Es waren ihre Tante Maria und ihr Onkel Nikolaos, die auf Kreta gelebt hatten und inzwischen gestorben waren. Damals hatte sich Alexis mit der Antwort zufriedengegeben – aber jetzt musste sie mehr wissen. Die herausgehobene Stellung des Bildes – es war die einzige gerahmte Fotografie im ganzen Haus, abgesehen von den Fotos, die sie selbst und ihren jüngeren Bruder Nick zeigten – hatte sie einfach besonders neugierig gemacht. Dieses Paar war im Leben ihrer Mutter eindeutig wichtig gewesen, und dennoch schien Sofia so ungern über sie zu reden. Nein, sie weigerte sich schlicht und einfach. Als Alexis älter wurde, lernte sie den Wunsch ihrer Mutter nach Privatsphäre zu respektieren – er war so ausgeprägt wie ihr eigenes teenagerhaftes Verlangen, sich abzugrenzen und Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Aber darüber war sie jetzt hinausgewachsen.

Am Abend, bevor sie in die Ferien fuhr, hatte sie ihre Eltern besucht, die in einem viktorianischen Reihenhaus in einer ruhigen Straße in Battersea lebten. Es war immer Familientradition gewesen, zusammen in ein griechisches Restaurant zum Essen zu gehen, bevor Alexis oder Nick wieder an die Universität zurückfuhren oder eine Auslandsreise antraten, aber diesmal hatte Alexis einen anderen Grund für ihren Besuch. Sie brauchte den Rat ihrer Mutter, wollte von ihr wissen, was sie mit Ed tun sollte, und – was ebenso wichtig war – sie wollte ihr ein paar Fragen über ihre Vergangenheit stellen. Sie war gut eine Stunde zu früh angekommen und fest entschlossen, ihre Mutter zu zwingen, das Geheimnis um ihre Vergangenheit zu lüften.

Sie trat ins Haus, ließ ihren schweren Rucksack auf den gefliesten Boden fallen und warf ihre Schlüssel laut klimpernd in die Messingschale auf dem Dielenregal. Alexis wusste, dass ihre Mutter nichts mehr hasste, als überrascht zu werden.

»Hallo, Mum!«, rief sie durch die stille Diele.

Da sie annahm, ihre Mutter sei oben, lief sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, und als sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern trat, wunderte sie sich wie üblich über die peinliche Ordnung, die dort herrschte. Eine bescheidene Kollektion von Perlenketten hing an einer Ecke des Spiegels, und drei Parfümflakons standen säuberlich auf Sofias Toilettentisch aufgereiht. Ansonsten gab es keinerlei Krimskrams im Raum, kein Bild an der Wand, kein Buch auf dem Nachttisch. Nur die eine gerahmte Fotografie neben dem Bett. Obwohl sie den Raum mit Marcus teilte, war es Sofias Zimmer und entsprach ganz und gar ihrem Bedürfnis nach Ordnung. Jedes Mitglied der Familie hatte sein eigenes Reich, und jedes dieser Reiche war unverwechselbar.

Marcus’ Reich war sein Arbeitszimmer, wo sich auf dem Boden Berge von Büchern stapelten. Manchmal fielen die hohen Türme um, und die einzige Möglichkeit, zum Schreibtisch durchzukommen, bestand darin, die in Leder gebundenen Folianten als Trittsteine zu benutzen. Marcus arbeitete gern in seinem chaotischen Büchertempel. Es erinnerte ihn an Ausgrabungsarbeiten, wo jeder einzelne Stein sorgfältig markiert war, auch wenn alles für einen Laien nur wie ein Haufen Schutt wirkte. Es war immer warm in diesem Raum, und schon als Kind hatte sich Alexis oft hineingeschlichen, um ein Buch zu lesen oder sich in den weichen Ledersessel zu kuscheln, aus dem die Füllung herausquoll, der aber dennoch der gemütlichste Platz im ganzen Haus war.

Obwohl sie und ihr Bruder schon lange nicht mehr zu Hause lebten, waren die Kinderzimmer unverändert geblieben. Alexis’ Zimmer war immer noch in dem ziemlich düsteren Violett gestrichen, für das sie sich als mürrische Fünfzehnjährige entschieden hatte. Bettüberwurf, Teppich und Schrank waren in einem passenden Lila gehalten, der Farbe von Migräne- und Wutanfällen, wie selbst Alexis jetzt fand, obwohl sie damals auf der Farbe bestanden hatte. Eines Tages würden ihre Eltern sich vielleicht entschließen, es neu streichen zu lassen, aber in einem Haus, wo auf Inneneinrichtung so wenig Wert gelegt wurde, konnte es gut noch einmal zehn Jahre dauern, bis es dazu kam. Die Farbe in Nicks Zimmer hatte schon lange keine Rolle mehr gespielt, weil zwischen den Postern von Arsenal, Heavy-Metal-Bands und vollbusigen Blondinen ohnehin kein Fleckchen Wand zu sehen war. Das Wohnzimmer war ein Raum, den Alexis und Nick sich teilten. Zwei Jahrzehnte lang hatten sie hier endlose Stunden im Halbdunkel vor dem Fernseher verbracht. Die Küche jedoch gehörte allen. Der runde Fichtenholztisch aus den Siebzigerjahren – das erste Möbelstück, das Sofia und Marcus gemeinsam gekauft hatten – war das Zentrum der Wohnung, der Ort, wo alle zusammenkamen, redeten, Spiele spielten, aßen und trotz der oft hitzigen Debatten und Auseinandersetzungen eine Familie wurden.

»Hallo«, sagte Sofia und nickte dem Spiegelbild ihrer Tochter zu. Sie kämmte ihr kurzes, blond gesträhntes Haar und kramte gleichzeitig in einer kleinen Schmuckschatulle. »Ich bin gleich fertig«, fügte sie hinzu und legte ein Paar Korallenohrringe an, die zu ihrer Bluse passten.

Alexis konnte es nicht ahnen, aber nach wie vor bekam Sofia bei diesem Familienritual einen flauen Magen. Der Moment erinnerte sie an die Abende vor den Semesteranfängen ihrer Tochter, wenn sie Fröhlichkeit vortäuschte, aber bedrückt war, weil Alexis bald fort sein würde. Sofias Fähigkeit, ihre Emotionen zu verbergen, schien mit den Gefühlen, die sie unterdrückte, proportional anzuwachsen. Sie sah auf das Spiegelbild ihrer Tochter und auf ihr eigenes Gesicht daneben, und ein Schreck durchfuhr sie. Es war nicht mehr das Gesicht des Teenagers, das sie in ihrer Erinnerung festhielt, sondern das einer Erwachsenen, deren fragender Blick sich jetzt mit dem ihren traf.

»Hallo, Mum«, sagte Alexis ruhig. »Wann kommt Dad heim?«

»Bald, hoffe ich. Er weiß, dass du morgen früh rausmusst, also hat er versprochen, nicht zu spät zu kommen.«

Alexis nahm das vertraute Foto in die Hand und holte tief Luft. Sie war Mitte zwanzig und musste dennoch ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihre Mutter nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Sie musste wissen, was ihre Mutter von der Sache hielt. Sofia hatte geheiratet, bevor sie zwanzig war. Hielt sie ihre Tochter für verrückt, wenn die sich die Möglichkeit entgehen ließ, mit jemandem wie Ed zusammenzuleben? Oder dachte ihre Mutter genau wie sie selbst, dass er schon deswegen nicht der Richtige war, weil sie sich eben diese Frage stellte? Im Kopf ging sie noch einmal alles durch. Wie hatte ihre Mutter so früh wissen können, dass der Mann, den sie heiraten würde, der richtige war? Wie hatte sie wissen können, dass sie für die nächsten fünfzig, sechzig Jahre mit ihm glücklich sein würde? Oder hatte sie gar nicht so weit gedacht? Genau in dem Moment, als sie mit all diesen Fragen herausplatzen wollte, zögerte sie und spürte plötzlich Angst, zurückgewiesen zu werden. Doch es gab eine Frage, die sie stellen musste.

»Könnte ich nicht …«, begann Alexis, »könnte ich nicht einmal dort hinfahren, wo du aufgewachsen bist?« Abgesehen von ihrem griechischen Vornamen wiesen nur Alexis’ dunkle Augen auf die Herkunft ihrer Mutter hin, und mit denen sah sie Sofia nun eindringlich an. »Unsere Reise endet auf Kreta, und es wäre doch ein Jammer, wenn man die Gelegenheit nicht nutzen würde, wenn man schon mal da ist.«

Sofia war eine Frau, der es schwerfiel zu lächeln und ihre Gefühle zu zeigen. Verschwiegenheit und Zurückhaltung waren Teil ihrer Natur, und ihre unwillkürliche Reaktion bestand darin, nach einer Ausrede zu suchen. Doch irgendetwas hielt sie ab. Es waren Marcus’ oft wiederholte Worte, dass Alexis immer ihr Kind, aber nicht auf ewig ein Kind bleiben würde. Selbst wenn sie sich dagegen wehrte, wusste sie, dass dies stimmte, und der Anblick dieser eigenständigen jungen Frau vor ihr bestätigte dies nur noch. Anstatt sich zu verschließen, wie sie es üblicherweise tat, wenn das Thema ihrer Vergangenheit auch nur gestreift wurde, reagierte Sofia mit ungewohnter Wärme und erkannte zum ersten Mal an, dass der Drang ihrer Tochter, mehr über die Wurzeln ihrer Mutter zu erfahren, nur allzu natürlich war. Möglicherweise hatte sie sogar ein Recht darauf.

»Ja …«, antwortete sie zögernd. »Natürlich. Warum nicht.«

Alexis versuchte, ihr Erstaunen zu verbergen, und wagte kaum zu atmen, für den Fall, dass ihre Mutter es sich doch noch anders überlegte.

Dann fügte Sofia mit Nachdruck hinzu: »Doch, das wäre eine gute Gelegenheit. Ich gebe dir einen Brief an Fortini Davaras mit. Sie kannte meine Familie. Sie muss inzwischen ziemlich alt sein, aber sie hat ihr ganzes Leben lang in dem Dorf gewohnt, in dem ich geboren bin, und den Besitzer der dortigen Taverne geheiratet – du bekommst bei ihr bestimmt sogar eine gute Mahlzeit.«

Alexis strahlte vor Aufregung. »Danke, Mum … Und wo genau liegt das Dorf?«, fragte sie. »Von Chania aus gesehen?«

»Etwa zwei Stunden östlich von Heraklion«, sagte Sofia. »Von Chania aus brauchst du vielleicht vier oder fünf Stunden – ziemlich weit für eine Tagesfahrt. Dad kommt jeden Moment, aber wenn wir vom Essen zurück sind, schreibe ich einen Brief an Fortini und zeige dir auf der Karte, wo genau Plaka liegt.«

Das achtlose Zuschlagen der Haustür kündigte Marcus’ Rückkehr von der Universitätsbibliothek an. Seine abgewetzte, zum Bersten volle Ledertasche stand mitten in der Diele. Er war ein Bär von einem Mann mit dichtem Silberhaar und Brille und wog vermutlich so viel wie seine Frau und seine Tochter zusammen. Er begrüßte Alexis mit einem breiten Lächeln, als sie nach unten lief und sich ihm von der untersten Stufe aus in die Arme warf, so wie sie es bereits getan hatte, als sie drei war.

»Dad!«, sagte Alexis einfach, und selbst das war überflüssig.

»Mein schönes Mädchen«, sagte er und umarmte sie auf die warmherzige Art, wie es nur Vätern von solcher Statur möglich ist.

Kurz danach gingen sie in das Restaurant, das fünf Minuten zu Fuß entfernt war. Neben all den schicken Weinlokalen, überteuerten Cafés und angesagten Szenekneipen nahm sich die Taverna Loukakis als ein Hort der Beständigkeit aus. Das Restaurant hatte aufgemacht, kurz nachdem die Fieldings ihr Haus gekauft hatten, und war der einzige Laden, der aus der damaligen Zeit noch existierte. Gregorio, der Besitzer, begrüßte das Trio als alte Freunde und wusste schon, bevor sie Platz genommen hatten, was sie bestellen würden. Wie immer lauschten sie höflich seiner Liste der Tagesspezialitäten, dann deutete Gregorio nacheinander auf jeden von ihnen und sagte: »Meze des Tages, Moussaka, Stifado, Kalamari, eine Flasche Retsina und ein großes Mineralwasser.« Sie nickten und lachten, als er sich mit gespielter Abscheu abwandte, weil sie die neueren Kreationen seines Kochs ausschlugen.

Die meiste Zeit redete Alexis (Moussaka). Sie beschrieb die geplante Reise mit Ed, und ihr Vater (Kalamari) machte gelegentliche Vorschläge, welche Ausgrabungsstätte sie besuchen könnten.

»Aber Dad«, stöhnte Alexis verzweifelt, »du weißt doch, dass Ed nicht gern Ruinen anschaut!«

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete er geduldig. »Aber wer nach Kreta fährt, ohne sich Knossos anzuschauen, ist nun mal ein Banause. Das wäre, als ginge man nach Paris, ohne den Louvre zu besuchen. Selbst Ed sollte das begreifen.«

Sie alle wussten, dass Ed durchaus in der Lage war, alles zu ignorieren, was nur im Geringsten mit Kultur zu tun hatte, und wie gewöhnlich lag ein Anflug von Verachtung in Marcus’ Stimme, als man auf Ed zu sprechen kam. Nicht, dass er ihn rundum abgelehnt hätte. Im Gegenteil: Ed war genau der Typ, den sich ein Vater als Schwiegersohn wünscht. Dennoch konnte Marcus einen Anflug von Enttäuschung nicht unterdrücken, wenn er sich diesen jungen Mann mit den guten Beziehungen als den künftigen Ehemann seiner Tochter vorstellte. Sofia hingegen war hingerissen von Ed. Er verkörperte all das, was sie sich für ihre Tochter wünschte: Ansehen, Sicherheit und eine Ahnenreihe, die ihn (wenn auch nur sehr lose) mit dem englischen Adel verband.

Es war ein unbeschwerter Abend. Die drei hatten sich einige Monate nicht gesehen, und Alexis hatte viel aufzuholen, nicht zuletzt alle Geschichten über Nicks Liebesleben. Als Uniassistent in Manchester hatte ihr Bruder keine Eile, erwachsen zu werden, und seine Familie staunte immer wieder über die Wirren seiner Liebesbeziehungen.

Dann begannen Alexis und ihr Vater sich Anekdoten aus ihrem Berufsalltag zu erzählen, und Sofias Gedanken schweiften ab. Sie dachte an die Zeit, als sie zum ersten Mal hierhergekommen waren und Gregorio einen Stapel Kissen brachte, damit Alexis richtig am Tisch sitzen konnte. Als schließlich Nick auf der Welt war, hatte die Taverne einen Kinderstuhl angeschafft, und die Kleinen lernten bald Taramasalata und Zaziki zu lieben, die ihnen die Kellner auf kleinen Tellerchen servierten. Mehr als zwanzig Jahre lang war jedes Großereignis ihres Lebens hier gefeiert worden, vermutlich mit den immer gleichen Kassetten populärer griechischer Musik, die im Hintergrund liefen. Die Erkenntnis, dass Alexis kein Kind mehr war, traf Sofia stärker als je zuvor, und sie begann, über Plaka und den Brief nachzudenken, den sie schreiben wollte. Viele Jahre hatte sie einigermaßen regelmäßig mit Fortini korrespondiert und ihr vor einem Vierteljahrhundert von der Geburt ihres ersten Kindes geschrieben. Ein paar Wochen danach war ein Kleidchen mit hübschen Stickereien eingetroffen, das Sofia ihrem Baby zur Taufe anzog. Vor einiger Zeit hatten die beiden Frauen aufgehört, sich zu schreiben, aber Sofia war sicher, dass Fortinis Ehemann sie benachrichtigt hätte, wenn seiner Frau etwas passiert wäre. Dann fragte sie sich, wie Plaka wohl heute aussah. In ihrem Kopf entstand das Bild eines Dorfes voller lärmiger Bierkneipen, in denen englisches Bier ausgeschenkt wurde, und sie verscheuchte es. Sie hoffte so sehr, Alexis würde es so vorfinden wie damals, als sie es verlassen hatte.

Im Lauf des Abends wurde Alexis immer aufgeregter bei dem Gedanken, endlich tiefer in ihre Familiengeschichte einzutauchen. Wenn die Ferien mit Ed auch anstrengend werden mochten, so konnte sie sich wenigstens darauf freuen, den Geburtsort ihrer Mutter zu besuchen. Alexis und Sofia lächelten sich an, und Marcus fragte sich, ob seine Zeit als Vermittler und Friedensstifter zwischen seiner Frau und seiner Tochter dem Ende zuging. Er genoss es, mit den beiden Frauen zusammen zu sein, die er auf der Welt am meisten liebte.

Sie beendeten das Essen, tranken den Raki auf Kosten des Hauses und gingen heim. Alexis würde in ihrem alten Zimmer schlafen, und sie freute sich auf die paar Stunden in ihrem Jugendbett, bevor sie am nächsten Morgen mit der U-Bahn nach Heathrow fahren würde. Sie fühlte sich seltsam zufrieden, obwohl sie es nicht geschafft hatte, ihre Mutter um Rat zu fragen. Im Moment schien es viel wichtiger, mit der vollen Unterstützung ihrer Mutter deren Geburtsort zu besuchen. All ihre drängenden Ängste über die weitere Zukunft wurden für den Augenblick beiseitegeschoben.

Als sie aus dem Restaurant zurückkamen, machte Alexis ihrer Mutter Kaffee, und Sofia saß am Küchentisch, wo sie drei Entwürfe des Briefs an Fortini zerriss, bevor sie schließlich das Kuvert verschloss und es ihrer Tochter reichte. Das Ganze war in absolutem Schweigen geschehen. Alexis hatte gespürt, dass Reden den Zauber brechen und den Entschluss ihrer Mutter gefährden könnte.

 

Zweieinhalb Wochen hatte der Brief in Alexis’ Reisetasche gesteckt und war ihr ebenso wichtig wie der Reisepass. Tatsächlich handelte es sich um eine Art von Pass, da er ihr den Zutritt zur Vergangenheit ihrer Mutter verschaffte. Der Brief war mit ihr nach Athen gereist und hatte sie auf die aus allen Schloten qualmenden, immer wieder von Stürmen heimgesuchten Fähren nach Paros, Santorini und Kreta begleitet. Vor ein paar Tagen waren sie auf der Insel angekommen und hatten in Chania ein Zimmer am Meer gefunden – was um diese Jahreszeit nicht schwierig war, da die meisten Touristen bereits abgereist waren.

Es waren ihre letzten Ferientage, und nachdem Ed widerstrebend Knossos und das archäologische Museum in Heraklion besucht hatte, wollte er vor der langen Schifffahrt zurück nach Piräus unbedingt ein paar Tage am Strand verbringen. Alexis jedoch hatte andere Pläne.

»Ich möchte morgen eine alte Freundin meiner Mutter besuchen«, verkündete sie, als sie in einer Hafentaverne saßen. »Sie wohnt auf der anderen Seite der Insel. Ich werde wohl den ganzen Tag fort sein.«

Es war das erste Mal, dass sie Ed von ihrem Plan erzählte, und entsprechend wappnete sie sich vor seiner Reaktion.

»Na, toll!«, zischte er und fügte ärgerlich hinzu: »Und wahrscheinlich nimmst du den Wagen.«

»Werde ich wohl, wenn es recht ist. Das sind mindestens dreihundert Kilometer. Mit dem Bus würde ich Tage brauchen.«

»Dann hab ich ja wohl keine Wahl, oder? Mitkommen will ich jedenfalls nicht.«

Ed funkelte sie böse an, bevor sein Gesicht hinter der Speisekarte verschwand. Er würde den Rest des Abends schmollen, was Alexis in Kauf nahm, nachdem sie ihn so überrumpelt hatte. Was sie ihm übel nahm, obwohl es genauso typisch für ihn war, war sein komplettes Desinteresse an ihrem Vorhaben. Er fragte nicht einmal nach dem Namen der Person, die sie besuchen wollte.

Am nächsten Morgen, die Sonne war gerade erst über den Hügeln aufgegangen, stand sie auf und verließ das Hotel.

Sie war auf etwas sehr Unerwartetes gestoßen, als sie in ihrem Reiseführer »Plaka« nachschlug. Etwas, was ihre Mutter nicht erwähnt hatte. Direkt dem Dorf gegenüber lag eine Insel, und obwohl der Eintrag darüber sehr kurz war, hatte er ihre Fantasie angeregt:

SPINALONGA: Die Insel mit seiner großen venezianischen Festung wurde im 18. Jahrhundert von den Türken erobert. Die Mehrzahl der Türken verließ Kreta, als es 1898 unabhängig wurde, aber auf Spinalonga weigerten sich die Einwohner, ihre Häuser zu verlassen und den einträglichen Warenschmuggel aufzugeben. Erst 1903 zogen die letzten Bewohner ab, als die Insel in eine Leprakolonie verwandelt wurde. 1941 wurde Kreta von den Deutschen erobert und bis 1945 besetzt, Spinalonga mit seinen Leprakranken blieb unbehelligt. 1957 wurde es aufgegeben.

Wie es schien, war in Plaka alles darauf ausgerichtet, die Leprakolonie mit Gütern zu beliefern, und es wunderte Alexis, dass ihre Mutter nichts davon erwähnt hatte. Während sie am Steuer des gemieteten Cinquecento saß, hoffte sie, genügend Zeit zu haben, Spinalonga zu besuchen. Sie breitete die Karte auf dem Beifahrersitz aus und bemerkte zum ersten Mal, dass die Insel die Form eines Tiers hatte, das schlafend auf dem Rücken lag.

Die Fahrt ging östlich an Heraklion vorbei, entlang der geraden Küstenstraße, die durch die rasch hochgezogenen Ansiedlungen von Hersonios und Mali führte. Gelegentlich sah sie braune Schilder, die auf antike Ruinen zwischen den riesigen Hotelburgen hinwiesen. Aber sie beachtete sie nicht. Ihr heutiges Ziel war eine Siedlung, die nicht im zwanzigsten Jahrhundert vor Christus florierte, sondern im zwanzigsten Jahrhundert nach Christus und darüber hinaus.

Nachdem sie kilometerlang an Olivenhainen und riesigen Obst- und Gemüseplantagen vorbeigefahren war, bog sie schließlich von der Hauptstraße in Richtung Plaka ab. Hier wurde die Straße schmaler, und sie fuhr langsamer, um kleinen Felsbrocken auszuweichen und gelegentlich einer Ziege, die ihr den Weg versperrte. Nach einer Weile begann die Straße anzusteigen, und nach einer besonders scharfen Kurve hielt Alexis an. Tief unter ihr, im azurblauen Wasser des Golfs von Mirabello, konnte sie einen fast kreisrunden natürlichen Hafen sehen, und genau an der Stelle, wo sich die beiden Landhälften zu treffen schienen, lag eine Insel, die man für einen kleinen Hügel hätte halten können. Aus der Ferne hatte man den Eindruck, sie sei mit der Hauptinsel verbunden, aber von ihrer Karte wusste sie, dass es nur das übers Wasser zu erreichende Spinalonga war. Die eindrucksvolle Landschaft ließ die Insel zwar kleiner erscheinen, aber mit den Überresten der venezianischen Festung ragte sie dennoch erhaben aus dem Meer. Da war sie also: die geheimnisvolle, verlassene Insel. Jahrhundertelang war sie bewohnt gewesen, um dann vor weniger als fünfzig Jahren aufgegeben zu werden.

Langsam und mit offenen Fenstern, um den erfrischenden Fahrtwind und den Duft des Thymians zu genießen, fuhr sie die letzten Kilometer nach Plaka hinunter. Es war zwei Uhr nachmittags, als sie schließlich auf dem stillen Dorfplatz hielt. Ihre Hände glänzten vor Schweiß, und an ihrem linken Arm hatte sie einen Sonnenbrand bekommen. Es war keine günstige Zeit, um in einem griechischen Dorf anzukommen. Die Hunde lagen wie tot im Schatten, bloß ein paar Katzen streunten herum, um nach Abfällen zu suchen. Sonst gab es keinerlei Anzeichen von Leben, wenn man mal absah von dem Moped, das an einem Baum lehnte, einer halb leeren Packung Zigaretten auf einer Bank und einem Backgammon-Spiel, das aufgeklappt daneben lag. Zikaden zirpten ihr durchdringendes Lied, das erst in der Dämmerung, wenn die Hitze abnahm, verstummen würde. Das Dorf sah vermutlich genauso aus wie in den Siebzigerjahren, als ihre Mutter es verlassen hatte. Es hatte kaum Grund gehabt, sich zu verändern.

Alexis hatte sich entschieden, zuerst nach Spinalonga zu fahren und dann Fortini Davaras zu besuchen. Sie genoss das herrliche Gefühl der Freiheit. Wenn sie die alte Frau jetzt besuchte, wäre es unhöflich, sich gleich wieder zu verabschieden und auf Bootstour zu gehen. Es war ihr natürlich klar, dass Ed erwartete, dass sie noch in der Nacht nach Chania zurückfuhr, aber das war ihr im Moment egal. Später war immer noch Zeit, Ed anzurufen und ein Quartier zu suchen.

Sie beschloss, ihren Reiseführer beim Wort zu nehmen (»Versuchen Sie es in der Kneipe des kleinen Fischerdorfs Plaka, wo es gewiss einen Fischer gibt, der Sie für ein paar tausend Drachmen hinüberfährt.«): Sie ging zielstrebig über den Platz und schob den klebrigen Plastikvorhang der Dorfkneipe zur Seite. Die schmutzigen Bänder sollten die Fliegen draußen und die Kühle im Raum halten, aber tatsächlich waren sie nur Staubfänger, die das Lokal in ständiges Dämmerlicht tauchten. Alexis konnte die Umrisse einer Frau an einem Tisch ausmachen, und als sie sich auf sie zu tastete, erhob sich die schattenhafte Gestalt und ging hinter die Theke. Alexis’ Kehle war wie ausgedörrt von Hitze und Staub.

»Nero, parakalo«, sagte sie zögernd.

Die Frau schlurfte an einer Reihe riesiger Glasbehälter mit Oliven und halb leeren Ouzo-Flaschen vorbei und griff in den Kühlschrank, um eiskaltes Mineralwasser herauszuholen. Sorgfältig goss sie es in ein hohes Glas und gab einen Zitronenschnitz hinein, bevor sie es Alexis reichte. Dann trocknete sie die Hände an einer großen geblümten Schürze ab, die um ihren fülligen Leib gebunden war, und fragte: »Englisch?«

Alexis nickte. Es war zumindest die halbe Wahrheit. Um ihren nächsten Wunsch mitzuteilen, bedurfte es nur eines einzigen Worts. »Spinalonga?«, sagte sie.

Die Frau drehte sich auf dem Absatz um und verschwand durch eine kleine Tür hinter der Theke. Alexis konnte hören, wie sie leise »Gerasimo! Gerasimo!« rief, und kurz darauf erklang das Geräusch von Schritten auf einer Holztreppe. Ein älterer Mann, den man ganz offensichtlich bei seiner Siesta gestört hatte, erschien. Die Frau redete auf ihn ein, und das einzige Wort, das Alexis verstand, war »Drachma«, das mehrere Male wiederholt wurde. Es war ziemlich klar, dass ihm deutlich gemacht wurde, dass es hier gutes Geld zu verdienen gab. Der Mann stand blinzelnd da und ließ den Schwall der Anweisungen über sich ergehen, ohne etwas zu erwidern.

Die Frau wandte sich zu Alexis um, nahm ihren Bestellblock von der Theke, schrieb ein paar Zahlen darauf und zeichnete etwas auf. Selbst wenn Alexis fließend Griechisch gesprochen hätte, hätte sie sie nicht besser verstehen können. Nach vielem Deuten, ausladenden Gesten und Fingerzeigen auf die Zeichnung schloss sie, dass die Hin- und Rückfahrt nach Spinalonga mit einem zweistündigen Aufenthalt auf der Insel zwanzigtausend Drachmen kosten sollte, das waren etwa fünfunddreißig Pfund. Kein billiges Vergnügen, aber es blieb ihr keine andere Wahl, zumal sie fest entschlossen war, die Insel zu besuchen. Sie nickte und lächelte den Bootsmann an, der ihr Nicken ernst erwiderte. In diesem Moment dämmerte es Alexis, dass seine Schweigsamkeit andere Gründe hatte, als sie anfangs gedacht hatte. Er konnte nicht sprechen, selbst wenn er gewollt hätte. Gerasimo war stumm.

Es war ein kurzer Weg zum Kai, wo Gerasimos verwittertes altes Boot vertäut lag. Schweigend gingen sie an den schlafenden Hunden und den Häusern mit den geschlossenen Fensterläden vorbei. Nichts rührte sich. Nur das leise Geräusch ihrer Schritte und die Zikaden waren zu hören. Selbst das Meer war ruhig und still.

Da war sie also und ließ sich die kurze Strecke von einem Mann übersetzen, der gelegentlich lächelte, aber sonst keinerlei Regung zeigte. Sein Gesicht war so wettergegerbt wie das eines jeden Fischers, der Jahrzehnte auf der sturmgepeitschten See zugebracht hatte. Vermutlich war er etwas über sechzig, doch wenn Falten wie Jahresringe bei einer Eiche zählen, musste er fast an die achtzig sein. Seine Gesichtszüge verrieten nichts. Weder Schmerz noch Leid noch Freude. Es waren die resignierten Züge des Alters, die widerspiegelten, was er im vergangenen Jahrhundert alles durchlebt hatte. Obwohl die Touristen die jüngsten Invasoren auf Kreta waren, die auf die Venezianer, die Türken und – zu Lebzeiten des alten Mannes – die Deutschen gefolgt waren, hatten sich nur die allerwenigsten von ihnen bemüht, etwas Griechisch zu lernen. Alexis tat es jetzt leid, dass sie ihre Mutter nicht dazu gebracht hatte, ihr ein paar nützliche Brocken beizubringen – vermutlich sprach Sofia noch immer fließend, selbst wenn ihre Tochter sie nie ein Wort auf Griechisch hatte sagen hören. Alles, was Alexis dem Bootsmann jetzt anbieten konnte, war ein höfliches »efharisto« – »danke« –, als er ihr an Bord half, worauf er an die Krempe seines verbeulten Strohhuts tippte.

Als sie sich Spinalonga näherten, nahm Alexis ihre Kamera und die große Wasserflasche, die die Frau in der Kneipe ihr aufgedrängt hatte. Am Pier angekommen, reichte ihr der alte Gerasimo die Hand, und sie stieg über die Holzbank auf den holprigen, verlassenen Hafendamm. Wie es aussah, wollte der alte Mann nicht bleiben. Er machte ihr klar, dass er in zwei Stunden wieder zurückkommen würde, und sie sah zu, wie er das Boot langsam wendete und in Richtung Plaka fuhr.

Alexis war nun allein auf Spinalonga und spürte, wie sie plötzlich Angst bekam. Was, wenn Gerasimo sie vergaß? Wie lange würde es dauern, bis Ed sie suchte? Konnte sie die Strecke zurückschwimmen? Noch nie war sie so völlig allein gewesen, nie hatte sie, wenn sie es recht überlegte, mehr als eine Stunde ohne Kontakt mit Menschen auskommen müssen. Ihre Abhängigkeit fühlte sich plötzlich wie ein Mühlstein an, und sie versuchte, sich zusammenzureißen. Sie würde diese Zeit der Einsamkeit genießen – diese zwei Stunden Isolation waren schließlich nur ein Wimpernschlag, verglichen mit der lebenslänglichen Einsamkeit, die über die früheren Einwohner von Spinalonga verhängt worden war.

Die mächtigen Steinmauern der venezianischen Festung ragten vor ihr auf. Wie sollte sie dieses offensichtlich unüberwindliche Hindernis umgehen? Im gleichen Moment entdeckte sie im runden Teil der Mauer einen kleinen, gerade mannshohen Eingang, und als sie darauf zuging, sah sie, dass er in einen langen Tunnel führte, dessen Ende wegen der Biegung, die er machte, nicht erkennbar war. Es gab aber keine andere Möglichkeit, als durch den dunklen, engen Gang zu gehen. Als sie nach einer kurzen Strecke im Halbdunkel wieder ins blendende Nachmittagslicht trat, hatte sich die Umgebung vollkommen verändert. Wie gebannt blieb sie stehen.

Sie befand sich am unteren Ende einer langen Straße, die zu beiden Seiten von kleinen einstöckigen Häusern gesäumt war. Früher mochte es hier wie in jedem kretischen Dorf ausgesehen haben, aber jetzt waren die Gebäude halb verfallen. Fensterrahmen hingen schief in gebrochenen Angeln, und Läden knarrten in der leichten Brise. Zögernd ging sie die staubige Straße hinunter und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Sie sah zu ihrer Rechten eine Kirche mit einer massiven geschnitzten Tür, ein Gebäude, das aufgrund seiner großen Erdgeschossfenster offensichtlich ein Laden gewesen war, und ein etwas vornehmeres, zurückversetztes Haus mit einem Holzbalkon, bogenförmigem Eingang und den Überresten eines ummauerten Gartens. Über allem lastete eine tiefe, unheimliche Stille.

In den unteren Räumen der Häuser wucherten bunte Feldblumen, und in den oberen Stockwerken hatte sich in Mauerritzen blühender Goldlack festgesetzt. An vielen Gebäuden waren noch die verblichenen Hausnummern erkennbar und erinnerten Alexis daran, dass hinter jeder der Türen tatsächlich Menschen gelebt hatten. Fasziniert ging sie weiter. Es war wie Schlafwandeln. Doch dies war kein Traum, auch wenn es etwas vollkommen Unwirkliches an sich hatte.

Sie ging an einem Haus vorbei, das ein Café gewesen sein musste, an einer größeren Halle und einem Gebäude mit einer Reihe von Betonbassins, wo sich offensichtlich die Wäscherei befunden hatte. Daneben standen die Überreste eines hässlichen zweistöckigen Baus mit zweckmäßigen, gusseisernen Balkongittern. Die Größe des Baus stand in merkwürdigem Kontrast zu den anderen Häusern, und als es jemand vor nur siebzig Jahren gebaut hatte, musste er es für den Gipfel der Moderne gehalten haben. Jetzt standen die großen Fenster klaffend offen, und die elektrischen Leitungen hingen von der Decke wie verklumpte Spaghetti. Es war vielleicht das traurigste Gebäude von allen.

Hinter dem Dorf kam sie auf einen überwachsenen Pfad, und der führte geradewegs ins Nichts. Es war ein natürlicher Vorsprung mit einem Hang, der steil ins Meer abfiel. Hier gestattete sie sich, über das Elend der Leprakranken nachzudenken und sich zu fragen, ob sie in ihrer Verzweiflung hierhergekommen waren, um ihrem schrecklichen Siechtum ein Ende zu bereiten. Sie sah zum Horizont. Bis jetzt war sie von ihrer Umgebung so gefangen genommen, von der bedrückenden Atmosphäre des Orts so gebannt gewesen, dass sie alle Gedanken an ihre eigene Situation vergessen hatte. Sie war der einzige Mensch auf dieser Insel, und das brachte sie zur Einsicht: Alleinsein musste nicht Einsamkeit bedeuten. Man konnte sich auch in der Menge einsam fühlen. Der Gedanke gab ihr Kraft für das, was sie vielleicht tun musste, wenn sie zurückkam: die nächste Klippe ihres Lebens allein umschiffen.

Nachdem sie in das stille Dorf zurückgegangen war, ruhte sie sich eine Weile auf der abgewetzten Schwelle eines Hauses aus und trank von dem Wasser, das sie mitgebracht hatte. Nichts rührte sich. Nur eine Eidechse huschte hier und da durchs trockene Gras, das jetzt die Böden der verfallenen Häuser bedeckte. Durch einen Spalt des Hauses konnte sie das Meer sehen und dahinter die Hauptinsel. Wahrscheinlich hatten die Leprakranken jeden Tag nach Plaka hinübergeblickt, wo sie jedes Haus, jedes Boot gesehen hatten – vielleicht sogar die Leute, die ihren täglichen Geschäften nachgingen. Sie konnte nur ahnen, wie qualvoll diese Nähe für sie gewesen sein musste.

Welche Geschichten konnten die Mauern dieses Dorfes erzählen? Sie mussten großes Leid gesehen haben. Zweifelsfrei stand fest, dass es ein schreckliches Los war, als Leprakranker auf diesem Felsen gestrandet zu sein. Doch zugleich deutete einiges darauf hin, dass das Leben hier mehr zu bieten gehabt hatte als bloß Kummer und Verzweiflung. Wenn die Existenz der Einwohner vollkommen hoffnungslos gewesen wäre, wozu gab es dann Cafés? Warum gab es ein Gebäude, das nur ein Rathaus gewesen sein konnte? Sie spürte Traurigkeit, entdeckte aber auch Anzeichen von Normalität. Und das überraschte sie. Diese winzige Insel war eine Gemeinde gewesen und nicht nur ein Ort zum Sterben – das jedenfalls war aus den Überresten ersichtlich.

Die Zeit war schnell vergangen. Alexis warf einen Blick auf ihre Uhr und sah, dass es schon fünf war. Noch immer stand die Sonne hoch, und noch immer war es so heiß, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Mit klopfendem Herzen sprang sie auf. Obwohl sie die Stille und den Frieden hier genossen hatte, fand sie keinen Gefallen an der Vorstellung, Gerasimo könne ohne sie abfahren. Sie eilte durch den dunklen Tunnel zurück und auf den Kai hinaus. Der alte Fischer saß in seinem Boot, und sobald sie auftauchte, warf er den Motor an. Ganz offensichtlich hatte er nicht die Absicht, hier länger zu bleiben als irgend nötig.

Die Fahrt zurück nach Plaka dauerte nur zehn Minuten. Mit einem Gefühl der Erleichterung sah sie die Kneipe, wo ihre Expedition begonnen hatte, und davor ihren Mietwagen. Das Dorf war inzwischen zum Leben erwacht. Vor den Türen saßen plaudernde Frauen, unter den Bäumen neben der Bar spielten Männer, in dichten Zigarettenrauch gehüllt, Karten. Gemeinsam mit Gerasimo ging sie zur Kneipe, wo sie von der Frau begrüßt wurde, die Alexis für die Ehefrau hielt. Sie zählte ein paar schmuddelige Geldscheine ab und reichte sie ihr. »Möchten trinken?«, fragte die Frau radebrechend auf Englisch. Alexis stellte fest, dass sie nicht nur etwas zu trinken, sondern auch etwas zu essen brauchte. Den ganzen Tag hatte sie nichts zu sich genommen und sie fühlte sich ganz schwach auf den Beinen nach der Bootsfahrt und der Hitze.

Da sie sich erinnerte, dass die Freundin ihrer Mutter eine Taverne betrieb, suchte sie hastig in ihrem Rucksack nach dem zerknitterten Umschlag mit Sofias Brief. Sie zeigte der Frau die Adresse, die sofort verstand. Sie nahm Alexis am Arm und führte sie auf die Küstenstraße. Etwa fünfzig Meter weiter auf einem kleinen ins Meer reichenden Pier stand eine Taverne, deren blau gestrichene Stühle und blau-weiß karierten Tischdecken Alexis geradezu verlockend erschienen. Und nachdem Stephanos, der Besitzer des gleichnamigen Restaurants, sie wenig später begrüßt hatte, wusste sie, dass sie gern hier sitzen und den Sonnenuntergang betrachten wollte.

Wie alle Tavernenbesitzer, die Alexis bisher kennengelernt hatte, besaß auch Stephanos einen dichten, schön geschnittenen Bart, doch im Gegensatz zu den meisten anderen sah er nicht aus, als würde er so viel essen, wie er seinen Gästen servierte. Für die Einheimischen war es noch zu früh zum Essen, daher saß Alexis allein an einem Tisch direkt am Wasser.

»Ist Fortini Davaras heute da?«, fragte Alexis zögernd. »Meine Mutter kannte sie in ihrer Jugend, und ich habe einen Brief für sie.«

Stephanos, der wesentlich besser Englisch sprach als die Leute in der Kneipe, erwiderte herzlich, dass seine Frau tatsächlich hier sei und herauskommen werde, sobald sie mit der Vorbereitung des Essens fertig sei. In der Zwischenzeit, schlug er vor, werde er ihr ein paar der hiesigen Spezialitäten bringen, damit sie sich nicht mit der Speisekarte abmühen müsse. Mit einem Glas eiskaltem Retsina in der Hand und etwas Brot auf dem Tisch, um den schlimmsten Hunger zu stillen, spürte Alexis, wie eine tiefe Zufriedenheit sie überkam. Der allein verbrachte Tag hatte sie ganz und gar erfüllt, und sie genoss diesen Moment der Freiheit und Unabhängigkeit. Sie blickte nach Spinalonga hinüber. Freiheit hatten die Leprakranken wohl nicht genossen, dachte sie, aber hatten sie stattdessen etwas anderes gewonnen?

Stephanos kehrte mit einer Reihe frisch zubereiteter Vorspeisen zurück – in Öl eingelegte Garnelen, gefüllte Zucchini, Zaziki und winzige Käsetörtchen. Alexis wusste nicht, ob sie je so hungrig gewesen und je so köstliches Essen vorgesetzt bekommen hatte.

Stephanos war ihr Blick auf die Insel nicht entgangen. Diese einsame Engländerin, die den Nachmittag allein auf Spinalonga verbracht hatte, wie Gerasimos Frau Andriana berichtet hatte, machte ihn neugierig. Im Hochsommer wurden ganze Bootsladungen Touristen hinübergebracht – aber die meisten blieben nur eine halbe Stunde und wurden dann mit Bussen in die großen Ferienanlagen weiter unten an der Küste zurückgefahren. Die Mehrzahl wollte nur ihre makabre Neugierde befriedigen, doch nach den Gesprächsfetzen zu urteilen, die er manchmal aufschnappte, waren sie gewöhnlich enttäuscht. Wahrscheinlich hatten sie sich mehr erhofft als ein paar verfallene Häuser und eine vernagelte Kirche. Aber was erwarteten sie denn, wollte er sie manchmal fragen. Leichen? Zurückgelassene Krücken? Ihre Gefühllosigkeit brachte ihn jedes Mal wieder auf. Aber diese Frau war anders.

»Was halten Sie von der Insel?«, fragte er.

»Ich bin überrascht«, antwortete sie. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie mich schrecklich traurig machen würde – hat sie auch –, aber nicht nur. Man kann sehen, dass die Leute, die dort gelebt haben, nicht bloß herumgesessen und sich bemitleidet haben. So kam es mir zumindest vor.«

Dies war keineswegs die übliche Reaktion von Besuchern auf Spinalonga, aber die junge Frau hatte offensichtlich auch mehr Zeit dort verbracht als die meisten von ihnen. Alexis freute sich, sich unterhalten zu können, und da Stephanos immer begierig war, sein Englisch anzuwenden, tat er alles, sie bei Laune zu halten.

»Ich weiß nicht, wie ich darauf komme – aber habe ich recht?«, fragte sie.

»Darf ich mich setzen?«, fragte Stephanos und zog, ohne eine Antwort abzuwarten, einen Stuhl heran. Er spürte instinktiv, dass diese Frau für den Zauber von Spinalonga offen war. »Meine Frau hatte eine Freundin, die dort lebte«, fuhr er fort. »Sie ist eine der wenigen Leute hier in der Gegend, die überhaupt noch eine Verbindung zu der Insel haben. Alle anderen gingen so weit wie möglich fort, nachdem das Heilmittel gefunden war. Abgesehen vom alten Gerasimo natürlich.«

»Gerasimo … hatte Lepra?«, fragte Alexis verblüfft. Was natürlich seine Hast erklärte, von der Insel wegzukommen, nachdem er sie abgesetzt hatte. »Und Ihre Frau, hat sie je die Insel besucht?«, fragte sie neugierig.

»Viele, viele Male«, antwortete er. »Sie weiß mehr darüber als sonst jemand hier.«

Inzwischen waren Gäste angekommen, und Stephanos stand auf, um ihnen die Speisekarte zu bringen. Die Sonne war bereits untergegangen, und der Himmel glühte tiefrot. Schwalben stießen herab und fingen Insekten in der rasch kühler werdenden Luft. Alexis hatte alles aufgegessen, was Stephanos ihr gebracht hatte, war aber immer noch hungrig.

Gerade als sie in die Küche gehen wollte, um sich das nächste Gericht auszusuchen, wie es auf Kreta üblich ist, kam ihr Hauptgang.

»Der ist heute frisch gefangen worden«, sagte die Kellnerin, die eine ovale Platte abstellte. »Es ist barbouni. Ich glaube, bei Ihnen heißt er Seebarbe. Ich hoffe, Sie mögen, wie ich ihn zubereitet habe – nur gegrillt mit frischen Kräutern und ein bisschen Olivenöl.«

Alexis war erstaunt. Nicht nur über den perfekt angerichteten Fisch und das fast akzentfreie Englisch der Frau. Was sie verblüffte, war ihr Gesicht. Diese Frau musste in ihrer Jugend einmal wunderschön gewesen sein. Sie hatte sich immer gefragt, wie man einzig und allein für ein schönes Gesicht einen Krieg vom Zaun brechen konnte. Das Gesicht dieser Frau machte den Gedanken durchaus einleuchtend.

»Danke«, sagte sie schließlich. »Es sieht verlockend aus.«

Die Frau wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne. »Mein Mann sagte, Sie hätten nach mir gefragt.«

Alexis sah überrascht auf. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, Fortini sei Anfang siebzig, aber diese Frau war schlank, hatte kaum Falten, und das hoch auf dem Kopf aufgetürmte Haar hatte noch immer die Farbe reifer Kastanien. Sie war nicht die alte Frau, die Alexis erwartet hatte.

»Sie sind doch nicht … Fortini Davaras?«, fragte sie unsicher und erhob sich.

»Doch, die bin ich«, bestätigte die Frau leise.

»Ich habe einen Brief für Sie«, sagte Alexis, als sie sich wieder gefangen hatte. »Von meiner Mutter, Sofia Fielding.«

Ein Strahlen ging über Fortini Davaras’ Gesicht. »Du bist Sofias Tochter! Mein Gott, was für eine Freude!«, sagte sie. »Wie geht es ihr? Wie geht es ihr?«

Ganz aufgeregt nahm sie den Brief, den Alexis ihr reichte, und drückte ihn an die Brust. »Ich freue mich ja so. Ich habe nichts mehr von ihr gehört, seit deine Großtante vor ein paar Jahren starb. Bis dahin hat sie mir jeden Monat geschrieben, und dann plötzlich nicht mehr. Ich war sehr besorgt, als sie auf meine letzten Briefe nicht mehr geantwortet hat.«

All das war neu für Alexis. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter so regelmäßig Briefe nach Kreta schrieb – und ganz bestimmt nicht, dass sie je welche erhalten hatte. Wie seltsam, dass Alexis in all den Jahren nie einen Brief mit einer griechischen Marke auf der Matte gefunden hatte – daran hätte sie sich sicher erinnert, da sie als Frühaufsteherin immer die Post geholt hatte. Wie es schien, hatte sich ihre Mutter erfolgreich bemüht, diese Korrespondenz geheim zu halten.

Inzwischen hielt Fortini Alexis an den Schultern fest und musterte eindringlich ihr Gesicht.

»Lass mich sehen – ja, ja, du ähnelst ihr ein wenig. Aber noch viel mehr der armen Anna.«

Anna? Wenn sie versucht hatte, ihrer Mutter etwas über die Tante und den Onkel auf dem bräunlich getönten Bild zu entlocken, war kein solcher Name gefallen.

»Die Mutter deiner Mutter«, fügte Fortini schnell hinzu, nachdem sie den fragenden Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens gesehen hatte. Ein kalter Schauer lief Alexis über den Rücken. Sie stand da, vollkommen fassungslos über das Ausmaß der Heimlichkeiten ihrer Mutter und über die gleichzeitige Erkenntnis, dass sie mit jemandem sprach, der vielleicht ein paar Antworten parat hatte.

»Komm, setz dich. Du musst die barbouni essen«, sagte Fortini. Alexis hatte inzwischen schon fast keinen Appetit mehr, aber sie wollte nicht unhöflich sein, und die beiden Frauen setzten sich.

Obwohl sie gleich mit allem herausplatzen wollte, was ihr auf dem Herzen lag, ging Alexis auf Fortinis Fragen ein, die eindringlicher waren, als es den Anschein hatte. Wie es ihrer Mutter ging? Ob sie glücklich sei? Wie ihr Vater sei? Was sie nach Kreta geführt habe?

Fortini war sehr herzlich, und Alexis beantwortete ihre Fragen ganz offen. Diese Frau gehörte zur gleichen Generation wie ihre Großmutter, und dennoch entsprach sie so gar nicht ihrer Vorstellung von einer Großmutter – obwohl sie keine ihrer Großmütter kennengelernt hatte. Aber Fortini Davaras war eindeutig das Gegenteil der gebeugten alten Frau, die sie erwartet hatte. Ihr Interesse an Alexis wirkte aufrichtig. Es war lange her – wenn es überhaupt schon einmal vorgekommen war –, dass Alexis mit einem Menschen wie ihr gesprochen hatte. Ihre Tutorin an der Universität hatte gelegentlich den Eindruck erweckt, als interessiere sie, was Alexis zu sagen hatte, aber in ihrem Innern wusste Alexis, dass sie für dieses Interesse nur bezahlt wurde. Es dauerte nicht lang, bis sie sich Fortini anvertraute.

»Meine Mutter war immer sehr verschwiegen, was ihr früheres Leben anbelangt. Ich weiß eigentlich nur, dass sie hier in der Nähe geboren und von ihrem Onkel und ihrer Tante aufgezogen wurde – und dass sie mit achtzehn von hier wegging und nie mehr zurückkam.«

»Ist das alles, was du weißt?«, fragte Fortini. »Hat sie dir nicht mehr erzählt?«

»Nein, nichts. Das ist zum Teil der Grund, weshalb ich hier bin. Ich möchte mehr wissen. Ich möchte wissen, warum sie sich so von ihrer Vergangenheit abgewandt hat.«

»Und warum gerade jetzt?«, fragte Fortini.

»Ach, das hat viele Gründe«, antwortete Alexis und sah auf ihren Teller. »Aber hauptsächlich hat es mit meinem Freund zu tun. Mir ist vor Kurzem klar geworden, was für ein Glück meine Mutter hatte, dass sie meinen Vater gefunden hat – ihre Beziehung ist für mich nach wie vor vorbildlich.«

»Ich freue mich, dass sie glücklich sind. Damals war alles ein bisschen chaotisch, aber wir hatten große Zuversicht, weil die beiden einen so zufriedenen Eindruck machten.«

»Dennoch ist es seltsam. Ich weiß so wenig über meine Mutter. Sie spricht nie über ihre Kindheit, nie über ihr Leben hier …«

»Wirklich nicht?«, warf Fortini ein.

»Ich habe das Gefühl«, sagte Alexis, »dass es mir helfen würde, wenn ich mehr über meine Mutter herausbekäme. Sie hatte das Glück, jemanden kennenzulernen, der ihr viel bedeutet, aber woher wusste sie, dass er der Richtige für immer ist? Ed und ich sind inzwischen seit über drei Jahren ein Paar, aber ich bin immer noch nicht sicher, ob wir zusammenbleiben sollen.«

So etwas zu sagen, war für die sonst so pragmatische Alexis höchst unüblich, und ihr war klar, dass es für jemanden, der sie kaum zwei Stunden kannte, möglicherweise ziemlich albern klang. Abgesehen davon war sie vom Thema abgekommen. Wie konnte sie erwarten, dass diese griechische Frau, so nett sie auch war, sich für ihre Problemchen interessierte?

In dem Moment kam Stephanos, um die Teller abzuräumen, und kurz darauf kehrte er mit zwei Tassen Kaffee und zwei großen Gläsern Metaxa zurück. Andere Gäste waren während des Abends gekommen und gegangen, jetzt aber war nur noch Alexis’ Tisch besetzt.

Angeregt von dem heißen Kaffee und noch mehr von dem scharfen Metaxa fragte sie Fortini, wie lange sie ihre Mutter schon kannte.

»Praktisch vom Tag ihrer Geburt an«, antwortete sie, hielt dann aber inne, weil sie die große Last der Verantwortung spürte. Wie kam sie dazu, fragte sich Fortini, diesem Mädchen von der Vergangenheit ihrer Familie zu erzählen, die ihre Mutter eindeutig vor ihr verbergen wollte? Erst in diesem Moment fiel ihr der Brief ein, den sie in ihre Schürzentasche gesteckt hatte. Sie zog ihn heraus und schlitzte ihn mit einem Messer auf.

Liebe Fortini,

bitte vergib mir, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Ich weiß, dass ich Dir die Gründe dafür nicht erklären muss, aber glaub mir, dass ich oft an Dich denke. Dies ist meine Tochter Alexis. Würdest Du sie so liebevoll behandeln, wie Du mich immer behandelt hast? Aber darum muss ich Dich wohl kaum bitten.

Alexis ist sehr neugierig, was ihre Familiengeschichte anbelangt – was verständlich ist, aber ich konnte mich nie überwinden, sie ihr zu erzählen. Ist es nicht seltsam, dass es im Lauf der Zeit immer noch schwerer wird, den Tatsachen ins Auge zu blicken?

Ich weiß, dass sie Dir viele Fragen stellen wird – sie ist eine geborene Historikerin. Willst Du sie ihr beantworten? Du hast die ganze Geschichte miterlebt – ich glaube, Du kannst einen wahrhafteren Bericht liefern, als ich es je vermöchte.

Erzähl ihr alles, Fortini. Sie wird Dir unendlich dankbar sein. Wer weiß – vielleicht kommt sie nach England zurück und kann mir Dinge erzählen, von denen nicht einmal ich etwas weiß. Wirst Du ihr zeigen, wo ich geboren wurde – ich weiß, dass sie das interessieren wird –, und bringst Du sie nach Agios Nikolaos?

Alles Liebe, Dir und Stephanos – und bitte grüß auch Deine Söhne sehr herzlich von mir.

Tausend Dank.

Deine Sofia

Nachdem Fortini den Brief gelesen hatte, faltete sie ihn wieder sorgfältig zusammen und steckte ihn ins Kuvert zurück. Über den Tisch hinweg blickte sie Alexis an, die sie nicht aus den Augen gelassen hatte.

»Deine Mutter hat mich gebeten, dir alles über deine Familie zu erzählen«, sagte Fortini, »aber das ist wirklich keine Gutenachtgeschichte. Am Sonntag und Montag ist die Taverne geschlossen, und außerhalb der Saison habe ich dann alle Zeit der Welt. Warum bleibst du nicht ein paar Tage bei uns? Es würde mich sehr freuen.« In Fortinis Augen glitzerten im Dunkeln Tränen. Ob vor Kummer oder Freude, konnte Alexis nicht sagen.

Sie wusste instinktiv, dass sie nichts Sinnvolleres tun konnte, als diese paar Tage zu opfern, und dass die Geschichte ihrer Mutter ihr auf lange Sicht mehr helfen würde als alle weiteren Museumsbesuche. Wozu die Überreste vergangener Zivilisationen betrachten, wenn sie ihre eigene Geschichte zum Leben erwecken konnte? Nichts würde sie davon abhalten hierzubleiben. Sie brauchte Ed nur eine kurze Nachricht zu schicken, dass sie noch etwa einen Tag bliebe. Sie wusste, dass er sauer sein würde, aber die besondere Situation machte ein gewisses Maß an Egoismus erforderlich. Sie war schließlich frei zu tun und zu lassen, was sie wollte.

Um sie herum herrschte eine große Stille. Die See war dunkel und glatt, als hielte sie den Atem an, und in dem klaren Himmel über ihr leuchtete hell wie kein anderes Sternbild Orion, der getötet und von den Göttern ans Firmament verbannt wurde, und schien auf ihre Entscheidung zu warten.

Dies war vielleicht die einzige Chance ihres Lebens, endlich die Bruchstücke ihrer Familiengeschichte zusammenzufügen, bevor sie in alle Winde zerstoben. Sie wusste, dass es auf die Einladung nur eine einzige Antwort gab. »Danke«, sagte sie leise, plötzlich von Müdigkeit übermannt. »Ich bleibe gern.«

2

Alexis schlief tief und fest in dieser Nacht. Sie und Fortini waren erst um ein Uhr morgens ins Bett gegangen, und nach der langen Fahrt, dem Nachmittag auf Spinalonga und der Mischung aus Meze und Metaxa war sie in einen schweren, traumlosen Schlaf gesunken.

Es war fast zehn, als heller Sonnenschein durch den Spalt der dichten Leinenvorhänge fiel und sie weckte. Instinktiv kroch sie weiter unters Laken, um das Gesicht zu bedecken. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie in verschiedenen fremden Zimmern geschlafen, und jedes Mal, wenn sie aus ihren Träumen erwachte, brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren, wo sie eigentlich war. Die meisten Matratzen der billigen Pensionen, in denen sie mit Ed übernachtet hatte, waren entweder durchgelegen oder hatten Sprungfedern, die durch die Bezüge piekten. In diesen Betten war es nicht schwer gewesen, am Morgen aufzustehen. Doch dieses Bett war etwas anderes. Wie der ganze Raum. Der runde Tisch mit der Spitzendecke, der Stuhl mit dem geflochtenen Sitz, die gerahmten Aquarelle an der Wand, der dick mit Wachs überzogene Kerzenleuchter, das duftende Bund Lavendel an der Tür und die passend zur Bettwäsche blassblau gestrichenen Wände: All dies machte ihn mehr als wohnlich.

Sie zog den Vorhang zurück und genoss den herrlichen Blick auf das glitzernde Meer und die Insel Spinalonga, die im Dunst der Hitze weiter entfernt zu sein schien als am Vortag.

Als sie gestern aus Chania abgefahren war, hatte sie nicht vorgehabt, in Plaka zu bleiben. Sie hatte sich ein kurzes Treffen mit der älteren Frau aus der Kindheit ihrer Mutter vorgestellt und deshalb auch nicht mehr mitgenommen als eine Landkarte und ihre Kamera. Aber Fortini hatte ihr gegeben, was sie brauchte – ein Hemd von Stephanos zum Schlafen und ein sauberes, wenn auch etwas abgenutztes Handtuch. Am Ende ihres Betts fand sie eine geblümte Bluse. Eine Aufmerksamkeit, die sie nicht gut ausschlagen konnte, auch wenn die blassen Pink- und Blautöne der Bluse absolut nicht zu ihren Kakishorts passten. Aber was machte das schon? Und nach der Hitze und dem Staub des vergangenen Tages war sie froh, etwas zum Wechseln zu haben. Alexis spritzte sich an dem winzigen Waschbecken in der Ecke Wasser ins Gesicht und sah sich dann prüfend im Spiegel an. Sie war aufgeregt wie ein Kind, das gleich das Ende einer spannenden Geschichte erfahren würde. Heute würde Fortini ihre Scheherazade sein.

Mit dem ungewohnten Gefühl von gestärkter Baumwolle auf der Haut stieg sie, vom Duft des Kaffees angezogen, die dunkle Hintertreppe in die Restaurantküche hinab. Fortini saß mitten im Raum an einem großen Tisch. Obwohl er gründlich gescheuert war, schien er noch all die Spuren früherer Küchenarbeit zu tragen. Fortini erhob sich, um sie zu begrüßen.

»Kalimera, Alexis!«, sagte sie lächelnd.

Sie trug eine ähnliche Bluse wie die, die Alexis anhatte, nur in Ockertönen, die zu dem weiten Rock passten, der sich um ihre zierliche Taille bauschte und fast bis zu den Fesseln reichte. Der Eindruck ihrer Schönheit, der Alexis gestern am Abend so verblüfft hatte, war keine Täuschung des milden Dämmerlichts gewesen. Ihre gute Figur und die großen Augen erinnerten sie an die minoischen Fresken in Knossos, die Tausende von Jahren überdauert hatten und ihrer Schlichtheit wegen so erstaunlich modern wirkten.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte Fortini.

Alexis unterdrückte ein Gähnen und lächelte Fortini dann an, die gerade ein Tablett mit einer Kaffeekanne, großen Tassen und Tellern und einem Laib Brot belud, den sie aus dem Ofen geholt hatte.

»Tut mir leid – es ist nur aufgebacken. Das ist der einzige Nachteil am Sonntag hier – der Bäcker bleibt im Bett. Also gibt’s nur trockene Krusten oder frische Luft«, sagte Fortini lachend.

»Ich wäre schon mit frischer Luft zufrieden, solange sie mit frischem Kaffee runtergespült wird«, antwortete Alexis, als sie Fortini durch den üblichen Plastikvorhang auf die Terrasse folgte, wo die Tische jetzt ohne die Papierdecken seltsam nackt wirkten.

Die beiden Frauen setzten sich mit Blickrichtung zum Meer, das gegen die Felsen plätscherte. Fortini goss den heißen schwarzen Kaffee ein. Nach dem vielen Nescafé hatte Alexis das Gefühl, als hätte sie noch nie so starken und so köstlichen Kaffee getrunken. Wie es schien, wagte niemand den Griechen zu sagen, dass Nescafé längst keine Errungenschaft mehr war – und dass sich im Grunde jeder nach diesem altmodischen, dickflüssigen Gebräu sehnte. Nach der sengenden Augusthitze war der September mit seinem klaren Licht und der milden Wärme auf Kreta wie eine Erlösung. Die beiden Frauen saßen im Schatten der Markise, und Fortini legte ihre Hand auf die von Alexis.

»Ich freue mich so sehr, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Es hat mich sehr getroffen, als deine Mutter nicht mehr geschrieben hat – ich konnte es zwar verstehen, aber damit wurde eine wichtige Verbindung zur Vergangenheit gekappt.«