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Henry Bates ist geplagt von Erinnerungslücken. Bei einem Psychiater sucht er nach Hilfe, doch die Reise auf die er dabei geschickt wird, bringt Geheimnisse über seine Vergangenheit hervor, die er nie für möglich gehalten hätte. "Insight Me" ist das alleinstehende Begleitwerk zu dem gleichnamigen Musikalbum der Rockband "Rise in Chains" und erzählt eine Geschichte, die auf den Songs des Albums basiert, welche wiederum klassische Horror- und Fantasywerke zitieren.
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Seitenzahl: 189
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Vorwort
Prolog
Kapitel 1 – Willkommen im Wunderland
Kapitel 2 – Das Mädchen auf dem gelben Weg
Kapitel 3 – Geisterreiter
Kapitel 4 – Der Unsichtbare
Kapitel 5 – Gefährliche Liebschaft
Kapitel 6 – Die eiserne Maske
Kapitel 7 – Jekyll und Hyde
Kapitel 8 – Die Insel der Bestien
Kapitel 9 – Mein Bildnis
Kapitel 10 – Schutzengel
Kapitel 11 – Frankenstein
Kapitel 12 – Psycho
Sehr geehrte Leserschaft,
dieser Kurzroman entstand in Zusammenhang mit einem Musikprojekt der Band „Rise in Chains“. Die Idee war es, ein Album zu schreiben, das auf Klassikern der Schauer- und Fantasyliteratur basiert und diese in einer neuen Geschichte zusammen zu führen. Das Ergebnis dieses Experimentes haltet Ihr nun in Händen.
Das Zusammenwirken dieser beiden Werke, des Albums und des Buches zum Album, wird durch den Titel „Insight Me“ deutlich. An dieser Stelle möchte ich auch meiner Band, meiner Familie und meinen Freunden danken, die mich bei dieser Schaffensreise begleitet haben, und ohne die ein solches, intermediales Projekt niemals möglich gewesen wäre.
»Es passiert immer öfter.«
Sein Herz schlägt schnell. Henry weiß nicht, wie er seine Situation beschreiben soll.
»Anfangs bin ich nur anderswo aufgewacht, als ich eingeschlafen bin«, sagt er. »Aber mittlerweile passiert es mir sogar mitten am Tag. Ich frühstücke und stehe plötzlich auf einer Brücke. Oder in einer Gasse. Mitten in der Nacht. Und wenn ich wieder zu mir komme, habe ich immer das Gefühl, ich werde beobachtet. Als wäre ich nicht alleine. Aber wenn ich mich umsehe, ist weit und breit niemand zu sehen.«
Kalter Schweiß läuft ihm über die Stirn. Angstschweiß. Ohne den Kopf zu drehen, sieht er sich um. Er versucht heimlich seine Umgebung zu beobachten, ohne dass sein Gesprächspartner etwas davon mitbekommt. Dieser macht sich Notizen.
Henry sitzt auf einem weichen Sofa. So weich, dass er das Gefühl hat, darin komplett versinken zu können. Die schwere Holztür des großen Raumes ist geschlossen, ebenso die hohen Fenster. Außer seinem Gesprächspartner und Henry selbst ist der Raum Menschenleer. Der Andere sitzt in einem Ohrensessel, die Beine verschränkt, einen Notizblock auf dem Schoß.
Henrys Hände sind schweißnass. Er fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass er einem, bis vor kurzem völlig Fremden, erzählt, welche verdrehten Ängste und Bilder in seinem Kopf umherschwirren. Er hat Angst vor dem Urteil, dem er sich aussetzt. Angst vor den Konsequenzen. Ist er verrückt? Wird er am Ende auch noch eingewiesen werden? Aber er kann das alles nicht mehr für sich behalten. Etwas stimmt nicht mit ihm. Er weiß, dass er Hilfe braucht. Deshalb sitzt er nun hier vor einem Psychiater.
»Und Sie haben gar keine Erinnerungen daran, was in der Zwischenzeit passierte, Mister Bates? Auch nicht von Verwandten oder Bekannten, die Sie darauf angesprochen haben?«
Henry sieht dem Fragesteller direkt in die Augen. Wie hypnotisierend wirkt das Blaugrau seiner Iris. Die Falten um die Augen sind tief und bergen dunkle Schatten. Sie zeugen von Erfahrung und Weißheit. Der Blick des Doktors wirkt beruhigend auf Henry. Ganz im Gegensatz zu dessen restlicher Mimik. Es ist schwierig zu deuten, ob sich auf den runzligen Lippen ein Lächeln abzeichnet oder nicht. Henry hat des Öfteren das Gefühl, er würde die Mundwinkel des Doktors zucken sehen. Manchmal denkt er, der Mann vor ihm nimmt ihn nicht ernst. Oder noch schlimmer, hält ihn für untherapierbar. Für verrückt.
»Nein. Weder meine Frau, noch meine Kollegen wussten etwas. Sie waren auch sehr verwundert, wenn ich mich nach meiner verlorenen Zeit erkundigte«, sagt Henry etwas zögerlich.
Natürlich hat er sonst niemandem erzählt, was wirklich in ihm vorgeht. Dass er diese Blackouts hat und nachdem er zu sich kommt dieses unangenehme Gefühl hat, dass etwas schreckliches vorgefallen ist, während er nicht bei Bewusstsein war. Aber dennoch hat er versucht unauffällig nachzufragen, ob etwas vorgefallen war.
»Nun, Mister Bates, nach allem was Sie mir erzählt haben, denke ich, es wäre hilfreich, wenn wir versuchen, ihre Erinnerungen abzurufen. Wissen Sie, das Gehirn speichert all diese Informationen ab, aber manchmal werden diese Erinnerungen verdrängt und verschlossen, um sich selbst zu schützen. Vielleicht ist etwas in Ihrer Vergangenheit vorgefallen, das Sie veranlasst hat, ihre Erinnerungen in ihr Unterbewusstsein zu verbannen. Und wenn wir herausfinden, was passiert ist, können wir vielleicht einen Weg finden, diese Blackouts zu verhindern«, sagt der Doktor.
»Und wie wollen Sie an meine Erinnerungen kommen«, fragt Henry misstrauisch.
»Ganz einfach. Schließen Sie die Augen und hören Sie nur auf meine Stimme.«
Mit einem tiefen Atemzug kommt Henry zu sich. Er reisst die Augen auf und ringt nach Luft. Dann lassen seine Knie nach und er muss sich mit den Händen abstützen, um mit dem Gesicht nicht im Dreck zu landen. Sein Herz scheint ihm jeden Moment aus der Brust zu springen. In seinem Kopf herrscht Leere. Er kann keinen klaren Gedanken fassen. Es gibt nur das eine Gefühl, das seinen Körper lähmt – Angst. Er bemerkt, dass er unkontrollierbar zittert. Seine Finger verkrampfen sich, bohren sich in die Erde unter ihm. Er versucht die Augen zu schließen, sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Sie zu beruhigen.
Er weiß nicht, wie lange er schon in dieser Position, auf allen vieren, verharrt ist, bis er sich endlich wieder beruhigt hat. Minuten? Stunden? Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor. Erst langsam kann er sich auf seine Situation konzentrieren.
Das Erste, das ihm auffällt, ist, dass er nicht weiß, was passiert ist. Er weiß nicht, woher diese Angst kam, dieses lähmende Gefühl, welches sein Herz rasen lies, immer noch rasen lässt. Weshalb ihm die Luft weggeblieben war. Nachdem er langsam zu sich kommt und seine Gedanken ordnen kann, schließt er die Augen und nimmt ein paar tiefe Atemzüge. Die Luft, die er dabei einzieht, ist kalt und riecht modrig. Und es ist still. Totenstill. Keine Vögel, keine Menschen, kein Wind.
Endlich öffnet er die Augen. Er sieht die dunkle Erde zwischen seinen Fingern. Einen Moment später wagt er es, langsam aufzustehen. Seine Knie wackeln noch, doch er spürt seine Kraft zurückkehren. Jetzt schwirren ihm zwei Fragen im Kopf herum: »Wo bin ich? Und wie bin ich hierher gekommen?«
Tatsächlich kann er sich nicht erinnern, jemals an einem Ort wie diesem gewesen zu sein. Es ist tiefe Nacht. Nur das Mondlicht erhellt Henrys Umgebung gerade soweit, dass er einige Meter weit sehen kann. Nicht einmal Sterne sind am Firmament zu sehen. Die Erde unter ihm ist schwarz. Sie wirkt, als würde sie das blasse Mondlicht verschlucken. Ebenso die kahlen Bäume, deren Umrisse Henry nur erahnen kann. Sie ragen bedrohlich in Richtung der blassen Lichtquelle am Himmel, ihr ihre knochigen Äste entgegenstreckend. Der Wind setzt die Äste in Bewegung und lässt es so aussehen, als griffen sie nach dem Mond, um ihn vom Himmel zu holen. Jetzt fällt es ihm auf. Der Wind weht, doch er kann ihn nicht auf seinem Gesicht spüren. Er hört ihn auch nicht! Bewegen die Bäume sich von selbst? Das kann doch nicht sein! Henry schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Als er wieder aufblickt, stehen die Bäume still. Er hält einen Moment die Luft an und wartet ab. Nichts. Keine Bewegung mehr. Vorsichtig sieht er sich weiter um und bemerkt eine neue Lichtquelle. Direkt unter ihm scheint der Boden zu glühen. Wo gerade eben noch schwarze Erde lag, schimmert es nun gelb. Spiralförmig wird die Fläche erst größer, bis sie sich durch den Boden schlängelt und einen gelben Weg bildet.
»Wenn der Weg das Ziel ist, dann dürftest du jetzt wohl angekommen sein, nicht wahr?«
Henry dreht sich um. Er sucht den Ursprung zur Stimme. Aber da ist niemand. Er sieht nach links und rechts, doch kann nichts erkennen.
»Aber ich habe das Gefühl, du hast nicht nach dem Weg gesucht, oder? Du suchst etwas anderes«, sagt die Stimme.
Henry spürt kalten Schweiß auf seiner Stirn. Er dreht sich erneut in die Richtung des Weges. Vor ihm steht eine Gestalt. Es ist ein junger, attraktiver Mann, etwa so alt wie er selbst. Sein schmal geschnittener Anzug wirkt wie ein schwarzer Fleck, der jegliche Farbe aufsaugt. In dem schwachen Licht, das Mond und Weg spenden, funkeln die Augen stechend. Selbst im Dunkeln hat Henry das Gefühl dem Blick des Fremden kaum standhalten zu können. Dieser scheint zu lächeln.
»Und wer bist du«, fragt Henry misstrauisch.
»Nenn mich … Mister Gray«, stellt sich der Unbekannte vor und verbeugt sich leicht, »oh, und falls du es wissen willst – ich habe dich hierher gebracht.«
»Wie bitte? Wieso das? Was soll ich denn hier?«
»Nun … du bist doch der mit den Blackouts«, sagt Gray mit gespielter Verwunderung, »Hast du nicht bereits des Öfteren versucht herauszufinden, was es damit auf sich hat? Bist du nicht derjenige, der seine Erinnerungen wiederhaben will? Ich denke wir können uns gegenseitig helfen, meinst du nicht?«
Während dieser letzten Frage legt Gray seine Hand auf Henrys Wange. In diesem Moment brennen dessen Augen und er muss sie schließen. Er dreht sich weg, woraufhin der Schmerz nachlässt. Als er die Augen öffnet, ist Gray verschwunden. Henry sieht sich nach ihm um. Dabei fällt ihm auf, dass der Horizont etwas heller geworden ist. Mittlerweile gibt es auch Sterne am ansonsten noch immer dunklen Himmel.
»Der Tag bricht bald an. Vielleicht solltest du dich auf den Weg machen«, ertönt die Stimme von Gray wieder.
Der Angesprochene dreht sich in dessen Richtung. Gray sitzt auf einem Stein und grinst Henry schief an. Noch immer ist sein Gesicht in tiefe Schatten gelegt, doch dieses Grinsen könnten die größten und dunkelsten Schatten nicht verbergen. Gray greift in seinen Mantel und holt einen Apfel heraus, in den er genüsslich hinein beißt.
»Wieso auf den Weg machen? Wovon redest du? Und was genau erwartest du von mir«, verlangt Henry zu wissen.
»Was glaubst du denn, was das da auf dem Boden ist«, fragt Gray und deutet mit dem Kinn auf den gelb schimmernden Streifen, der sich unter Henrys Füßen gebildet hat.
Dieser sieht nach unten und stellt fest, dass aus dem Weg eine richtige Straße geworden ist. Das gelbe Schimmern kommt von Ziegelsteinen, die jetzt deutlich zu erkennen sind. Dieser Ort scheint sich ständig zu verändern.
»Dieser Weg ist für dich, mein lieber Henry«, sagt Gray, »und wenn du ihn bis zum Ende gehst, werde ich dir helfen. Das ist der Deal.«
»Mir helfen? Wobei willst du helfen? Und woher kennst du mich überhaupt?«
Gray beginnt laut zu lachen.
»Denk doch mal darüber nach. Wobei, wenn ich mir dich so ansehe … Geh lieber deinen Weg. Und ich darf mich schon darauf freuen, dein Gesicht zu sehen, wenn du dahinter kommst.«
Gray springt von seinem Stein auf und geht schnell auf Henry zu und sagt bei jedem Schritt: »Lauf Henry, lauf lauf lauf lauf lauf lauf.«
Kurz bevor Gray ihn umzurennen scheint, schließt Henry die Augen und dreht Gray seine Schulter zu, um ihn abzuwehren. Doch in dem Moment verstummt Gray. Henry verharrt in seiner Position. Wartend. Sekunden vergehen, die ihm wie Minuten vorkommen. Langsam öffnet er die Augen und sieht sich nach Gray um. Der ist wieder verschwunden. Henry versichert sich, dass Gray wirklich nirgends zu sehen ist, bevor er sich wieder entspannt. Dann beginnt er nachzudenken und seine letzte Erinnerung zu suchen. Er erinnert sich daran, dass er bei seinem Psychiater saß und von seinen Blackouts erzählte. Der Doktor wollte, dass Henry seine Augen schließt und auf seine Stimme hört. Und das nächste woran er sich erinnert ist, dass er hier zu sich kam. Was war zwischenzeitlich passiert? Hat er einen weiteren Blackout? Oder sitzt er sogar noch auf dem Sofa und wurde nur hypnotisiert? Das würde diesen seltsamen Ort erklären, der sich ständig zu verändern scheint. Dann wäre Gray wohl auch nur ein Konstrukt seines Verstandes. Aber wenn das hier alles kein Traum ist, dann könnte er wirklich etwas wissen – oder nur mit ihm spielen.
Auch auf die Gefahr hin, dass er Gray nicht trauen kann und dieser ihn womöglich nur für irgendeinen seltsamen Plan missbraucht, hat Henry keine Ahnung, was er sonst tun sollte, als dem Weg zu folgen, der da vor ihm schimmert. Er atmet tief ein und beginnt seine Reise ins Ungewisse.
Der gelbe Weg, der direkt unter seinen Füßen erschienen ist, führt Henry geradewegs zu den kahlen Bäumen, die er zuvor noch in so weiter Entfernung erahnt hat. Obwohl er das Gefühl hat, schon lange unterwegs zu sein, ist es noch keinen Deut heller geworden. Überhaupt scheint die Zeit hier anders zu verlaufen als er es gewohnt ist. Eine seltsame Zeit die zu diesem seltsamen Wald passt. Henry steht nun direkt vor den knochigen Bäumen und blickt ihrer Finsternis entgegen. Er kommt sich vor wie in einer Gruselgeschichte, die er als Kind gehört hat.
In dieser ging ein kleines Mädchen ebenfalls in einen dunklen Wald. Sie floh vor ihren Eltern, die sie nicht verstanden. Allerdings verlief sie sich, während die Nacht hereinbrach. Das Mädchen wusste weder den Weg zurück, noch einen anderen Weg aus dem Wald hinaus. Und während sie umherwanderte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie hörte Geräusche, erschrak jedes Mal, wenn sie auf einen Zweig trat, der dann zerbrach. Sie fühlte sich beobachtet. Nicht ohne Grund, wie sich herausstellte. In einiger Entfernung konnte sie etwas bedrohliches hören. Ein schweres, animalisches Schnauben. Das Mädchen glaubte, dieses Schnauben gehörte einem Wildschwein und fürchtete sich noch mehr. Doch als das Schnauben, dieses Grunzen, näher kam, da konnte sie auch Schritte hören. Schwere, langsame Schritte. Das blanke Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie sah, was da auf sie zukam. Sie wollte schreien, doch aus ihrem Mund kam kein Ton raus. Dann rannte sie los, so schnell sie konnte.
Ein Schrei zerreißt die kühle Nachtluft. Ein Schrei der Henry aus seiner Geschichte reißt und ihn zurück ins Hier und Jetzt holt. Er kommt zu sich und stellt fest, dass er noch immer wie angewurzelt vor dem Wald steht, so sehr war er in diese alte Geschichte vertieft. Ohne nachzudenken rennt er auf dem Weg weiter in den Wald hinein. Wer immer da geschrien hat, braucht Hilfe, das war deutlich. Doch als Henry bei der Quelle des Schreis ankommt, stockt ihm der Atem.
Vor ihm liegt ein Mädchen, etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie Henry an. Dieser ist selbst überrascht. Sie sieht genau so aus, wie er sich das Mädchen in seiner Geschichte immer vorgestellt hat. Sie trägt ihre roten Haare zu Zöpfen geflochten und ihr hellblaues Kleid ist schmutzig von der Erde auf der sie liegt. Plötzlich löst sie ihren Blick von ihm und sieht in den Wald hinein. Auch Henry dreht sich in die Richtung, in die das Mädchen blickt. Er hat das Gefühl, dass sie beobachtet werden. Ein eiskalter Schauer läuft ihm über seinen Rücken. Noch bevor er richtig darüber nachgedacht hat, hilft er dem Mädchen wieder auf die Beine und rennt mit ihr weiter den Weg entlang. Erst nachdem er völlig außer Atem ist, hat Henry das Gefühl, sie haben ihren Verfolger abgehängt. Er will das Mädchen fragen, was genau passiert ist und wovor sie da gerade weggerannt sind, aber als er sieht, wie geschockt sie noch immer ist, sagt er nur: »Ruh' dich ein wenig aus. Aber wir sollten bald weitergehen und aus diesem Wald raus kommen.«
Nach einiger Verschnaufzeit kommt auch das Mädchen wieder zu Atem und beruhigt sich.
»Vielen Dank«, sagt sie, »ich habe solche Angst.«
»Das glaube ich dir. Komm, wir müssen weiter, bevor dieses Ding zurückkommt. Dann kannst du mir vielleicht erzählen, was hier los ist.«
»Na schön. Aber sagst du mir wenigstens wie du heißt?«
»Na klar, ich bin Henry«, er streckt ihr seine Hand entgegen, »und du?«
Noch ein wenig zögerlich nimmt sie seine Hand und sagt: »Ich heiße Dorothy.«
»Freut mich, Dorothy. Also, was machst du hier draußen? Und was war das für eine Kreatur, die dich verfolgt?«
Als Dorothy beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, staunt ihr neuer Wegbegleiter. Ihre Erzählung entspricht in jedem Detail der Gruselgeschichte aus seiner Kindheit. Der Streit mit den Eltern, wie sie ausgerissen ist und die Begegnung mit der Kreatur. Sie erzählt von ihrer Flucht.
»Der Regen peitschte mir ins Gesicht, so dass ich das Gefühl hatte, er würde mir kleine Kratzer reinschneiden. Meine Schuhe füllten sich mit Schlamm, der vom Regen aufgeweicht wurde. Sie fühlten sich an wie mit Zement gefüllt. Mit aller Kraft rannte ich weiter. Der Wind rüttelte an den Bäumen, als würde er sie gleich ausreißen. Mir war, als spürte ich seinen Atem im Nacken. Ich wollte schneller rennen, doch ich kam einfach nicht voran. Ich musste schon laut keuchen, aber ich hörte trotzdem seine Schritte. Es kam immer näher.
Die kalte Luft drang in meine Lungen und schien sie zu zerreißen. Mir war als würden die Bäume um mich herum näher kommen. Sie schienen sich zu mir zu beugen. Diese Kreatur kam immer näher. Die Bäume standen mir im Weg. Es wurde immer schwerer ihnen auszuweichen. Meine Füße sanken tiefer und tiefer in dem weichen Boden ein.
Seine Schritte wurden lauter. Ich konnte kaum noch meine Füße heben. Sein Knurren war so laut, dass ich schon glaubte, es packt mich jeden Moment. Ich konnte es nicht abhängen. Mein Fuß schmerzte ganz plötzlich und ich fiel auf den Weg. Dann sah ich diese gräßlichen Augen. Ich schrie und dann kamst du«, sie stockt, »Wieso ist er nur hinter mir her?«
»Er? Eben war es noch ein es«, wirft Henry ein. Ihm fällt auf, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, was genau die Kreatur in seiner Geschichte war, oder was sie wollte. Ebensowenig wie jetzt.
»Naja, es ist eine Kreatur, die irgendwie aussieht wie ein Mensch. Aber das kann doch kein Mensch sein«, sagt Dorothy noch immer verängstigt, »diese Augen, diese Zähne«, ihre Stimme bebt bei jedem Wort.
»Hey, beruhige dich«, sagt Henry und bleibt stehen. Er legt ihr seine Hand auf die Schulter. »Wir kommen aus diesem Wald raus und bringen dich dann nach Hause, okay? Dieses Ding wird dir nichts tun. Ich verspreche es dir.«
Sie sieht ihn mit großen Augen an. »Danke. Vielen Dank.«
Henry weiß nicht genau, wieso er sich plötzlich so sehr um dieses junge Mädchen sorgt, das er kaum kennt, aber er will sie in Sicherheit wissen und sie vor diesem Ding beschützen. Es ist, als wolle er sofort die Vaterrolle übernehmen, die, laut ihrer Erzählung, von ihrem leiblichen Vater nicht ausgefüllt wurde. Henry erinnert sich an seine eigene Kindheit und erzählt Dorothy, dass auch er selbst nicht das beste Verhältnis zu seinen Eltern hatte. Obwohl durch seine Blackouts auch viele Erinnerungen aus seiner Kindheit verloren gegangen sind, doch dieses Detail verschweigt er dem Mädchen lieber. Übrig geblieben sind ihm auf jeden Fall mehr Streitfälle als fröhliche Momente.
So unterhalten sich die beiden und lernen sich kennen, bis der gelbe Weg sie tatsächlich wieder aus dem Wald führt. Da überfällt Henry ein seltsames Gefühl. Ihm fällt auf das sie auch während ihrer Flucht den Weg nicht verlassen haben. Es dürfte der Kreatur nicht schwer fallen, ihnen zu folgen. Als hätte sie nur auf diesen Gedanken gewartet, springt sie zwischen den Bäumen heraus. Schneller als Henry reagieren kann, packt sie Dorothy mit einer prankenähnlichen Hand, stößt Henry zur Seite und rennt mit dem Mädchen davon.
Einen Moment bleibt Henry liegen. Er spürt ein Pochen in seinem Kopf, das immer stärker wird. Die Augen zusammengekniffen, beißt er die Zähne zusammen. Das Pochen wird schmerzhaft. Er krümmt sich auf dem Boden. Dann sieht er Bilder vor seinem inneren Auge. Ein Mädchen, das Dorothy zum verwechseln ähnlich sieht lächelt ihn an. Es spielt mit ihm und lacht. Dann wird es ihm klar. Eine Erinnerung! Henry erinnert sich an dieses Mädchen. Er hatte eine Schwester! Sie haben zusammen gespielt, sind zusammen aufgewachsen. Immer mehr Erinnerungsstücke kommen zurück. Er erinnert sich an glückliche Zeiten. Und dann an einen gewaltigen Streit. Ihr Vater schreit sie an. Sie rennt aus dem Haus. Henry folgt ihr. Es regnet. Erinnerungslücke. Donner. Ein Blitz. Ihr Gesicht. Seine Schwester sitzt auf dem Boden. Ihr Kleid ist durchnässt und dreckig. Sie weint. Henry hört seine eigene Stimme: »Dorothy!« Dann wird alles schwarz.
Sobald Henry seinen Kopf wieder hebt, ist die Kreatur mit Dorothy verschwunden. Er steht auf und sieht sich um. Das Monster ist nicht wieder in den Wald gerannt, da ist er sich sicher. Vor Henry erstreckt sich eine weite Hügellandschaft. Irgendwo hinter diesen Hügeln müssen sie sein, denkt er. Aber wie soll er sie verfolgen? Er will Dorothy befreien, doch dieses Monster ist zu schnell, selbst mit dem sich wehrenden Mädchen im Schlepptau. Welche Wahl habe ich denn, fragt sich Henry. Er folgt dem Weg weiter in der Hoffnung irgendwo doch noch auf die Kreatur und Dorothy zu treffen.
Henry ist sich nicht sicher, wie lange er schon auf dem gelben Weg entlang läuft. Mittlerweile ist der Wald hinter ihm nicht mehr zu sehen. Seine Gedanken drehen sich um die arme, entführte Dorothy und darum, wie viel Angst sie jetzt haben muss. Diese Kreatur, was auch immer sie ist, verheißt nichts Gutes. Ob sie auch wirklich dem Weg folgen? Henry bleibt auf einem Hügel stehen und sieht sich um. In welche Richtung sollen sie sonst gelaufen sein, wenn nicht den Weg entlang? Die Hügelebene, auf der Henry steht, ist in alle Richtungen bis zum Horizont leer. Selbst hinter ihm ist der Wald nicht mehr zu sehen. Der gelbe Weg ist die einzige Orientierung die er hat. Es gibt keine Bäume, keine Felsen, nur grasbedeckte Hügel und den klaren, blauen Himmel. In einer anderen Situation würde Henry diese Szenerie geradezu paradiesisch vorkommen. Er würde sich gerne ins Gras legen und ein wenig seinen Gedanken nachgehen. Sich erinnern an seine Kindheit, seine Eltern, sich erinnern an die Dinge, die er vergessen hat. Herausfinden, ob nicht doch noch etwas da ist, in den dunklen Flecken seiner Erinnerungen. Er muss an die letzte Sitzung bei seinem Psychiater denken. Wie war sie nur ausgegangen? Hat er etwas herausgefunden? Wieder beginnen Fragen in seinem Hirn zu kreisen, doch Henry ermahnt sich, dass es jetzt etwas wichtigeres gibt. Er muss Dorothy retten und das Ende des Weges erreichen. Also setzt er sich wieder in Bewegung und folgt weiter dem Weg.