Inselsehnsucht - Gabriella Engelmann - E-Book
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Inselsehnsucht E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Das »Büchernest« auf Sylt hat wieder geöffnet: »Inselsehnsucht« ist der 5. traumhaft schöne Wohlfühlroman um vier Freundinnen und eine Buchhandlung auf Sylt von Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann. Spätsommer auf Sylt – sanfte Wattewolken tanzen am Himmel, Heckenrosen leuchten um die Wette und magischer Inselzauber verwöhnt Herz und Seele. Der Alltag der vier Freundinnen Bea, Lissy, Nele und Vero könnte sich in dieser zauberhaften Jahreszeit entschleunigen, doch das Leben schreibt auch auf der Trauminsel seine eigenen Geschichten: Lissys Sohn Niels braucht als Frühchen die volle Aufmerksamkeit der Mutter, Freundin Nele steht vor ungeahnten Hürden bei ihrer Hochzeitsplanung mit Sven, Buchhändlerin Bea plagt eine Schreibkrise und Cafébesitzerin Vero hadert mit einer späten Midlife-Crisis. Als dem Buchcafé »Büchernest« nach dem Umzug in Beas Kapitänshaus die Laufkundschaft fehlt, versucht Jungbuchhändlerin Rieke frischen Wind reinzubringen – der dickköpfigen Bea behagen die Veränderungen aber gar nicht. Als Vero und Nele sich auch noch heillos zerstreiten, wird die langjährige Freundschaft des Quartetts auf eine harte Probe gestellt … Mit ihren Inselromanen um die Buchhandlung »Büchernest« auf Sylt schafft Gabriella Engelmann immer wieder ein kleines Wunder: kluge Unterhaltung zum Träumen, die das Herz berührt und manchmal auch ein bisschen nachdenklich macht. »Macht den Kopf frei und das Herz leicht.« Tina über »Strandkorbträume« Die Wohlfühlromane der »Büchernest-Serie« sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Inselzauber - Inselsommer - Wintersonnenglanz - Strandkorbträume - Inselsommerstürme (Kurzroman) - Inselsehnsucht

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Seitenzahl: 367

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Gabriella Engelmann

Inselsehnsucht

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Spätsommer auf Sylt – sanfte Wattewolken tanzen am Himmel, Heckenrosen leuchten um die Wette und magischer Inselzauber verwöhnt Herz und Seele. Der Alltag der vier Freundinnen Bea, Lissy, Nele und Vero könnte sich in dieser zauberhaften Jahreszeit entschleunigen, doch das Leben schreibt auch auf der Trauminsel seine eigenen Geschichten: Lissys Sohn Niels braucht als Frühchen die volle Aufmerksamkeit der Mutter, Freundin Nele steht vor ungeahnten Hürden bei ihrer Hochzeitsplanung mit Sven, Buchhändlerin Bea plagt eine Schreibkrise und Cafébesitzerin Vero hadert mit einer späten Midlife-Crisis. Als das Buchcafé »Büchernest« nach dem Umzug in Beas Kapitänshaus die Laufkundschaft fehlt, versucht Jungbuchhändlerin Rieke frischen Wind reinzubringen – der dickköpfigen Bea behagen die Veränderungen aber gar nicht. Als Vero und Nele sich auch noch heillos zerstreiten, wird die langjährige Freundschaft des Quartetts auf eine harte Probe gestellt …

 

Inhaltsübersicht

Einleitung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Danksagung & Rezepte

Morsumer Krabbenfrittata

Keitumer Spinatkuchen

Pasta mit scharfen Flusskrebsen

Winterschmaus – Grünkohllasagne mit Mozzarella und Roter Bete

Wenningstedter Fischstäbchen mit Kürbispommes und Joghurtsoße

Archsumer Grünkohlsalat mit gebratenen Garnelen

Sylter rote Grütze mit Avocadomousse

Ende August gehörte von jeher zu den schönsten Zeiten auf Sylt, denn diese Tage verströmten sanften Inselzauber und wärmten Haut, Seele und Herz. Die weißen und pinkfarbenen Heckenrosen standen noch in voller Blüte, und die ersten Hagebuttenfrüchte röteten sich prall in der Spätsommersonne, umrahmt von Blattwerk, grünen Kronen gleich. Alles schien träge zurückgenommen, ein wenig verlangsamt, bis Wind aufkam und die Wattewolken so schnell über den Himmel trieb, als hätte er es ganz besonders eilig.

An solchen Tagen nutzten die Kitesurfer die stürmische Brandung für kühne Luftsprünge über der Nordsee, ihre bunten Segel tupften bunte Farbkleckse auf den hohen, weiten Himmel des Lister Königshafens und anderer Surf-Spots. Flauschige Hundeohren wippten fröhlich im Wind, feuchte Hundenasen bohrten sich in den Sand, um alles zu erschnüffeln, was es zu erschnüffeln gab. Und das war viel, denn jeder Sommer hatte seine eigene Geschichte – erst recht auf Sylt. Auf dem pudrig weißen Sand der Strände von der Südspitze Hörnums über das noble Kampen bis zum Sylter Ellenbogen hatten sich während der sonnigen Monate zahllose Dinge ereignet, auf welche diejenigen, die sie erlebt hatten, später mit Freude, Trauer oder Amüsiertheit zurückblickten. Dem einen war der saftige Matjes von einer hungrigen Möwe aus dem Fischbrötchen geklaut worden, jemand anders hatte den spektakulärsten Sonnenuntergang seines Lebens bestaunt und dabei das Salz auf der Haut und den Wind in den Haaren gespürt.

Herzen fanden sich, Herzen brachen, genau wie die Wellen an den Buhnen, die dem Küstenschutz dienten. Die Leuchtfeuer der Insel schickten ihre blinkenden Signale über das Wattenmeer, der Hörnumer Leuchtturm zwinkerte Föhr schelmisch zu, wo die Menschen am Deich von Utersum standen und sich fragten, ob das Eiland auf der rechten Seite ihres Blickfelds Amrum war oder vielleicht doch eher Sylt.

Die Insel der Schönen und Reichen scherte sich nicht wirklich um diejenigen, die kamen, um die Uwe-Düne zu besteigen, die Tetrapoden Hörnums zu umrunden, Strandkorbpartys zu feiern, Austern in List zu verspeisen oder Champagner im legendären Restaurant Sansibarzu schlürfen. Es war ihr egal, ob sich manche an Afrika erinnert fühlten, wenn sie entlang des Morsum-Kliffs spazieren gingen, köstlichen Ziegenkäse in Keitum kauften oder befanden, dass die im Wind stehenden Reisenden Riesen in Westerland nicht hübsch genug waren, um Touristen am Bahnhof gebührend in Empfang zu nehmen.

Die Insel war einfach da und wurde immer schlanker oder auch kurzfristig üppiger, wenn Sand durch Rohre gepumpt und an die Strände gespült wurde, die in hundert Jahren vielleicht nur noch eine Erinnerung auf historischen Landkarten sein würden. Doch Sylt nahm dies alles gelassen, denn dieses Kleinod im Wattenmeer war ein kleiner Teil des großen Ganzen – und ein Ort, an dem Menschen wohnten, die liebten, lachten und lebten. So wie die vier Freundinnen Bea, Vero, Lissy und Nele vom Keitumer Buchcafé Büchernest …

1

Nele

Heute besuche ich Lissy und die beiden Kleinen! Nach einem kreativen Tag an der Staffelei verspürte Kinderbuchillustratorin Nele große Sehnsucht nach ihrer besten Freundin und deren Kindern Liuna-Marie und Niels, dessen Patentante sie war. Seit sie überwiegend in ihrem Atelier in List arbeitete, sah sie die drei viel seltener als üblich. Das war schade, denn sie liebte es, die Fortschritte der Kleinen mitzuerleben, zu bestaunen und zu dokumentieren. Mittlerweile hätte sie eine Buchreihe mit all den Skizzen, Fotos und Acrylbildern gestalten können, die sie im Lauf der Zeit gemacht hatte: Liuna-Maries erster Tag am Meer, der Moment, in dem sie von Neles Zitroneneis genascht und sich genüsslich den süßen Mund geleckt hatte. Liu im Tiefschlaf, die Wangen gerötet, Liu bei ihr im Atelier, wo sie den Fußboden mit Wachsmalkreide bemalt hatte. Von Niels gab es noch nicht so viele Motive, denn er war gerade erst als spätes Frühchen geboren worden.

Nele streckte sich ausgiebig, um ihren steif gewordenen Rücken zu entspannen, und betrachtete zufrieden die Komposition der Bilderwelt auf der Leinwand, in der zarte Feen und Elfen emsig umherschwirrten. Sie hoffte, dass diese Fabelwesen die Herzen der Kinder erfreuen würden, wenn sie sich das Bilderbuch anschauten, und wünschte nicht zum ersten Mal, sie könnte in solchen Momenten dabei sein. Ich schenke der kleinen Liu eines der Originale für ihr Kinderzimmer, sobald das Buch in den Druck gegangen ist, beschloss Nele, während sie sorgsam die Pinsel säuberte, anschließend das Malwasser in den Abfluss des Waschbeckens goss und fasziniert dabei zusah, wie sich das pastellfarbene Rinnsal einen Weg ins Innere des Beckens bahnte. Dann vernahm sie ein forderndes Maunzen und bückte sich, um Kater Campino zu kraulen, der gerade ins Atelier getapst war und sie mit seinen grün schimmernden Augen ansah. »Na, mein Schöner«, flüsterte sie. »Du hast bestimmt Hunger.« Die Antwort des Maine Coon war ein müdes Gähnen, er blinzelte mehrmals und folgte Nele auf Samtpfoten in die Küche. Wie fast alle Katzen war auch Campino sehr verwöhnt, und man wusste nie, ob er das Abendessen innerhalb kürzester Zeit verputzen oder der Futterschale nach dem ersten Happs beleidigt den Rücken zukehren würde. Doch diesmal schien es zu passen, denn Campino schmauste vergnügt, während Nele sein Katzen-WC säuberte, eine weitere Schüssel mit frischem Trinkwasser und eine dritte mit Trockenfutter füllte. »Tut mir leid, ich kann dir nicht länger Gesellschaft leisten, denn ich muss gleich nach Keitum und daheim nach dem Rechten sehen. Ich hoffe, du vermisst Ole und Sophie nicht allzu sehr, denn es dauert noch ein Weilchen, bis die beiden von ihrer Reise zurück sind«, murmelte Nele und streichelte Campino wieder über das seidige Fell. »Also, mach’s gut, bis morgen.«

Bevor sie ging, vergewisserte sie sich, dass die Katzenklappe funktionierte, denn der Kater stromerte nachts am Rande des Ortes List umher, wo es neben Mäusen und Vögeln noch viel mehr zu entdecken und jagen gab. Abschließend warf sie einen letzten Blick auf das Haus ihrer Freunde und stieg dann in ihr Auto.

Eine knappe halbe Stunde später erreichte Nele das puppenstubenartige Dorf Keitum im Osten Sylts, in dem sie lebte, seit sie sich als junge, ungestüme Malerin in die Insel und das dortige Leben verliebt hatte. In einem wunderschönen Kapitänshaus im Herzen des Dorfes, in dessen erster Etage sie zurzeit wohnte, befand sich das Buchcafé Büchernest. Nele war froh, dass zum Haus zwei Parkplätze gehörten, absolute Mangelware in Keitum. Es gab nämlich kaum etwas Nervigeres für sie als die Parkplatzsuche, außer natürlich Stechmücken, unhöfliche Menschen und diejenigen, die Strafzettel verteilten.

»Moin, Nele, besuchst du Lissy heute noch?«, fragte Beas Freundin Vero, die soeben aus dem Café kam, das im Pavillon des großen Gartens untergebracht war, als Nele parkte und die Fensterscheibe herunterkurbelte. »Wenn ja, könntest du ihr das bitte mitbringen?« Die rundliche, rotwangige Vero war bepackt mit einem Korb voller Köstlichkeiten, die sie am Ende des Tages großzügig an diejenigen verschenkte, die Appetit auf Milchreis mit roter Grütze, Sylter Sommersalat mit Ziegenkäse, eine kräftige Kartoffelsuppe mit Krabben oder sahnige Friesentorte mit Pflaumenmus hatten. All dies waren Spezialitäten aus ihrem Café und für gewöhnlich von den Gästen bis auf den letzten Krümel vertilgt, doch in den vergangenen Wochen hatte sich das deutlich geändert.

Nele stieg aus dem klapprigen Auto, das beinahe mehr Zeit in der Werkstatt verbrachte als auf den Straßen der Insel. »Na klar, das mache ich sehr gern. Aber erzähl mal: Wie lief es heute? War genauso wenig los wie in den vergangenen Tagen?«

Vero seufzte tief und wirkte, als bräuchte sie Trost und Zuspruch. Nach außen hin war die Anfang siebzigjährige Dame durch nichts zu erschüttern und Ruhe und Optimismus in Person. Doch wenn ihre Nasenflügel bebten und der linke Mundwinkel zuckte, wussten diejenigen, die sie liebten: Es ist an der Zeit, Vero zuzuhören und nicht nur die eigenen Sorgen bei ihr abzuladen. »Okay, Botschaft verstanden. Magst du einen Eistee, und wir setzen uns damit einen Moment auf die Bank, bevor ich zu Lissy gehe?«, schlug Nele vor, und Vero nickte dankbar. »Fein, dann bereite ich uns eine Kanne zu, und du machst es dir inzwischen im Garten gemütlich.«

In ihrem Zimmer streifte Nele die bequeme Jeanslatzhose ab, in der sie am liebsten malte, und tauschte sie gegen ein luftiges Sommerkleid, gebatikt in den Farben Hellbeige, Türkis und Gelb, die sie an Strand, Meer und Sonne erinnerten und ihre grünen Augen zum Leuchten brachten. Zudem harmonierten die Töne hervorragend mit ihren kupferfarbenen Locken, die sie meist zu einem lässigen Knoten schlang.

»Ich danke dir«, sagte Vero, als Nele wenig später das Tablett mit dem Erfrischungsgetränk, zwei Gläsern mit Zitronenzesten, Minze sowie einem Schälchen Pistazien auf den hellblau gestrichenen Tisch vor der Bank stellte. Für Ende August war es immer noch ungewöhnlich warm auf Sylt, selbst an den Abenden konnte man es gut ohne Pullover aushalten, sogar am Strand, wo für gewöhnlich eine leichte Brise wehte.

Vero trank das erste Glas in einem Zug aus, dabei konnte Nele, als sie sich neben ihre Freundin setzte, den zarten Flaum sehen, der sich im Lauf der Jahre an Veros Kehlkopf gebildet hatte. Würde ihr das auch passieren, wenn sie älter wurde?

»Also, was ist los?«, fragte Nele und wackelte mit den Zehen, während sie die nackten Beine so weit in die Luft reckte, wie es ihre wenig trainierte Bauchmuskulatur zuließ.

Vero kommentierte die kleine Gymnastikübung nicht weiter, sondern starrte auf den hübschen Pavillon.

»Nichts ist los, und genau das ist das Problem.« Vero legte so viel tragisches Pathos in diese Worte, dass sie damit sogar Nele ausstach, die den Beinamen Dramaqueen trug. »Es ist ohnehin schon schwierig, die Gäste hierherzulotsen, doch seit der Foodtruck von Starkoch Holger Hartwig an der Kreuzung schräg gegenüber parkt, ist hier mehr als tote Hose. Wenn das so weitergeht, muss ich wohl oder übel die Segel streichen.«

Nele blinzelte gegen die schräg stehende Sonne, die bald hinter dem Friesenwall mit den Sylter Heckenrosen, der das Grundstück umsäumte, untergehen würde. Das fröhliche Zwitschern der Vögel in den Laubbäumen und das emsige Summen der Bienen bildeten einen starken Kontrast zu Veros Stimmung, es tat Nele in der Seele weh, dass ihre liebe Freundin zurzeit von solch großen Sorgen geplagt wurde. »Hey, wo bleibt denn dein berühmter Optimismus?«, fragte sie, um Vero aufzumuntern. »Meinst du nicht, dass sich das alles wieder einrenkt, sobald das Wetter schlechter wird und der Herbst kommt? Viele Urlauber lieben die stürmische Nebensaison und reisen ganz bewusst erst nach Sylt, wenn hier nicht mehr so viel los ist. Da trinken sie dann literweise Tee mit Kluntjes, essen Waffeln und Friesentorte, und die Kasse klingelt wieder Sturm.«

»Unser neuer Standort ist aber nicht so zentral gelegen wie der alte am Keitumer Watt, wo man unweigerlich vorbeikommt, wenn man spazieren geht«, hielt Vero seufzend dagegen. »Außerdem ist unsere Terrasse viel zu klein. Deshalb gehen alle lieber zur Kleinen Teestube oder zu Nielsens Kaffeegarten mit dem traumhaften Blick aufs Wattenmeer.« Vero zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, und Nele konnte es ihr nicht verdenken.

»Wie lange lässt denn Hartwig seinen Wagen dort stehen?«, fragte Nele, die fieberhaft überlegte, was man gegen Veros trübe Stimmung tun konnte.

»Angeblich bis zur Winterpause im Februar«, knurrte Vero.

Wie auf Kommando ertönte das höhnisch klingende Gelächter einer Lachmöwe, die in Richtung Meer flog. »Wenn es kalt wird, serviert er Glühwein, Pharisäer, Bratwürstchen und Kartoffelpuffer mit Lachs. Das lieben alle, nicht nur die Urlauber.«

Bei der Erwähnung von gegrillten Würstchen knurrte Neles Magen, sie war den ganzen Tag über so versunken in ihre Malerei gewesen, dass sie, bis auf einen Apfel, völlig vergessen hatte, etwas zu essen. »Verstehe«, murmelte sie bedrückt, denn es tat weh, Vero so geknickt zu sehen. Zudem fiel ihr dummerweise keine Lösung ein, denn der Starkoch aus Hamburg bot dem anspruchsvollen Sylt-Publikum genau das, was es wollte, obwohl Nele fand, dass Vero um Längen besser kochte. Doch Vero war es nicht gewohnt, ihre Künste anzupreisen und sich selbst so in Szene zu setzen, dass die Kunden scharenweise zu ihr strömten. »Ich rede mit Lissy, vielleicht hat sie ja eine Idee«, schlug sie nach einer Weile betretenen Schweigens vor. »Oder wir berufen den Familienrat ein, ist ohnehin schon viel zu lange her, dass wir uns zuletzt gemeinsam getroffen haben. Mach dir jetzt bitte keine allzu großen Sorgen, wir finden gemeinsam eine Lösung. Das haben wir doch bislang immer.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte Vero und schaute auf ihre Armbanduhr. »Danke für den Eistee und deinen Zuspruch, das hat gutgetan. Leider muss ich jetzt dringend nach Morsum, das Abendessen für Hinrich zubereiten, du weißt doch, wie viel Wert er auf pünktliche Mahlzeiten legt. Grüß Lissy und gib den beiden Mäusen einen Kuss von mir. Wir sehen uns dann morgen, ja?«

Wenige Minuten Fußweg später stand Nele, bepackt mit Veros Korb, an der Eingangspforte des Vorgartens vor dem weiß getünchten Friesenhaus mit dem Maueranker, in dem ihre beste Freundin Larissa, deren Mann Leon, die kleine Liuna-Marie und seit Kurzem auch Niels wohnten. Das reetgedeckte Haus mit der inseltypischen zweigeteilten Klönschnacktür wirkte ebenso malerisch wie der Vorgarten, in dem Rosen, Dahlien und Astern ein wahres Farbenfeuerwerk zündeten und damit die Blicke aller Touristen auf sich zogen, die staunend stehen blieben und zahllose Fotos schossen, um sie später auf Instagram zu posten. Auch jetzt posierte ein junges Pärchen vor dem weiß lackierten Zaun für ein Selfie.

»Soll ich ein Foto von euch machen?«, bot Nele an, doch das Paar schüttelte den Kopf und zog von dannen, nachdem es sich für das freundliche Angebot bedankt hatte. Nele öffnete die Pforte zu Lissys Garten, einer Oase voller Wildblumen, zwischen denen auch hübsche Gräser hervorlugten. Lissy rückte dem Unkraut, das in ihren Augen gar keines war, genauso wenig zu Leibe wie den rosafarbenen Anemonen, die sich ebenso schnell verbreiteten wie Klatsch und Tratsch auf der Insel, denn sie wollte, dass Insekten und Schmetterlinge sich hier willkommen und heimisch fühlten. Nele hielt einen Moment inne, ließ den Blick über die Blütenpracht schweifen, und ihr kam plötzlich eine Frage in den Sinn, über die nachzudenken sie mit Kribbeln im Bauch und tiefem Glück erfüllte: Welche Blumen wähle ich für meinen Brautstrauß?

2

Lissy

Das ist ja eine schöne Überraschung«, rief Lissy, die gemeinsam mit ihren beiden Kindern im Gras auf einer Decke unter dem Magnolienbaum saß und den Besuch als Erste entdeckte. Die fast zweijährige Liu klatschte begeistert in die Händchen, als sie Nele erspähte, und ging ihr fröhlich entgegen.

Sie liebt Nele über alles, dachte Lissy gerührt und stand ebenfalls auf, um ihre Freundin zu begrüßen. »Oder waren wir verabredet, und ich habe es, wie so vieles zurzeit, vergessen? Ich fürchte, ich leide an Stilldemenz. Aber schön, dass du da bist.«

»Keine Sorge, dein Gedächtnis funktioniert wunderbar. Ich dachte, ich schaue einfach mal spontan vorbei und bringe euren Tagesablauf durcheinander«, erwiderte Nele augenzwinkernd und schwenkte demonstrativ den geflochtenen Weidenkorb. »Vero hat etwas zu essen für euch eingepackt, und ich habe Sehnsucht nach den beiden Süßen. Darf ich den Kleinen mal aus der Wanne herausnehmen?«, fragte Nele, und Lissy nickte. Niels war erst seit wenigen Tagen aus der Klinik entlassen worden, wo man ihn aufgepäppelt und immer wieder gründlich untersucht hatte. Noch ehe Nele ihre Hand unter das Köpfchen von Niels schieben konnte, trat Liu gegen das obere Teil des Kinderwagens, das nun auf dem Rasen stand, und das Baby begann prompt zu weinen.

Nicht schon wieder, dachte Lissy mit einer Mischung aus Bestürzung und Ärger. War das nur ein dummer Zufall gewesen oder Absicht? »Sei bitte ein bisschen vorsichtig mit deinem Brüderchen«, bat Nele und schaute Liu tief in die Augen. »Er ist noch klein und erschrickt leicht.«

Sobald Niels in Neles Arm lag, hörte er auf zu weinen und ließ lediglich ein zufrieden klingendes Schmatzen ertönen. Liuna-Marie stand mit leicht zusammengekniffenen Augen da und starrte ihren Bruder an.

»Tja, das war’s dann wohl mit unserem netten Abend«, sagte Lissy schmunzelnd und versuchte den Gedanken daran, dass Liu aus Eifersucht gegen die Wanne getreten hatte, beiseitezuschieben. »Jetzt musst du Niels die ganze Zeit im Garten herumtragen, während Liu und ich uns über die Köstlichkeiten von Vero hermachen.«

Doch Liuna-Marie dachte gar nicht ans Abendessen, sondern stand weiterhin auf ihren kurzen Beinchen in gebührendem Abstand zu Nele und Niels, stemmte die Hände in ihre Hüften und zog einen Flunsch. »Liu, kommst du? Wir packen in der Küche den Korb aus und holen für uns alle etwas zu trinken, ja?«, versuchte Lissy ihr Töchterchen zu locken.

Doch die energische Antwort der Kleinen lautete: »Auf keinen Fall!«

Lissy fiel beinahe die Kinnlade herunter. Wo hatte ihre Tochter denn den Ausdruck her? Liu war alles andere als eine Quasselstrippe und wählte die wenigen Worte, die sie bislang kannte, mit dem für die Nordfriesen typischen Bedacht.

»Hui, das klingt ja ganz wie Tante Bea, die weiß auch immer sehr genau, was sie will, und vor allem, was sie nicht will«, sagte Nele lachend. »Hast du denn gar keinen Hunger, Liu-Maus? Also ich schon. Ich könnte glatt drei Maiskolben, ein halbes Hähnchen, zwei Fischbrötchen und einen ganzen Apfelkuchen verdrücken, so leer ist mein Magen.«

Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und beäugte Nele und Niels weiterhin argwöhnisch. Dabei legte sie den Kopf schräg, sodass ihr einige blonde Locken ins Gesicht fielen.

In diesem Moment wurde Lissy klar, dass sie dringend mit ihrer Tochter zum Friseur musste. Allerdings machte Liu jedes Mal ein riesiges Theater, wenn ihre Haare gewaschen werden mussten. Und wenn dann noch eine große Friseurschere vor ihrem Gesicht auftauchte, stimmte sie ein derart lautes Gebrüll an, dass man es von Keitum bis nach Hörnum hören konnte. Es gab Tage, da lagen Lissys Nerven derart blank, dass sie einfach aufgab.

»Ich mache uns jetzt ein Picknick zurecht«, sagte sie schließlich, weil sie hungrig war und tagsüber lediglich den Rest von Lius Pfannkuchensuppe gegessen hatte. »Und ihr drei amüsiert euch einfach solange hier draußen.«

In der gemütlichen Wohnküche mit hellen Möbeln im Shabby-Style packte Lissy die Mitbringsel aus Veros Café aus, dankbar, heute Abend nicht kochen zu müssen. Sie war noch immer erschöpft von der Geburt, belastet davon, dass sie das Baby nicht gleich mit nach Hause hatte nehmen können, und von der Anstrengung, zwei Kinder zu haben, von denen eines noch so winzig klein und zart war, dass sie zuweilen befürchtete, es beim Wickeln oder Stillen zu zerbrechen. Doch das war bei Weitem nicht die einzige Sorge, die sie seit der Geburt umtrieb: Sie befürchtete, dass Niels nicht ausreichend zunahm, dass er krank werden könnte oder trotz ihrer überbordenden Liebe und Fürsorge nicht genug Nähe verspürte. Geborgenheit und wohlige Nestwärme waren für Frühchen beinahe noch wichtiger als ohnehin für Babys. Zudem verglich sie seine Entwicklung stets mit der ihrer Tochter, obwohl sie wusste, dass das der falsche Maßstab war – und sie sich kaum noch vorstellen konnte, dass Liu auch mal so klein gewesen war. Wie gut, dass Vero so häufig abends zu ihr kam, um sie zu unterstützen und ihr die Unsicherheit zu nehmen. Und natürlich stand ihr auch Leon liebevoll zur Seite, wenn sie nicht mehr weiterwusste oder das Gefühl hatte, alles falsch zu machen.

»Na, hast du nicht doch ein bisschen Hunger?«, fragte Lissy ihre Tochter wenige Minuten später, als sie den Salat, Quiche, Milchreis und Getränke auf den Teakholztisch unter dem Apfelbaum stellte und für alle deckte. Doch Liu schüttelte trotzig den Kopf und trollte sich zurück auf die Decke, wo ihr Spielzeug lag und rote Sommeräpfel, die vom Baum gefallen waren. Lissy wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihre Tochter zu drängen, sie würde sich schon melden, wenn sie Hunger hatte. Nele wiegte immer noch den schlafenden Niels in ihren Armen und gab dabei ein bezauberndes Bild ab, das Lissys Herz zum Schmelzen brachte. »Setz dich ruhig an den Tisch, ich lege Niels hin«, sagte sie, nahm ihrer Freundin das schlafende Baby ab und stellte die Wanne mit dem Kleinen neben sich auf die Bank.

Nele machte sich mit großem Appetit über die Quiche mit Gorgonzola, grünem Spargel und Brokkoli her, Lissy entschied sich für die Version mit Roter Bete und Keitumer Ziegenkäse.

»Mhm, das ist genau das Richtige«, schwärmte sie, während sie dem Aroma der erdigen Bete mit der Zunge nachspürte. »Wenn ich Vero nicht hätte, würden wir wohl alle verhungern oder jeden zweiten Tag Pizza essen. Leon kommt ja häufig in den Genuss von Geschäftsessen, aber ich …«

»Hast du mal darüber nachgedacht, dir Hilfe zu holen?«, fragte Nele, die sich ein Glas Rosé einschenkte. Lissy trank selbst gemachte Johannisbeerschorle. »Immerhin bist du den ganzen Tag allein mit den beiden Kleinen, hast den Haushalt, machst die Buchhaltung fürs Büchernest und hörst dir geduldig alle paar Tage Beas neue Buchideen an.«

»Ach was, ganz so schlimm ist es nicht«, versuchte Lissy die Bedenken ihrer Freundin vom Tisch zu wischen, obwohl ihr in diesem Moment beinahe vor Müdigkeit die Augen zufielen. »Dreimal die Woche ist Liu bei ihrer Tagesmutter. Leon kümmert sich meist abends um sie, und auch Bea findet es ab und zu ganz schön, sich mit den Kids zu beschäftigen, anstatt ständig Buchexposés zu verfassen. Mir bereitet eher die Situation im Büchernest Kopfzerbrechen, auch wenn Bea seit der Geburt von Niels wieder jeden Vormittag im Laden ist und Rieke jetzt Vollzeit bei uns arbeitet.«

Nele wiegte den Kopf hin und her, sie wirkte nicht recht überzeugt. »Ich habe es dir schon vor Wochen gesagt, und ich sage es dir heute noch mal: Ich arbeite gern wieder mehr im Laden und lehne lieber Aufträge für Kinderbuchillustrationen ab, als dass ich tatenlos dabei zusehe, wie das Büchernest unter Personalmangel leidet. So schön es für Sophie auch ist, dass sie mit Ole nach Herzenslust mit dem Van in der Weltgeschichte umherreisen kann, aber sie fehlt uns im Team.«

»Wir versuchen es einfach weiter und schalten noch mal eine Anzeige in den Branchenblättern und den Jobportalen, auch wenn es schwer ist, Personal und eine passende Unterkunft zu finden«, murmelte Lissy. »Ich möchte nicht, dass du die tollen Aufträge ablehnst, auf die du so lange hingearbeitet hast. Du bist, trotz deiner Liebe zu Büchern, keine Buchhändlerin, sondern Künstlerin. Außerdem hast du vor Kurzem einen Heiratsantrag bekommen und wirst bald alle Hände voll damit zu tun haben, euren großen Tag vorzubereiten. Und wer weiß, was dann noch so alles auf dich wartet.« Lissys Blick blieb erst an Niels hängen und richtete sich schließlich auf Liu, die völlig versunken mit einem Schaufelbagger spielte, der Sand aus der Sandkiste, garniert mit Sylter Muscheln, geladen hatte.

»Du meinst eine große Kinderschar?« Nele schüttelte energisch den Kopf, die Abendsonne ließ die Sommersprossen auf ihrer Nase und dem Dekolleté tanzen. »Ich gehe allmählich auf die vierzig zu. Und bei dem Pensum, das Sven mit dem neuen Hotel zu bewältigen hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er scharf auf Kinder ist.«

»Habt ihr etwa die Kinderfrage noch nicht besprochen?« Lissy war ehrlich verdutzt. Sie selbst hatte schon bald nach dem Antrag von Leon geklärt, wie er zum Thema Familie stand und was er sich für die gemeinsame Zukunft mit ihr erträumte. Zum Glück verspürten beide gleichermaßen den Wunsch, ihre Liebe mit Kindern zu krönen, umso härter war der Weg gewesen, der daraufhin gefolgt war: zwei Fehlgeburten, dann das Aufatmen und das große Glück, Liu zu bekommen, gefolgt von der komplizierten Schwangerschaft mit Niels, die sie größtenteils liegend verbracht hatte, um das Wohl des Babys in ihrem Bauch nicht zu gefährden.

»Nein«, erwiderte Nele und zog die Nase kraus. »Sollten wir das? Ich dachte immer, so etwas ergibt sich ganz automatisch. Man sieht gemeinsam ein süßes Baby, wie diesen kleinen Mann hier, ich sage irgendwann, dass ich das ewige Verhütungsthema leid bin oder … hm. Jetzt, wo ich laut ausspreche, was ich in den vergangenen Wochen immer mal gedacht habe, klingt es auf einmal komisch in meinen Ohren. So … unkonkret.«

»Wünschst du dir denn ein Kind?«

»Ich … äh …« Nele löste ihren Haarknoten, und schon flossen rötliche Locken in Kaskaden über ihre Schultern. Wie schön sie ist, dachte Lissy. Und wie verliebt. Sie hat sich sehr verändert, seit Sven in ihr Leben getreten ist. Diese Veränderung macht sie stark und verletzlich zugleich.

Hoffentlich kommt sie auf Dauer damit zurecht.

»Ich hoffe, meine Geschichte macht dir keine Angst. Nicht jede Schwangerschaft ist so kompliziert und nicht jede Geburt so dramatisch. Vertrau einfach darauf, dass bei dir alles glattgeht.« Während sie dies sagte, wurde sie von vielen Erinnerungen an das Wochenende überflutet, das ganz anders geendet hatte als geplant, und begann innerlich zu zittern: die kurze Zugfahrt der vier Freundinnen, die in Westerland begonnen hatte und schon in Morsum endete. Beas Lachen, als sie die erstaunten Gesichter ihrer Gäste sah, die nichts davon ahnten, dass sie die angekündigte Auszeit auf Sylt verbringen würden. Das wunderschöne Hotel am Morsum-Kliff. Die Hitze … und dann die Übelkeit und das schmerzhafte Ziehen im Unterbauch. Der aufziehende Sturm, das schwere Gewitter, die Meldung, der Hindenburgdamm sei gesperrt. Die Tatsache, dass auch keine Helikopter flogen.

»Hey, alles okay mit dir?« Neles Frage riss Lissy aus der Erinnerung an die Geburt von Niels, die letzten Endes glimpflich verlaufen war, weil sie einen Schutzengel in Gestalt eines Arztes und ihrer Freundinnen gehabt hatte.

»Na klar«, erwiderte Lissy, der Tränen über die Wangen kullerten und der leicht schwindelig war. Sie streichelte sanft das zarte Gesichtchen des schlafenden Babys und blickte zugleich auf ihre Tochter, die mittlerweile in einem der viel geliebten Kinderbücher blätterte, die Bea ihr regelmäßig schenkte. »Kinder sind einfach das größte Geschenk, das das Leben uns machen kann. Ich bin unendlich dankbar und glücklich und hoffe, dass ihr beiden euren eigenen Weg findet.«

Dass der Cocktail aus Hormonen und dem Trauma der dramatischen Geburt nicht ohne war, verschwieg Lissy. Sie kämpfte tapfer und nach Kräften gegen ihre Schlappheit und zuweilen düsteren Gedanken an, sehnte sich jedoch schmerzlich nach ihrem alten Ich, nach Unbeschwertheit, nach Ruhe und Frieden. Nach einer Zeit, in der sie sich nicht so viele Sorgen machen musste.

3

Rieke

Als der Wecker klingelte, fiel es Rieke Ingwersen schwer, die Augen zu öffnen und aus ihrem Traum in die Realität zurückzufinden. Die Zwanzigjährige hatte beim Lesen wieder die Nacht zum Tag gemacht, denn sie hatte sich nicht von ihrem Roman trennen können, den sie sich vor zwei Wochen für die Rückfahrt mit dem Zug von Paris nach Sylt gekauft und für dessen Beendigung sie nach ihrer Rückkehr keine Zeit gefunden hatte.

Ihre beste Freundin Emma und sie waren zum ersten Mal dort gewesen und von der ersten Sekunde an schockverliebt. Emma in die tollen Secondhandshops, Schmuckläden und Flohmärkte. Rieke in die Bouquinisten am Ufer der Seine, die zahllosen Buchhandlungen, die bis spätabends geöffnet hatten und deren Auslagen zum Stöbern verführten, egal, ob die Sonne schien oder das Trottoir vom Regen glänzte. Und natürlich in Shakespeare and Company. Sie las gerade mit Begeisterung die Romanbiografie über die kämpferische Buchhändlerin Sylvia Beach, die gegen alle Widerstände Ulysses von James Joyce verlegt und damit großen Mut bewiesen hatte. Doch genau das war die Aufgabe der Menschen, die mit Büchern zu tun hatten, egal, ob sie sie verkauften, verlegten, lektorierten oder Werbekampagnen kreierten. Sie mussten kühne Gedanken, Zukunftsvisionen, Gesellschaftskritik und Fantasien in die Welt tragen. Denn die Macht von Büchern war ungebrochen und würde es immer bleiben, davon war Rieke zutiefst überzeugt.

»Guten Morgen, Schatz, magst du heute lieber Tee oder Kaffee?«

Wie jeden Tag steckte Riekes Mutter Ina den Kopf durch den Türspalt und begrüßte ihre Tochter mit einem fröhlichen Lächeln.

»Ich glaube, du vergisst manchmal, dass ich nicht mehr zur Schule muss, sondern im Büchernest arbeite«, erwiderte Rieke schmunzelnd und schlug die blau-weiß gemusterte Bettdecke beiseite. Dann zog sie ihren flauschigen Bademantel an, gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und sagte: »Heute ausnahmsweise mal Tee. Aber den mache ich mir selbst.« Ina wuschelte ihr im Vorbeigehen durch die Haare und begleitete ihre Tochter nach unten in die urige Friesenküche mit der niedrigen Decke, die mit Holzbalken durchzogen war, und Fensterscheiben, die aussahen wie eine halbe Zitrone. »Wahrscheinlich möchte ich einfach nicht wahrhaben, dass du bald zwanzig wirst und ausziehst, sobald du mit Emma eine passende Wohnung für eure Mädels-WG gefunden hast«, erwiderte Ina seufzend und füllte den Kocher mit Wasser. »Also tu mir bitte den Gefallen und lass dich weiterhin ein bisschen von mir verwöhnen, solange du noch hier bist.«

Rieke lächelte und nahm einen Löffel Früchtetee aus der silbernen Dose, die auf dem Hängeregal über dem Herd stand. Die Mischung duftete herrlich frisch, außerdem liebte sie die Farbe Rot und besaß deshalb mehrere Kleider, eine Hose, zwei Hüte und ein paar lange Satinhandschuhe in Rot und zog damit immer wieder die Blicke auf sich. Auf Sylt trug man für gewöhnlich eher Blau und Weiß, auch Grau war eine beliebte Farbe, insbesondere für Sweatshirts und Hoodies, doch Rieke mochte den Kontrast zum maritimen Einheitslook.

»Übrigens gehen Emma und ich heute auf eine Strandparty an der Himmelsleiter«, sagte sie. »Ich bin also beim Abendessen nicht dabei. Und was hast du vor?«

Riekes Mutter arbeitete stundenweise bei Stil & Blüte, dem schönen Blumenladen im Herzen Keitums, der zudem auch Dekoartikel und anderen Schnickschnack führte, den die Urlauberinnen so liebten. »Heute machen wir Gestecke für eine Feier in Morsum, ich muss also gleich los. Kannst du mir bitte etwas zum Lesen aus dem Büchernest mitbringen?«

Rieke nickte und steckte zwei Scheiben Sylter Weißbrot in den Toaster. Als das Brot fertig geröstet war, setzte sie sich auf die weiß lasierte Holzbank mit den bunten Kissen, die Ina größtenteils selbst genäht hatte. Dieser Raum war das Herzstück des Häuschens, hier verbrachte Rieke weit mehr Zeit als in ihrem eigenen Zimmer unter dem Reetdach. »Ist dir eher nach Spannung, Romantik oder einem historischen Stoff?«, fragte sie und bestrich den Toast mit goldgelber Butter, welche die Ingwersens im Hofladen eines befreundeten Landwirts kauften.

»Da wir noch Sommer haben, eher nach Romantik. Die psychologischen Krimis und historischen Wälzer müssen warten, bis es draußen kühler wird und die Tage kürzer. Ich lasse mich einfach überraschen, bis jetzt hast du meinen Geschmack ja immer getroffen.«

Nachdem beide gemeinsam gefrühstückt hatten, ging Rieke wieder nach oben, duschte und zog sich danach die legere Kleidung an, die sie stets trug, wenn sie auf die Koppel zu ihrer Stute Merret ging, die sie auf dem Reiterhof ein paar Querstraßen entfernt am Rande Keitums untergestellt hatte. Merret war nicht mehr die Jüngste, und Rieke hing an ihr, seit ihre Eltern ihr das Pferd zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Rieke genoss die Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht streichelten, genau wie die Keitumer Luft, eine Duftmischung aus Heu, Meersalz, Landleben, Sylter Heckenrosen und Wattenmeer. Ein Schwarm Seeschwalben zwitscherte so laut, dass Rieke sich fragte, ob die Vögel gerade eine Art Konferenz am Himmel abhielten und sich über ein besonderes Thema echauffierten. Vielleicht besprachen sie aber auch die Flugroute, denn die Zugvögel würden Sylt irgendwann wieder verlassen, um in wärmere Winterquartiere zu fliegen.

Sobald die Stute versorgt war und Rieke ausgiebig mit ihr geschmust hatte, war es an der Zeit, sich umzuziehen, ins Büchernest zu gehen und das zu tun, was sie neben Reiten, Fotografieren und Lesen am liebsten tat: lesehungriger Kundschaft das passende Buch empfehlen und sie damit glücklich machen. Denn Bücher waren, je nach Situation, Traumerfüller, Ratgeber, Trostpflaster, Medizin und einfach wunderbar. Nur mit Liebesromanen hatte sie zurzeit Probleme, denn die Sache mit der Liebe war so kompliziert, dass sie nicht daran glaubte, dass sie jemals so glücklich werden würde wie die Romanfiguren in den Büchern mit garantiertem Happy End. Es sei denn, es geschah ein Wunder …

4

Bea

Bea Vrohne-Hansen schlich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer, in dem ihr Mann Adalbert friedlich schnarchte, denn sie hielt es keine Sekunde länger im Bett aus. Lissys Tante hatte die halbe Nacht wach gelegen, weil ihr immer noch eine zündende Idee für ihren zweiten Roman fehlte. Nicht zum ersten Mal verteufelte sie ihren Plan, von Buchhändlerin auf Autorin umzusatteln und damit im fortgeschrittenen Alter einen neuen Berufsweg einzuschlagen. Natürlich gab es Beispiele von tollen Autorinnen wie Rosamunde Pilcher, Delia Owens oder die von ihr so hochgeschätzte Ingrid Noll. Sie alle hatten erst spät debütiert und dann auf Anhieb Bestseller gelandet.

Aber würde sie mit denen mithalten können?

Doch nicht nur die Fragen rund um den neuen Buchstoff bedrohten seit Tagen ihre Nachtruhe, sondern auch die Sorge um ihre über alles geliebte Buchhandlung. »Ich brauche dringend einen starken Tee!«, murmelte Bea, als sie die Küche betrat, und setzte als Erstes den Wasserkessel auf. Sie liebte den Anblick der verbeulten Kanne aus angelaufenem Aluminium und den fröhlichen Pfeifton, wenn das Wasser den Siedepunkt erreicht hatte. Beides erinnerte sie an ihre unbeschwerte Kindheit, als Sylt weitgehend den Insulanern gehört hatte und alles an seinem Platz gewesen war. Nachdem Bea den Friesentee mit Kluntjes zubereitet und ihn im Halbdunkel auf dem Sofa im Wohnzimmer getrunken hatte, beschloss sie, früher als sonst in die Buchhandlung zu gehen und dort nach dem Rechten zu sehen.

Nach einem zehnminütigen Spaziergang durch das im Dunkeln liegende zauberhafte Örtchen mit den Prachtbauten aus dem 18. Jahrhundert erreichte sie ihr ehemaliges Zuhause. Umgehend verspürte sie ein sehnsuchtsvolles Ziehen in der Brust, als sie die Eingangstür öffnete und den typischen Duft nach Reet, Holz und behaglicher Gemütlichkeit einatmete. In diesem altehrwürdigen Kapitänshaus hatte sie viele glückliche Jahre mit ihrem Mann Knut verbracht, bis dieser verstorben war.

»Aua! Was zum …?« Bea fluchte lautstark, als sie im Halbdunkel mit dem rechten Fuß gegen einen Stapel von Kisten stieß, die sich nach dem Anknipsen einer Tischleuchte als randvoll mit Neuerscheinungen entpuppten, die bislang noch niemand ausgepackt und in die Regale einsortiert hatte. Auf dem Deckel der Kisten prangte ein orangefarbener Aufkleber mit der Aufschrift Novitäten. Bea biss sich aus zwei Gründen auf die Unterlippe und versuchte so, ihre aufkeimende Wut zu ersticken: Erstens konnte sie es nicht leiden, wenn Bücher ihr Dasein in Kartons fristeten, denn sie mussten an die Luft, wollten bestaunt, betrachtet, befühlt und Kunden empfohlen werden, die hungrig nach Lesestoff waren. Und zweitens war sie mal wieder stinksauer darüber, dass der Vermieter des ehemaligen Büchernests so raffgierig gewesen war, dass sich Bea mangels Alternativen gezwungen gesehen hatte, ihr altes Zuhause aufzugeben. Wieso nur waren die Immobilienpreise auf der Insel dermaßen explodiert? Bea schnappte sich einen Cutter und begann den obersten Karton zu öffnen.

Wenn sie in einer solchen Stimmung war, tobte sie sich gern körperlich aus oder flüchtete irgendwohin, wo keiner sah, dass sie heimlich ihre Wunden leckte – doch Flucht war zurzeit leider keine Option.

Die Frage »Bist du aus dem Bett gefallen, oder hat Adalbert dich rausgeschmissen?« ließ sie zusammenzucken, und schon war es passiert: Das scharfe Teppichmesser rutschte ab und erwischte ihren linken Zeigefinger. Blut tropfte auf den Karton.

»Wieso schleichst du dich heimlich an und erschreckst mich zu Tode?«, fauchte Bea und reckte Vero anklagend ihren verletzten Finger entgegen. »Schau, was du angerichtet hast.«

»Ich habe mich weder hereingeschlichen, noch war es meine Absicht, dich zu verstümmeln«, entgegnete diese in einem mindestens ebenso ruppigen Tonfall. »Was machst du denn um diese nachtschlafende Zeit hier, und warum überlässt du das Auspacken nicht Rieke?«

»Und was hast du um sechs Uhr morgens hier zu suchen?«, blaffte Bea und umwickelte die Wunde mit einem Taschentuch, das Vero aus ihrer Handtasche gezogen hatte. Es duftete wohltuend nach Lavendel und war aus Stoff, weil Vero, genau wie Bea, an bestimmten Dingen und Gewohnheiten hing, die manch einer als oldschool bezeichnen würde. »Besser alte Schule als gar keine Bildung«, pflegte Bea in solchen Momenten mit ironischem Lächeln zu sagen und nahm damit allen Spöttern sofort den Wind aus den Segeln.

»Drück eine Weile fest drauf, das stoppt den Blutfluss«, empfahl Vero. »Ich schaue mal eben in der Hausapotheke nach einem Pflaster. Es gibt hier doch eine Hausapotheke, oder?«

»Das fragst du besser Lissy«, erwiderte Bea, die noch nie in ihrem Leben Wert auf Vorsichtsmaßnahmen gelegt hatte.

Stürmen trotzte man, wenn sie stürmten, und nicht schon drei Tage im Voraus. Vero schaltete das Licht an, und nun wurde es hell im Büchernest. Dann nahm sie sich Geschenkband aus dem Kassenbereich und umwickelte damit Beas Finger mitsamt Taschentuch. »Jetzt kann ich weder arbeiten noch meine Hand bewegen«, knurrte diese und setzte sich auf einen ihrer alten Sessel, die für Kunden gedacht waren, die gern in Bücher reinlasen, bevor sie sich zum Kauf entschieden. Die Federung des Sessels gab nach, Bea hatte das Gefühl, darin einzusinken und nicht wieder aufstehen zu können.

»Also, was ist passiert?«, fragte Vero, zog einen zweiten Sessel heran und setzte sich ihrer Freundin gegenüber. »Kommst du immer noch nicht weiter mit deinem Buch?«

Bea schüttelte den Kopf und betrachtete das freundliche Gesicht der Frau, die seit über fünfzig Jahren gemeinsam mit ihr durch dick und dünn ging. Wir sind wie ein altes Ehepaar, dachte sie, und ihr wurde warm ums Herz. Vero würde sie niemals im Stich lassen und kämpfen wie eine Löwin, wenn es um Bea ging. Und die wiederum würde jedem höchstpersönlich den Kopf abreißen, der es wagte, Vero auch nur ein Haar zu krümmen. Aber dennoch konnten die beiden ihre Zankereien nicht lassen, erst recht nicht, wenn eine von ihnen Kummer hatte und zu stolz war, dies vor ihrer Freundin zuzugeben.

»Was sagt denn der Verlag zu deiner Blockade?«

»Die sind natürlich nicht begeistert, wie du dir sicher vorstellen kannst, schließlich soll der zweite Roman ein Jahr nach dem Debüt erscheinen, was mir nur noch sieben Monate Zeit lässt. Und du weißt, wie schwer ich mich damit tue, noch mal einen Krimi zu schreiben. Ich finde, die Welt ist grausam genug, da müssen keine weiteren Verbrechen passieren, auch nicht in Buchform. Dass ich überhaupt damit begonnen habe, war eine Schnapsidee. Aber ich wollte unbedingt Geld verdienen, und das kann man nun mal gut mit Sylt-Krimis.«

Vero wiegte den Kopf hin und her, ihre Augenlider waren auf halbmast, wie Bea es nannte, wenn Vero konzentriert über etwas sinnierte. »Wie denkt deine Lektorin denn mittlerweile über deinen Vorschlag, Geschichten über die mystische Seite Sylts zu schreiben?«

»Sie findet die Idee gut, aber nur in Zusammenhang mit einem Kriminalfall.«

Vero öffnete die Augen wieder und schaute Bea unverwandt an. »Das bedeutet also im Klartext, dass du entweder, wie vereinbart, einen Krimi schreiben musst oder versuchen, aus dem Vertrag herauszukommen. Was aber vermutlich nicht so einfach sein dürfte …«

»… weil ich das Honorar bereits verplant habe, um weitere Durststrecken im Büchernest zu überbrücken«, vervollständigte Bea den Satz. »Sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt etwas tun, bevor ich noch schlechtere Laune bekomme als ohnehin schon.« Mit diesen Worten nahm sie den provisorischen Verband vom Finger und öffnete den Bücherkarton. Darin lagen neben den angekündigten Neuerscheinungen unter anderem zehn Exemplare des humorvollen autobiografischen Romans Ozelot und Friesennerz von der Sylterin Sabine Matthiesen, der sich genauso wie der Nachfolgeband Diese eine Liebe wirdnie zu Ende gehn verkaufte wie geschnitten Brot.

»So was in der Art würde ich gern schreiben«, sagte Bea seufzend und ging mit dem Stapel in der Hand zum Bestsellertisch am Eingang der Buchhandlung, wo überwiegend Titel lagen, die mit Sylt oder der gesamten Region Nordfriesland zu tun hatten. »Auch ich hätte jede Menge über meine Kindheit auf der Insel zu erzählen. Aber wenn ich jetzt damit anfange, gelte ich als Nachahmerin, und das will ich auf keinen Fall.«

Vero stellte sich neben sie und schaute zu, wie Bea mit geübten Handgriffen die Buchauslage neu anordnete und dafür sorgte, dass jeder, der den Laden betrat, gar nicht anders konnte, als sich zum Kauf verführen zu lassen: Besonderheiten wurden in der Mitte des Tisches aus alten Schiffsplanken präsentiert. Sie thronten, gut sichtbar, in Deko-Strandkörben und auf Liegestühlen, die Auslage zwischen den einzelnen Titeln war mit Sylter Sand und Muscheln bestreut, die Liu gemeinsam mit Lissy gesammelt hatte.

»Aber jede Kindheit ist doch anders«, hielt Vero dagegen und nahm die restlichen Bücher aus dem Karton.

Der Titel Fräulein Wunder von Gisa Pauly erregte dabei ihre besondere Aufmerksamkeit, da sie bislang ausschließlich deren Bestsellerreihe um die italienische Seniorin Mamma Carlotta kannte, die ihren Sylter Schwiegersohn bei seinen Ermittlungen als Kommissar regelmäßig zur Weißglut trieb. »Schau mal, hier geht es auch um eine Kindheitsgeschichte, und zwar aus den Sechzigerjahren.« Bea gönnte dem schön gestalteten Cover keinen Blick. »Fünfziger, Sechziger, Sagas, Mehrteiler, ich kann das alles bald nicht mehr sehen«, polterte sie los, obwohl sie wusste, wie verrückt die Lesebegeisterten nach solchen Stoffen waren. Doch so gern Bea selbst in dieser Art von Schmökern versank, so schwierig war es für die Buchhandlungen, der Fülle an Mehrteilern Platz einzuräumen. Man musste sich entscheiden und sehr genau darauf achten, welche der unzähligen Reihen wirklich Niveau hatten und welche dem Geschmack der Kundschaft entsprachen, die nach Keitum kam, um Bücher zu kaufen.

Doch genau in dieser Auswahl bestand ihre Aufgabe als Buchhändlerin oder Sortimenterin, wie Beas Beruf in der Fachsprache hieß.

Mit einem Mal erfasste sie eine Panik, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte: Was, wenn sie letzten Endes doch gezwungen war, die Buchhandlung zu schließen und somit ihr Lebenswerk aufzugeben?

5

Nele

Das unbarmherzige Klingeln des Weckers riss Nele aus dem Tiefschlaf und der traumhaften Fantasie, in der sie als wunderschöne Braut Hand in Hand mit Sven am Nordseestrand entlanggelaufen und schließlich auf eine Jolle gestiegen war, die dem Sonnenuntergang entgegensegelte. Ein wenig benommen setzte Nele sich auf und rieb sich die Augen. Sven schlief ungerührt weiter, er wurde in der Regel erst wach, wenn sie ihm einen frisch gebrühten Kaffee unter die Nase hielt oder ihn so lange küsste, bis er sie murmelnd an seine Brust zog, was meist zur Folge hatte, dass beide zu spät zu ihren Terminen kamen. Für gewöhnlich betrachtete Nele den Schlafenden ein Weilchen verliebt, doch heute war sie wie elektrisiert, schnappte sich den kleinen Notizblock, der seit Svens Heiratsantrag auf ihrem Nachttisch lag, und schrieb: wilde Kamille, grüne Chrysantheme und Schneeball.

Der Kranz in ihren Haaren, den sie im Traum gesehen hatte, war traumhaft gewesen, und Nele beschloss, dies als Zeichen zu werten und endlich einen Termin mit der Floristin zu vereinbaren. »Rote Haare und Blumen in Weiß und Grün, das ist hübsch«, murmelte sie. In diesem Moment drehte Sven sich um und kehrte ihr den Rücken zu. Dabei rutschte die Bettdecke herunter, und Nele konnte seine Sommerbräune sehen, und dass seine Arm- und Beinmuskeln noch definierter waren als sonst. Kein Wunder. Beide hatten den traumhaften Sylter Sommer genutzt, um in jeder freien Minute schwimmen zu gehen, die Insel mit dem Rad zu umrunden, zu joggen oder mit dem SUP-Board auf den sanften Wellen zu schaukeln. Sie hatte sich anfangs schwergetan, die Balance auf dem Board zu halten, und war beinahe öfter im Wasser umhergepaddelt als auf dem SUP.

Als Nele als weiteres Stichwort LOCATION