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Der verschwundene Koch und die Sushi-Mafia.
Hiroyuki Endō galt in Tokio als Meister der Sushi-Köche. Doch dann verließ er Japan heimlich, um in Hamburg als Hilfskoch unterzutauchen. Nun ist er verschwunden – und Inspektor Takeda soll ihn finden. Tatsächlich wird bald eine Leiche entdeckt: TV-Koch Tom Trautmann, für den Hiroyuki gearbeitet hat. Könnte Hiroyuki seinen Chef getötet haben? Bald jedoch tun sich neue Spuren auf: Anscheinend hatte Trautmann mit Kokain und anderen Drogen zu tun ...
Ein neuer Fall für Ermittlungsgenie und Jazzliebhaber Inspektor Takeda.
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hiroyuki Endō war nicht einfach nur ein Sushi-Koch, er war ein Meister seines Fachs. Sein ganzes Dasein widmete er ganz der traditionellen Küche seiner japanischen Heimat. Mit dieser Philosophie stieg er zu einem der gefragtesten Küchenchefs Japans auf. Und dann verschwand er. Von jetzt auf gleich. Verflüchtigte sich wie Dampf in warmer Luft.
Inspektor Takeda staunt nicht schlecht, als er von dieser Geschichte hört, die genau hierherführen soll: nach Hamburg. Hier soll der verschwundene Sushi-Meister als Hilfskoch untergetaucht sein. Dessen Frau wusste schon seit einiger Zeit, wo Hiroyuki sich versteckt hielt, unternahm jedoch nichts. Doch diesmal scheint Hiroyukis Verschwinden nicht selbst gewählt zu sein. Wurde der Meisterkoch Opfer eines Verbrechens? Takedas Suche nach seinem verschwundenen Landsmann führt den Inspektor tief in die Unterwelt der Hansestadt – und in gefährliche mafiöse Gefilde.
Henrik Siebold ist Journalist und Buchautor. Er hat unter anderem für eine japanische Tageszeitung gearbeitet sowie mehrere Jahre in Tokio verbracht. Er lebt in Hamburg und unternimmt oft ausgedehnte Reisen nach Japan. Alle seine Bücher liegen auch in Audiofassungen vor.
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Henrik Siebold
Inspektor Takeda und der tödliche Ruhm
Kriminalroman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
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Impressum
Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Weißfleischiger Hirame-Heilbutt, tiefroter Akami-Thunfisch, glasig-rohe Ebi-Garnelen und gelb-sämiger Uni-Seeigelrogen – all diese Zutaten bettete Hiroyuki Endō auf kleine Reisballen und arrangierte sie in einer harmonischen Aufgeräumtheit, die an den berühmten Zen-Garten des Ryōanji-Tempels in Kyoto erinnerte.
Endō war nicht einfach ein Sushikoch, er war ein wahrer Meister seines Fachs. Er wurde in seiner japanischen Heimat verehrt und international geachtet. Sein überraschend kleines Tokioter Lokal war mit Michelin-Sternen und Gault-Millau-Hauben ausgezeichnet worden. Durch die Hingabe an seine Arbeit galt er zudem als Verkörperung dessen, was die Japaner Ikigai nennen, jene eigentümliche Philosophie, die in der Konzentration auf den Moment und dem Streben nach Perfektion einen Weg zu einem erfüllten Leben verspricht.
Durch eben jene Hingabe war Endōs Restaurant zum Ziel japanischer wie ausländischer Feinschmecker geworden. Die Gäste – man könnte sie auch Pilger nennen – nahmen lange Monate des Wartens auf eine Reservierung auf sich, wussten sie doch, dass sie mit etwas belohnt wurden, das viel mehr als nur Essen war. Endōs Sushi galt als kulinarische Erleuchtung, unvergleichlich und spirituell, und wer bei ihm gespeist hatte, war durch die Erfahrung zu einem anderen Menschen geworden.
Dann aber, an einem Tag vor nunmehr vier Jahren, geschah etwas Unerwartetes. Hiroyuki Endō verschwand spurlos. Es war, als hätte sich der berühmte Koch in Luft aufgelöst. Es gab weder einen Abschiedsbrief noch Anzeichen für ein Verbrechen, und so rätselte eine ganze Nation, was wohl passiert sein mochte.
Die Tokioter Polizei nahm Ermittlungen auf, befragte Endōs Ehefrau, seine Nachbarn, weitere mögliche Zeugen. Doch niemand konnte einen Hinweis auf den Verbleib des berühmten Kochs geben. Sein geschäftliches Umfeld wurde unter die Lupe genommen, um mögliche Verwicklungen in die Unterwelt aufzudecken; sie wären in Japans Gastronomie nicht völlig überraschend gewesen.
Aber nichts dergleichen ließ sich finden. Am Ende blieb nur eine einzige Erklärung für Endōs jähes Verschwinden, sie war umso verstörender. Es handelte sich um einen Fall von Jōhatsu.
Das Wort bedeutete verdampfen oder verflüchtigen, und es bezeichnete Menschen, die freiwillig ihr gesamtes bisheriges Leben hinter sich ließen und untertauchten.
Tatsächlich begingen Jahr für Jahr tausende Japaner und Japanerinnen Jōhatsu. Ihre Motive dabei waren vielfältig, sie reichten von Arbeitslosigkeit über Schulden bis hin zu unglücklichen Liebschaften oder Ehen.
Einige der Verflüchtigten nahmen die Hilfe spezieller Agenturen in Anspruch, sogenannter Yonigeya. Diese statteten sie mit einem neuen Namen, einer neuen Adresse, ja, mit einem ganzen neuen Leben aus.
Ob Hiroyuki Endō eine Yonigeya beauftragt hatte oder was ihn überhaupt angetrieben hatte, sich zu verflüchtigen, sollte für lange Jahre ein Rätsel bleiben. Genauer, bis zu dem Tag, an dem seine Spur in einer weit entfernten Stadt auf einem anderen Kontinent wieder sichtbar wurde – einer Stadt, in der ganz zufällig ein japanischer Polizist namens Ken Takeda Dienst tat …
Jazz war Medizin, und an diesem Abend begab Inspektor Takeda sich in die Hände des großen Heilers Miles Davis.
Die melancholischen Klänge des amerikanischen Trompeters drangen aus der Soundanlage seines Dienstwagens. Sie legten sich wie Balsam auf Takedas aufgewühlte Seele und halfen ihm, seine unruhigen Gedanken zu besänftigen.
Er war auf dem Weg zu einem Hotel in der Nähe des Hamburger Flughafens, um dort mit Makiko, seiner Ex-Frau, zusammenzutreffen.
Ihr Anruf vor einer guten Stunde hatte ihn völlig überrascht. Ihre Scheidung lag inzwischen gute zwei Jahre zurück, und Takeda war fest davon ausgegangen, dass er und Makiko sich niemals wiedersehen würden. So hatten sie es bei ihrer letzten Begegnung im Frühjahr vereinbart. Es war ein kurzes Wiedersehen gewesen – und ein Abschied für immer.
Nun aber hatte überraschend das Telefon geklingelt, und Makiko hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihn dringend treffen müsse. Sie sei sogar bereits hier in Deutschland, in Hamburg.
Takedas Überraschung war ihm wohl anzuhören gewesen, und so hatte sie ihn gescholten und erklärt, dass ihr Erscheinen nichts mit ihnen beiden zu tun hätte. Sie sei vielmehr in Begleitung einer japanischen Bekannten angereist, die Takedas Hilfe benötige. Makiko und ihre Bekannte seien erst vor Kurzem am Flughafen gelandet und würden nun in einem nahegelegenen Hotel einchecken, wo sie, wenn möglich, Ken treffen wollten. Takeda hatte zugesagt und sich auf den Weg gemacht.
Während Miles Davis seine sanften Töne spielte, näherte Takeda sich dem Hotel am Flughafen. Was erwartete ihn wohl? Was konnte Makikos Bekannte von ihm wollen, und warum war sie ausgerechnet hierher nach Hamburg gekommen?
Der Inspektor musste sich eingestehen, dass er neben seiner Verwirrung und Anspannung zugleich auch eine gehörige Portion Neugier verspürte.
Wenige Minuten später lenkte er den Wagen in die Tiefgarage des Hotels. Er stellte sich in eine der engen Parknischen und drehte den Zündschlüssel, blieb aber noch für einige Momente sitzen.
Er dachte an Claudia Harms, seine Kollegin bei der Mordkommission. In Wahrheit war sie längst viel mehr als das. Claudia war genauso seine Vertraute, seine Ex-Geliebte und seit neuestem sogar seine Mitbewohnerin in ihrer gemeinsamen Wohnung in Winterhude. Sie hatte ihm gerade etwas sagen wollen, das ihr Verhältnis und womöglich ihrer beider Zukunft betraf, als das Telefon geklingelt hatte. Takeda war bewusst, dass er Claudia in einem Zustand der Verstörung zurückgelassen hatte, als er so plötzlich aufgebrochen war, um Makiko zu treffen. Er konnte nur hoffen, die Dinge später aufklären zu können.
Takeda schaltete die Musik aus und stieg aus dem Wagen. Ein Lift brachte ihn zwei Stockwerke höher in die zweckmäßig eingerichtete Halle des Hotels. In einem hinteren Teil befand sich eine Lounge mit bequemen Sitzgruppen und abgedunkeltem Licht. Dort entdeckte er Makiko. Sie winkte ihm zu. Neben ihr saß eine weitere Japanerin, die vielleicht Ende vierzig und damit etwas älter als Takeda war. Sie war noch schmaler als Makiko. Sie wirkte angespannt, ja regelrecht verängstigt. Als Takeda an den Tisch trat, erhob sie sich, nannte mit kaum hörbarer Stimme ihren Namen und verneigte sich tief. »Inspektor, ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie sich bereit erklären, mir zu helfen. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
Takeda konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Mit milder Stimme sagte er: »Ich bitte Sie, es ist selbstverständlich. Aber erst einmal muss ich hören, worum es überhaupt geht.«
Während er sprach, warf er Makiko einen fragenden Blick zu. Sie nickte ihm zu und gab ihm wortlos zu verstehen, dass eine Erklärung sehr bald folgen würde.
Takeda nahm Platz und bestellte Kaffee. Die beiden Frauen wählten kalte, alkoholfreie Getränke. Während sie auf die Bestellung warteten, wechselte er einige höfliche Floskeln mit Makiko, erkundigte sich nach ihrem Befinden und nach dem Flug.
Nachdem die Getränke am Tisch waren, nahm Takeda einen Schluck von dem starken, schwarzen Kaffee. Dann wandte er sich an Makikos Begleiterin und sagte: »Bitte, klären Sie mich auf. Worum handelt es sich und in welcher Form kann ich behilflich sein?«
In der folgenden Viertelstunde erfuhr Takeda die Geschichte von Hiroyuki Endō, jenem berühmten Sushi-Koch, der vier Jahre zuvor so plötzlich und unerwartet verschwunden war. Der Inspektor war durchaus vertraut mit den Ereignissen, hatten sie doch über Wochen die Schlagzeilen in seiner Heimat beherrscht. Es geschah schließlich nicht jeden Tag, dass eine derart prominente und sogar international respektierte Persönlichkeit sich einfach in Luft auflöste.
Peinlicherweise dauerte es eine Weile, bis Takeda klar wurde, dass Makikos Bekannte niemand anderes war als Akane Endō, die Ehefrau des untergetauchten Spitzenkochs. Dabei hatte sie doch eingangs ihren Namen genannt. Sie und Makiko besuchten gemeinsam eine Teeschule in Tokio und kannten sich flüchtig. Akane war daher im Bilde darüber, dass er, Makikos geschiedener Ehemann, Polizist war und zurzeit in Deutschland Dienst tat.
Nachdem Takeda eine Weile still zugehört hatte, stellte er eine Reihe von Fragen, darunter auch die naheliegendste, die ihn von Beginn an beschäftigte: »Die Tatsache, dass Sie nun hier in Deutschland sind, Frau Endō … soll es etwa bedeuten, dass Ihr Ehemann sich hier in diesem Land aufhält? Haben Sie endlich eine Spur von ihm gefunden?«
Akane Endō senkte schüchtern den Kopf und erklärte mit gehauchter Stimme: »So ist es. Mein Mann hat sich vor einigen Tagen überraschend bei mir gemeldet. Er hat angerufen. Es war das erste Mal, dass ich von ihm gehört habe, seitdem er … gegangen ist.«
»Das ist ein gutes Zeichen, vermute ich?«
Die ohnehin verängstigt wirkende Frau schien noch weiter in sich zusammenzusinken. »Nein, wohl nicht. Unser Telefonat war sehr verstörend.«
»So? Was hat Ihr Mann gesagt?«
»Er war völlig aufgelöst und hat sogar geweint. Ich konnte ihn kaum verstehen. Immer wieder sagte er, wie leid ihm alles tue. Und dass er damals nicht freiwillig gegangen sei. Ich glaube, er hatte große Angst.«
»Wovor?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht gesagt. Er meinte nur, dass etwas Entsetzliches passiert sei. Nun müsse er erneut fliehen oder sich verstecken. Hiro beteuerte, dass er all das nicht gewollt habe. Aber nun sei es zu spät. Dann hat er aufgelegt.«
»Aber er hat auch gesagt, dass er hier ist, in Deutschland, richtig?«
Ein schwaches Nicken, dann folgte eine weitere gehauchte Erklärung: »Wo bist du?, habe ich ihn gefragt. Er wollte es zunächst nicht sagen. Ich habe ihn gedrängt, und dann hat er den Namen dieser Stadt genannt.«
»Hamburg.«
Wieder ein Nicken. »Er meinte, er hätte hier unter einem falschen Namen gelebt. Auch hätte er gearbeitet, in einem Lokal, in dem er seiner großen Leidenschaft nachgehen konnte, dem Zubereiten von Sushi. Ich wollte mehr wissen, wollte endlich erfahren, warum er damals verschwunden ist.«
»Er hat nichts dazu gesagt?«
Akane Endō schüttelte schwach den Kopf. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, verbeugte sie sich erneut tief und sagte mit zitternder Stimme: »Bitte, Inspektor, finden Sie meinen Mann. Ich flehe Sie an. Finden Sie ihn, denn ich bin mir sicher, dass er in großer Gefahr schwebt.«
Takeda spürte, wie zahlreiche Gefühle und auch Gedanken ihn bedrängten, wobei er immer wieder zu dem einen hervorstechenden Punkt zurückkehrte: Welch seltsame Fügung es doch war, dass der berühmte Hiroyuki Endō ausgerechnet hier nach Hamburg gekommen war, in die Stadt, in der auch er seit mehr als einem Jahr lebte und seinen Dienst als Polizist versah. War er dem berühmten Koch womöglich sogar schon einmal begegnet, ohne es zu merken? Noch wichtiger aber, was hatte es mit der seltsamen Nachricht auf sich, die Endō seiner Frau hatte zukommen lassen? Etwas Schreckliches sei geschehen, und er müsse erneut fliehen, er müsse sich verstecken. Hatte ihn eben jener Grund, aus dem er vor einigen Jahren untergetaucht war, nun eingeholt? Aber was genau war passiert? Wovor hatte der Koch, der in Japan und darüber hinaus fast wie ein Heiliger verehrt worden war, Angst? Warum überhaupt hatte er sich nach Jahren bei seiner Frau gemeldet? Und warum behauptete er, fliehen und sich verstecken zu müssen? Akane Endōs Befürchtung, dass ihr Mann in Gefahr schwebte, war naheliegend. Aber warum?
Schließlich sagte Takeda: »Bitte, Frau Endō, machen Sie sich keine Sorgen. Ich verspreche Ihnen, gleich morgen früh einige Erkundigungen einzuziehen. Ich werde Sie selbstverständlich sofort informieren, wenn ich etwas herausfinde. Alles wird sich fügen, da bin ich mir sicher.«
Akane Endō hob den Kopf ein wenig. »Ich danke Ihnen vielmals, Inspektor. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
Der Inspektor nickte lächelnd. Er betrachtete die müden, von Kummer gezeichneten Züge der Frau. Er empfand Mitleid und war fest entschlossen, ihr zu helfen. Zugleich aber erfüllte ihn auch ein Gefühl der Beunruhigung, denn er war sich sicher, dass Akane Endō ihm nicht alles gesagt hatte, was sie wusste.
»Jōhatsu? Und das bedeutet verdampfen?« Claudia Harms versuchte das japanische Wort einigermaßen akzentfrei auszusprechen, was gar nicht so einfach war.
Takeda, der ihr am Frühstückstisch gegenübersaß, sagte mit nachdenklicher Stimme: »Verflüchtigen ist vielleicht ein besseres Wort. So wie ein Duft, eine Wolke … etwas, das sich auflöst und davonschwebt.«
»Und so etwas machen Japaner? Sie schweben davon?«
Takeda lächelte. »Es ist nur ein Ausdruck. Gemeint ist, dass die Menschen untertauchen und ihr altes Leben zurücklassen, zumeist auch ihre Familien, ihre Arbeit, ihr ganzes Umfeld. Man geht davon aus, dass es in jedem Jahr viele tausend tun. Oft nehmen sie dabei die Hilfe von Agenturen in Anspruch, die auf so etwas spezialisiert ist.«
»Du meinst, es gibt Verduftungs-Agenturen in Japan? Echt jetzt?«
»Ja, echt jetzt.«
Claudia lachte kurz auf. »Stelle ich mir toll vor. Auf einer Party fragt dich jemand, was du beruflich machst. Du dann so: Oh, ich habe eine Verduftungs-Agentur. Ich helfe Menschen dabei, unterzutauchen … Auf so etwas kommt auch nur ihr Japaner, oder?«
Takeda hob leicht hilflos die Schultern. »Wahrscheinlich passt es zu uns, irgendwie. Wenn wir etwas tun, tun wir es immer so sorgsam wie eben möglich.«
»Sogar, wenn es darum geht, Leuten beim Abhauen zu helfen … Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich das finden soll. Immerhin lassen diejenigen ihre Angehörigen im Stich.«
Takeda wirkte durch Claudias plötzliche Ernsthaftigkeit betroffen. »Natürlich, das ist furchtbar. Aber man darf eines nicht vergessen: Die Menschen, die Jōhatsu begehen, sind meistens in Not. Was sie tun, geschieht nicht unbedingt freiwillig. Mitunter wollen sie ihre Familien sogar schützen. Nur ist es heutzutage alles andere als einfach, unterzutauchen. Ich denke, ohne Hilfe solcher Agenturen ist es wahrscheinlich sogar unmöglich.«
Claudia dachte über Takedas Worte nach, sagte dann: »Stimmt schon, im Zeitalter der digitalen Überwachung hinterlässt jeder eine Datenspur, so breit wie eine Autobahn. Das ist hier in Deutschland nicht anders. Hier tauchen ja auch immer wieder Leute ab, zum Beispiel, weil sie Schulden haben oder den Kindesunterhalt nicht zahlen wollen. Hierzulande ist es wahrscheinlich sogar vergleichsweise einfach. Digitales Schlusslicht zu sein, hat auch Vorteile, so gesehen.«
Takeda seufzte leise. »Japan ist in Sachen Digitalisierung nicht viel besser als Deutschland.«
»Sag bloß! Dabei seid ihr doch das Land der Roboter und des Hightech!«
»Einerseits schon. Andererseits muss ein Dokument im Zweifel immer noch von Hand mit einem Namensstempel versehen werden, um amtliche Gültigkeit zu haben. Was früher für Ordnung gesorgt hat, entwickelt sich zu einem Bremsklotz.«
»Kommt mir bekannt vor«, sagte Claudia. »Aber zurück zu diesem Koch, diesem …«
»Hiroyuki Endō.«
»Endō also … Er war wirklich der berühmteste Koch Japans?«
»Absolut. Sogar einer der berühmtesten Küchenchefs der Welt.«
»Und trotzdem ist er einfach untergetaucht?«
Takeda machte eine Geste der Hilfslosigkeit. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben. In den ersten Monaten nach seinem Verschwinden war es ein Dauerthema in den Medien. Was war bloß passiert? Niemand hatte eine Antwort. Bis heute wird immer wieder einmal darüber berichtet. Gelegentlich gab es sogar Berichte, dass Endō gefunden worden sei. Aber es waren immer Falschmeldungen.«
»Diesmal offenbar nicht.«
»Nein, wohl nicht«, sagte Takeda.
Claudia fand die Geschichte, die er ihr zu Beginn ihres Frühstücks in aller Ausführlichkeit erzählt hatte, ziemlich ungewöhnlich. Allerdings war sie nicht ganz so berührt davon, wie Ken es offenbar war. Kein Wunder, schließlich hatte sie noch nie von diesem Herrn Endō gehört, auch wenn er Sterne und Kochmützen und alle möglichen anderen kulinarischen Auszeichnungen bekommen hatte. Außerdem war Sushi sowieso nicht unbedingt ihr Lieblingsgericht. Sie mochte es, das schon. Aber roher Fisch blieb roher Fisch, ganz egal, wie kunstvoll er drapiert war. Wenn dann noch Dinge wie rohe Garnelen oder Glibber-Seeigel dabei waren, fing sie ganz schnell an, von einer Currywurst mit Pommes zu träumen. Das durfte sie Ken natürlich nicht sagen, er wäre schockiert. Aber abstreiten konnte sie es nicht. Sie war nun einmal Deutsche – Norddeutsche, um genau zu sein. Und zwar durch und durch.
Claudia biss in ihr Brötchen, es war mit Butter und Marmelade bestrichen. »Wie geht es jetzt weiter? Ich meine, was genau willst du unternehmen, um diesen Endō zu finden? Hast du einen Plan?«
Takeda gab einige nachdenkliche Brummlaute von sich. Er rieb sich über seine übermüdeten Augen und sagte: »Er hat seiner Frau am Telefon gesagt, dass er auch hier in Hamburg als Sushikoch gearbeitet hat. Das könnte ein Ansatz sein.«
»Du willst also sämtliche japanischen Restaurants abklappern?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
Sie lächelte. »Klingt nach einer leckeren Aufgabe.«
Takeda blieb ernsthaft. »Sicher. Aber darum geht es mir bestimmt nicht.«
»Ich weiß, Ken. Das war nur ein Scherz.« Claudia spürte, dass die Sache Takeda naheging. »Da ist allerdings noch ein Punkt, den ich nicht verstehe. Wenn dieser Mann wirklich so berühmt war, wieso hat ihn dann bisher niemand hier in Hamburg erkannt? Ich meine, es gibt doch bestimmt auch deutsche Gourmets, die wissen, wie er aussieht? Und so wenige Japaner leben in Hamburg auch nicht. Die müssen ihn doch erkannt haben!«
Takeda hob erneut ratlos die Schultern. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht hat Endō sein Aussehen verändert. Menschen, die Jōhatsu begehen, tun das gelegentlich. Erst recht, wenn sie berühmt sind.«
»Du meintest außerdem, dass er hier in Hamburg unter einem falschen Namen gelebt hat. Kennst du diesen Namen?«
»Nein. Er hat ihn seiner Frau nicht genannt.«
»Aber was ist, wenn er gar nicht mehr hier in der Stadt ist? Hat er seiner Frau nicht am Telefon gesagt, dass er erneut fliehen müsste?«
»Ja, das hat er. Aber er hat auch gesagt, dass er sich erst einmal verstecken wird. Eine gewisse Chance, ihn zu finden, besteht also. In jedem Fall habe ich Akane, seiner Frau, versprochen, dass ich versuchen werde, ihn zu finden. Das habe ich vor, egal wie.«
Claudia sah Takeda aufmerksam an, fragte dann: »Darf ich mitmachen? Wir haben im Moment keinen aktuellen Fall, an dem wir arbeiten. Die Suche nach einem untergetauchten Japaner klingt nach einer netten Abwechslung. Was meinst du?«
Takeda sah sie überrascht an. »Natürlich. Ich würde mich freuen, wenn du mir hilfst.«
»Gut. Aber erst einmal sollten wir ins Präsidium fahren. Die Morgenrunde beginnt bald, und an der müssen wir teilnehmen.«
»Richtig. Und wir wollen die Kollegen ja nicht warten lassen.«
Claudia stand vom Tisch auf und erklärte gut gelaunt: »Und ob wir das wollen … aber klüger wäre es natürlich, pünktlich zu sein. Ich gehe kurz duschen, dann können wir los.«
Sie drehte sich um und verschwand in Richtung Badezimmer. Dabei spürte sie Kens Blicke im Rücken. Sie trug ja nur ihr Schlafshirt und eine Unterhose. Es schien ihm zu gefallen.
Claudia registrierte es mit einem Gefühl der Erleichterung. Als Ken am Abend zuvor so plötzlich weggefahren war, um seine Ex-Frau zu treffen, war sie regelrecht panisch gewesen. Sie wollte ihm ja eigentlich gerade etwas Wichtiges sagen. Etwas, das mit ihrer gemeinsamen Zukunft zusammenhing. Er aber war einfach verschwunden, und Claudia war sich sicher gewesen, dass Makiko nur deshalb nach Hamburg gekommen war, um Ken wieder für sich zu gewinnen. Dass es in Wahrheit um einen untergetauchten Spitzenkoch ging, hätte sie nun wirklich nicht ahnen können. Auf jeden Fall waren ihre Befürchtungen wegen Ken überflüssig gewesen. Und das war schon einmal sehr gut so.
Nachdem Claudia im Badezimmer fertig war, stellte auch Takeda sich kurz unter die Dusche. Das lauwarme Wasser floss an seinem schlanken, zähen Körper hinab und vertrieb die bleischwere Müdigkeit, die an ihm nagte. Kein Wunder, er hatte alles in allem höchstens zwei Stunden geschlafen. Nach seiner Begegnung mit Makiko und Akane Endō war er noch lange nicht nach Hause zurückgekehrt. Er hatte ewig im Auto gesessen, Musik gehört und über die verwirrenden Neuigkeiten nachgedacht.
Kurze Nächte waren auch früher in Japan regelmäßig vorgekommen, aber da hätte er gewusst, dass er den entgangenen Nachtschlaf alsbald im Präsidium würde nachholen können. Es war nicht ungewöhnlich, dass japanische Angestellte oder auch Beamte an ihren Schreibtischen saßen, den Kopf in die Arme betteten und schliefen. Genauso sah man Menschen in Bahnen, im Café oder auf einer Parkbank schlafen. Es war kein Zeichen von Faulheit. Im Gegenteil, Menschen, die in der Öffentlichkeit schliefen, bewiesen doch nur, dass ihr anstrengender Beruf es ihnen nicht erlaubte, in der Nacht zu ruhen, so dass sie eben tagsüber die Augen schließen mussten. Hier in Deutschland aber war der öffentliche Schlaf den Obdachlosen und Lebenskünstlern vorbehalten, wie Takeda selbst vor einiger Zeit schmerzhaft hatte erleben müssen. Als er einmal in einem Café im feinen Stadtteil Eppendorf eingedöst war, hatte die Besitzerin die Polizei alarmiert, weil sie befürchtete, ein obdachloser Asiate hätte sich in ihrem Lokal eingenistet. An dem Eindruck hatte nicht einmal sein feiner Anzug etwas ändern können.
Heute aber würde ihm vermutlich ohnehin die innere Ruhe fehlen, um zu schlafen. Zu sehr brannte er darauf, sich auf die Suche nach dem verschwundenen Hiroyuki Endō zu machen. Ob er damit Erfolg haben würde, war eine andere Frage. Claudia hatte ja recht, es konnte gut sein, dass der berühmte Koch längst die Stadt verlassen hatte. Sollte er sich hingegen doch noch irgendwo versteckt halten, bestand eine nicht geringe Chance, dass Ken ihn aufspürte. Zwar war Hamburg eine riesige Stadt, die unzählige Möglichkeiten bot, für einige Tage oder sogar Wochen unentdeckt zu bleiben. Andererseits war er recht gut darin, Menschen zu finden, und in diesem Falle handelte es sich ja sogar um einen Landsmann. In dessen Verhaltensweisen könnte er sich vermutlich noch besser einfühlen, als wenn es darum ging, einen Deutschen aufzuspüren.
Ken stellte die Dusche aus und trat aus der Kabine hinaus. Er trocknete sich ab, stand dann vor dem Spiegel und kämmte sein dunkles, schulterlanges Haar.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Zu gut erinnerte er sich an die Male, in denen Claudia mit ihren schlanken Händen zärtlich durch seine Haare gefahren war. Gelegentlich hatte sie ihm sogar den Kamm aus der Hand genommen, um ihn zu kämmen. Das erste Mal war es während ihrer gemeinsamen Zeit in Japan gewesen, als sie sich in einem verlassenen Bauernhaus im ländlichen Tottori eingenistet hatten. Im Nachhinein kamen ihm jene Tage wie ein ferner Traum vor – längst vergangen und doch unendlich süß und verlockend. Sie hatten eine Zeit der Leidenschaft und Einfachheit erlebt, und die Probleme der Welt um sie herum spielten für eine kurze Weile keine Rolle. Zurück in Deutschland hatten sie versucht, an jene Zeit anzuknüpfen, aber es war ihnen nicht gelungen. Claudia hatte es nicht geschafft, ihre inneren Dämonen zu überwinden und sich wirklich auf etwas Festes mit ihm einzulassen. Er hätte es sich gewünscht, musste jedoch einsehen, dass es nicht möglich war.
Aber was war dann gestern Abend gewesen? Claudia hatte ihm etwas sagen wollen, und er hatte den Eindruck gehabt, dass es dabei um sie beide gehen sollte – um ihre gemeinsame Zukunft. War es wirklich so? Und wenn, sollte er es wirklich zulassen? Oder war die Gefahr zu groß, dass sie erneut scheiterten und dann vielleicht nicht einmal mehr Freunde wären, wie sie es jetzt doch waren?
Takeda wusste es nicht. Was blieb ihm also übrig, als einfach abzuwarten, wie die Dinge sich entwickelten? Er musste loslassen! Was könnte er sonst schon tun?
Er ging hinüber in sein Zimmer, suchte Wäsche, Hemd und einen Anzug für den Tag aus. Er kleidete sich an und band sich schließlich die langen Haare mit einem Gummi zu einem Zopf zusammen.
Anschließend trat er vor den Spiegel und legte eine Krawatte an. Er wusste, dass es ihm im Zweifel wieder einmal spöttische Sprüche der Kollegen im Präsidium einbringen würde. Das war schon mehr als einmal vorgekommen. Die Kollegen, besonders die älteren, sahen ihn und fragten ihn grinsend, ob er auf eine Beerdigung wolle oder ob er zu einem Gala-Dinner eingeladen sei – und das nur, weil er Anzug und Krawatte trug. Zu Beginn seines Aufenthaltes in Hamburg hatte Takeda nicht verstanden, warum sie sich über ihn lustig machten. Dann war ihm klar geworden, dass die heutigen Deutschen einfach wenig Wert auf korrekte Kleidung legten. Es befremdete sie, wenn sich jemand stilvoll kleidete, sie empfanden es als Angeberei oder Gekünsteltheit. In Japan war das anders. In der Tokioter U-Bahn war man rund um die Uhr umgeben von Männern in Anzügen und Frauen in Business-Kostümen, und alle schienen auf dem Weg von oder zu einem Termin zu sein. Hier in Hamburg wirkten die Menschen – zumindest außerhalb der Stoßzeiten – so, als kämen sie von einem Landausflug oder einer Angelpartie. Sie trugen Cargohosen und Holzfällerhemden, vielleicht auch einfach nur Trainingsanzüge, und kaum jemand wirkte so, als hätte er einen Beruf, in dem es Kleidungsvorschriften gab. Als Takeda einmal mit Claudia darüber sprach, meinte sie, dass die Menschen, deren Job eine ordentliche Kleidung verlangte, eher mit dem Auto fuhren und man sie darum nicht in den U- und S-Bahnen sah. Takeda fand die Erklärung überzeugend, zumal er wusste, dass auch die meisten Kollegen der Mordkommission mit dem Auto ins Präsidium fuhren. Sie wohnten weit draußen in den Vororten, wo es einfach keine Bahnen gab. Dennoch trugen sie bunte Stoffhosen und T-Shirts, dazu Jacken oder Sakkos, die farblich kaum zum Rest ihrer Kleidung passten. Aber das mochte daran liegen, dass das Farbempfinden nun einmal von Land zu Land unterschiedlich war. Zumindest hoffte Takeda es.
Er trat aus seinem Zimmer in den Flur. Claudia erwartete ihn bereits an der Wohnungstür. Sie trug Jeans und ein T-Shirt und wirkte ebenfalls so, als würde sie zu einer privaten Verabredung aufbrechen, sah man einmal von dem Schulterholster mit ihrer Dienstwaffe ab, das sie über dem T-Shirt trug.
Aber egal, ob Claudias Kleidung nun übertrieben lässig war oder nicht, sie sah hinreißend aus.
»Was siehst du mich so an?«, fragte sie mit einem Stirnrunzeln.
»Oh, nichts. Ich dachte nur, dass du … wohl kaum mit offener Waffe aus dem Haus gehen willst.«
Claudia deutete auf einen Blouson, den sie in der Hand hielt. »Den ziehe ich gleich über. Aber was ist mit dir? Musst du heute zu einer Beerdigung? Oder zu einem Gala-Dinner?«
Takeda sah sie überrascht an. »Aber das ist doch nur ein gewöhnlicher Anzug, wie ich ihn jeden Tag trage.«
Claudia brach in prustendes Gelächter aus. »War ein Witz, Ken. Du siehst fantastisch aus! Du bist der bestangezogene Polizist der Stadt. Du wirst den Spruch garantiert später wieder hören, von Klaus-Dieter oder Horst oder Manni. Die haben nun einmal nur gelbe oder rosa Sakkos von C&A, und sie werden grün vor Neid, wenn sie dich sehen. Wenn du ihnen also einmal einen Gefallen tun möchtest, geh mit ihnen einkaufen.«
»Meinst du wirklich?«
»Aber sicher.«
Claudia lachte noch immer, als sie schon im Treppenhaus waren und die Stufen hinab zur Haustür schritten.
Bevor die Morgenrunde im Präsidium begann, standen die Kollegen in kleinen Runden im Konferenzraum und unterhielten sich. Dabei sprachen sie über alles Mögliche, nur nicht über ihre laufenden Ermittlungen. Die würden ohnehin gleich im Meeting behandelt. Bis dahin tauschten sie sich lieber entspannt über das Geschehen in der Bundesliga aus, über geplante Urlaubsreisen, Grillfeste oder die Frage, ob das neue Auto nun ein Verbrenner oder ein Stromer sein sollte.
In gewisser Weise war das bewundernswert, dachte Claudia. Dieselben Männer und Frauen, die jetzt noch gut gelaunt über Alltagsdinge plauderten, würden gleich darauf Fotos von grausam entstellten Leichen an die Wand projizieren oder über Tötungsdelikte referieren, deren Brutalität die Vorstellungskraft normaler Bürger sprengte. Aber genau diese Fähigkeit zur Verdrängung war es wohl, wegen der sie all die Entmenschlichung, mit der sie es täglich zu tun hatten, aushalten konnten.
Kurz darauf begann der offizielle Teil des Meetings. Holger Sauer, der Leiter der Mordkommission, betrat den Raum, grüßte in die Runde und nahm mit seinem üblichen Ich-bin-wichtig-Gesichtsausdruck am Kopfende der u-förmig gestellten Tische Platz. Er informierte die Kollegen über die neuesten Anweisungen der Führungsetage und der Staatsanwaltschaft und kam auf einige erfreuliche wie auch einige unerfreuliche Artikel in den Lokalzeitungen zu sprechen. Dann warf er einen Blick auf seine Notizen, nickte zufrieden und übergab an die Kollegen, die gerade mit aktuellen Fällen betraut waren. Die gaben reihum einen Überblick über den Stand ihrer Ermittlungen, berichteten über Fortschritte bei der Beweisauswertung oder über Verhaftungen, im besten Fall sogar darüber, dass ein Fall abgeschlossen werden konnte.
Claudia fand es immer faszinierend, Ken während dieser Phase der Morgenrunde zu beobachten. Egal, worüber die Kollegen sprachen, er war immer hochkonzentriert bei der Sache und hörte auch bei den langweiligsten Fällen sehr genau zu.
Dabei hatte Claudia oft den Eindruck, dass es Ken gar nicht im engeren Sinne um die Ermittlungsarbeit ging. Er wollte vielmehr verstehen, was in dieser Stadt und überhaupt in diesem Land vor sich ging. Ken hatte ihr einmal erklärt, dass für ihn Verbrechen immer auch so etwas wie der Gradmesser dessen seien, was die Menschen oder auch die Gesellschaft insgesamt bewegte. Sie seien die Spitze des Eisberges und ließen ahnen, was sich unsichtbar unter der Oberfläche verbarg.
War das wirklich so? Wenn ja, dann gab Deutschland oder zumindest Hamburg nicht gerade ein gutes Bild ab.
Jedenfalls nicht an diesem Tag.
Als Erstes berichteten die Kollegen Torben Kempe und Kevin Vollmer über einen Fall, der seit Wochen für Schlagzeilen sorgte. Im Harburger Phönixviertel auf der südlichen Elbseite war es zu einer nächtlichen Schießerei gekommen, mit einem halben Dutzend Beteiligter. Die Männer waren hinter parkenden Autos in Deckung gegangen und hatten sich gegenseitig in Wildwestmanier beschossen. Die traurige Bilanz: zwei Tote und zwei Schwerverletzte, von denen einer ein zufälliger Passant war, der sich nach seiner Spätschicht auf dem Nachhauseweg befand. Zu Verhaftungen war es bisher nicht gekommen, da die Verletzten die Aussage verweigerten und weitere Beteiligte bisher nicht identifiziert werden konnten. Die Zeugen, die das Ganze aus ihren Fenstern beobachtet hatten, schwiegen ebenfalls. Die Angst war wohl zu groß, ins Visier der falschen Leute zu geraten.
Allen im Raum war klar, dass der Schusswechsel der Höhepunkt einer Entwicklung war, die sie seit einiger Zeit beobachteten, erst im europäischen Ausland und nun auch hier in Hamburg. Mit brutalsten Mitteln kämpften Drogenbanden um Marktanteile und die Hoheit über einzelne Stadtviertel. Dabei überschritten sie immer neue Grenzen der Gewalttätigkeit. In erster Linie ging es um Kokain, das tonnenweise über den Hafen in die Stadt kam. Hamburg war zu einem der größten europäischen Einfuhrhäfen für die Droge geworden, auch weil die Kontrollen als vergleichsweise schwach galten. Während in Rotterdam und Antwerpen in Sachen Sicherheit aufgerüstet wurde, suchten die deutschen Politiker nach immer neuen Einsparmöglichkeiten, auch bei der Verbrechensbekämpfung. Der bisherige Höhepunkt war die Überlegung, ob sich nicht mehrere Polizisten jeweils eine Dienstwaffe teilen könnten. Ja, wirklich.
Allmählich wachte zwar auch Hamburg auf und ergriff erste Gegenmaßnahmen. Erst einmal aber sah es so aus, dass die Banden immer enthemmter um die Hoheit über die Stadt kämpften, im Zweifel mit Waffengewalt, wie gerade im Phönixviertel. Wie schwierig die Ermittlungen waren, bewiesen Kempe und Vollmer an diesem Tag. Fortschritte bei den Ermittlungen hatten sie nicht zu vermelden.
Es folgte ein Fall, den der Kollege Klaus Wessel referierte. Ein Vertriebsangestellter hatte seinen Chef mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. Der Täter hatte anschließend selbst die Polizei alarmiert und auch sein Motiv offenbart. Er wäre krankgeschrieben gewesen, hatte in Wahrheit aber einige Tage auf Mallorca verbracht. Sein Chef hatte die Urlaubsbilder auf Facebook entdeckt und ihn zur Rede gestellt. Was für eine Unverschämtheit! Der Chef hätte nämlich für die Facebookfreundschaft einen falschen Namen benutzt. Das ginge ja wohl gar nicht, und der Täter hoffe deswegen auf mildernde Umstände …
An dieser Stelle warf Claudia Takeda einen besorgten Blick zu. Glaubte Ken auch in diesem Fall, dass die Tat so etwas wie die Spitze des Eisberges war – ein Gradmesser für das, was in der Gesellschaft los war? Wenn, dann sollte er vielleicht besser überlegen, Deutschland fluchtartig zu verlassen. Und sie würde am liebsten mitkommen!
Abschließend berichteten die Kollegen Surbach und Preuß von einem Fall, der die sozialen Netzwerke ebenfalls zum Vibrieren brachte. Ein Autofahrer war mit einem Fahrradfahrer in Streit geraten und hatte ihn schließlich mit seinem SUV von der Straße gerammt – mit voller Absicht. Der Streit zwischen den Männern war wohl dadurch entbrannt, dass das Lastenrad mitten auf der Fahrbahn fuhr und der Fahrer auch noch gut gelaunt am Handy sprach. Das Opfer lag nun mit schweren inneren Verletzungen im künstlichen Koma, während die Kollegen nach dem Täter fahndeten.
Nachdem Surbach und Preuß ihren Bericht beendet hatten, entbrannte eine wilde Diskussion im Konferenzraum – nicht über das Verbrechen, sondern über das dreiste Verhalten von Fahrradfahrern im Straßenverkehr.
An dieser Stelle zuckte Ken dann wirklich zusammen. Er saß neben Claudia. Sie legte ihm beruhigend eine Hand aufs Knie, beugte sich zu ihm und flüsterte: »Die meinen das nicht so, Ken. Die wollen nur spielen.«
Er seufzte. »Hoffentlich hast du recht. Trotzdem bin ich froh, dass ich kein Fahrrad habe.«
Kurz darauf löste die Runde sich auf. Da Claudia und Takeda keinen aktuellen Fall bearbeiteten, zogen sie sich in ihr Dienstzimmer zurück, um dort liegen gebliebene Akten aufzuarbeiten.
Jedenfalls war es das, was sie ihrem Vorgesetzten erzählten.
In Wahrheit verging der Vormittag, ohne dass sie auch nur eine einzige alte Akte oder einen liegen gebliebenen Vorgang anrührten. Während Takeda immerhin seinen Rechner hochfuhr und Recherchen im Internet anstellte, zog Claudia ihre Gartenhandschuhe über und kümmerte sich um ihre Zimmerpflanzen.
Von denen standen in dem nicht sonderlich großen Büro, das sie sich mit Takeda teilte, über ein Dutzend herum, auf der Fensterbank, auf dem Fußboden, sogar auf ihrem Schreibtisch. Die Kollegen nannten das Zimmer nicht umsonst das Treibhaus oder auch die Baumschule.
Claudia lockerte Blumenerde auf, wischte Blätter ab und besprühte sie vorsichtig mit ihrem Zerstäuber. Dabei führte sie einfühlsame Gespräche mit ihren grünen Schützlingen.
Takeda blickte auf und beobachtete sie amüsiert.
Claudia, die es bemerkte, sah ihn feixend an. »Glaubst du, dass ich spinne?«
»Nein. Wieso?«
»Weil ich mit meinen Pflanzen rede. Aber andere Leute unterhalten sich schließlich auch mit ihren Hunden oder Katzen. Ist nicht so viel anders, finde ich.«
»Das geht schon in Ordnung. Ich frage mich allerdings, ob deine Gewächse dich wirklich verstehen können, jedenfalls wenn du Deutsch sprichst. Eine Monstera ist, glaube ich, in Südamerika zu Hause, und ein Gummibaum kommt irgendwo aus Malaysia.«
»Du meinst, ich sollte lieber Spanisch sprechen? Oder … ich weiß nicht, Malaiisch?«
»Vielleicht wäre das artgerechter.«
Claudia lachte. »Aber mit dir rede ich doch auch Deutsch.«
»Bin ich eine Pflanze?«
»Nein, zum Glück nicht. Aber im Übrigen glaube ich, dass die Sprache egal ist. Es kommt nicht auf die Worte an, sondern auf die Tonlage, also auf das Gefühl, das dabei rüberkommt. Oder von mir aus auf die Schwingungen …« An dieser Stelle stutzte Claudia, lachte dann laut heraus und schob hinterher: »Wenn ich mir selbst zuhöre, komme ich glatt auf die Idee, dass ich doch spinne.«
»Ja, wir sollten es in Betracht ziehen.«
Takeda verzog das Gesicht zu einem fröhlichen Lächeln. Claudia trat neben ihn und drohte im Spaß damit, ihn mit Wasser vollzusprühen. Dabei fiel ihr Blick auf seinen Computerbildschirm. Überrascht stellte sie fest, dass auch Ken sich keineswegs um staubige Altfälle oder anderen Verwaltungskram kümmerte. Auf dem Screen war das kunstvolle Foto eines Sushi-Menüs zu sehen. Daneben hatte Ken die Online-Version einer Speisekarte geöffnet.
»Du hast also mit der Suche nach diesem Endō begonnen?«
»Ja, ich dachte, ich versuche es erst einmal im Internet.«
»Und? Hast du eine Spur?«
Takeda legte den Kopf schief und sog zischen die Luft zwischen den Zähnen ein. »Möglich, dass ich auf etwas gestoßen bin. Ich bin mir nicht sicher.«
»Ich bin mir nicht sicher«, wiederholte sie spöttisch. »Inzwischen kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass das eigentlich ja bedeutet.«
»In diesem Falle nicht.«
»Glaube ich nicht. Ich bin mir nicht sicher, bedeutet bei einem Japaner immer ja, und Das ist durchaus möglich heißt nein.«
»Ab und zu ist es aber auch umgekehrt …«
Claudia lachte. »Na, klar. Wäre sonst ja auch zu einfach.«
»Im Moment bin ich mir wirklich nicht sicher. Aber eine gewisse Chance gibt es. Ich müsste eigentlich losfahren und etwas nachprüfen. Ich weiß nur nicht, ob ich es darf.«
»Ob du es darfst? Wieso? Wer könnte es dir denn verbieten?«
Takeda schlug die Augen nieder. »Na ja, die Suche nach Endō ist keine offizielle Ermittlung. Wir wissen schließlich nicht, was mit ihm passiert ist und ob es uns als Polizisten überhaupt etwas angeht. Wenn ich jetzt losfahre, könnte Herr Sauer … na ja, sauer werden.«
Claudia schüttelte verständnislos den Kopf. »Also echt, Ken. Hast du denn gar nichts gelernt, seit du in Deutschland bist? Du machst dir wirklich immer noch Sorgen darüber, was unser Vorgesetzter denkt?«
»Ja, absolut.«
Sie tätschelte ihm die Schulter. »Musst du nicht. Sauer kann froh sein, dass wir überhaupt ins Büro kommen. Außerdem geht es ja möglicherweise doch um eine ernste Angelegenheit. Schließlich könnte dieser Endō in etwas verwickelt sein. Es ist also keineswegs dein Privatvergnügen, wenn du der Sache nachgehst – es ist präventive Polizeiarbeit.«
Takeda nickte ernsthaft. »Wenn du es so sagst …«
»Sage ich. Also, lass uns aufbrechen. Draußen ist schönstes Wetter, und es gibt keinen Grund, länger als nötig hier im Büro zu hocken.«
»Aus präventiven Gründen, natürlich.«
»Selbstverständlich.«
Takeda stand auf und zog sein Jackett über. Claudia folgte ihm zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und sagte in Richtung ihrer Pflanzen: »Hasta luego, las plantas de interior … Bis später, liebe Zimmerpflanzen. Malaiisch kann ich leider nicht. Aber ich denke, mein lieber Gummibaum, du weißt auch so, was ich dir sagen möchte.«
Kurz darauf waren Claudia und Takeda unterwegs in Richtung Altona. Es war Spätsommer, aber immer noch überraschend warm. Sie fuhren mit geöffneten Fenstern. Die Luft trug bereits den Duft des Herbstes in sich und erfüllte sie mit einer entspannten, ein wenig melancholischen Stimmung. Aus der Musikanlage erklang ein jazziges Stück – war ja klar, sie saßen in Takedas Dienstwagen.
Musik war eines der vielen Dinge, bei denen Claudia mit ihm einfach nicht auf einen Nenner kam. Sie liebte Coldplay, Adele und in letzter Zeit Billie Eilish. Er hingegen hörte Ornette Coleman, Peter Brötzmann oder Charles Mingus. Musik also, gegen die der Klang einer Schrottpresse geradezu schön und harmonisch war – fand Claudia jedenfalls. Es nannte sich Free Jazz, also freier Jazz, und zwar vermutlich deshalb, weil es einem frei stand, sich dabei die Ohren zuzuhalten.
Aber der Jazz war nicht einmal das Schlimmste. Da Ken auch in Sachen Musik etwas über Deutschland lernen wollte, streamte er immer wieder auch Alben von Andreas Gabalier, DJ Ötzi oder den Amigos – jetzt mal ehrlich, dann doch lieber die Schrottpresse.
Heute fand Claudia die Musik aber überraschend erträglich, eigentlich sogar schön. Als sie Ken fragte, was sie hörten, erklärte er ihr, dass es ein Stück von Miles Davis sei, dem großen amerikanischen Trompeter. Es sei der Soundtrack zu einem Film namens Siesta. Der Film stamme aus den 80er Jahren und sei ein ziemlicher Flop gewesen. Niemand könne sich so recht an ihn erinnern. Die Musik aber sei großartig – wie alles von Miles, und darum wurde sie zum Glück bis heute gehört.
Eine Weile lauschten sie gemeinsam den sphärischen Klängen des Backgrounds und Miles’ sanftem Trompetenspiel. Dann aber stellte Takeda den Ton leiser und fragte: »Hast du schon einmal von einem Restaurant namens Moto gehört?«
Claudia sah ihn überrascht an. »Moto? Natürlich, wer nicht? Es ist eine der feinsten Hamburger Adressen, jedenfalls wenn es um Sushi geht. Absolute Spitzenküche. Du müsstest es doch kennen, oder etwa nicht?«
»Ich habe davon gehört, bin allerdings noch nie dort gewesen. Was ist mit dir?«
»Machst du Witze? Ich verdiene das Gehalt einer kleinen Beamtin. Ich kann es mir nicht leisten, ein halbes Monatsgehalt für ein Abendessen auszugeben. Das Moto ist gut, aber eben auch unbezahlbar.«
Takeda schüttelte lächelnd den Kopf. »Aus demselben Grund war ich auch noch nicht dort, ich bin ja auch nur ein kleiner Beamter. Außerdem esse ich lieber in einfachen, bodenständigen Lokalen.«
»So wie das Hotoke, richtig?«
»Genau, so wie das Hotoke«, bestätigte Takeda.
Er schätzte das kleine japanische Lokal. Es lag nahe des Oberhafens und wurde liebevoll von einem alten japanischen Ehepaar betrieben. Takeda fühlte sich dort inzwischen regelrecht zu Hause. Es gab einfache, aber wohlschmeckende Gerichte wie in einem japanischen Izakaya, einer schlichten Speisegaststätte. Zu Beginn seines Aufenthaltes in Hamburg war er drei- oder sogar viermal in der Woche dort gewesen, nicht nur um zu essen, sondern auch um sich mit anderen in Hamburg ansässigen Japanern zu unterhalten. Der Wirt, Tetsuro Yamaguchi, der hinter dem Tresen die Speisen zubereitete, war ebenfalls immer für einen Schwatz zu haben, und an so manchem Abend hatten er und Takeda noch lange nach Geschäftsschluss beisammengesessen, Whisky getrunken und sich über Deutschland und Japan unterhalten.
»Weißt du zufällig etwas über den Besitzer des Moto? Soweit ich weiß, ist er Deutscher, richtig?«, fragte Takeda.
»Richtig. Er heißt Tom Trautmann und ist ein regelrechter Promi. Aber nicht wegen des Moto. Das gibt es auch noch gar nicht so lange.«
»Sondern?«
»Trautmann ist ein Fernsehkoch, er tritt in allen möglichen Formaten auf. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht auf dem Bildschirm zu sehen ist.«
»Dann muss er wirklich populär sein!«
»Absolut. Eine seiner Sendungen heißt The Table Wars. Da kochen mehrere Kandidaten gegeneinander, bis der Wochensieger feststeht. Trautmann ist nur einer von mehreren Moderatoren, sie wechseln sich ab, aber er ist mit Abstand der beliebteste. Er ist ziemlich witzig. Seine Sprüche gehen zwar gerne mal unter die Gürtellinie, doch die Leute mögen ihn.«
»Siehst du denn Koch-Sendungen?«, fragte Takeda verwundert.
Claudia lachte. »Hättest du nicht gedacht, was? So schlecht, wie ich koche!«
Takeda sah sie erschrocken an. »Das wollte ich bestimmt nicht sagen. Ich habe es nicht einmal gedacht.«
Sie gluckste immer noch. »Beruhig dich, Ken. Ich bin nicht beleidigt. Es ist eine Tatsache, dass ich eine Niete in der Küche bin. Aber die Sendungen schaue ich trotzdem gerne. Es hat etwas Entspannendes.«
»Verstehe ich es denn richtig, dass dieser Trautmann mit Sushi-Gerichten bekannt geworden ist? Das ist ungewöhnlich, oder? Ein Deutscher, der mit japanischer Küche Karriere macht?«
Claudia zuckte mit den Achseln. »Er ist nicht einmal der Einzige. Sushi ist inzwischen auch hierzulande total beliebt. Das hast du doch bestimmt schon festgestellt. Man kann es wirklich in jedem Supermarkt kaufen. Die Zeiten, wo die Deutschen rohen Fisch ekelig fanden, sind lange vorbei.«
Im Stillen fügte Claudia hinzu: Einige Deutsche sind immer noch der Meinung – sogar einige, die dir recht nahestehen. Aber das sage ich dir lieber nicht, mein lieber Ken, weil du mich sonst auf der Stelle aus dem Wagen werfen würdest.
Claudia räusperte sich und fuhr fort: »Trautmann betreibt einen Lieferdienst für Sushi, nicht nur hier in Hamburg, sondern in allen größeren Städten im ganzen Land. Sushi4You. Die Lieferautos sieht man überall. Die Qualität ist ziemlich gut, sagt man jedenfalls. Aber das Moto ist eine andere Dimension, es bietet absolute Spitzenküche, ist also Trautmanns bestes Pferd im Stall. Ich weiß gar nicht, ob er da wirklich selbst kocht oder ob er nur der Betreiber ist. Jedenfalls hat der Laden schon einige Auszeichnungen bekommen. Vielleicht sogar einen Michelin-Stern. Ich bin mir nicht sicher.«
Takeda nickte zufrieden. »Auf jeden Fall klingt es so, als läge ich mit meinem Gefühl richtig.«
Claudia sah ihn lächelnd an. »Jetzt verstehe ich es. Du glaubst, dieser Herr Endō, der verschwundene Koch, arbeitet dort?«
»Ich halte es für möglich. Das Moto ist laut Internet das beste japanische Lokal der Stadt und sogar eines der besten im ganzen Land. Jetzt erfahre ich, dass es sogar mit Sternen prämiert wurde. Der Gedanke, dass Endō etwas damit zu tun hat, liegt nahe, oder?«
»Eigentlich schon. Andererseits, wenn er wirklich so berühmt ist, dann wäre es doch längst aufgeflogen, dass er dort arbeitet, oder? Auch wenn er sich einen falschen Namen gibt.«
»Das stimmt. Es ist rätselhaft«, erklärte Takeda mit nachdenklicher Stimme.
Kurz darauf passierten sie das Altonaer Rathaus und fuhren hinab in Richtung Elbufer. Eine Weile holperten sie über die kopfsteingepflasterte Große Elbstraße, die parallel zum Flussufer verlief. Hier, wo früher unansehnliche Zweckbauten und Hafenanlagen standen, waren inzwischen moderne Bürogebäude mit glitzernden Fassaden entstanden. Außerdem hatten sich zahlreiche Edelrestaurants angesiedelt, von denen die meisten auf Fischgerichte spezialisiert waren, sowohl nach europäischer als auch nach asiatischer Küche. Verwunderlich war es nicht, da sich in der gleichen Straße der Hamburger Fischgroßmarkt befand. Er hatte nichts mit dem Fischmarkt zu tun, den Touristen am frühen Sonntagmorgen besuchten. Der echte Fischgroßmarkt hatte jede Nacht rund um die Woche geöffnet. In ihm wurden riesige Mengen an Fisch und Meerestieren verarbeitet, umgeschlagen und an Geschäfte und Restaurants in ganz Norddeutschland verkauft. Der Weg von dort in die feinen Küchen rundherum war also kurz.
Als Takeda die langgezogene Gebäudekette sah, in der der Fischmarkt untergebracht war, überkam ihn kurz ein Gefühl der Wehmut. Er musste an Tsukiji denken, den großen, legendären Fischmarkt von Tokio, der zum Bedauern vieler in die modernen Hallen in Toyosu umgezogen war. Wie oft war Takeda am frühen Morgen dort gewesen und hatte nach durchzechten Nächten an einem der Essstände Sushi oder Sashimi gegessen, so frisch, wie man es nirgendwo sonst auf der Welt bekam. Tsukiji war ein einzigartiger Mikrokosmos gewesen, in den nahezu hundert Jahren seines Bestehens war der Markt zu einem unübersichtlichen, pulsierenden Chaos herangewachsen. Eine Kleinstadt, ein Universum für sich – der größte Umschlagplatz für Fisch auf der Welt. Für den neuen Markt in Toyosu galt dasselbe, er war gigantisch, aber er hatte bei Weitem nicht den wilden Charme seines Vorgängers.
Sie ließen den Fischmarkt hinter sich und passierten einen weiteren flachen Zweckbau. An dessen Front war ein farbenfrohes Logo zu sehen. Es erinnerte an ein Kinderkarussell, nur dass statt der üblichen Pferdchen, Kutschen und Feuerwehrautos Sushi-Sorten abgebildet waren. Davor standen zahlreiche Smart-Fahrzeuge, deren Seiten beschriftet waren: Sushi4You.
»Dort scheint Trautmanns Lieferservice zu sein, richtig?«
Claudias Blick folgte Takedas ausgestrecktem Zeigefinger. »Ja, soweit ich weiß, ist hier die Firmenzentrale, vermutlich weil sie vom Großmarkt den Fisch beziehen.«
Während sie vorüberfuhren, sahen sie, wie ein junger Mann aus dem Gebäude stürmte. Er trug eine Lieferkiste aus Styropor, stieg in einen der Smarts und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Sie passierten weitere Restaurants und Läden, ließen das Areal schließlich hinter sich und erreichten ein kleines, freistehendes Gebäude nahe des alten Hafenbahnhofs. Sie parkten und stiegen aus.
Die Fassade des Gebäudes war mit Holz verkleidet, wirkte schlicht und zugleich auch edel. Ein schmaler Vorgarten war auf dezente Art japanisch dekoriert, mit moosbewachsenen Steinen und einer kunstvoll gestutzten Kiefer. Auf einer Papierlaterne war ein einziges japanisches Schriftzeichen abgebildet:
本
Darunter stand in lateinischer Schrift: fine japanese cuisine.
Takeda blickte auf das Zeichen und murmelte leise: »Moto …«
»Spricht man das Zeichen so aus?«
»Ja. Es bedeutet so viel wie Wurzel oder Ursprung. Zusammen mit dem Zeichen für Sonne heißt es übrigens Nihon oder Nippon – der Ursprung der Sonne. Unser Wort für meine Heimat, für Japan.«
Takeda zeichnete die entsprechenden Zeichen in seine Handfläche:
日本
»Ursprung der Sonne? Dann ist unser Begriff vom Land der aufgehenden Sonne ja gar nicht so verkehrt?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Beruhigend. Es hätte ja auch sein können, dass es irgendwie beleidigend ist. Heutzutage muss man ja vorsichtig sein mit dem, was man sagt.«
Takeda lächelte. »Das musste man in Japan schon immer. Aber jetzt lass uns hineingehen.«
Sie einigten sich darauf, sich nicht als Polizisten zu erkennen zu geben, sondern sich zunächst wie normale Gäste zu verhalten. Claudias Bedenken wegen der Preise zerstreute Takeda. Erstens hatte er im Internet gesehen, dass es einen Mittagstisch gab, der durchaus bezahlbar war. Und zweitens wollte er sie einladen.
Er öffnete die Tür, und gemeinsam traten sie in einen kleinen Vorraum. Dort wurden sie von einem Mann in einem dunklen Anzug begrüßt. Er stand hinter einem Pult, auf dem ein aufgeschlagenes Gästebuch lag. Sein Namenschild – Trần – verriet, dass er Vietnamese war, und der singende Akzent, mit dem er sprach, bestätigte es: »Ich darf Sie herzlich im Moto begrüßen, meine Herrschaften. Sie haben reserviert?«
Takeda schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Es war ein spontaner Entschluss, herzukommen. Wir hatten gehofft …«
Das freundliche Lächeln des Vietnamesen bekam eine spöttische Note. »Ich bedaure, aber ohne Reservierung lässt sich nichts machen.«
»Eine Ausnahme ist nicht möglich?«
Der Vietnamese wirkte geradezu pikiert. »Die Wartezeit für einen Platz zur Mittagszeit liegt bei ein bis zwei Wochen. Reservierungen für den Abend dauern noch deutlich länger.«
Takeda wandte sich Claudia zu, hob hilflos die Schultern. »Damit habe ich nicht gerechnet.«
Sie schnaubte leise, nicht zuletzt, weil ihr der Empfangschef mit seinem penetranten Lächeln auf die Nerven ging. Knurrend sagte sie zu Takeda: »Wir könnten es doch mit unseren Ausweisen versuchen.«
Im nächsten Moment trat ein weiterer Angestellter in den Vorraum. Er wandte sich an seinen Kollegen, und die beiden Männer flüsterten leise miteinander.
Der Empfangschef nickte schließlich, drehte sich wieder zu Claudia und Takeda und fand zu einem deutlich freundlicheren Lächeln zurück. »Mein Kollege teilt mir gerade mit, dass eine Reservierung kurzfristig gecancelt wurde. Sie haben großes Glück. Wenn Sie immer noch möchten, wir hätten zwei Plätze für Sie.«
Claudia seufzte, und Takeda erklärte: »Wir nehmen das Angebot gerne an.«
»Dann folgen Sie mir bitte, meine Herrschaften.«
Der Vietnamese öffnete eine verdunkelte Glastür und ließ sie in den eigentlichen Gastraum treten.
Im Inneren herrschte gedämpftes Licht, das eine Atmosphäre der Stille und Besinnlichkeit erzeugte. Dazu trug auch das sanfte Plätschern eines kleinen, künstlichen Bachlaufs bei. Er endete in einem winzigen Teich, in dem zwei Kois schwammen. Beides war Teil eines Moosgartens in der Mitte des Raumes. Das nötige Licht für die Pflanzen fiel durch eine Deckenluke hinab.
Insgesamt war das Restaurant kleiner als erwartet. Zwei Vierertische und zwei Zweiertische, die um das Gärtchen gruppiert waren, dazu sechs Plätze an einer Sushi-Theke. Alles war in hellem Holz gehalten, das einen milden Duft nach Zedern verbreitete. Die übrigen Farben waren schwarz und rot. Das ganze Ambiente wirkte perfekt gearbeitet und hochwertig. Ein Palast der Schlichtheit und Übersichtlichkeit.
Der Empfangschef geleitete Claudia und Takeda zu einem Zweiertisch in einer hinteren Ecke des Raums. Sie nickten sich unauffällig zu, sie waren zufrieden mit dem Platz. Von hier konnten sie ungestört das Lokal und die übrigen Gäste beobachten.
Der Empfangschef wartete, bis sie sich setzten, schob dabei im genau richtigen Moment Claudias Stuhl zurecht.
Okay, hier stimmte alles, musste Claudia im Stillen zugeben. Das gab es halt nicht umsonst.
»Man wird Ihnen gleich die Karte bringen. Darf es anfangs grüner Tee oder Wasser sein?«
»Wasser wäre schön«, sagte Takeda.
»Für mich auch«, schloss sich Claudia an.
Der Empfangschef entfernte sich mit lautlosem Gang. Schon kurz darauf erschien eine Kellnerin – ebenfalls eine Asiatin – am Tisch und brachte die Getränke. Außerdem stellte sie zwei längliche Körbchen mit warmen Oshibori-Tüchern auf den Tisch, so wie es in Japan Sitte war, und erklärte: »Reinigen Sie Gesicht und Hände. Sie werden sehen, es ist sehr erfrischend.«
Nachdem sie die Oshibori-Tücher benutzt und sich für das Mittagsmenü entschieden hatten, nahmen Claudia und Takeda sich Zeit, den Raum weiter in Augenschein zu nehmen und sich auch ein Bild von den übrigen Gästen zu verschaffen.
Von einem der Vierertische meinte Takeda, japanische Worte zu hören. Vier Männer in Anzügen saßen dort. Vermutlich waren es Geschäftsleute oder Firmenvertreter aus seiner Heimat, die sich vom guten Ruf des Moto hatten herlocken lassen. Sie blickten sicherlich anders auf die Preise, die Claudia so abschreckten. Sollte das Sushi, das hier serviert wurde, wirklich von so erlesener Qualität sein, wie es hieß, dann müsste man in Japan noch deutlich mehr dafür bezahlen. Berücksichtigte man dann noch, dass möglicherweise der große Hiroyuki Endō hier wirkte oder zumindest gewirkt hatte, dann wurde es regelrecht spottbillig. Aber gut, davon dürften die Gäste vermutlich nichts wissen.