Inverno - Cynthia Zarin - E-Book

Inverno E-Book

Cynthia Zarin

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Beschreibung

Inverno ist die Geschichte einer Liebe, die sich über Jahrzehnte erstreckt. Inverno ist auch die Geschichte von Caroline, die in einem Schneesturm im Central Park steht und darauf wartet, dass ihr Handy klingelt; sie steht nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der sich Alastair dreißig Jahre zuvor als Junge in den Bäumen versteckte. Wird Alastair sie nun also anrufen? Und wie sie da steht und wartet, rauschen die Jahre an ihr vorbei – mal gerät Caroline in eine gefahrvolle Märchenwelt, mal strandet sie in einer Kindheit aus Kummer und harschen Worten, mal wandelt sie durch ihre frühen Erwachsenenjahren, voller Aufbruch und Sehnsucht nach Alastair. Flüchtig, das alles, und kaum zu greifen: Von Dauer scheinen einzig die vertrackten Verhandlungen der Herzen.

Wie erschafft und zerstört die Liebe ein Leben? Cynthia Zarin hat einen einfallsreichen, wundersam berührenden und erschreckend wahren Roman geschrieben, über die lange und viel zu kurze Geschichte von Caroline und Alastair – darüber, wie Vergangenheit und Gegenwart sich schillernd ineinander auflösen.

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Seitenzahl: 214

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Cover

Titel

Cynthia Zarin

Inverno

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Esther Kinsky

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelInverno bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 1555.

Erste Auflage 2024Deutsche Erstauflage© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2024, Cynthia ZarinAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-77843-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Jane

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Danksagung für Genehmigungen

Danksagungen

Informationen zum Buch

Inverno

Caminar Sopra 'l giaccio, e à passo lento

Per timor di cader gersene intenti

Gir forte Sdruzziolar, cader à terra

Di nuove ir Sopra 'l giaccio e correr forte

Sin ch'il giaccio si rompe, e si disserra;

Sentir uscir delle ferrate porte

Sirocco Borea e tutti i Venti in Guerra

Quest é 'l verno, mà tal, che gioja apporte.

  Antonio Vivaldi, »Inverno«, Le Quattro Stagioni

Auf Eis gehn, Schritt für Schritt

langsam, vor Angst zu fallen,

wir drehn uns, rutschen, stürzen,

stehn auf und laufen weiter übers Eis

bis es birst und bricht,

wir hören durch das eiserne Tor

die Winde tosen von Nord

und Süd im Widerstreit

mit all den andern Winden,

Winter! mit den Freuden, die er bringt.

Sie wurde zu früh wach. Sie war spät eingeschlafen und nachts aufgewacht. Lichtstreifen fielen auf die ausgefranste Stelle des chinesischen Teppichs. Die Quaste am Rand des grauen Vorhangs fing das Gleißen auf wie eine Rose das Licht von Autoscheinwerfern. Sie war später heimgekommen als geplant und hatte die Tasche mitten im Zimmer auf dem Fußboden stehen lassen. Irgendwann gegen Morgen ein Alptraum. Sie wollte das Licht im Flur ausschalten, doch in ihrem Traum war der Lichtschalter erleuchtet, er war blau. Sie durfte ihn nicht berühren. Im Halbschlaf war ihr nicht klar, ob es die Tür vom Schlafzimmer zum Flur in ihrem jetzigen Haus war, dem Haus, in dem sie seit Jahren wohnte, die Tür von dem grünen Zimmer, wo man vom Bett aus auf das Bild von einem Vogel in einem Blumenstrauß blickte, das über dem Kaminsims hing, oder ob es die Tür ihres Kinderzimmers war, die zu dem Raum führte, den ihre Brüder sich teilten? Oben schliefen die Kinder, träumten. Waren die träumenden Kinder ihre Brüder, mit offenen Mündern schlafend, der eine blond, der andere schwarzhaarig wie im Märchen? Oder waren es ihre eigenen Kinder, sogar im Schlaf x-beinig, stets bereit, im Handumdrehen hellwach zu sein, bereit für das Spiel, das nur dann galt, wenn ein Alptraum sie aufgeschreckt hatte: Was hast du geträumt? Gib mir den Traum. Sie streckte die geöffnete Hand aus. »Da!«, sagte sie. »Jetzt hab ichs!« Sie klopfte mit der Hand auf die Tasche. George hatte es gern, wenn sie ihm über die Lider strich, mit dem Zeigefinger bis zum Ansatz des Wangenknochens, eine winzige Muschelschale. Nein, sie war im grünen Zimmer.

*

Caroline steht an den Sportplätzen im Norden des Central Park im Schnee. Es ist Februar. Bauarbeiten sind im Gange – oder waren es zumindest –, die großen gelben Baufahrzeuge stehen still, trotzdem muss sie einen Bogen um sie machen. Sie geht in südöstliche Richtung, auf die Seventy-Ninth Street zu, durch den Park. Es ist eisig. Der Himmel zinngrau. Die Eisengeländer sind so kalt, wenn sie eine Hand aus dem Handschuh ziehen und das Eisen berühren würde, würden ihre Finger bestimmt daran festfrieren. Doch sie ist es, die festsitzt. Sie trägt einen Mantel aus Schafsfell und eine Mütze aus Fuchspelz. Die hat sie von ihrer Tante. Als Caroline mit der Mütze auf dem Kopf bei ihr vor der Tür stand, sagte ihre Tante: »Siehst du, ich wollte die Mütze schon dem Blindenverein spenden, aber dann hab ich mir gedacht: Caroline wird sie noch tragen.« Sie trägt sie im Schnee, während sie Richtung Osten geht und auf Alastairs Rückruf wartet. Ihr Mobiltelefon hat sie auf Vibrieren gestellt und in den Handschuh gesteckt.

Vor dreißig Jahren, als Carolines Telefonate mit Alastair begannen, gab es zwei Möglichkeiten: In ihrer winzigen Wohnung hatte sie ein Telefon mit Wählscheibe, dessen Hörer wie eine schwarz angelaufene Krabbe in der Gabel hockte. Wenn man einen Anruf machen wollte oder annahm, hob man den Hörer ab und klemmte ihn unters Kinn, die eine Muschel ans Ohr gedrückt, die andere vor dem Mund. Kann ich erklären, wie intim dieses Verhältnis zum Telefon war? Die beiden gerundeten Muscheln zum Hören und Sprechen waren gleich geformt, beide mit kleinen Löchern versehen, durch die der Ton eindrang und austrat. Der Hörer war mit einem schwarzen Spiralkabel an den Apparat angeschlossen. Ein solches Kabel konnte unterschiedlich lang sein. Wenn das Telefon ein langes Kabel hatte, konnte man mit dem Telefon in der Hand umhergehen, wenn es kurz war, saß man beim Telefonieren neben dem Apparat. In jedem Fall war man angebunden. Das Telefon war an eine eigene Steckdose in der Wand angeschlossen, die sogenannte Fernsprechbuchse. Der Stecker war ein kleiner Quader aus durchsichtigem Kunststoff. Die runde Wählscheibe des Telefonapparats sah aus wie das Zifferblatt einer Uhr. Ziffern standen im Kreis um die Wählscheibe. Zu jeder Ziffer gehörte ein kreisrundes Loch, in das man die Fingerkuppe steckte, um die Nummern zu wählen. Beim Telefonieren hakte Caroline manchmal die Fingerspitzen in diese Löcher.

Auf Englisch heißt die Wählscheibe dial, ein Wort, das von dem lateinischen dies abstammt: Tag. Dialis heißt täglich. Im mittelalterlichen Latein gibt es den rotus dialis, das Rad des Tages, ein Ausdruck, der mit der Zeit jede runde Scheibe auf einer flachen Unterlage bezeichnete. Die Wärme des alten Telefonhörers, seine Wölbung, die man am Mund spürte – das lässt sich heute kaum noch vermitteln. Wenn jemand leise in den Hörer sprach, streiften die Lippen die kleinen Löcher. Und dann dieser Telefongeruch nach Plastik mit einem Kranz aus überhitzter Luft, der den Hörer umstand. Wenn man das Kabel durchschnitt oder es aus irgendeinem Grund aus der Wand gerissen war, sah man die bunten Drähte darin: blau, gelb, rot, grün. Das Reden war eine komplizierte Angelegenheit. Caroline hatte eine Vorliebe für schwarze Telefonapparate. Wenn das Telefon damals klingelte, war es meistens Alastair, aber sie musste zu Hause sein, um abheben zu können.

Die zweite Möglichkeit war die Benutzung eines öffentlichen Telefons. An vielen Straßenecken standen Telefonzellen. Immer an einer Straßenkreuzung. Auch in Läden und Restaurants gab es öffentliche Telefone. Man fragte einfach die Person, die gerade hinter der Theke oder an der Kasse war: Kann ich mal telefonieren? Oder wenn man für die Telefonzelle an der Straßenecke Kleingeld brauchte, fragte man, ob man einen Dollar in Vierteldollar gewechselt haben könnte, fürs Telefon. Die Telefonzellen an der Straße waren aus Metall und dickem Glas. In New York wurden es später immer weniger in den Gegenden, wo Drogendealer sie für Übergaben benutzten. Deshalb musste man manchmal etliche Blocks weit durch Regen oder Schnee gehen, bis man eine Telefonzelle fand.

Es war warm in der Telefonzelle und meistens trocken. Leute vergaßen oft etwas in Telefonzellen: Schirme, Pakete, Geldbörsen. Beim Telefonieren waren sie abgelenkt, entweder durch das, was sie sagten, oder durch das, was zu ihnen gesagt wurde. Die zweiflügelige Klapptür ließ sich schließen, so war man für sich. Wenn man zu lange in der Telefonzelle blieb, beschlugen die Scheiben, und wenn man hineinging, nachdem jemand lange geredet hatte, war es drinnen ganz dunstig von fremdem Atem. Ein Anruf kostete zehn Cent, dann fünfzehn, dann fünfundzwanzig. Die öffentlichen Telefonapparate waren rechteckig und hatten oben drei Schlitze für Münzen, der Schlitz für das Zehncentstück war rechts. Ein Kabel verband den Hörer mit dem Apparat. In der Telefonzelle war der Bewegungsraum sehr eingeschränkt, man konnte beim Gespräch nicht umhergehen und trat nur vom einen Fuß auf den anderen. In jedem Fall, egal von wo man anrief, es gab immer einen festgelegten Umkreis, einen Radius, innerhalb dessen man einen Anruf machen konnte, man konnte nie eine bestimmte Entfernung überschreiten, die von der Stelle aus gemessen wurde, wo das Telefon mit der Erde verbunden war, mit den Nervenknoten aus Drähten, die aus dem Telefon hinausführten. Zeit war Geld. Ein langer Anruf kostete mehr als ein kurzer. Wenn Caroline aus einer Telefonzelle anrief und das Gespräch mehr als drei Minuten dauerte, schaltete sich die Vermittlung ein und sagte: Fünf Cent bitte. Sie hortete Münzen, erst Fünf- dann Zehncentstücke, später Vierteldollars in ihrer Jackentasche, die ein Loch hatte. Münzen rutschten hindurch und lagen schwer im Futter, als hätte sie vor, sich im Fluss zu ertränken.

Als Caroline Teenager war, kam es nicht selten vor, dass die Vermittlung ihr Telefongespräch mit den Worten unterbrach: »Dein Vater braucht jetzt die Leitung.« In dem Haus, wo sie im Sommer die Strandferien verbrachten, gab es eine Gemeinschaftsleitung: Fünf Familien in der Straße teilten sich eine Telefonnummer. Wenn man den Hörer aufhob und Stimmen hörte, galt die Regel: auflegen. Aber alle wussten immer über alles Bescheid. Heutzutage hat man Methoden, dasselbe zu erreichen – dieses Gefühl, dass andere über alles Bescheid wissen. Die ganze Welt ist eine Gemeinschaftsleitung. Damals meldete man ein R-Gespräch an, wenn einem das Geld zum Telefonieren fehlte, weil man entweder das Geld nicht hatte oder keine Münzen auftreiben konnte. Man konnte die Vermittlung ohne Münze anrufen und wurde durchgestellt. Bei einem R-Gespräch hob jemand am anderen Ende ab, und die Vermittlung sagte: »Caroline ist am Telefon, übernehmen Sie die Gebühren?« Was, wenn er Nein sagte? Diese Peinlichkeit. Nachrichten konnte man nicht hinterlassen; erst 1986 hatte Caroline den ersten Anrufbeantworter, der ans Telefon angeschlossen wurde und ein kleines rotes Warnlicht hatte, das blinkte. Auch damals schon wollte man nicht unbedingt jede Nachricht hören. An jeder Straße im Land zogen sich meilenweit die Telefonleitungen entlang, Holzmasten mit Kabeln, die sich darüberschlangen, ein Kettenstich über die Landkarte, Vögel saßen schwer auf den Drähten, Stürme fällten die Masten. Männer hatten die Aufgabe, die Leitungen zu reparieren, wenn es Schäden gab, sie hockten hoch oben auf dem Ausguck. Stiegen den Mast hinauf. Jetzt sind sie weg, die Linien, die die Leitungen in die Luft zeichneten, das Notenpapier, das sich durch die Wälder zog, auf dem Stimmen sangen, stritten, Pläne machten, Dinge anfingen und aufhörten. Ein Anruf von weit weg war ein »Ferngespräch«. Da Telefone fest an einen Ort gebunden waren, wussten die Anrufer immer, wo man sich befand, wenn man abhob, und wenn man nicht ans Telefon ging, wussten sie, dass man nicht zu Hause war, was manchmal hieß, dass man nicht dort war, wo man behauptete zu sein. In Manhattan verrieten die Telefonnummern, wo man war: CHelsea 3, MUrray Hill 7. Carolines Amt war TRafalgar 7. Man konnte nicht behaupten, an einem Ort zu sein, wenn man woanders war. Die Standortauskunft konnte man nicht abschalten. Vögel hockten auf den Drähten, schwarze Noten, arpeggi. Caroline stand im Park bei den Sportplätzen und hatte ihr Mobiltelefon im Handschuh, damit sie in der Handfläche fühlte, wenn er anrief.

Auf denselben hundert Quadratmetern, wo Caroline auf einen Anruf wartet – zu einem vereinbarten Zeitpunkt, als Caroline eigentlich eine Verabredung auf der East Side hat, doch hat sie alle Termine dieses Morgens vergessen und steht stattdessen durchgefroren im Park, weil sie nicht im Stadtbus mit seinen beschlagenen Scheiben oder im Taxi sitzen wollte, wenn und falls das Telefon klingelte –, hier also, auf diesen hundert Quadratmetern kauert Alastair vor vierzig Jahren im Dunkeln und schreibt mit einem Stock seinen Namen in den gefrorenen Matsch neben den Sportplätzen. Er ist fünfzehn. Er trägt einen Daunenanorak, der ihm zu klein ist und der schon an seinen Bruder vererbt ist, aber er will die Jacke nicht abgeben, weil er ihren Geruch so mag. Die Daunen dringen schon heraus, bohren ihre kleinen Kiele durch das Nylon. Unter der Jacke trägt er sein Schulhemd. Das Oberhemd ist weiß und etwas angeschmuddelt. Die Hemdzipfel hängen über die Hose. Seine Turnschuhe sind nass vom Schnee. In der Schule hatten sie in der Französischstunde einen Film gesehen, L'Enfant Sauvage. Er ist zu dünn angezogen für das Wetter, aber er denkt an das nackte wilde Kind, Victor, in Aveyron. Hatte Victor nie Kleider gehabt? Wie war das möglich? Er malt sich aus, dass er nackt im Wald ist, seine Haut wirft Falten vor Kälte. Er hat nachgelesen, wie das Wetter in Frankreich auf dem Land ist. Nachts im Wald kann es unter null sein. Alastair stellt sich vor, wie der Junge eine Kuhle in die Erde gräbt und sich mit Laub zudeckt. Im Naturgeschichtlichen Museum, wohin er früher zwei- oder dreimal in der Woche nachmittags nach der Schule mit dem Kindermädchen ging, gibt es einen Raum, in dem Feld- und Spitzmäuse in ihren Bauten unter dem Schnee dargestellt sind. Unter der Erde verlaufen kleine Tunnel, die manchmal in große, verschachtelte Kammern voll mit Schätzen und Speisen münden: alte Nüsse, verschrumpelte Beeren. In einem Raum sieht die Maus (oder er? War es ein Mausjunge oder ein Mausmädchen?) erschrocken aus, als wäre sie gerade vor etwas Bedrohlichem auf der Erdkruste draußen geflohen. So nämlich sieht es im Querschnitt hinter dem Glas aus: die Erde als Kruste. Sie bröckelt ein wenig wie ein altes Stück Toast, die feste Erde, überzogen mit dünnem Schnee, die sich über den Bau wölbt. Alastair nannte die Maus Mike. »Psst«, sagte er zu Mike und tippte durch das Panzerglas an seine Nase. »He, Mike, wie geht's?«, sagte sein Bruder Otto, schnitt gruselige Grimassen und starrte die Maus drohend an. Doch der ausgestopfte Mike rührte sich nicht. Er ließ sich nicht ärgern. Sie wussten damals noch nicht, dass Alastair Otto retten würde, zumindest eine Zeitlang. Alastair war nicht zu retten. In der Kälte im Park um acht Uhr abends, während seine Mutter meint, er sei an diesem Mittwoch bei seinem Freund Jason in Central Park West, um an einem Schulprojekt über Batterien oder Pflanzensäfte zu arbeiten, lässt Alastair die Sportplätze hinter sich – er ist jetzt etwa hundert Meter von der Stelle entfernt, wo Caroline steht – und nähert sich einem Robinienhain, der später zusammenschrumpfen sollte. Die Bäume fielen 1996 einem Sturm zum Opfer und wurden nach einiger Zeit beseitigt. Robinien wurzeln flach. Unter der obersten Schicht Erde sind die Wurzeln im Weg, die Wurzeln sind überall. Alastair hat kein Werkzeug, nur sein Taschenmesser. Er denkt an Mike und an den wilden Jungen und an die Art von Kuhle, die er für sich selbst anlegen will, wie ein Kanu in der Erde. Er möchte seine Kleider ausziehen und sich mit Blättern zudecken. Am Morgen wird er aufwachen, und alles wird anders sein. Der Park wird dann nicht mehr der Park sein, sondern eine Stelle im Wald. Er wird auf einer Insel sein, die noch niemand entdeckt hat, voll mit dichtbelaubten Bäumen und Bächen, und er wird an den Bach gehen und aus der hohlen Hand trinken. Kleine Fische schwimmen dann zwischen seinen Fingern hindurch. Im Sommer ging sein Großvater mit ihm im Wald spazieren. Wenn er sich verirrte, musste er auf Wassergeräusche horchen. Wenn man auf hoher See trieb und einen Vogel sah, hieß das, dass man nicht weit von einer Küste war. Im Winter aber, dachte Alastair, ist das Wasser gefroren, und man hört kein Geräusch. Als er vorhin am Bootsteich vorbeigekommen war, hatte dieser einen Deckel aus Eis. Sein Taschenmesser bringt nichts zuwege, und die Klinge wird schartig an einer Robinienwurzel oder einem Stein. Er stellt sich die Kuhle vor, sieht sie vor sich, er knöpft sein Hemd auf, seine Hände legen sich auf seine Haut.

Caroline steht im Schnee. Ihr ist so kalt, dass ihr der Ausdruck »erfrieren« in den Sinn kommt. Sie fragt sich, ob sie auch an der richtigen Stelle steht. Sie weiß von der Kuhle und von der Maus Mike. Sie denkt an all das, was sie über Telefone weiß. Wenn sie eine Nummer wählt, schießt diese dann hinauf zu einem Satelliten und dann wieder zurück? Gewöhnliche Telefongespräche waren ihr immer schon ein Geheimnis. Mit »gewöhnlich« meint sie immer noch die Gespräche an einem Telefon, das mit einer schwarzen Kabelschlange fest an der Wand befestigt ist. Sie stellt sich gern die Gespräche vor, die über die Rezeptoren hin und her schießen. In dem Film Sunday Bloody Sunday hinterlassen Liebende in einer Dreiecksbeziehung an diesen Drähten entlang Nachrichten füreinander. Farben durchstrahlen die Gespräche, Rot, Gelb und Grün. Caroline meinte lange, sie selbst sei die alleinstehende Frau in dem Film, die den kalten Kaffee vom Vortag in ihre Tasse gießt, ihre Zigarette auf dem Teppich austritt und von dem Mann, den sie liebt, zurückgewiesen und betrogen wird. Er ist ein Wuschelkopf – es ist 1971 –, der lichterfüllte Skulpturen aus Glas herstellt und auch einen älteren Mann liebt, der eine Arztpraxis in der Harley Street hat. Doch sie irrt sich. Im Film betrügt der Wuschelkopf seine beiden Liebsten, sie aber ist nie betrogen worden, in ihrem Leben ist ihr nichts vorenthalten worden: Sie will bloß etwas, das nicht da ist, man hat ihr gesagt, dass es nicht da ist, doch sie meint, wenn sie es immer weiter will, wird ihr Wollen wie Wassertropfen auf Stein sein, Dinge können sich ändern. Eine Art magisches Denken, das aus Nichts Etwas macht. Caroline weiß es und weiß es auch nicht. Aber sie versteckt sich hinter der Maske der Frau, die ihre Zigarette austritt, weil sie auch der Mann ist, der die Skulpturen aus Glas macht, die sich im Abenddämmer mit blauem Licht füllen, jemand, die zwei oder drei Personen gleichzeitig liebt. (Zumindest war sie so jemand. Jetzt ist sie es nicht mehr.) Was ihr daran gefällt, ist das Theatralische, das Einsickern des Lichts in die Glasröhren. Alastair weiß das, er weiß auch, dass er ihr Herz stillstehen lassen kann, wie gerade jetzt etwa, denn er hat nicht angerufen, und sie erfriert, einhundert Schritte von der Stelle, an der einst ein Robinienhain stand, wo er in einer anderen Zeitraute versucht, mit seinem Federmesser, dem Geschenk von seinem Onkel Link zum zehnten Geburtstag, in eine Wurzel zu schneiden. Schnee fällt um sie beide herum. Glocken klirren. Es gibt nichts Schöneres, sagte Frank O'Hara in einem Gedicht, dessen Titel ihr jetzt nicht einfällt, einem Gedicht mit Zeilen lang wie Telefondrähte, nichts Schöneres als eine Ampel an der Park Avenue im Schneesturm, die von Rot auf Grün schaltet. Die Park Avenue ist zu Fuß etwa zehn Minuten von der Stelle entfernt, an der sie mit dem Telefon im Handschuh steht – wenn sie sich vom Fleck rühren könnte. Aber sie steht da wie eine Figur in einer Schneekugel. (Jetzt fragst du, ein erstes Zeichen von dir, während ich dir diese Geschichte erzähle: Also telefoniert sie auch viel? Als ich Kind war, benutzten wir einen gettone: »Non sei mai solo quando sei vicino a un telefono!« Das war der Slogan. »Mit einem Telefon in der Nähe bist du nie allein!« Vielleicht ja, vielleicht nein.)

*

In der Geschichte von der Schneekönigin haben zwei Kinder einander lieb. Jedes Mal, wenn Caroline die Geschichte liest, steht ihr das Herz still. Die Kinder sind Gerda und Kay. Die Geschichte handelt eigentlich von Gerda und Kay, und doch ist es die Geschichte der Schneekönigin, von einem kalten Stein im Innern der Liebe, der über einen zugefrorenen Teich hüpft. Die Kinder leben in Nachbarhäusern in einer Stadt – sie können von Dachfenster zu Dachfenster zueinander in die Wohnung springen und sich besuchen. Als Kind war Carolines Vater in Brooklyn von Balkon zu Balkon gesprungen, sein Fuß im Lederschuh streifte im Sprung das Geländer. Gerda lebt bei ihrer Großmutter. Vom Frühling bis weit in den Herbst wachsen wunderschöne rote Rosen an einem Spalier an ihren Dachfenstern. Gerda und Kay freuen sich jedes Jahr auf die Blüte der Rosen. Die Geschichte hat drei Teile. »Dies hier nimmst du«, sagt die Fee. Das ist das Problem, wenn man die Wahl hat: Es kann so sein, oder so. Im ersten Teil der Geschichte hat der Teufel persönlich einen Zauberspiegel gemacht, der alles Schöne in der Welt als etwas Hässliches, Tristes wiedergibt. Die Übersetzung aus dem Dänischen benutzt ein sonderbares Wort dafür: gekochter Spinat. Kann das stimmen? Der Teufel ist so stolz auf seinen Spiegel, er will ihn hinauf in den Himmel bringen, damit die Engel sein Werk bewundern, doch auf dem Weg lässt er den Spiegel fallen, und dieser zerbirst in Millionen und Milliarden Splitter, die auf der Erde landen. Manche Splitter sind nicht größer als ein Staubkorn. Bis heute fliegen sie in der Welt umher, landen unversehens im Auge eines Menschen und bringen diesen zum Weinen. Eines Tages, es ist Herbst, die Rosen stehen in der schönsten Blüte und fangen die blasse Sonne in der Wölbung ihrer Blütenblätter ein, spielen Gerda und Kay am Fenster, und Kay gerät ein solcher Splitter ins Auge. Zuerst trübt er ihm den Blick, er bittet Gerda, ihm das Auge auszuwaschen, und sie läuft, um einen kühlenden Lappen zu holen. Doch als der Schmerz in seinem Auge vergangen ist, ist die Sonne hinter den Wolken verschwunden. Für Kay sehen die Rosen jetzt aus wie aus altem Schuhleder, und Gerda ist gar so dumm mit ihrem feuchten Tuch und dem bangen Gesicht. Es fängt an zu schneien, dicke, weiche Flocken, groß wie Windrädchen, fallen auf die Terrasse. Kay holt seinen Schlitten, der silberne Kufen hat. Gerda läuft und holt ihre warmen Stiefel. Er schimpft sie aus, weil sie so langsam ist, dann springt er auf seinen Schlitten und lässt sie stehen. Der Schnee fällt ganz unnatürlich schnell. Ein schwaches Glockenklirren lässt sich vernehmen, ein Schlitten erscheint, und die Glocken rufen ihm zu. »Komm mit, komm mit«, sprachen die Glöckchen zu Kay, als er von seinem Schlitten mitten auf dem Stadtplatz aufblickte.

Der Schlitten ist aus Silber, und die Frau, die ihn lenkt, ist in dem Schneetreiben kaum zu sehen, denn sie trägt Kleider aus kaltem Mondlicht. Sie ist verrückt. Ihre Zügel sind aus Zinn. Ihr weißes Haar, das hinter ihr herweht, würde bis auf den Boden reichen, wenn sie stünde. »Komm«, sagt sie zu Kay. Ihre Stimme ist das Einzige, was er hört. Sie ist nicht über dem Wind, sondern darin. Sie ist aus Zuckerwatte, diese Stimme. Seine Augen tun ihm weh, und er versucht, mit seinem Fäustling, der hart von Eiskristallen ist, das Korn aus dem Auge zu reiben. Die Eiskristalle kratzen über sein Gesicht, und er verletzt sich über dem linken Auge. Das rosenrote Blut tropft in den Schnee, und Gerda wird es später entdecken. Die Stimme, die spricht, gehört der Schneekönigin. »Jetzt«, sagt sie. Kays Körper zieht es hin zu der Stimme, dabei dringt Eis in die Wunde über seiner Braue, und mit seinen eiskalten Fingern kann er nicht mehr seinen Schlitten halten. Er ist zu einem gefrorenen Seidenfaden geworden, der durch ein Nadelöhr gezogen wird. Der Schlitten schlingert unter ihm davon und zerschellt am Fuß der Ulme in der Mitte des Platzes, wo bei schönem Wetter die alten Leute sitzen und sich Luft zufächeln. Eine der Kufen ist verbogen, und eine Strebe ist zerbrochen. Später wird Gerda den Schlitten zu ihrem Onkel, dem Schmied, bringen, damit er ihn repariert, für wenn Kay zurückkommt. Doch Kay ist fort. Als der Schlitten unter ihm wegrutschte, hatte er nach dem Lasso mit den Glöckchen am Schlitten der Schneekönigin gegriffen, und das Lasso ist so kalt, dass er sich daran verbrennt, im nächsten Moment sitzt er in dem Schlitten, gefangen in der Lassoschlinge aus Stacheldraht, ganz unnötigerweise, denn er ist völlig gebannt, und es würde ihm nicht einfallen zu fliehen. Doch später wird er verhärtete Schwielen auf dem Rücken haben, die nie ganz weggehen, nicht einmal, wenn er als alter Mann, auf einem Auge blind, in den Wäldern leben und schreiben wird. Doch das kommt erst viel später, es dauert noch ein Weilchen, bis wir ans Ende der Geschichte kommen. Wenn dich dein rechtes Auge ärgert …

Caroline ist ein paar Meter von dem inzwischen verschwundenen Schauplatz des Robinienhains entfernt, wo Alastair sein Messer ruiniert hat – ein Sternennebel, eine Maus im Bau, ein Junge unter einer Decke aus Laub, der die Fähigkeit zu sprechen verliert, eine Unterhaltung, die an den Wellenlinien der Kabel entlangsummt, ein paar Straßen entfernt von dem Museum, wo unter einer hohen Decke mit Fenstern, in einem Raum, der nach einem unter einem gekenterten Kanu verschwundenen Jungen benannt ist, eine Reihe auf dem Kopf stehender Muskatnussbaumstümpfe ausgestellt ist, ihre Wurzeln sind so gestutzt, dass sie aussehen wie Flügel. Der wilde Junge von Aveyron wurde 1788 geboren. Schon 1794 gab es Sichtungen. Ein grüner Junge, kein grüner Mann. Ein Junge mit Narben am Körper, der stumm war, der vielleicht missbraucht worden war, der keine Sprache hatte. Wäre er zu einem Grünen Mann herangewachsen? In der Kirchenarchitektur gibt es drei Versionen des Grünen Manns: der Laubkopf, der ganz und gar mit Blättern bedeckt ist, das speiende Haupt, das Vegetation aus dem Mund ausstößt, und das Blutsaugerhaupt, dem Blätter aus jeder Öffnung sprießen. Jean Marc Gaspard Itard, der Student, der sich um den wilden Jungen Victor kümmerte, glaubte, dass zweierlei den Menschen vom Tier unterscheidet: die Fähigkeit zur Empathie und das Sprachvermögen.

*