Intimitäten - Katie Kitamura - E-Book + Hörbuch

Intimitäten E-Book und Hörbuch

Katie Kitamura

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Beschreibung

Die elektrisierende Geschichte einer Frau, die gefangen ist zwischen vielen Wahrheiten. – „Ein so mitreißender wie verstörender Roman." Hilka Sinning, ARD ttt

Was braucht ein Ort, um zu einem Zuhause zu werden? Die heimatlose Erzählerin verlässt New York, um am Gerichtshof in Den Haag als Dolmetscherin zu arbeiten. Als sie Adriaan kennenlernt, scheint die Stadt zur Antwort ihrer Sehnsüchte zu werden. Doch dann verschwindet er zu seiner Noch-Ehefrau und hinterlässt nichts als Fragen. Fragen, die sich zu einem existenziellen Abgrund auftun, als sie für einen angeklagten westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen muss und zweifelt: Was ist kalkulierte Lüge, was Wahrheit? Glauben nur noch die Naiven an Gerechtigkeit? Wer kann über wen richten? Katie Kitamuras subtiler Roman ist ein anregendes intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.

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Zeit:5 Std. 53 min

Sprecher:Katja Danowski

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Über das Buch

Was braucht ein Ort, um zu einem Zuhause zu werden? Die heimatlose Erzählerin verlässt New York, um am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten. Als sie Adriaan kennenlernt, scheint Den Haag zur Antwort ihrer Sehnsüchte zu werden. Doch dann verschwindet er zu seiner Noch-Ehefrau und hinterlässt nichts als Fragen. Fragen, die sich zu einem existenziellen Abgrund auftun, als sie für einen angeklagten westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen muss und zweifelt: Was ist kalkulierte Lüge, was Wahrheit? Glauben nur noch die Naiven an Gerechtigkeit? Wer kann über wen richten? Katie Kitamuras subtiler Roman ist ein anregendes intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.

Katie Kitamura

Intimitäten

Roman

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Hanser

Für meine Familie.

1.

Es ist nie einfach, in ein neues Land zu ziehen, aber tatsächlich war ich froh, aus New York weggegangen zu sein. Ich hatte mich dort nicht mehr zugehörig gefühlt, nachdem mein Vater gestorben war und meine Mutter sich überraschend nach Singapur zurückgezogen hatte. Zum ersten Mal begriff ich, dass ich in dieser Stadt, aus der keiner von uns stammte, vor allem durch meine Eltern verankert gewesen war. Die lange Krankheit meines Vaters hatte mich dort gehalten, und mit ihrem traurigen Ende war ich plötzlich frei. Um die Stelle als Dolmetscherin am Gerichtshof bewarb ich mich aus einem Impuls heraus, doch als ich sie bekommen hatte und nach Den Haag gezogen war, wurde mir klar, dass ich nicht vorhatte, nach New York zurückzukehren, ich vermochte mich dort nicht mehr heimisch zu fühlen.

Ich kam mit nicht viel mehr als einem Ein-Jahres-Vertrag vom Gerichtshof nach Den Haag. In jener ersten Zeit, als die Stadt mir noch fremd war, fuhr ich oft ziellos mit der Straßenbahn herum und lief stundenlang durch die Straßen, sodass ich gelegentlich nicht mehr wusste, wo ich war, und den Stadtplan auf meinem Handy zu Rate ziehen musste. Den Haag wies eine Familienähnlichkeit mit jenen anderen europäischen Städten auf, in denen ich lange Abschnitte meines Lebens verbracht hatte, vielleicht überraschte es mich deshalb, dass ich so oft die Orientierung verlor. In diesen Momenten, wenn Verwirrung an die Stelle meines Gefühls von Vertrautheit trat, fragte ich mich, ob ich hier je mehr als eine Besucherin sein könnte.

Und doch meldete sich während dieser Streifzüge durch die Straßen und Viertel mein Möglichkeitssinn wieder zurück. Ich hatte so lange mit meinem kriechenden Kummer gelebt, dass ich ihn gar nicht mehr wahrgenommen und nicht erkannt hatte, wie sehr er mich abstumpfte. Jetzt wich er allmählich von mir. Neuer Freiraum entstand. Mit der Zeit spürte ich, dass es richtig gewesen war, New York zu verlassen, auch wenn ich nicht wusste, ob es richtig gewesen war, nach Den Haag zu kommen. Ich sah die Details meiner Umgebung in großer, manchmal verblüffender Deutlichkeit — weil sie noch nicht durch die Vertrautheit mit dem Ort abgeschliffen oder durch Erinnerungen verzerrt waren und weil ich angefangen hatte, nach etwas Ausschau zu halten, ohne allerdings zu wissen, wonach.

Zu jener Zeit lernte ich Jana kennen, über eine gemeinsame Bekannte aus London. Jana war zwei Jahre vor mir in die Niederlande gezogen, um ihre Stelle als Kuratorin im Mauritshuis anzutreten — Haushälterin einer Nationalgalerie, nannte sie ihr Amt mit sarkastischem Achselzucken. Vom Typ her war sie genau das Gegenteil von mir, sie war geradezu zwanghaft offen, während ich in den letzten Jahren noch zurückhaltender geworden war — die Krankheit meines Vaters war mir stumme Warnung vor zu viel Optimismus gewesen. Jana trat zu einem Zeitpunkt in mein Leben, als ich empfänglicher als sonst für die Verheißung von Nähe war. Mit ihrer redseligen Art erzeugte sie bei mir ein Gefühl kühler Erleichterung, und ich fand, dass wir uns in unserer Verschiedenheit gut ergänzten.

Jana und ich aßen oft gemeinsam zu Abend, und an diesem Tag hatte sie angeboten, mich zu bekochen, sie sei zu müde, um ins Restaurant zu gehen, und wir würden beide Geld sparen, immerhin sei da ihre neue, nicht unbeträchtliche Hypothek. Jana hatte vor kurzem eine Wohnung unweit des alten Bahnhofs gekauft und drängte mich nun, ebenfalls in diese Gegend zu ziehen, sobald mein kurzzeitiges Mietverhältnis endete. Sie hatte angefangen, mir Annoncen weiterzuleiten, versicherte mir, das Stadtviertel habe viel zu bieten, nicht zuletzt eine gute Verkehrsanbindung, sie gelange jetzt leichter zur Arbeit, nur noch eine einfache Straßenbahnfahrt ohne Umsteigen.

Auf dem Weg von der Haltestelle zu Janas Wohnung knirschten Glasscherben unter meinen Füßen. Ihr Haus, ein bescheidenes, mit Balkonen versehenes Gebäude, stand eingezwängt zwischen einem Sozialwohnblock und einem neuen Glas-Stahl-Gebäude mit Eigentumswohnungen, zwei Gesichter dieses sich rasch wandelnden Stadtteils. Ich klingelte, und sie betätigte den Türöffner, ohne etwas durch die Sprechanlage zu sagen. Sie machte ihre Wohnungstür auf, ehe ich klopfen konnte. Ihre Arbeit sei ein Alptraum, verkündete sie ohne Vorrede, sie sei doch nicht von London nach Den Haag gezogen, um Tag für Tag über Excel-Tabellen zu brüten. Aber genau das tue sie, von morgens bis abends, sie schlage sich mit Budgets und Pressemeldungen herum, und was die eigentliche Kunst angehe, bekomme sie kaum je etwas zu sehen, irgendwie sei die in jemand anderes Verantwortungsbereich übergegangen. Sie winkte mich herein und nahm die Flasche Wein entgegen, die ich mitgebracht hatte. Setz dich zu mir, während ich koche, rief sie mir über die Schulter zu und verschwand in die Küche.

Ich hängte meinen Mantel auf. Sie reichte mir ein Glas Wein, als ich in die Küche trat, und widmete sich dann wieder dem Herd. Das Essen ist gleich fertig, sagte sie. Wie war’s bei der Arbeit? Haben sie irgendwas über deinen Vertrag gesagt? Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste noch nicht, ob man meinen Vertrag beim Gerichtshof verlängern würde. Und ich dachte immer häufiger über diese Frage nach. Inzwischen neigte ich dazu, in Den Haag bleiben zu wollen. Ich ertappte mich dabei, wie ich die mir zugewiesenen Aufgaben, das Verhalten meiner Vorgesetzten studierte, nach irgendwelchen Anhaltspunkten Ausschau hielt. Jana nickte teilnahmsvoll und fragte dann, ob ich mir die Annoncen angeschaut hätte, die sie mir geschickt habe, in dem gegenüberliegenden Gebäude mit Eigentumswohnungen sei ein Apartment frei.

Ich bejahte das, dann trank ich einen Schluck Wein. Obwohl sie erst vor kurzem umgezogen war, schien Jana sich hier schon völlig zu Hause zu fühlen, sie hatte die Wohnung mit dem ihr eigenen Elan in Besitz genommen. Ich wusste, dass der Kauf der Wohnung für sie eine Art Sicherheit bedeutete, die ihr bis dahin gefehlt hatte: Sie hatte schon in ihren Zwanzigern geheiratet und sich wieder scheiden lassen und hatte die vergangenen zehn Jahre damit verbracht, sich zu ihrer jetzigen Stelle im Mauritshuis hochzuarbeiten. Ich sah zu, wie sie den Schrank aufmachte und eine Flasche Olivenöl herausnahm, eine Pfeffermühle. Alles hatte hier bereits seinen Platz. Ein Gefühl durchzuckte mich — kein Neid, vielleicht war es Bewunderung, wobei die beiden nicht so weit auseinanderliegen.

Essen wir an der Theke?, fragte Jana. Ich nickte und setzte mich. Sie stellte mir einen Teller mit Pasta hin und sagte dann: Ich wollte schon immer eine Küche mit Esstheke. Ich muss sowas wohl als Kind mal gesehen haben. Sie setzte sich auf den Hocker neben mir. Jana war als Tochter einer serbischen Mutter und eines äthiopischen Vaters in Belgrad aufgewachsen, während des Kriegs dann aber auf ein Internat nach Frankreich geschickt worden. Sie war nie nach Jugoslawien — oder vielmehr dem heutigen Ex-Jugoslawien — zurückgekehrt. Ich fragte mich, wo sie ihre erste Esstheke gesehen haben mochte, diejenige, die sie hier in dieser Küche in etwas anderer Form nun endlich nachgebildet fand.

Ich gratulierte ihr zur erfolgreichen Verwirklichung ihres Wunsches, und sie lächelte. Es ist wirklich ein gutes Gefühl, sagte sie. Leicht war es nicht: erst die Wohnung zu finden, dann die Finanzierung auf die Beine zu stellen — sie schüttelte den Kopf und sah mich mit einem ulkigen Gesichtsausdruck an. Wie sich zeigt, ist es gar nicht so einfach, als alleinstehende schwarze Frau über vierzig eine Hypothek zu bekommen. Sie griff nach ihrem Weinglas. Natürlich trage ich hier zur Gentrifizierung bei. Aber irgendwo muss ich ja wohnen —

In diesem Moment begann auf der Straße eine Sirene zu gellen. Ich blickte erschrocken auf. Das Geräusch schwoll an und breitete sich im Zimmer aus, als der Wagen näher kam. Rotes und orangenes Licht kreiste in der Küche. Jana runzelte die Stirn. Draußen knallten Türen, ein Motor brummte leise. Die Polizei ist hier ständig zugange, sagte sie und trank einen Schluck Wein. Es hat ein paar Überfälle gegeben und letztes Jahr sogar eine Schießerei. Ich fühle mich aber trotzdem sicher, fügte sie schnell hinzu. Noch während sie sprach, näherte sich zwei weitere Sirenen. Jana griff nach ihrer Gabel und aß weiter. Ich sah zu, wie sie langsam kaute, während draußen der Sirenenchor lauter wurde. Es ist auch nicht anders als in dem Viertel, in dem ich in London gewohnt habe, sagte Jana. Sie hob die Stimme, damit ich sie trotz des Lärms verstand. Nur lullt es einen irgendwie ein, in Den Haag zu leben. Man vergisst leicht, wie es in einer echten Stadt zugeht.

Die Sirenen verstummten, und wir saßen in plötzlicher Stille. Eine Sirene kann ja alles Mögliche bedeuten, sagte ich schließlich. Jemand ist in der Badewanne ausgerutscht, ein Herzinfarkt in der Küche. Sie nickte, und ich begriff, dass ihre Anspannung nicht daher rührte, dass Gefahr oder Gewalt drohte, oder jedenfalls nicht nur — vielmehr hatte sich ihre Wahrnehmung der Wohnung verändert. In diesem Moment verkörperte die Wohnung nicht mehr die Sicherheit, die Jana so lange gesucht hatte, sondern etwas völlig anderes, etwas Unbeständigeres, Ungewisses.

Der Rest des Abends war von Sorge überschattet, und bald sagte ich, dass ich mich auf den Heimweg machen würde. Ich ging ins Wohnzimmer, um meine Sachen zu holen, und während ich meinen Mantel anzog, spähte ich zwischen den Vorhängen hindurch auf die Straße, die jetzt von Straßenlampen schwach beleuchtet war. Draußen regte sich nichts, bis auf das Glutpünktchen einer Zigarette — ein Mann, der seinen Hund ausführte. Während ich hinuntersah, warf er die Zigarette auf den Boden und zerrte an der Leine des Hundes, dann verschwand er um die Ecke.

Jana lehnte an der Wand, sie hielt eine Tasse Tee in der Hand und sah ungewöhnlich müde aus. Ich lächelte sie an. Ruh dich ein bisschen aus, sagte ich, und sie nickte. Sie öffnete die Wohnungstür, und als ich an ihr vorbeiging, packte sie mich plötzlich am Arm. Pass auf dich auf, wenn du zur Straßenbahn gehst, ja? Ich war überrascht von der Dringlichkeit in ihrer Stimme, dem Druck ihrer Finger auf meinen Arm. Sie ließ mich los und trat einen Schritt zurück. Man kann einfach nicht vorsichtig genug sein, sagte sie. Ich nickte und wandte mich zum Gehen, sie hatte bereits die Tür hinter mir geschlossen. Ich hörte das Klacken von einem, dann einem weiteren Schloss, dann war es still.

2.

Ich wohnte im Stadtzentrum, in einer völlig anderen Umgebung als Jana. Meine möblierte Wohnung hatte ich mir schon vor meiner Ankunft online gesucht. Den Haag war keine preiswerte Stadt, aber man konnte dort günstiger leben als in New York. Dementsprechend wohnte ich in einem Apartment, das für eine Person eigentlich zu groß war, mit zwei Schlafzimmern und getrenntem Wohn- und Esszimmer.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich an die Größe des Apartments gewöhnt hatte, was nicht zuletzt an der Einrichtung lag, deren nichtssagende Zweckmäßigkeit diesen Dimensionen irgendwie nicht entsprach. Ein ausklappbares Futonsofa im Wohnzimmer, eine kompakte Sitzgruppe im Esszimmer — das Apartment war als unpersönliche vorübergehende Unterkunft angelegt. Als ich den Mietvertrag unterschrieb, hatte ich diese Leere als Luxus empfunden. Ich weiß noch, wie ich mit hallenden Schritten durch die Wohnung ging und im Geiste ein Zimmer als Schlafzimmer, ein anderes als mögliches Arbeitszimmer vormerkte.

Mit der Zeit ließ dieses Gefühl jedoch nach, und die Größe des Apartments erschien mir nicht mehr ungewöhnlich. Genauso wenig wie seine übergangshafter Charakter, allerdings musste ich, als ich an jenem Abend von Jana zurückkam, an die Selbstverständlichkeit denken, mit der sie sich in ihrer Wohnung bewegte, und spürte, wie sich eine vage Sehnsucht in mir regte.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es draußen noch dunkel. Ich machte mir einen Kaffee, zog eine Jacke über und ging auf den Balkon — ein Vorzug der Wohnung, den ich selbst in diesen eisigen Wintermonaten zu schätzen wusste. Auf dem engen Raum hatte ich mit Müh und Not einen kleinen Tisch und einen einzelnen Klappstuhl sowie ein paar mittlerweile welke Topfpflanzen untergebracht.

Ich setzte mich. So früh am Morgen waren die Straßen noch leer. Den Haag war eine ruhige Stadt, fast krampfhaft kultiviert. Doch je länger ich hier lebte, desto mehr beschlich mich angesichts der Atmosphäre von Höflichkeit, der gut erhaltenen Gebäude und gepflegten Parks ein gewisses Unbehagen. Mir fiel wieder ein, was Jana gesagt hatte, dass es einen einlulle, in Den Haag zu leben, und man vergesse, wie es in einer richtigen Stadt zugehe. Vielleicht stimmte das, in letzter Zeit hatte ich zumindest immer häufiger das Gefühl, die brave Fassade der Stadt verberge ihren eigentlich komplexeren und widersprüchlicheren Charakter.

Erst letzte Woche war ich in der Altstadt einkaufen gewesen und hatte gesehen, wie drei uniformierte Männer mit einer großen Maschine durch die belebte Fußgängerzone gingen. Zwei der Männer hatten spitze Stäbe in der Hand, der dritte hielt einen Schlauch, der aus der Maschine hervorragte, fast hätte man meinen können, er führe einen Elefanten am Rüssel. Ich war stehengeblieben, um die Männer zu beobachten, ohne recht zu wissen, warum. Vielleicht einfach, weil ich mich fragte, was für eine zäh voranschreitende Arbeit sie da verrichteten.

Sie kamen allmählich näher, und jetzt konnte ich sehen, was sie taten: Die beiden Männer mit den Stäben pulten sorgfältig Zigarettenkippen aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen, eine nach der anderen, ein mühsames Unterfangen, was erklärte, warum sie so langsam vorankamen. Ich schaute nach unten und sah, dass der Boden von Zigarettenstummeln übersät war, obwohl allein auf diesem Abschnitt der Straße mehrere gut platzierte öffentliche Aschenbecher standen. Die beiden Männer schnellten weiter Kippen aus den Ritzen hoch, während der Mann mit dem elefantenhaften Sauger ihnen folgte und den Abfall brav in seine Maschine beförderte, der Tank enthielt vermutlich Tausende oder gar Hunderttausende Kippen, jede einzelne durch das Tun dieser Männer aus dem Straßenbild getilgt.

Die drei waren sicherlich Einwanderer, möglicherweise aus der Türkei oder aus Surinam. Dass ihre mühselige Tätigkeit erforderlich war, erklärte sich hingegen aus der historisierenden Ästhetik der Stadt, von der Nachlässigkeit der wohlhabenden Bevölkerung ganz zu schweigen, die ihre Kippen gedankenlos auf den Bürgersteig warf, selbst wenn nur wenige Schritte entfernt ein speziell dafür vorgesehenes Behältnis stand — ich sah jetzt, dass auch direkt unter den Aschenbechern Dutzende Zigarettenstummel auf dem Boden lagen. Es war nur eine Anekdote. Aber sie illustrierte, dass sich im Firnis der Kultiviertheit immer wieder Risse auftaten, ja dass er mancherorts kaum vorhanden war.

Draußen begann es jetzt hell zu werden, der Horizont färbte sich ein. Ich ging hinein und zog mich für die Arbeit an. Kurz darauf verließ ich die Wohnung, mittlerweile war ich spät dran. Ich eilte zur nahen Straßenbahnhaltestelle. Während ich dort wartete, rief Jana mich an, sie war noch zu Hause, und ich hörte, wie sie durch die Wohnung ging, ihre Schlüssel einsteckte, Bücher und Unterlagen zusammensuchte. Sie fragte, ob ich gut nach Hause gekommen sei, und ich versicherte ihr, auf dem Heimweg habe es keinerlei Zwischenfälle gegeben. Eine kurze Pause entstand, ich hörte eine Tür knallen, sie war auf dem Weg nach draußen. Sie klang zerstreut, fast als wüsste sie nicht mehr, warum sie mich angerufen hatte, doch dann erinnerte sie mich daran, dass ich am Samstag mit Adriaan zu ihr zum Essen eingeladen war, und fragte, ob es etwas gebe, was er besonders gern oder gar nicht esse.

Die Straßenbahn kam, und ich sagte, er isst alles und ich würde sie später zurückrufen. Ich beendete das Gespräch, stieg ein und fuhr ruckelnd zum Gerichtshof, wo ich jetzt seit fast einem halben Jahr arbeitete. Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen hatten in mehreren Ländern gelebt und waren von ihrem ganzen Wesen her Kosmopoliten, ihre Identität ließ sich von ihren sprachlichen Fähigkeiten nicht trennen. Bei mir war das nicht anders. Durch meine Eltern besaß ich muttersprachliche Kompetenz in Englisch und Japanisch, durch eine in Paris verbrachte Kindheit außerdem in Französisch. Darüber hinaus beherrschte ich Deutsch und Spanisch auf professionellem Niveau, wobei diese beiden Sprachen, wie auch das Japanische, hier weniger relevant waren als Englisch und Französisch, die Arbeitssprachen am Gerichtshof.

Die Sprachkompetenz bildete jedoch lediglich die Grundlage für jegliche Form des Dolmetschens, das extreme Präzision erforderte, und ich dachte oft, dass mich vor allem meine natürliche Neigung zu letzterer, mehr als meine sprachlichen Fähigkeiten, zu einer guten Dolmetscherin machte. Im juristischen Bereich war diese Genauigkeit besonders wichtig, und innerhalb meiner ersten Arbeitswoche am Gerichtshof lernte ich, dass dort ein sehr spezifisches, nur für Fachleute verständliches Vokabular verwendet wurde, mit einer für jede Sprache festgelegten offiziellen Terminologie, an die sich alle Dolmetscher im Team hielten. Die Gründe dafür lagen auf der Hand, denn zwischen einzelnen Wörtern, zwischen zwei oder mehr Sprachen konnten sich ohne Vorwarnung Abgründe auftun.

Unsere Aufgabe beim Dolmetschen bestand darin, solche Klüfte zu überbrücken. Dieser Lotsendienst — der neben Exaktheit eine gewisse muttersprachliche Spontaneität erforderte, manchmal musste man improvisieren, um einen schwierigen Satz rasch zergliedern zu können, man arbeitete immer gegen die Uhr — war bedeutsamer, als man zunächst meinen mochte. Durch inkonsistentes Dolmetschen konnten glaubwürdige Zeugen unglaubwürdig erscheinen, es konnte der Eindruck entstehen, sie änderten mit jedem neuen Dolmetscher, jeder neuen Dolmetscherin ihre Aussage. Das wiederum konnte den Ausgang eines Prozesses beeinflussen, denn es war unwahrscheinlich, dass aufseiten des Gerichts ein Wechsel in der Dolmetschkabine bemerkt wurde, selbst wenn die Stimme im Ohr plötzlich deutlich anders war, weiblich statt männlich, entschieden statt zögernd.

Bemerken würden die Richter nur, dass ihre Wahrnehmung des Zeugen sich veränderte. Ein Hauch von Unglaubwürdigkeit, und in der Aussage des Zeugen entstanden feine Risse, die sich zu Spalten weiteten, was schließlich die ganze Person, als die sich jemand vor Gericht präsentierte, in Frage stellte. Jeder, der in den Zeugenstand trat, vermittelte ein bestimmtes Bild von sich, seine oder ihre Aussage war seitens der Anklage beziehungsweise der Verteidigung gezielt vorbereitet und ausgestaltet worden, die Zeugen wurden vorgeladen, um vor Gericht eine bestimmte Rolle zu spielen. Die Verhandlungen am Gerichtshof basierten auf der allseitigen Bereitschaft, sich auf die Inszenierung einzulassen: Jeder im Gerichtssaal wusste und wusste zugleich nicht, dass allerlei Kniffe angewendet wurden — im Zusammenhang mit Belangen, bei denen es gleichwohl auf Glaubwürdigkeit ankam.

Am Gerichtshof ging es um nicht weniger als das Leid Tausender Menschen, und wenn es um Leid geht, ist Authentizität unerlässlich. Und doch war der Gerichtshof seinem Wesen nach ein Ort größter Theatralik. Das zeigte sich nicht nur in den sorgfältig gestalteten Aussagen der Opfer. Als ich das erste Mal bei einer Verhandlung dabei war, hatten zu meinem Befremden sowohl Anklage als auch Verteidigung in ihren Plädoyers die nötige Mäßigung vermissen lassen. Die Angeklagten selbst hatten oft etwas Pompöses an sich, gaben sich herrisch und zugleich voller Selbstmitleid, es waren Politiker und Generäle, Menschen, die es gewohnt waren, auf großer Bühne aufzutreten und die eigene Stimme zu hören. Beim Dolmetschen konnte man dieser Theatralik nicht ganz aus dem Weg gehen, unsere Aufgabe war es nicht nur, die Wörter zu übersetzen, die jemand sagte, sondern auch, die Haltung zu vermitteln, die Nuancen, die Intention hinter dem Gesagten.

Wenn man zum ersten Mal jemandem beim Dolmetschen zuhört, erscheint einem die Stimme vielleicht kalt, präzise und monoton, aber je länger man zuhört, desto mehr Modulation entdeckt man. Wenn ein Witz gemacht wird, ist es Aufgabe der Dolmetscherin, den Humor zu kommunizieren oder zu reproduzieren, wenn etwas mit ironischem Unterton gesagt wird, ist es wichtig, zu vermitteln, dass es nicht wörtlich zu nehmen ist. Sprachliche Genauigkeit allein reicht nicht. Das Dolmetschen ist eine sehr subtile Angelegenheit, nicht umsonst ist der englische Begriff dafür interpretation — so wie Schauspieler eine Rolle interpretieren oder Musiker ein Musikstück.

Dem Gerichtshof und all seinen Aktivitäten wohnte eine gewisse Spannung inne, die aus dem Widerspruch zwischen der Intimität persönlichen Leids und dessen öffentlicher Zurschaustellung entstand. Ein Gerichtsverfahren war eine wohlkalkulierte komplexe Darbietung, an der wir alle beteiligt waren und aus der sich niemand vollkommen heraushalten konnte. Aufgabe der Dolmetschenden war es nicht nur, etwas mitzuteilen oder darzubieten, sondern auch, das Unaussprechliche zu wiederholen. Vielleicht war dies der eigentliche Grund für die Beklemmung, die am Gerichtshof und unter den Dolmetschern zu spüren war. Die Tatsache, dass unsere tägliche Arbeit auf der wiederholten Beschreibung — Beschreibung, Ausführung und detaillierten Schilderung — von Sachverhalten gründete, die außerhalb des Gerichtshofs im Allgemeinen beschönigt oder schlicht nicht benannt wurden.

*

Die Straßenbahn war voll, und unterwegs stieg noch eine große Gruppe älterer Schulkinder zu. Sie waren laut, was mir aber — im Gegensatz zu einigen anderen Fahrgästen, die ihnen missbilligende Blicke zuwarfen — nichts ausmachte, im Gegenteil, ich nutzte die Gelegenheit, um der Unterhaltung zuzuhören, auch wenn ich sie nur bruchstückhaft verstand.

Als ich nach Den Haag gezogen war, hatte ich kein Niederländisch gesprochen, war mit der Sprache allenfalls oberflächlich vertraut gewesen, doch da es dem Deutschen recht nahe ist, hatte ich mir im vergangenen halben Jahr zumindest Grundkenntnisse aneignen können. Nun sprechen die meisten Leute in den Niederlanden fließend Englisch, und am Gerichtshof bot sich so gut wie keine Gelegenheit, Niederländisch zu sprechen, deshalb lernte ich hauptsächlich durchs Zuhören — auf der Straße, in Restaurants oder Cafés, in der Straßenbahn, so wie jetzt gerade. Ein Ort, dessen Sprache man nur teilweise versteht, hat etwas Eigenartiges, und in meinen ersten Monaten empfand ich das besonders intensiv. Anfangs bewegte ich mich in einem Nebel der Unwissenheit durch die Stadt, war die Sprache ringsum undurchdringlich, doch bald begann ich hie und da einzelne Wörter, dann Wendungen zu verstehen, inzwischen sogar Teile von Unterhaltungen. Gelegentlich schnappte ich auf diese Weise Intimeres auf, als mir lieb war, die Stadt war nicht mehr der unschuldige Ort, der er bei meiner Ankunft gewesen war.

Doch hier in der Straßenbahn mitzuhören hatte nichts Indiskretes, denn die Jugendlichen redeten laut, ja sie schrien fast, sie wollten gehört werden. Während ich ihnen zuhörte, wurde mir wieder bewusst, wie viel Spaß es macht, eine neue Sprache zu lernen, sich ihr System zu erschließen, ihre Flexibilität und Geschmeidigkeit zu erproben. Es war schon eine Weile her, dass ich das zum letzten Mal erlebt hatte, denn meine anderen Sprachen hatte ich als Kleinkind oder dann in der Schule gelernt. Die Jugendlichen in der Straßenbahn sprachen ein von Slang durchsetztes Niederländisch, was es schwierig für mich machte, ihnen zu folgen, hauptsächlich schien es um die Schule zu gehen, um irgendeinen Lehrer oder Freund, über den sie sich ärgerten.

Zwei oder drei Haltestellen weiter meinte ich, ich hätte eines der Mädchen verkrachting sagen hören, das niederländische Wort für Vergewaltigung. Erschrocken blickte ich auf, meine Gedanken waren abgeschweift, und ich hatte der Unterhaltung nicht mehr so aufmerksam zugehört wie am Anfang. Das Mädchen, das gerade redete, war vielleicht zwölf oder dreizehn, ihre Augen waren dick mit Kajal umrandet und sie hatte ein Nasenpiercing. Sie redete weiter, ich hörte sie bel de politie sagen, meinte es zumindest zu hören. Aber dann fing ihre Gesprächspartnerin an zu kichern, im nächsten Moment lachte auch das Mädchen mit dem Nasenpiercing los, und ich war mir nicht mehr sicher, was ich da wirklich gehört hatte, schließlich war ja nun weder eine Vergewaltigung noch die Polizei rufen zu müssen ein Grund zum Lachen. Das Mädchen mit dem Nasenpiercing muss meinen Blick gespürt haben, denn sie drehte sich jäh um und starrte mich an, und obwohl sie immer noch lachte, war ihr Blick hart und leer, vollkommen freudlos.

Meine Haltestelle nahte. Die Mädchen unterhielten sich jetzt über eine neue Sneaker-Marke, und obwohl ich noch ein paarmal zu der Gepiercten hinübergeschaut hatte, ignorierte sie mich. Durch diese Begegnung irritiert, stieg ich aus. Die Straßenbahn entfernte sich, und ich hatte das Gerichtsgebäude nun direkt vor mir: ein großer verglaster Gebäudekomplex, der in die Dünen am Stadtrand geschmiegt war. Man konnte leicht vergessen, dass Den Haag an der Nordsee liegt, die Stadt schien in so vieler Hinsicht einwärts gewandt, schien dem offenen Meer gleichsam den Rücken zuzukehren.

Bevor ich hierhergekommen war, in der Zeit, als meine Bewerbung noch lief, war der Gerichtshof in meiner Vorstellung eine geradezu mittelalterliche Institution gewesen, etwa so wie der Binnenhof, der Parlamentskomplex im Stadtzentrum ein paar Kilometer von hier. Noch mehrere Wochen nach meinem Arbeitsantritt war ich jedes Mal aufs Neue verblüfft gewesen, wenn ich das Gebäude vor mir sah. Ich wusste natürlich, dass es den Gerichtshof noch nicht lange gab, dass er erst zehn Jahre zuvor gegründet worden war, aber die moderne Architektur erschien mir dennoch unpassend, fast schien sie ihm die Autorität zu nehmen, die ich erwartet hatte.

Ein halbes Jahr später allerdings war das Gerichtsgebäude einfach nur noch der Ort, an dem ich arbeitete, mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Als ich durch die Sicherheitsschleuse ging, grüßte ich die Wachleute — ein, zwei Fragen nach der Familie, ein Kommentar zum Wetter, bei diesen Gelegenheiten konnte ich Niederländisch üben. Ich nahm meine Tasche in Empfang und ging über den Hof in das Gebäude. Dort sah ich Robert, ebenfalls Dolmetscher am Gerichtshof, der wartete, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte. Ein großer, umgänglicher Engländer, charmant und kontaktfreudig. Mit meiner vergleichsweise zurückhaltenden Art war ich als Dolmetscherin eher untypisch. Wenn das Dolmetschen eine Art Darbietung ist, so sind die Menschen, die es betreiben, meist selbstbewusst und redselig. Robert war da ein gutes Beispiel, er spielte am Wochenende Rugby und wirkte in einem Amateurtheater mit. Wir wurden nie zusammen eingeteilt, aber ich fragte mich manchmal, wie er als Partner in der Kabine wohl war, es musste schwierig sein, sich durch seine Anwesenheit nicht eingeschüchtert zu fühlen, nicht zu versuchen, sich der Sprachmelodie und Modulation seiner Stimme anzupassen, die außergewöhnlich angenehm klang, Ergebnis seiner gesellschaftlichen Herkunft und einer in englischen Internaten verbrachten Kindheit.

Auf dem Weg hinauf in unser Büro teilte Robert mir mit, dass an diesem Tag keine der Kammern tagen werde, eine Erleichterung, wenn er ehrlich sei, er nehme mal an, ich sei mit dem Papierkram genauso im Verzug wie er. Wir begrüßten unsere Kolleginnen und Kollegen, während wir auf unseren jeweiligen Schreibtisch zusteuerten, die Dolmetscher arbeiteten alle in einem Großraumbüro, nur die Leiterin, Bettina, hatte ihr eigenes Arbeitszimmer. In unserer Abteilung herrschte eine äußerst kollegiale Atmosphäre, nicht zuletzt deshalb, weil die meisten aus dem Team gezielt in die Niederlande gekommen waren, um am Gerichtshof zu arbeiten, und die erforderliche Erfahrung zuvor anderswo gesammelt hatten. Manche wussten nicht, wie lange sie am Gerichtshof oder in den Niederlanden bleiben würden, so wie ich, andere wiederum hatten sich mehr oder weniger hier niedergelassen, Amina zum Beispiel hatte kürzlich einen Holländer geheiratet und war schwanger.

Jetzt saß sie an ihrem Schreibtisch und sah mit unaufgeregter Miene die vor ihr liegenden Dokumente durch. Während die meisten Dolmetscher gelegentlich nervös oder auch mal ärgerlich wurden und baten, ein Zeuge möge langsamer sprechen, blieb Amina stets gefasst, sie konnte unter jeglichen Umständen mit einer Unbeirrbarkeit und Geschwindigkeit dolmetschen, die absolut bemerkenswert waren. Mit fortschreitender Schwangerschaft war sie, wenn überhaupt, noch gelassener geworden, sie war ein Fels in der Brandung. Während wir anderen mit kleinen Schwächen in Ausdruck und Vortrag zu kämpfen hatten, schien Amina als einzige nie irgendwelche Schwierigkeiten zu haben.

Aber solches Lob war ihr unangenehm, Amina beteuerte oft, dass sie keineswegs unfehlbar sei. Während ich mich an meinen Schreibtisch setzte, fiel mir eine Anekdote ein, die sie mir in meinen ersten Tagen am Gerichtshof mal erzählt hatte. Ich dachte oft an diese Geschichte. Man hatte ihr die Aufgabe zugewiesen, für den Angeklagten zu dolmetschen, und zwar auf Swahili, und sie war vorübergehend die einzige Dolmetscherin im Team, die über ausreichende Sprachkenntnisse für diese Aufgabe verfügte. Ihre Kabinenpartnerin beherrschte die Sprache nicht sehr gut, und unter vier Augen gab sie zu, dass während der langwierigen Sitzungen ihre Gedanken abgeschweift seien, sie habe dem auf Englisch und Französisch Vorgebrachten zugehört, aber nicht so genau verfolgt, wie Amina es dolmetschte.

Während ihre Partnerin diese Tage wahrscheinlich als nicht sehr strapaziös erlebte, stand Amina unter erheblichem Druck, sie bewältigte wahre Marathon-Einsätze, die viel länger als üblich dauerten. Sie saß in der Kabine im Zwischengeschoss, der Angeklagte direkt unter ihr im Gerichtssaal. Er war noch ein junger Mann, ehemals Anführer einer Miliz, trug einen teuren Anzug und fläzte sich auf einem ergonomischen Bürostuhl. Er war wegen abscheulicher Verbrechen angeklagt, doch während er dasaß, sah er einfach nur mürrisch und vielleicht ein bisschen gelangweilt aus. Nun tragen Angeklagte oft teure Anzüge und sitzen auf Bürostühlen, doch die Angeklagten am Gerichtshof waren — und hier lag der wesentliche Unterschied — nicht einfach nur Kriminelle, die sich dem Anlass entsprechend gekleidet hatten, sondern Männer, die über lange Zeit die von einem Anzug oder einer Uniform vermittelte Autorität ausgeübt hatten, ihnen war die damit einhergehende Macht selbstverständlich.

Und sie besaßen eine ganz eigene Ausstrahlung, die Teil ihrer Persönlichkeit war und durch die Umstände noch verstärkt wurde. Dem Gerichtshof war es im Allgemeinen nicht möglich, Angeklagte ohne die Mitwirkung ausländischer Regierungen oder Gremien in Gewahrsam zu nehmen, seine Festnahmebefugnisse waren ziemlich begrenzt. Es gab etliche unvollstreckte Haftbefehle, und viele Angeklagte wurden in anderen Ländern festgehalten, es war also nicht so, als befänden sich Unmengen von Kriegsverbrechern bei uns. Die Angeklagten, die nach Den Haag gebracht wurden, umgab daher eine regelrechte Aura, wir hatten sehr viel über diese Männer gehört (und es waren fast durchweg Männer), hatten Fotos und Videoaufnahmen gesehen, und wenn sie schließlich vor Gericht erschienen, waren sie die Stars der Veranstaltung, anders konnte man es nicht sagen, die Situation bot ihrem Charisma eine Bühne.

Was diesen speziellen Mann anging, so war er nicht nur jung und unbestreitbar gutaussehend — viele der Männer, denen hier der Prozess gemacht wurde, waren schon älter, hatten die Blüte ihrer Jahre längst hinter sich, sie schlugen einen durchaus in Bann, waren aber von ihrer Physis her nicht beeindruckend —, sondern er strahlte auch eine frappierende Autorität aus, die der Unterstützung durch das Setting des Gerichtssaals gar nicht bedurft hätte, es war leicht zu erkennen, wie und warum so viele Menschen seinen Befehlen gehorcht hatten. Aber das sei gar nicht das Entscheidende gewesen, sagte Amina, irritiert habe sie vielmehr die Intimität dieser Situation: Sie dolmetschte für nur diesen einen Mann, und wenn sie ins Mikrofon sprach, sprach sie zu ihm. Natürlich hatte sie, als sie die Stelle in Den Haag annahm, gewusst, dass die Inhalte am Gerichtshof düsterer sein würden als bei den Vereinten Nationen, wo sie vorher gearbeitet hatte. Schließlich befasste sich der Gerichtshof ausschließlich mit Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Aber mit dieser Art von Nähe hatte sie nicht gerechnet: Obwohl sie dem Angeklagten nicht direkt gegenüber-, sondern sicher aufgehoben hinter der Glasscheibe der Dolmetschkabine saß, war ihr permanent bewusst, dass sie und der Angeklagte die einzigen beiden Menschen im Gerichtssaal waren, die die Sprache, in die sie dolmetschte, verstanden — seine Verteidiger waren englische Anwälte, die weder Französisch noch die Muttersprache ihres Klienten sprachen.