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Nach einer mysteriösen Entführung in Stonehenge, zwanzig Jahre zuvor, erscheint 1999 ein junger Mann in Arizona, der sich seltsam verhält. Der Fremde nennt sich IOAN. Er will nicht weniger als „den Präsidenten“ sprechen und ihm die Botschaft einer unbekannten Macht übermitteln. Misstrauisch wird er verfolgt, bekämpft und in Fallen gelockt. IOAN verfügt zwar über außergewöhnliche Fähigkeiten im Umgang mit Zeit, er kann sich damit der Gefahren erwehren, aber ist auf sich allein gestellt, hat sogar einen Rivalen, der mit ihm entsandt wurde. Nur der geheimnisvolle Orden der Delphine hilft ihm, später auch eine Frau, die sich verliebt in ihn, der keine Gefühle mehr kennt. Auf seinem Weg nach Washington wird er von FBI, CIA, Militär und Medien unerbittlich gejagt. Ein erstes Treffen mit dem US-Präsidenten misslingt, Angst und Zweifel überwiegen. Nur noch eine letzte Chance gibt es vor der Jahrtausendwende, doch auch diese droht zu scheitern Die SAGA von ANTAGORA ist ein packender, ein magischer Thriller und zugleich Science Fiction vom Feinsten. Er führt nicht in die üblichen Weiten des Weltalls, sondern entwirft ein großes, ungeahntes Weltbild. Eines, das die Menschheitsgeschichte in ein anderes Licht rückt. Davon erzählt Jan de Canthus, wenn er die Brücken sichtbar macht zwischen allen Zeiten und ihren Genies.
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Seitenzahl: 740
Veröffentlichungsjahr: 2017
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IOAN
DIE SAGA VON ANTAGORA
Der Orden der Delphine
Band 2
JAN DE CANTHUS
Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.
Impressum
Jan de Canthus, »IOAN DIE SAGA VON ANTAGORA
Der Orden der Delphine Band 2«
www.edition-winterwork
© 2018 edition-winterwork
Alle Rechte vorbehalten
Satz: edition-winterwork
Titel- und Umschlaggestaltung: Uwe Göbel und Daniela Gaus
Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf
Ich will nicht still sein, bis Gottes Gerechtigkeit aufstrahlt wie ein helles Licht und sein Heil leuchtet wie eine brennende Fackel. Jesaja 62,1
Sonntag, 10. Oktober 1999
NORDAMERIKA; Kanada, Nova Scotia, Main-à-Dieu, 08.18 a.m.
Dunkelheit schwärzte Wasser und Wogen der aufgewühlten See. Kaum Mondlicht durchdrang jene Wolkenschichten, die tief über endloser, heute rauher Wasserfläche des Atlantiks hingen. Von See her strichen dichte Nebelschwaden über weiße Wellenkämme, mit heftigen, auflandigen Winden. In Main-à Dieu, einem recht abgeschiedenen Küstendorf mit unverschämt übertreibendem Namen ‚Gott dargereichter Hand‘, beeilte sich ein torkelnder Heimkehrer, durch Dagegenlehnen die Haustür spät noch hinter sich zu schließen. »Ungemütlich, v‘dammt! Un‘ soll noch schlimm‘r kom… .« Den Rest des gegrölten und von Niemandem außer ihm selbst gehörten Satzes schluckte die zuschlagende Tür.
Der Wind, er blies stetig und nahm in der Tat noch zu. Vorhergesagt war Seestärke fünf für die Nacht, mit aufsteigender, ungemütlicher Tendenz auf dem offenen Meer. Am Kai dümpelten Boote im wiesengesäumten Hafen von Main-à–Dieu, mehr noch, sie tanzten eher auf den Wellen, gut vertäut in schaukelnden Zweierreihen, dazu Fischkutter, weißgestrichen meist.
Wer jemals hier so entfernt voneinander baute und lebte, auf vereinzelt gelegenen Grundstücken in dem spärlich mit Häusern besetzten Städtchen, dem nordöstlichsten der kanadischen Halbinsel Nova Scotia, der wusste, dass er sich für ein schwer erreichbares Ende der Welt entschieden hatte.
Mit ihren wenigen Privatbooten, zumeist bescheidenen, schipperten die Besitzer der Holzhäuser bei Tag, Sicht, gutem Wetter diese abgeschiedene Küste entlang. Ob einer der zweihundert Einwohner dabei schmuggelte oder die Angeln auswarf, konnten nur Küstenwachen entscheiden, die hier regelmäßig Streife fuhren. Zumal, wenn Terrorwarnung ausgegeben war, heimliche Tipps illegale Einwanderer ankündigten, als „Menschenware“ benannt, oder anderer krimineller Handel in großem Stil drohte.
Oder es einfach nur um die Einhaltung des Schifffahrtsrechts ging.
Der Nebel hier draußen, an Nova Scotias entlegenstem Flecken, er galt als gefürchtet von denen, die er behinderte. Oder eben als hilfreich denen, die ungesehen bleiben wollten. Wie viele im Lauf von Jahrhunderten!
Keine halbe Meile entfernt, fernab des Wegenetzes an der Nordküste in der Sandbucht von ‚Goulds Cove‘, herrschte ähnlich schlechte Sicht. Zudem schützte dichter Kiefernbestand am Hang vor unverhoffter Beobachtung.
Den einsamen, gischtumtosten Strandgänger.
Einige Meilen schon war er am frühen Abend bis hierher gelaufen, ohne ein einziges Mal auf den Boden zu blicken. Ohne auch nur einmal zu zögern. Oder am Ufer an einen Kieselstein oder ein angeschwemmtes Metallfass zu stoßen. Nun war angekommen, stand er mit dem Rücken zum Kiefernwald. Und wusste, worauf er wartete und auf welches Zeichen er achten sollte.
Auch wenn er es nicht gebraucht hätte!
In jeder Lage blieb er schlicht die Ruhe selbst. Statt den kaum sichtbaren Horizont nach dem überfälligen Schlauchboot abzusuchen, beobachtete er eher die Möwen. Die schwebten, sich um Futter stritten, kreischten, sich in der Brandung treiben ließen. Kurze Strecken liefen, um zu starten, hinein ins Getümmel um einen verlorenen Fischrest.
Anders als andere verhielt sich IOAN alias John Sterling auch in dieser, für Normalsterbliche nicht ungefährlichen Lage. Der einsame, am Ufer sich zielstrebig voranbewegende Küstengänger, es war der jetzt meistgesuchte Mann. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, alarmiert und rund um die Uhr auf der Hut blieben auch die angrenzenden Länder. Das halbe FBI-Heer an Agenten fahndete noch immer mit Hochdruck nach ihm, die Küstenwache fuhr ihre Streifen unter der Stufe höchster Wachbereitschaft.
Der Aufwand ließ ihn kalt.
Die Tage, die hinter ihm lagen, ob hell, ob dunkel, trugen Früchte. Darauf allein kam es an.
Zur Sicherheit und Steigerung der polizeilichen Komplexität hatte er erst eine Hotelbuchung im Reservierungssystem des schlichten Hotels in Boston hinterlassen, das dem seinen schräg gegenüberlag.
Außerdem waren Flüge gebucht nach Manchester, für übermorgen, eine Schiffspassage ab New York auf den Namen eines Paares: Anna Loughlin und IOAN. Ganz zu schweigen vom Zugticket nach Quebec, mit Ankunft heute, später Nachmittag, am dortigen Hauptbahnhof. Dazu kam der Flug nach Moskau über Los Angeles, Honolulu und Tokio, mit den Aufenthalten zwischendrin in Flughafenhotels.
Sowie als hübsche Pointe, leider gefälscht, dem zweitägigen Verbleib in der Suite des Luxushotels ‚Marco Polo Presnja‘ im Zentrum. Ankunft am kommenden Donnerstag, mit anschließendem Weiterflug nach London.
Sicher würde auf jeder der Spuren gründlich gefahndet werden.
Damit, mit irdischer Kurzsichtigkeit, hatte er umgehen gelernt. Auch er beherrschte die ihnen vermittelten Fähigkeiten ähnlich wie K-LEME. Sich zurechtfinden konnte er sich daher nahtlos in unerwartet rückständiger Umgebung. Deren Gegebenheiten, Gewohnheiten sich geschickt zunutze zu machen. Denkfehler zu verwandeln in Vorteile, Defizite bei deren Erfassen für eigenen Vorsprung zu verwenden. Das gehörte zu einer Vorbereitung auf jede Mission, hieß es. Gerade auf die eines A-GON als dem Gesandten.
Ein Brummen überlagerte die Brandung.
Längst hatte sein ausgeprägtes Aufnahme- und Bewertungssensorium das niedrigfrequente Geräusch eines starken Außenbordmotors erfasst. Dessen Herannahen hätte er durchaus beschleunigen können, durch die einfache Stauchung des hier gängigen Prinzips Zeit.
Doch alles brauchte sein Maß!
Diese sogenannte Zeit zu gestalten, das scheinbare Kontinuum, es zählte zu den Fertigkeiten, die ein Auftrag wie der seine unbedingt erforderte. Dass sein baldiger Kontrahent und bisher harmloser Störenfried, K-LEME, über gleiche Befähigung hierzu verfügte, nahm er in Kauf. So lauteten die vorgegebenen Gesetze.
Eindringlich hatten die X-PETs gewarnt, ihre gespeicherte Eigenenergie nicht für reine Vereinfachungen zu vergeuden. Den Vorrat enthielt der in die Kleidung unter dem linken Arm eingefügte MY-TI-LOS. Doch nicht nur Energie speicherte er, konnte daher nur eine dermaßen begrenzte Reserve aufnehmen, dass, sobald zuviel gebraucht wurde und abfloss, er rechtzeitig wieder aufgeladen werden musste.
An geheimem Ort, möglichst von Irdischen unbeobachtet.
Kein Grund lag vor, gegen die Verhaltensregel zu verstoßen.
Zwar hatte er den Energievorrat mehrfach schon auffüllen können, etwa in den Rocky Mountains. Sobald sich der Anzug, auf seinen Körper perfekt angepasst, von Rot zu Blau färbte, war dies das sichtbare Warnsignal, seine Reserven gingen rasch zur Neige. Die erste, ihm vor Ankunft mitgegebene Energieladung hatte er für die Abwehr aller vergeblichen Versuche von FBI und Sheriff gebraucht, seiner habhaft zu werden.
„Erwartungsgemäße Reflexe“.
So etwa hätten seine Ausbilder, die X-PETs, jegliche und typisch irdische Ablehnung jedweder Fremdheit und besonderer Begabung genannt,
Doch diese erneuerte Füllung hatte er bereits dafür einsetzen müssen, die Begegnung in Denver als ein Geschenk zu ermöglichen. Bei der König Midas, im Verschränken zweier Zeiträume ineinander, samt Hofstaat den Inhaber eines Konzerns gleichen Namens traf namens MA-HAM.
Und dies über Tausende von sogenannten Jahren hinweg,
MA-HAM. In irdischer Ausdrucksweise hieß er Charles Markham. Dieser hatte bisher als einziger Erdgeborener seine Mission sofort verstanden. Und sich von da an, sowohl beim Verlassen der Stadt Denver wie dem Erreichen der Ostküste, als verlässlicher Helfer gezeigt.
Das Entkommen aber hatte die Vorräte unplanmäßig beansprucht.
Sobald in Schottland angekommen, musste er, dessen war IOAN sich beim Annähern des Bootes schmerzlich bewusst, für Auffrischung sorgen. Denn nicht nur die in wenigen irdischen Wochen bevorstehende Heimkehr brauchte ein gehöriges Maß Licht und Kraft. Auch von K-LE-ME, als ANT-A-GON tatendurstig, stand noch Einiges an Überraschendem zu erwarten. Eher mehr als weniger, das seine Kreise empfindlich stören konnte.
Schließlich wollte auch dieser wieder den Planeten verlassen!
Noch galt dessen Aktion in der Stadt NU-YO eher einer Verwirrung der sogenannten Öffentlichkeit. Zugleich sollte sie ihn als den Botschafter ANT-A-GORAs diskreditieren, unglaubwürdig auch in weitergehender Hinsicht machen. Doch dabei würde es nicht bleiben. Ihr Duell, das über das Recht zu baldiger Heimkehr entschied, es stand erst noch bevor. Nur einer konnte es erringen: Der Sieger ihres Wettstreits. Ort und Zeitpunkt dafür bestimmte allein K-LE-ME. Auf einer Achse zwischen Gegenwart oder Vergangenheit.
Zukunft, sie war sowohl einem A-GON wie ANT-A-GON verwehrt.
Diese bestimmte allein der RE-GENT als Herrscher von Raum und Zeit.
Nur ihm oblag, dem für diese Galaxien verantwortlichen ANT-A-GENT eine entsprechende Erlaubnis zu erteilen, meist auf dessen Ersuchen hin. Die Zukunft eines Teils von Universum je nach dessen Bedarf zu gestalten, das folgte dem allgültigen Gesetz des Gleichgewichts. Das am Ende des hier noch gültigen, sogenannten „Millenniums“ zum Tragen kam.
Aufgrund dessen er hierher beordert worden war, ohne alle Feinheiten seiner Mission bereits zu kennen. Auch nicht alle möglichen Folgen. Sie richteten sich nach hiesiger Reaktion, wie bei allen Aufträgen zuvor auch.
Nach seiner verlesenen Botschaft an Präsident GAN-TE, auf dem Sender PrimeTime, hatte er sich nach Halifax, eine Stadt im Land namens Kanada, begeben. Dank der ausreichend überzeugenden Stimme des Apachen erreichte seine Erklärung, eher die zur Jetztzeit notwendige Vorgabe an den hiesigen Regenten, dessen Nation. Aber nicht allein sie war gemeint damit, auch andere sogenannte Kontinente.
Über Orte wie ‚Boston‘, ‚Brunswick‘ und ‚Bangkor‘ reiste er, weitgehend ohne unterwegs aufzufallen. Zweimal nur drohte ihm, erkannt zu werden aufgrund des Phantombildes. In beiden Fällen mussten die von ihm dabei eingesetzten Zeitschleifen dafür sorgen, dass die aufmerksam Gewordenen sich nicht mehr an das Gesehene und Erlebte erinnerten. Oder, wenn, es zu spät erzählen konnten, um seinen Weg nach Schottland, zum verkündeten Ziel, noch zu behindern.
Es ging nicht anders.
Gebunden in eine solche Schleife, kehrte ein Angler, bei ‚Antigonish‘ am westlichen South River, zu der Lieblingsstelle am Fluss zurück, an der er den Tagesfang gepackt und von der er ihn auf die Ladefläche des Pick-ups gebracht hatte. Immer und immer wieder… Stundenlang ließ sie ihn hin- und herpendeln. Bis ein Trucker ihn beobachtete, beim seltsamen Gebaren des Auf- und sofortigen Abladens samt Rückwärtsgehen. Ihn ansprach und den Verwirrten bei sich mitfahren ließ. Endlich, erst gegen Mitternacht, brachte der schon gesuchte Angler seine Fische nach Hause.
Das Gas unter dem Grillrost war da leider erloschen.
Das andere Mal sah ihn eine Frau an der Hotelrezeption an. Sie schielte auffällig zum Telefonhörer, gedachte ihn offenkundig zu benutzen, kaum hätte er den Aufzug betreten. Ihm blieb nichts übrig, als sie rückwärts in den Keller gehen, einen leichten Korb voller Chipstüten holen zu lassen. Als man sie vor der untersten Stufe am nächsten Morgen fand, hatten Krämpfe sie am ewigen Treppensteigen gehindert, ab und auf und ab und auf…sie schlussendlich zu Boden sinken lassen. Unversehrt, bis auf starken Durst.
Doch da lagen bereits Hunderte Meilen zwischen ihr und ihm.
Näher kam das Geräusch, nahm in Ufernähe ab. Ein dunkles High-Tech-Schlauchboot ließ sich durch die Wellen herantreiben. Der Matrose am Steuer in der Bootsmitte legte die Zodiac SeaHawk so in die Dünung, dass das RIB den Strand lautlos erreichte. RIB stand für ‚Rigid Inflatable Boat‘. Fein fester Begriff für hochseetaugliche Festrumpfschlauchboote.
Wie alles, was Markham eigens anfertigen ließ, zählte das ‚MidasB‘, um sie handelte es sich bei dem RIB, zu den leistungsfähigsten seiner Klasse. Unter Volllast ließen sie Hunderte Pferdestärken über die Wellen fliegen, mit über 60 Knoten, annähernd 100 km/h. Was selten vorkam, immerhin diente es privaten Zwecken.
Wie überhaupt die Yacht, zu der das Schlauchboot gehörte und die nah vor der Küste auf ihren exklusiven Passagier wartete. Jene, die ihm ihr Eigner zur Überfahrt nach Schottland angeboten hatte, die ‚My Midas‘.
Geheimnisumwittert, nicht nur in der Regenbogenpresse. Vorgesehen für Fälle, in denen eine, äußerst schnell bewegliche, zumal uneinsehbare Yacht nützliche Dienste leisten konnte. Diskretion gewahrt sein. Gerade, aber nicht ausschließlich den Paparazzi gegenüber. Auch manche Treffen mit Politikern, Wirtschaftsführern, Prominenz aus Kunst- oder Medien-Szene brauchten ein Umfeld, das sich abschotteten ließ.
Ihr Handwerk verstanden sie, die drei dunkel gekleideten Matrosen an Bord. Zwei glitten ins Wasser und zogen die Bugspitze auf den Ufersand.
Wen sie aufnahmen, ob heute im Nebel von Land oder morgen wieder bei Nacht in arabischen Gewässer mit ‚Yacht zu Yacht-Shuttle-Manöver‘, es ging sie als Besatzung der ‚MyMidas’ nichts an. Bevor man anheuern durfte, nach strenger Vorauswahl, hatte Jeder, samt und sonders ehemals Seal und an Geheimhaltung gewöhnt, eine Regel unterschreiben müssen: Niemand, der die Yacht betrat, wurde gegenüber Dritten je erwähnt. Sie galt für alle Gäste an Bord. Auch für die Riege schöner Frauen, gerade verheiratete, die Markham hin und wieder auf seine berühmte Yacht bat.
Und dies dann eher nicht mit geschäftlichen Absichten.
Offiziell lag die Superyacht My Midas derzeit noch immer im Hafen von Beauport, unweit von Quebec. Woher sollte das FBI jetzt schon wissen, wo überall Markham Grund außer Landes besaß? Über Tochtergesellschaften oft gehalten. Perlen hingegen erwarb er gerne privat, ohne viel Aufsehen, darunter ein hübsch abgeschiedenes Schloss am Mittelmeer, Jagdgebiete und ganze Uferstriche im abgeschiedenen Kanada.
Dort erschien es dem Unternehmer so angezeigt wie praktisch, für die vor zwei Jahren in Deutschland auf der Lürssen-Werft gefertigte, schnell mit dem Etikett ‚Super-Luxus‘ versehene Yacht eine Schutzhalle zu bauen. Allerdings von den Ausmaßen eines Flugzeughangars. In geheimer Mission konnte die MyMidas jederzeit aus ihr auslaufen, unbeobachtet wie heute. Sich im Schutz von Dunkelheit oder regnerischem Wetter auf den Weg machen. Ob schon mit Eigner oder Gast an Bord oder zu deren Übernahme andernorts durch den Skipper, das oblag dem jeweiligen Ziel der Reise.
Wie gestern Nacht.
Sobald sie sich aber an einer besiedelten Küste zeigte, eilte ihr sofort ein Mythos voraus. Und erreichte die Häfen meist, bevor sie dort anlegte. Oder in denen anzulegen von ihr erhofft wurde.
Das Verschweigen technischer Details trug zu ihrem Nimbus bei. Bis auf die kühne Form, das Firmenschwarz des Rumpfs mit pointiert goldenen Farbakzenten, ein makellos weißer Decks-Aufbau sowie die Außenmaße, 315 Fuß, 96 Meter Länge, waren weder Leistungsmerkmale, Ausstattung noch technische Daten bekannt. Und wohlweislich hüteten die wenigen Eingeweihten diese Werte wie goldene Kreditkarten. Bei Auftragsvergabe hatte Markham Wert darauf gelegt, dass das „Schnellboot“ mit nur einer Tankfüllung gut 3000 Seemeilen zurücklegen konnte. Dabei Spitzen von annähernd 50 Knoten erreichte, über modernste Warntechnik verfügte und auch bei schwerem Wetter seetüchtig blieb. Auch darauf, Gästen jede nur denkbare Annehmlichkeit zu bieten.
Als „geheimnisvollste Privatyacht der Welt“ war sie ein eingetragenes Mitglied im Newport Yacht Club von Rhode Island.
Und doch, dessen war Markham sich bei seinem Angebot im Penthaus von Denver bewusst: Nur eine Frage der Zeit konnte es sein, bis Verfolger sich dieser Passagemöglichkeit entsannen. Doch dann war IOAN bereits auf hoher See! Gedacht war ursprünglich ohnehin daran, erst nach seinem Treffen in Washington sich auf den Weg nach Schottland zu machen.
Doch es kam anders als geplant…der US-Präsident hatte gekniffen,
Eine Besonderheit, die außer den Betroffenen und dem Eigner niemand wusste, war das Auswahlkriterium der Besatzung: ‚SEAL‘. Jeder musste deren Ausbildung durchlaufen haben. Und über Jahre aktiv gewesen sein.
Somit bildeten zweiunddreißig Marinekämpfer, in doppelter Platoon-Stärke, die verschworene Mannschaft. So ausgesucht und besetzt, dass sie neben überragender Kampferfahrung an Bord alle Funktionen abdeckte. Als Smutje-Lehrling auf den 5-Sterne-Segelyachten hatte ihr heutiger Koch gelernt, ehe er zur Navy ging, das härteste aller Ausbildungsprogramme in San Diego durchlief. Heute zauberte er als Vorspeise gerne die ‚Garnelen auf Artischocken-Zuccini-Tartar mit feiner Paste aus Oliven, Anchovis und Kapern‘. Und tötete notfalls einen angreifenden Piraten zum Dessert.
SEAL stand als Abkürzung für ‚Sea, Air, Land‘.
Es brachte auf den Punkt, wie vielseitig solch lebende Kampfmaschinen einsetzbar waren. Für Markham diente die Qualifikation allein dem Schutz. Unter allen Umständen. An Bord wie an Land blieben seine Männer im 365-Tage-Training, hatten es als Überlebenssicherung verinnerlicht. Auch wenn ihr Kriegsdrill fehlte, und nicht mehr rund um das Jahr und die Uhr ihr früheres Motto „The only easy day was yesterday“ galt! Aber sich der Illusion hinzugeben, man hätte eine Chance, wenn man sich mit nur einem MyMidas Matrosen anlegte, Auge in Auge, konnte in genau das gehen.
Die drei, die schweigsam den Auftrag ihres Skippers ausführten, sahen spät erst den Mann im Nebel des Strandes stehen.
Einen Unbekannten von Küste zur Yacht bringen.
Routine.
Sturmerprobt erwarteten sie, dass er wie alle, die geheimnisvoll an Bord kamen, den Fuß sehr vorsichtig auf den dicken Seitenwulst setzen und mehr oder minder geschickt ins Boot springen würde. Zumal die Wellen es immer wieder kräftig anhoben und die am Bug in der Brandung Stehenden es aus Leibeskräften bändigen mussten.
Dieser Fremde aber verhielt sich anders. Seine Brücke baute er selbst, bis zur Bootsmitte. Wie, das wusste hinterher keiner zu erzählen, zumal die Kameraden ungläubig den Kopf schüttelten und Restpromille vermuteten. Aus dem Stand ging ihr Passagier, rechte Hand unter dem linken Arm, über den Sand. Setzte unmerklich Fuß vor Fuß, irgendwann in der Luft, um über seinen unsichtbaren Steg, an dem sich die Wellen brachen, oberhalb der runden Bordwand anzukommen. Er stand dort, als läge das RIB inmitten eines Fischteichs…und stieg vor dem Steuerblock von der Gummiwulst. Und Alles trotz des Wellengangs so aufrecht, als überquerte er eine feste Rampe bei Windstille. Meerwärts spähte er, als könnte er durch Nebel und Gischtwolken die MyMidas orten. Auch wenn die Yacht auf die Rückkehr des Beibootes eine Meile vor der felsigen Küste in der Dünung wartete.
Seltsam, der Typ! Sollte es sich…?
Als die vom Uferbereich ablegenden Matrosen ihn zu seiner Sicherheit zum Sitzen aufforderten, blieb der Geheimnisvolle stehen. Sie zuckten die Achseln. Er blieb stehen, als ihr Boot Fahrt aufnehmen musste, um in den Wellenbergen zu bestehen. Auf unerklärliche Weise glich er jeden Schlag, jedes Wellental, jeden Kamm aus, als sei er für schwere See geboren.
Oder verfüge über einen übermenschlich guten Gleichgewichtssinn.
Noch wussten die Seeleute nicht, wie wenig sie sich darin täuschten.
Und wie allgemeingültig!
Als die MidasB außenbords routiniert festmachte, sah Kapitän Yuanou, Anfang vierzig, mit erkennbar asiatischen Vorfahren, auf die Armbanduhr. Setzte die Kapitänsmütze auf das langgetragene schwarze Haar, das über ausladende Schultern fiel. Selbst als Skipper wusste man nicht genau, wer an Bord kam. In diesem Fall, worauf ein neuer Passagier Wert legten.
Derlei Etikette war für ihn nur eine andere Form von Tarnung.
Als Einziger kannte er den Befehl, ihm vor Tagen in Quebec überbracht. Verfolgte daraufhin die Nachrichtenlage genau. Deshalb war es mehr als eine Ahnung: »Wenn der Boss Boten schickt statt Mail oder SMS, muss es sich um ein Geheimnis erster Güte handeln! Davon gibt es eben eins, das die TV-Kanäle verstopft. Und mit dem er über Denver in Verbindung gebracht wird.«
Zu gut kannte Kapitän Gabriel Yuanou des Eigners‘ Diskretionsbedarf.
Über das Körperliche hinaus zählte er zum Inbegriff des in jeder Hinsicht Gestählten. Durch nichts zu überraschen zu sein, gehörte zu dem Profil, das man ihm abforderte. Wie alle an Bord hatte er die Ereignisse verfolgt, rund um den Midas-Tower. Und sich über die Tölpelhaftigkeit des FBI wie über die Reaktionen danach gewundert.
Auch die ihres Chefs, wenn Gabriel Yuanou ehrlich war.
In den Interviews hatte Markham mit keiner Silbe von einer Bedrohung durch den Außerirdischen gesprochen, der unstrittig Verwirrung stiftete. Vielmehr dessen Erscheinen als „die Chance für die Menschheit“ bezeichnet. Bisher kannte er ihn, wunderte sich wohl deshalb darüber, als nüchtern weitsichtigen, wenn es darauf ankam, harten Mann.
Doch er wusste sicher, warum er sich jetzt mal auf die Seite der Tauben und Sympathisanten stellte. Für Schmusekurs mit fremder Macht eintrat!
Wie immer war seine Aufgabe als Skipper klar umrissen. Scheinbar.
»MyMidas nimmt Zielperson an Bord, 10.10.99, 08.30h pm, Goulds Cove, Nova Scotia. Bringt auf sicherstem Weg nach Schottland, Ausstiegspunkt nach Wahl. Unterstützt sie in jeder Hinsicht, solange kein Amerikaner zu Schaden kommt oder Unternehmensinteressen verletzt werden. Haben jeden Ermessensspielraum innerhalb der Vorgaben.« Den letzten Satz kannte er.
Konnte ihn zu Marine-Zeiten herunterbeten, wenn es um kaum mit Erfolg zu bestehende, nicht planbare und lebensgefährliche Operationen ging. Das Unbekannte aber, es war ihr Revier, Gefahr Nervenelixier.
Adrenalin als täglich‘ Brot. Wohl bekomm’s…Auf ein Neues!
Vor den Matrosen kam die angekündigte Zielperson an Bord. Im Nebel sah ihr Yuanou entgegen, mit einer gesunden Mischung aus Neugier und Vorsicht. Wer wollte es ihm verdenken? Der Schutz der Yacht oblag ihm. Okay, ungewöhnlich sicherer Gang für einen, der gerade von Land auf See gelangt war. Dachte er sich‘s doch: Konnte nur der Außerirdische sein!
Mal was ganz Anderes.
In Markhams Diensten zu stehen, bot öfter Überraschendes, selbst nach Jahren. Diese Überfahrt, bei solch einer Konstellation an Passagieren und zumal bei schwerer See, zählte sicher dazu.
»Mr. IOAN, es ist uns eine Freude und Ehre, Sie auch im Namen unseres Eigners an Bord der MyMidas zu begrüßen. Mein Name ist Yuanou.«
»Sei bei Dir! Kapitän zur See Gabriel Yuanou, 41 Jahre, Seal-Commander seit 1987, in Midas-Diensten seit 1996, bringt IOAN in fünf Tagen zur Isle of Skye. Er wird Widerständen begegnen und sie meistern. Die Mannschaft hilft ihm und er eines Tages ihr. So wollen es meine Mission und Mr. Markham.«
Respekt! Dachten die umstehenden Matrosen, meinte ihr Kapitän. Sein erster Befehl lautete:
»Nehmen Kurs gen Osten. Fünf Tage schaffen wir…«, ergänzte, ohne jeden Wechsel des Gesichtsausdrucks, »…haben Ihre Kabine vorbereitet, auf dem Oberdeck. Die des Eigners ist besetzt, die daran heckseitig angrenzende.«
»Besetzt?«
Die erste Frage, die IOAN bisher stellte.
Die Antwort wartete auf dem nicht nur, was den Luxus anbetraf, üppigen Oberdeck. Sie sollte, wollte ihn überraschen. Und sie wartete ungeduldig. Allein auf ihn.
Montag, 11. Oktober
EUROPA; Großbritannien, Caol Loch Aillse, Schottland, 10.53 h
»Noch rund fünf Meilen!«
Man hörte Jocelyn ihre Ungeduld an.
»Dann die Etappe geschafft, endlich! Drück Dir die Daumen, dass wir die Ersten vor Ort sind! Und der alte Herr mitspielt!«
So kurz vor dem Ziel blieb es dem Kameramann Jamie überlassen, ihre Unruhe mit einfühlsamem Zuspruch aufzufangen. Derweil bewegte ihr Pilot den Explorer zielsicher über schmale Straßen zur Westküste, trotz der gelegentlich sie heftig rüttelnden ‚Cattle grids‘, Weiderosten. Gewöhnt waren sie mittlerweile an den Linksverkehr. Unterwegs ließ nur selten ein „Achtung!“ Adrenalin in die Adern schießen.
Nur noch wenige, gewundene Küstenmeilen lagen vor ihnen.
Auf schmaler Brücke rollte ihr Wagen gerade über ‚Loch Long‘. Über die Schulter sah Jocelyn etwas zurück, blickte hinüber über das Wasser auf das sich langsam entfernende, beeindruckende Postkartenmotiv des ‚Eilean Donan Castle‘. Welche Spielfilme waren dort gedreht worden?
Na ja, touristisches Idyll kam später. Wenn überhaupt...
Lieber sah sie jetzt durch die Frontscheibe. Denn, „ja, gleich um die Ecke, jetzt, jetzt!“, über das bewegte Wasser des ‚Loch Alsh‘ hinweg nahm sie die Isle of Skye wahr. Zum ersten Mal bewusst.
„Die Insel der Himmel“!
Von dieser graugrünbraunen Felseninsel also wollte John als IOAN diese Welt aus den Angeln heben! Hatte sie eine Idee, was er vorhaben konnte? Wenn sie ehrlich zu sich war…nicht! Und genau darum drehte sich die alles entscheidende Frage, die sie dem Professor stellen musste.
Früh hatten sie alle aufstehen müssen, um ihr heutiges Ziel zu erreichen. „Kyle of Lochalsh“, wie es die Landkarte auswies, „Caol Loch Aillse“, wie sich Pat redlich bemüht hatte, ihr als gälische Aussprache beizubringen.
»Lassen wir das…«, sie brach die traurige Übung bald ab, »…am besten, Ihr fahrt, wenn ihr das Ortsschild passiert habt, am ‚Admiral‘s House‘ vorbei, ausgeschildert! Pladaig Road ´n Stück weiter, Küste entlang. Seht dann schon von der Straße etwas entfernt die flache Meerestrutzburg. Darin haust er, der Vordenker höchstpersönlich!«
Das sonst gut gelaunte, auf den letzten Meilen der A 87 zunehmend stille Team war gerüstet. Hatte die unerwartet „perfekte Ausrüstung“ anmieten können, „Weltniveau“. Oder wie es Ludstrom kommentierte der immer so gerne zitierte, diesmal von der Rückbank her und neben Bird:
»So viel zur Einstimmung auf das Genie, das wir besuchen: Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher. Zitatende. Applaus, Applaus!«
Ludstrom erhoffte sich bei den Zitaten natürlich Zustimmung. Mit den Kopfhörern über der ewigen Reggae-Mütze, ertaubt, konnte diesmal Bird damit nicht dienen. Gern tat dafür Jocelyn ihm den Gefallen zu fragen.
»Von wem...obwohl gehört habe ich es schon mal…könnte sein von, na?«
»Einstein. Wem sonst?« Fügte grinsend hinzu:
»Fahren doch zu ´nem ähnlichen Kaliber, wenn ich das richtig sehe, oder?«
Das Ortsschild. Britisch und Gälisch. Häuser, armselig. Das Plakat: ‚Hotel Lochalsh‘. Nur wenige Zimmer. Schnell buchen? Aber wenn sie der Professor kurz abfertigte, was sollte sie dann hier?
Weiter!
»Nicht auf die Brücke zur Insel! Da, rechts ab. Hieß, am ‚Admiral’s House‘ vorbei. Weiter hier, ja…drüben, gleich, linker Hand. Das muss es sein!«
Scharf bog Dave von der Straße ab. Mit ihrem abgedunkelten Explorer belegten sie ein Stück des langen Weges zum Haus, auffällig inmitten der Wiesen und Büsche rundum. Jocelyn verkündete schon im Aussteigen:
»Gehe erstmal allein zur Tür. Am besten, Ihr schaut Euch um. Könnt ja von oben Schwenks aufnehmen, im Vordergrund das Haus, aufziehen…«,
»Danke, dass Du uns den Job erklärst.«
Wie jeder gute Kameramann reagierte Jamie auf ungefragte Ratschläge allergisch. Doch war zu verständnisvoll, um nicht hinzuzufügen:
»Na ja, wäre an Deiner Stelle auch nervös. Du machst das schon. Und wir das unsrige.« Jamie konnte charmant Ohrfeigen verteilen! Aber meinte es nur gut. Nochmals griff sie sich ans Haar, ob es nicht durch den strammen Wind vom Meer her zerzaust wurde. Auf die hiesigen Grüntöne abgestellt, apart mit Samtkragen und frisch erstanden, saß ihr Blazer, perfekt.
Besser, die Jungs brachten das Mikrophon doch schon mit! Man wusste nie!
Sie winkte.
Auf in den Kampf!
Feste Schritte durch das Tor in der Mauer… zur Tür.
Tief atmete sie ein, ließ schwer und entschlossen den eindrucksvoll großen Metallklopfer, in Form eines Wildschweinkopfes, gegen die Platte auf dem Eichenholz fallen.
Keine Minute später öffnete sich die Tür.
Vor ihr stand, und füllte den Türrahmen bis oben hin, jener Mann, der sie im BBC-Material schon einmal beeindruckt hatte. Älter zwar, aber noch immer mit einem besonderen Blick und dem Lächeln um die Augen. Das zum Hinschauen einlud, zum Zuhören. Und als Frau zum Dahinschmelzen.
EUROPA; Großbritannien, Schottland, Kyle of Lochalsh,
Fort William, 12.36 h
Auch in Europa nahmen die turbulenten Tage kein Ende. Im Gegenteil. Und von „gut begonnen“ konnte keine Rede sein.
Vorgestern hatte ihr erster Weg Dr. Farlowe sofort zu MacKinnons Haus geführt. Mithilfe britischer MI 5 und MI 6-Kollegen hatte am Wochenende eine CIA-Außenstelle die Adresse des „vergessenen Professors“ ausfindig gemacht. „Locker“, hieß es.
Als sie aber anklopfte, früh am Sonntagnachmittag, da öffnete…niemand. Ihr Eilbesuch sollte dazu dienen, ihn überhaupt einschätzen zu können. Zu sondieren, ob er sich zur Kooperation bereit zeigte, sein Wissen zu nutzen.
Leider aber Fehlanzeige! Der Vogel war ausgeflogen! Daraufhin ließ sie Haus und Gelände überwachen, so gut wie möglich. Eher schlecht! Nur eine einzige Stelle eignete sich, auf der anderen Straßenseite, weit oberhalb des Grundstücks, am Hang und hinter Felsen verborgen. Nur von dort hatte man freien Blick auf das Anwesen. Hinauf aber gelangte man nicht einmal mit Geländewagen. Unmöglich, Abhöranlagen zu transportieren, bergauf, ohne Aufsehen. Schwerer noch fielen die Gewehre, sollte es Scharfschützen brauchen. Leicht dann schon, die üblichen Fernrohre in Stellung zu bringen. Aber immerhin: Sobald sich der Gelehrte, angeblich Typ Landadel, zeigte, erfuhr sie es als Erste. Mit dem zum Glück sehr erfahrenen Agenten Nelson entschied sie, dort nur zwei Mann Stellung beziehen zu lassen. Von oben sollten sie kommen und zunächst nur mit Feldstechern ausgestattet sein bzw. Nachtsichtgeräten. Zu ihm als „nächstem CIA-Mitarbeiter“ konnte sie Vertrauen fassen. Andersals, leider, zum Rest der geheimen Truppe!
Sonntag, spät noch, kehrte sie in die „Zivilisation“ zurück.
Hieß, gleich eine passende Infrastruktur zu suchen und aufzubauen, für Unterkunft und den Nachschub an eintreffender Logistik. Brauchte Hotel und Hauptquartier in einem. Und dabei so unauffällig wie irgend möglich, mit unverzichtbarem Satelliten- wie Internetzugang.
Tarnoption ohnehin.
Betten waren knapp, auch wenn die Hochsaison vorüber schien. Aber die meisten Unterkünfte beherbergten noch zu viele Nachzügler, um sie mir nichts, dir nichts umzuquartieren. Mit einem Blick auf die Kartenlage mit weitmaschigen Straßennetzen, schlug sie die Einsatzzentrale nahe Fort William auf, vorläufig, einem Hauptort des Hochlandes. Dort kamen sie in einem straßennah gelegenen Gasthof unter, dem ‚Inn at Ardgour‘.
Mit Bargeld als Vorkasse requiriert, ab sofort nicht mehr zugänglich für Öffentlichkeit, als Anlaufpunkt bald funktionstauglich. Unmittelbar an der Corran-Fähre auf die Ostseite bot er Schlafmöglichkeiten, lag günstig an der A 861 und der schmalsten Stelle des langgezogenen Loch Linnhe.
Obwohl übermüdet, durfte sie danach noch immer nicht ausschlafen.
Zu heiß liefen schon die Telefone bei dem ihr als Helfer - Aufpasser? -zur Seite beorderten CIA-Koordinator vor Ort, Chief Lasky.
Ausgerechnet das eingebildete Testosteron-Walross!
Vor jeglicher Animosität war es jedoch wichtiger, Logistik gestemmt und Verbindung zur heimatlichen High-Tech-Welt hergestellt zu haben. Denn die Eile erwies sich als berechtigt. Geheimdienste weltweit, nicht nur wie erwartet MI6, KGB, CISEN und Kōan-chō fragten nach IOANs Aufenthalt. Entdeckten in ihren Datenzugängen Buchungen im Stundentakt, Reisen, Untertauch-Optionen. Selbst Sichtungen kämen angeblich vor!
Als einzig gemeinsames Merkmal stellte sich erst nach und nach heraus: Zusammen passte daran nichts. Entweder er fingierte mehrere gleichzeitige Routen nach Schottland. Oder es gab doch mehrere seiner Art, die zeitgleich sich auf den Weg rund um den Globus machten.
Jedenfalls verstand er es meisterhaft, Anreisespuren zu verwischen.
Oder doch ein Anderer für ihn? Ein Netzwerk? Der Komplize, der schon das irritierende Manöver mit der ‚Queen Elizabeth 2‘ gestartet hatte?
Zum Verrücktwerden!
Gerade begann sich mancher Knoten zu entwirren, das Heft des Handelns sie zurückzugewinnen! Nun das! Zudem Frust beim unruhigen Einschlafen! Der schnaufende, sie mit Stielaugen entkleidende CIA-Typ Lasky nervte.
Sein eigentlicher Auftrag?
Immerhin warf er ihr eine Hiobsbotschaft nach der anderen auf den improvisierten Schreibtisch. Im Minutentakt. Als ginge ihn als Koordinator das Recherchieren nur am Rande an.
Am nächsten Morgen, am Montag also, war sie noch einmal nach Kyle of Lochalsh aufgebrochen, dem unaussprechlichen Caol Loch Aillse. Auf der schweigsamen Fahrt, durch wolkenverhüllte Landschaft, allgegenwärtiges Grün und karge Häuser inmitten von Felsengebirgen, die nur Einsamkeit ausstrahlten, saß der Agent Ron Nelson stoisch am Steuer. An den Schläfen unter dunkler Haut pochten Adern sichtbar, hochkonzentriert lenkte er im Linksverkehr, auch wenn sie gelegentlich Schafherden durchquerten.
Auf Posten oberhalb des MacKinnon-Anwesens fluchte der Agent Buster O’Leary, was das Zeug hielt, bei jeder telefonischen Meldung „Passiert nix!“. Selbst musste Constantina sich der Fragen und indirekter Vorwürfe Laskys erwehren. „Alien-Bubi in Tokio gelandet: Einsatz?“, nur ein Beispiel dafür! Zudem regelmäßig Blenheim Bericht erstatten, sie fühlte sich wie gerädert.
Jetlag und eine Matratze aus dem Zweiten Weltkrieg, das war zuviel!
Wie oft sie wohl in den kommenden Tagen die 70 Meilen weite, oft enge Strecke fahren musste? Zum Glück war Nelson ein angenehmer Fahrer. So anders, menschlich charakterlich, als der hektische Wichtigtuer O`Leary.
Wen stellten ihr die CIA-Verantwortlichen da zur Seite? Definitiv zählten nur der eine, Nelson, zu den Besten!
Doch was hieß das: Sollte sie scheitern?
Zuzutrauen war es den gewohnheitsmäßigen Intriganten allemal. Es half nichts, Granters, Blenheim, ihrem Land gegenüber sah sie sich in der Pflicht. Sogar IOAN, wenn sie seine Botschaft richtig verstand und positiv auffasste.
Erst aber musste sie mit dem Gelehrten sprechen.
Hoffentlich, ging ihr öfter durch den Kopf, je näher sie kamen, zeigte er sich nicht verschlossen, abgekapselt. Nach dem Gespräch mit ihm konnte sie sich noch die 5o Meilen auf den Weg machen, zur mutmaßlichen Mutter.
Ein Gedanke kam ihr, als sie an ihren vergeblichen Erstbesuch dachte. War MacKinnon etwa dort untergekommen? Prompt ordnete sie an, Nelson solle ein weiteres CIA-Team auf diese Sondierungsaufgabe ansetzen. Ein anderes sich Quartier auf den Inseln Skye und Mull besorgen.
Notfalls in einer Fischerkate!
Wieder mal waren sie angekommen, endlich, am Haus des Professors!
Erneut versuchte es Dr. Farlowe an der Haustür, gegen Mittag. Klopfte kräftig mit dem beachtlichen Wildschweinmonstrum und versuchte, durch die verhängten Fenster einen Blick ins Innere zu erhaschen. Telefonisch hatten sie zu erreichen versucht, aber immer nur das Leerzeichen gehört.
Ihn zu erreichen, war vordringlich.
Nur daher betrieb sie diesen Aufwand, fuhr, vielleicht wieder vergeblich, ein zweites Mal hier heraus an die Küste. Doch wenn jemand, dann war er ein Schlüssel, um diesen IOAN besser, ja, überhaupt erst zu verstehen und einzuschätzen. Also hatte sie sich heute auf den Weg gemacht, obwohl ihre Beobachter am Berg, mit Ferngläsern sicher gerade auf sie gerichtet, nichts von dessen Rückkehr berichtet hatten. Aber waren diese immer auf dem Posten? Oder kämpften sie noch mit der Unwegsamkeit des Geländes wie der Rohrspatz O’Leary?
Als sich plötzlich die Haustür öffnete, schöpfte sie Hoffnung.
Aber nur kurz, innerlich plante sie schon ihre Rückreise.
Ach ja, O’Leary hatte von einer Frau berichtet, die früh das Haus betreten hatte! Doch die schrullige Aufwartefrau wusste selbst nicht, wann sie den Hausherrn zurückerwarten konnte.
»Allemal…Donnerstag? Millie, hat er gesagt, am nächsten 13ten komm‘ ich von ´ner langen, langen Reise zurück. Hab‘ ich mir gemerkt. Bin aber nich´ abergläubisch, garnich´. Wird schon heile zurückkomm´n!«
Die „lange Reise“, sie bedeutete in Wahrheit den Fußmarsch einer Meile, hügelwärts, mit kleinem Koffer in die Church Road, zu Pastor Strathairns Haus neben bescheidener Kirche. Sicherheitshalber hatte sich MacKinnon beim Freund Liam einquartiert, was kein Fremder vermuten konnte.
So eng auch der Ort, er schützte seine Privatsphäre. Jeder kannte Jeden, „unauffälliges Verhalten Auffälliger“, wie es Liam formulierte, sprach sich herum. Man erkannte sie daran, wie sie jedes Haus musterten, statt alles zu fotografieren, immergleiche Bilder der Insel auf der anderen Seite der Autobrücke. Wie sie Anwohner nach dem „Professor“ auszufragen suchten, mit amerikanischem Akzent, zuviel Parfum und in Haaren oder Taschen steckenden, hier so gut wie überflüssigen Sonnenbrillen.
Der einzige Nachteil, außer Verzicht auf den Antennenraum: MacKinnon konnte nicht mehr durch die Straßen spazieren, Orgel spielen, gewohnte Gänge aufnehmen. Den aktenkundigen Range Rover hatte er vor Tagen in einer Garage untergestellt, konnte ihn lediglich des Nachts einsetzen.
Dann, wenn Fremde kaum auf Straßen rund um den Ort patrouillierten.
Noch nicht!
Mussten sie doch etwas trotz guter Vorbereitung besorgen, nutzten sie tagsüber Liams klappriges Allerweltsgefährt.
»Mit Fremden, die mich ausspähen…«, vertraute er dem Freund beim Bitten um ‚Kirchenasyl‘ an,
Dienstag, 12. Oktober
EUROPA; Großbritannien, Schottland, Edinburgh, 09.00 h
»Geschafft!«
Mit Handschlag bedankte sich die PrimeTime-Crew beim Cutter. Zwar übernächtigt, doch hellwach. Alles hatte perfekt geklappt, die Kollegen im angemieteten Studio sich sogar als Talente erwiesen. Somit war der Scoop, ihr Beitrag, auf bestem Weg. Überspielt nach L. A., bestätigte McDowell ihm technisch wie filmisch „einwandfreie Qualität“.
»Klasse, Mädchen! Schreibst Fernsehgeschichte. Ganz sicher. Schau‘ ihn mir gleich in Ruhe an. Melanie persönlich…«, ihre Chefredakteurin hatte den führenden Köpfen erlaubt, sie mit Vornamen anzusprechen, »…hat gerade Dennis‘ Nichtmehrerscheinen verkündet, ohne Begründung!«
Da er wusste, wie sehr sie sich genau danach gesehnt hatte, schloss er dieses vergangene Kapitel. Nur um so sachlich wie möglich fortzufahren:
»Hab‘ sie schon zur unchristlichen Zeit angerufen. War ja vorgewarnt von Dir! Selbst ihr Vater kommt mit. Hat der Sender noch nie erlebt, seit ich dabei bin. Und das is‘ gefühlt seit dem frühen Mittelalter!«
Guter Niall! Für Nacht- und die Frühschicht hatte er sich zur Abnahme eingeteilt, war Verbündeter, der eingeweihte Nachrichtenchef. Um sie herum herrschte Erleichterung. Auch Freude auf dem Weg zum geparkten Explorer. Nur noch ins Hotel rückkehren durch neblige, belebte Straßen!
Frühstück, Dusche, Bett. Oder in anderer Reihenfolge.
Am Ende des für sie denkwürdigen, bald 28 Stunden währenden Tages durften sie die Ausstrahlung ihres Beitrages nicht verpassen. Via Satellit empfangbar, weltweit, nicht mehr nur in den Vereinigten Staaten.
Dort um 06.00h pm Westküsten- und 09.00h pm Ostküstenzeit. Wirklich prime time, wahrhaftig beste Sendezeit!
Endlich wieder!
Zwei Stunden nach Mitternacht dann hiesiger Zeit fänden die Ereignisse, fantastische allesamt, dazu ihre exklusiven Erkenntnisse, die Krönung.
Erleichtert stiegen sie in den Wagen. Die halbe Nacht über hatte Dave darin auf dem Studio-Parkplatz gewartet. Selbst er war sich der Bedeutung des drinnen entstehenden Beitrages bewusst. Es war primär ihr Werk, das sie hatte schneiden lassen. Und sich zur gebotenen Sorgfalt trotz der Eile Zeit gelassen. An der Spitze des Teams war sie ihrem Spürsinn gefolgt.
Im Beitrag hatte sie erst die bekannten Tatsachen geschildert. Ihrer, wie sich mehr und mehr herauskristallisierte, alleinigen Erstentdeckung der Zusammenhänge mit der Vorgeschichte in Stonehenge. Daher enthielt der 75-Minuten lange Bericht naturgemäß wesentliche Teile des ‚Mysteries‘–Beitrages. Doch diesmal anders aufbereitet.
In dem neuen, dem nächtlichen Schnitt zeigten die Original-Sequenzen von 1979 zu Beginn Prof. MacKinnon, weniger ergraut. Dann lange ein Bild von John, das seine Mutter zitternd in die Kamera hielt. Den verstorbenen Vater, der sie tröstend in den Arm nahm.
Nach der Chronistenpflicht aber kam ihre aktuelle Kür. Das Kernstück, das die Welt in Staunen versetzen und zum Grübeln bringen musste. Es verband die eigenen PrimeTime-Reportagen seit IOANs Ankunft geschickt mit dem gestrigen Interview. Und integrierte den alles andere als gestrigen Gelehrte, mit dem sie den Beitrag aufmachte und nachdenklich schloss.
MacKinnon, befand sie, war der Schlüssel, die lebende Brücke.
Über die Zeit hinweg.
Nicht nur die der letzten beiden Jahrzehnte seit Johns Verschwinden, nein! Aus ferner Vergangenheit in die Gegenwart des IOAN-Besuchs.
Und vielleicht in eine niemals für möglich gehaltene Zukunft!
Welch ein Geist! Seine Ausflüge in den Kosmos der universellen, sie lernte: multiversellen Möglichkeiten, unfassbar! Faszinierend. Verständlich sogar! Na ja, ziemlich. Steckte darin die Erklärung, woher IOAN kam?
Und wohin es ihn offenbar bald wieder zog, so eilig, wie er es hatte!
Trotz aller Erläuterung konnte sie im dreistündigen Interview kaum die Tiefe, deren Vielfalt an Dimensionen fassen. Gewichtige Sätze hallten noch lange in ihr nach, während sie durch den Morgenverkehr kurvten und schon in einem ersten Stau standen. Das Hotelbett, es musste noch warten!
„Die Menschheit lernt nicht. Braucht Impulse, die ihr fremd vorkommen zu Anfang.“ / „Skepsis ist die Grundlage der Vernunft, somit aller Wissenschaft. Um ihrer selbst willen eingesetzt, wird sie aber zur Geißel des Geistes.“/ „Kein Sterblicher kann sagen, was IOAN uns mitzuteilen haben wird. Doch dass es von Tragweite für unseren netten kleinen Planeten sein muss, daran besteht für mich – und nicht nur für mich – kein Zweifel.“ / „Wer an ein singuläres Universum glaubt, hat das Bauprinzip der Unendlichkeit nicht verstanden.“
Oha!
„Das Bauprinzip der Unendlichkeit“.
Große Worte, die dem Gelehrten derart locker von den Lippen gingen, als plaudere er über die Zutaten zu einem duffigen Soufflé. Und wogen doch so schwer, dessen zumindest war Jocelyn sich sicher, wie es vermutlich nur Wenige zu würdigen vermochten. Doch ihren Versuch, den war es allemal wert, sie auszustrahlen trotz allen Anspruchs!
Zu Dr. Sterling wollte er sich nur insoweit äußern, dass er die Chance für sie begrüßte, einem hoffentlich bewegenden Wiedersehen beizuwohnen.
„Wenn die Geschicke es fügen!“
Selbst wenn der Siebzigjährige altmodische, bei anderen oft gedrechselt wirkende Redewendungen verwendete, und dies erkennbar mit Absicht, hing sie gebannt an seinen Lippen. Nie sprach er hastig. Das Hochenglische wie Schottische ließ sein Bass ins Mikrophon perlen. Selbst ein Gälisches:
„Ceud mìle fàilte - One hundred thousand welcomes…”
ATLANTIK; Internationale Gewässer, zwischen Kanada und
Schottland, Yacht ‚MyMidas’.
In der Nacht von Dienstag auf europäischen Mittwoch
»Ob der mal schläft, statt sich Gischt um die Nase wehen zu lassen?« Nicht selten zeichneten ihre Gäste bemerkenswerte Spleens aus. Gang und gäbe! Doch was der Außerirdische an Gewohnheiten mitbrachte, das sprengte doch den Rahmen.
Gewöhnt hatte sich die Mannschaft um Skipper Yuanou daran, dass der jetzige Passagier nur Zeit auf Deck statt in der luxuriösen Kabine verbrachte. Doch als jenseits des Vorstellbaren zeigte sich, es widersprach auch den Gesetzen der Physik, bei welcher Seestärke er im Bug die Winde im Gesicht genoss. Dabei aufrecht stand, ohne sich festzuhalten,
Und jede Dünung buchstäblich ausbalancierte.
Die Nacht über schon verharrte er dort vorn, am Gestänge der Bugspitze, während die MyMidas Kurs Ostnordost auf Skye hielt. In zwar rascher, aber bei weitem nicht maximaler Fahrt. Zu rauh wogte dafür die See.
Auch wenn dies ausgerechnet den Gast wenig beeindruckte…
Vielmehr studierte er gewissenhaft, wie sie in Wellentäler eintauchten, Kämme durchschnitten oder sie abritten. Als erlebe er es zum ersten Mal. Wie ein Kind, das über den Jahrmarkt ging und gerne Achterbahn fuhr, immer wieder.
Seltsames Gebaren!
Bei diesem Gesamteindruck beließ es der Skipper. Wichtiger war die Sicherheit des Schiffs und derer, die sich darauf befanden. Solange beides nicht durch die Gallionsfigur im Bug gefährdet wurde, konnte der Exot tun und lassen, was ihm beliebte. Selbst über Bord gehen. Wobei dies der Eigner nicht würde akzeptieren noch verstehen wollen. Mochte dieser IOAN doch so lange wie es ihm beliebte den Walen und Delphinen zusehen!
Kreuzten öfter den Kurs, begleiteten die Yacht ein Stück.
Noch eine Zeitlang wollte Yuanou in der heraufziehenden Nacht auf der Brücke bleiben. Zu stürmisch die See für ruhigen Schlaf.
Bei den Seal-Kommandoeinsätzen hatten sie gelernt, sich Erholung zu verschaffen. Auch im Stehen, Hängen am Berg, notfalls kopfüber. Bevor ihr Einsatz begann, des Nachts oder frühen Morgenstunden. Sie so schnell, so gezielt und so gelassen wie möglich Menschen töten, Geiseln befreien oder Bomben legen mussten. Einer seiner Männer an Bord hatte früher die von eigener Hand Getöteten gezählt. Bis er den Überblick verlor. Als er ein nach Somalia entführtes Schiff sprengen und versenken sollte, mit Haftladungen unter Wasser. Auf dem sich zwanzig oder zweihundert Piraten befanden.
Auf hundertneunundvierzig war er gekommen. Bis dahin.
Kriege. Jeder der Hartgesottenen dieser Crew hatte sie überstanden.
Manche sogar angezettelt. In Grenzzonen, vermint bis in jede Feldfurche, hinter feindlichen Linien operiert. Zu Wasser, aus der Luft, zu Lande.
Wie es ihr Name besagte.
Sie würden auch diese friedliche Operation zum erfolgreichen Abschluss führen. Schließlich hatten seine Eltern ihm, Gabriel Yuanou, den Namen eines Erzengels gegeben. Dabei nicht ahnen können, wie todbringend er sein konnte, wenn er musste. Aber auch als Retter auftreten.
Gelegentlich, wie gerade jetzt.
Wo er an Land gehen wollte, hatte IOAN noch nicht verraten. Weder ihm als Skipper noch, soweit er wusste, dem vor ihm eingetroffenen Gast der Eigner-Kabine. Ob er schon wusste, wo es hingehen sollte, würden sie früh genug erfahren. Vielleicht direkt an ‚Abe‘ anlegen, wie in der indianischen Botschaft angekündigt, wer weiß?
Zum Wochenende erreichten sie nach ihrer Berechnung auf alle Fälle das britische Hoheitsgewässer. Dann sahen sie weiter. Ob es bis dahin noch mehr solch amüsanter Szenen gab?
Wie zu Beginn ihrer Fahrt, beim ersten Aufsuchen seiner Kabine.
Selbst seinem sonst asiatisch beherrschten Gesichtsausdruck entlockte die Erinnerung ein beachtliches Kräuseln der Lippen. Der dafür eingeteilte Matrose hatte dem neuen Passagier die Kabine zeigen wollen. Dass dieser kein Gepäck mitbrachte, ließ den Steward die Achseln zucken, schweigend vorausgehen. Der Gast folgte, soweit lief alles nach Empfangsritual. Bis der Seemann die Tür aufschob und ihn eintreten ließ!
Was dann geschah, fasste der Seemann später prustend zusammen:
»Betritt der Typ doch an mir vorbei die Kabine. Frag´, ob ich was erklären soll, Quadroanlage, TV, ganze Palette. Ohne zuzuhören sticht er quer durch´n Raum, als hätt´ er gehört, dass sich in seinem Schlafzimmer jemand rührt. Reißt die Tür auf: Und da liegt sie, unser Zuckermäuschen, mit, ja, weniger an als…ah, nichts.« Weiter dehnte der Seemann das Bild aus. »Höchstens Parfum! Wie der die Tür zuzog. Dacht´, er reißt das Deck ab!«
Hätte er die Weisung des Eigners hinterfragen sollen?
Kaum außerhalb kanadischer Gewässer, hatte er ihm mitteilen lassen, per Funk, seine Tochter wollte an Bord. „Unbedingt!“ Lange hätte er mit sich gerungen, sie die „heilige Mission“ begleiten zu lassen. Wohl wissend, was er „seinem vertrauenswürdigsten Skipper“ zumutete, „auf dieser heiklen Fahrt ihm ausgerechnet Rachel anzuvertrauen“. Doch versichert hätte sie ihm, sich allen Anordnungen zu fügen, keine Dummheiten anzustellen, sich unterwegs ganz dem Ziel der Überfahrt unterzuordnen.
Schließlich gab wohl ein ihm, dem Eigner, „wichtiges Versprechen“ den Ausschlag. Welches, wusste Yuanou nicht, ging ihn auch nichts an.
Und es handelte sich ja nur um die Überfahrt zum Präsidenten! Nicht in ein Kriegsgebiet! Ob der Boss ahnte, was Rachel tatsächlich im Sinn hatte?
Zu gleicher Zeit, während der Skipper sich Vorwürfe machte, goss sich Rachel in der Eignerkabine trotz Seegangs zielstrebig etwas zu trinken ein.
Worauf sie es anlegte wusste sie. Schon immer. Wusste vor jedem der Abenteuer, womit sie ihrem Vater Zustimmung entlocken konnte. Wie jede Tochter! So hart er im Geschäft sich gab, weich ließ er sich stimmen, wenn sie an sein Pflichtgefühl appellierte. Das, ihr Chancen nicht zu verbauen.
Warum Einmaliges nicht mit Appetitlichem verbringen? Schließlich sollte der Außerirdische nicht nur ein knackiges Alter haben, sondern auch über Talente verfügen wie kein anderer! Hatte sie dem Fernsehen entnommen. Davon sich zu überzeugen und einen Alien zu verführen, als erste Frau der Welt, das lockte. Ohnehin passte es in ihren Plan, Dad zu versprechen, wieder irgendein Studium aufzunehmen. Und es definitiv auch abzuschließen. Rund um die Villa war es ätzend langweilig! Selbst der Tennislehrer verheiratet! Nun ja…Sinnlichkeit lag eben in der Familie. Auch ihr Vater war nunmal kein Kostverächter. Wen er auf dem schwimmenden Liebesnest alles vernaschte an Prominentem, sie wusste es nicht. Doch seit zu vielen Trennungen hielt er sich durch derlei „Konsum“ schadlos!
Laut Borduhr und noch kanadischer Zeit ging es auf Mitternacht zu.
Welche Zeit hatte man eigentlich mitten auf dem Meer? Egal. Dunkel wars, das Bett zu leer. Und die See rauh. Ob sie nach vorn gehen sollte zu diesem so süß wie fürchterlich Erschrockenen? Wirklich wenig Erfahrung mit Frauen... zumal nackten. Aber er reizte sie, o ja, schon!
Seit Tagen sah sie ihn durch ihr Frontfenster vorne am Bug stehen.
Langweilig! Trank ihr Cola aus. Alkoholfrei! Wie Papa versprochen.
Bei Kleinigkeiten hielt sie sich an ihr Wort!
Im Fach ‚Geschichte‘ hatte nur eine einzige Frau sie als Persönlichkeit hingerissen, Kleopatra. Wie die erst Cäsar, dann diesen, diesen Mark Anton sich zurechtlegte, vom Feinsten! Auf ins Gefecht, Rachel! Knappste Shorts, enges T-Shirt, ohne Alles darunter, dazu Wasserfontänen auf Deck…kleinen Raffinessen konnte kein Mann widerstehen! ein paar Minuten, kühl wars…
Sie hatte den Türgriff in der Hand, ging nochmal zurück, um zu sehen, ob er wirklich noch vorne stand…da drehte er sich um, als habe er ihre Gedanken gelesen, kam schnurstracks Richtung Heck. Sie kannte sich aus an Bord, er entging ihr nicht. Ob er die Kabine aufsuchte? Vermutlich!
Trat hinaus aufs Oberdeck. Der nachtkalte Wind nahm ihr den Atem.
Wie hielt der das die ganze Zeit aus?
Eilige Trippelschritte, dann erreichte Rachel vor ihm seinen Eingang, die stampfende Yacht ließ kein verlockendes Hüfteschwenken zu. Besser, sich an den Aufbauten entlang tasten. Sie gelangte zur Kabinentür, wie zufällig! Wusste, er traf gleich ein. Tatsächlich, er kam die Treppe herauf.
Sexy war untertrieben.
Über das Deck getriebene Wasserböen machten ihm nichts aus. Es kam ihr vor, als bliebe er sogar in der Gischt trocken. Zumindest das hübsche braune Haar. Wie es sich wohl anfühlte, da durch zu streichen?
Ohne das Geländer zu benutzen, betrat er lässig das Oberdeck.
Wie machte der das?
Ohne sie und ihre aufreizenden Formen zu beachten, ging IOAN vorbei an ihr. Tür öffnen und eintreten, nur eine Bewegung. Fast, Rachel schlüpfte hinter ihm auch in seine Kabine. Er achtete nicht weiter darauf, schloss die Tür, als sei er allein und schaltete das Fernsehgerät ein, mit großem, an die Wand geschraubtem Monitor. Nur die teure Satellitentechnik erlaubte den Empfang auf hoher See. Die Fernbedienung klickte...Chinesisch, Arabisch erst als Sender, dann Klänge aus der amerikanischen Heimat.
Selbst Rachel erkannte das Nachrichtenjingle von PrimeTime. Auch wenn kaum ein Thema sie berührte, Aufmerksamkeit überzeugend zu heucheln, das beherrschte sie. Und stellte sich sehr nah neben IOAN.
Trug der immer das gleiche weiße Hemd?
Sie berührte ihn mit der Hüfte. Wenn er denn unbedingt Fernsehen sehen wollte mit ihr – bitte! Ein romantischer Film konnte auch das Eis brechen.
»Guten Abend, Amerika! Eine historische Ausgabe der PrimeTime-News erwartet Sie! Heute eröffnen wir ein neues Kapitel in der Chronik der Nation, vielleicht in der Geschichte unserer Erde. Mit einem sensationellen Bericht zu Beginn dieser Sondersendung, bleiben Sie dran. Ausnahmsweise folgen die Nachrichten danach. Zunächst nach Europa! Unserer Chefreporterin Jocelyn Bransworth gelang, was FBI und Experten nicht schafften: Der Beweis, woher der Besucher aus dem All stammt.«
Rachel schwankte. Sollte sie zuhören?
Oder die Gelegenheit nutzen, die sich ihr bot? Nachdem er sie bei Ankunft schnöde liegen ließ, einfach ging. So süß aufmerksam stand der Besucher da und wartete, was da aus der Heimat verkündet würde.
Was scherte sie das?
Noch näher an ihn heran schob die aufreizende Siebzehnjährige ihren Körper. Strich ihm mit dem Finger über den Handrücken. Mutiger mit der Hand über das Haar. Und er? Bemerkte es nicht einmal, starrte gebannt auf den Bildschirm. Sah und hörte die Anmoderation dieser, pah! Jocelyn:
»PrimeTime meldet sich heute aus Schottland. Auf Wunsch des Mannes, von dem die Welt spricht, soll hier das Treffen stattfinden, übermorgen, mit Präsident Granters. Wie man hört, sei der Flugzeugträger ‚Abraham Lincoln‘, unterwegs, träfe in diesen Stunden ein.« Hinter ihr wurde ein Archivluftbild von ihm samt Geleitzug eingeblendet, in voller Fahrt.
Auf ihre Fußspitzen erhob sich Rachel. Sah dem Mann, „von dem die Welt spricht“, ins nahe Gesicht. Beachtete sie einfach nicht, wie niemand je zuvor. Spürte er nicht ihren schwüllüsternen Atem an seinem Ohr, der Wange?
Stattdessen nickte er zu dem Gesagten, ganz leicht.
»An hiesiger Westküste lebt ein vormals sehr berühmter Mann. Durften ihn besuchen, exklusiv. Dort also, wohin der Noch-Fremde, der sich IOAN nennt, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit hingelenkt hat. Nahe der „Insel der Himmel“, wie es fälschlich hieß. Besser als andere kann er uns Aufschluss geben, auch zur tatsächlichen ‚Insel der Nebel‘. Der Forscher, geehrt mit dem Nobelpreis, er kennt das Geheimnis jenes mythenumwitterten Mannes, seine Herkunft aus einer fernen, unbekannten Welt. Wir durften ihn dazu befragen. Hier unser Bericht, weltexklusiv auf PrimeTime.«
Die Anmoderation untermalten ab „Nebel“ malerische Bilder, Highlands im Herbst. Eher anheimelnd statt schroff wirkten die weitgeschwungenen Berglandschaften, voll eindrucksvoller Wolken in den Glens, den Tälern. Über Booten auf den Lochs schwebten sie und vor den Küsten rund um die düstere, die umbrandete Isle of Skye. Wehmütige Musik der Band namens ‚Runrig‘, eingeblendet als Insert, untermalte die pittoresken Ansichten mit einem leisen Lied in gälischer Sprache: „Chì mi ‚n geamhrad“.
Kunstvoll geführt, näherte sich die Kamera dem Landhaus. Verriet nicht, wo es sich befand. Überblendete Bilder der Weite, von Sternen, Bergseen und Wasserfällen, Bäumen, Disteln. Suggerierten, die Kamera flöge auf das Haus zu. Dränge durch den Eingang ein. Durchquere Vorraum, erreiche den Speiseraum, vorbei am Kamin. Nähere sich dann erst dem am Tisch sitzenden MacKinnon, der seine Taschenuhr in aller Ruhe stellt, die Savonette zuklappt, Pfeife stopft, die Uhr in die Tasche der Weste über dem weiten, weißen Hemd steckt, Pfeife entzündet. Und sich erst dann der im Anschnitt erkennbaren, geduldigen Reporterin zuneigt.
Die erste Strophe, untertitelt, verklang.
„Chì mi ‚n geamhrad anns a‘ ghaoith
Chan eil an sneachd fada bhuainn
Sgòthan dorch‘ ‚s na craobhan rùisgte
Tha an oidhche a-nochd fuar …”
Als wollte sie dem Sinn nachlauschen, wechselte die Kamera die Schärfe. Zeigte durch das Fenster hinter dem Hausherrn die Weite des Wassers.
„Ich sehe den Winter im Wind,
der Schnee hat uns bald erreicht.
Dunkle Wolken und kahle Bäume,
die Nacht ist so kalt.“
Aus dem Off stellte Jocelyn nach der Einstimmung ihre erste Frage:
»Professor MacKinnon, Sie gelten als führender Archäophysiker. Haben Preise erhalten, sich einen großen Namen gemacht durch kühne Theorien, schon vor Jahrzehnten.«
IOAN konnte den Blick nicht vom Bildschirm wenden.
Verdammt! War sie nicht sein Typ? Rachel wollte aufstampfen, hielt sich erst in letzter Sekunde zurück. Der grauhaarige Herr auf dem Bildschirm antwortete, in gesetztem Ton.
Erwachsene, langweilig!
Aber der Schönling beugte sich vor. Immerhin, irgendwas reizte ihn!
Ihr Kussversuch scheiterte, wie von einer unsichtbaren Scheibe prallten Rachels angefeuchtete Lippen ab. Erschrocken trat sie zurück, warf sich in einen der gepolsterten Sessel und folgte unfreiwillig dem Bericht.
Was aus der üppigen Bar? Aber spröde Typen tranken nie mit. Schade!
Nach einleitenden Fragen und Antworten schlug die Interviewerin den Bogen in die Vergangenheit.
»Blenden wir zurück. Zu dem Ereignis, von dem Sie später sagten, es sei, wissenschaftlich gesehen, in Ihrem Leben das einschneidendste gewesen. „Auch, wenn es nur Rätsel aufgab statt eine Antwort zu offenbaren.“ Ihr Zitat, Professor MacKinnon.«
Die Bilder von 1979 liefen über den Bildschirm. Polizisten, Experten. Er. Die Mutter, ihr Mann, der sie in Schutz nahm. Und dann das Bild des Kindes, eines kleinen Jungen, mit auffallenden Augen, braunen Haaren…
Die so impulsive Rachel sprang auf. Tanzte aufgeregt um ihn herum.
»Bist ja…unmöglich, aber ja doch: Das bist Du! Dachte, Du kommst von irgendwo hinterm…Mars! Du heißt…John?«
Ließ nicht locker: »Kommst von hier, also nirgendwo her! Fass‘ es nicht!«
Mittwoch, 13. Oktober
EUROPA; Großbritannien, Schottland, Inn of Ardgour
03.16 h
»Mein Gott, ja! Genauso muss es sein!«
Ein ums andere Mal nickte sie. Wie Schuppen fiel es Constantina von den Augen, mit jedem Satz dieses wunderbaren, vermaledeiten Professors. Der ein Interview, genau dieses nämlich, dem Treffen mit ihr vorgezogen hatte.
‚Das verlorene Kind‘. Sei‘s drum!
Heute, am Nachmittag, traf Sie ihn. Endlich, im dritten Anlauf!
Kein Wort wollte sie sich jetzt entgehen lassen. Genau wie das Dutzend Agenten, das sie in dieser Nachtstunde umgab und mit ihr lauschte. Wie sie selbst jäh aus dem Bett geholt, trugen sie Bademäntel, Trainingsanzüge, sogar Pyjama. Ausgerechnet Lasky war es, der soeben noch heftig an ihre Zimmertür gepocht hatte, zu nachtschlafener Zeit, und gerufen:
»Dr. Farlowe, da bahnt sich ´was an. Müss‘n Sie seh‘n, schnell!«
Durch die Fenster drang kaum Licht der Straße. Im Raum herrschte das Blau allzu vieler Bildschirme, machte den Inn unwirtlich. Nochmals ließ sie sich die Anfangsminuten vorspielen. Alle schwiegen, solange der Beitrag lief. Vor ihrem Fazit ließ Jocelyn die Musik nochmal anspielen.
»Chì mi ‹n geamhrad anns a› ghaoith…Ich sehe den Winter im Wind!«
Draußen jagte ein Motorrad durch die Nacht, das Hochdrehen erstarb. Zum zweiten Mal sogen sie, ihre Männer, keine Frau darunter, die Fakten auf. Ob sie ihr Weltbild erschütterten, zeigten erst die kommenden Tage.
Jocelyn jedenfalls beendete ihren Beitrag mit den Schlussworten:
Frühherbst, 528 v. Chr.
ASIEN; Nordindien. Am Ufer des Neranjara-Flusses. Gegen Abend
Das schön buschige Dach der Pappelfeige, es überwölbte die knorrigen, weit verzweigten Luftwurzeln entlang des beachtlichen Stamms. Eisvögel, mit blau facettiertem Gefieder, rotgetönte Brust, lauerten darin auf Beute.
Mehr an Aufmerksamkeit hätte der wohlgeratene Baum verdient als die, welche ihm zuteilwurde durch den etwa fünfunddreißigjährigen Mann in seinem Schatten. Doch nachdem er darunter einen Platz zum Verweilen gesucht hatte, widmete dieser sich Betrachtungen der anderen Art. So dem Murmeln des Flusses, der sich träge als ‚Neranjara‘ durch die Ebene zu Füßen des allüberragenden Himalaya wälzte.
Doch nicht länger mehr durfte er ihm in Ruhe zuhören. Der asketisch knochige Mann in rotem Gewand, er stand vom Boden auf und schlang die mitgegebene Kutte um seinen hageren Körper. Wie man es ihn gelehrt hatte und wie er es fortan weitergeben sollte.
Seine Aufgabe und sein Ziel, sie galten von Stund an.
Als Werk, das er vollenden sollte im Laufe seines ihm nun verbleibenden irdischen Lebens. Die Mission, um derentwillen er hierher entsandt war.
Zuviel Elend hatte er in den Jahren seiner Wanderung gesehen, erlebt. Ehe er eines Abends durch das Licht entnommen wurde, in anderer Sphäre verweilte, sich auf die in diesem Augenblick beginnende Rolle vorbereitete.
Als Gestalter einer anderen Welt durch Erleuchtung.
Prinzensohn von Geburt, war er in einem Palast aufgewachsen, fern von hier. Und doch hatte Siddharta Gautama in sich selbst keine Zufriedenheit gefunden, ebenso wenig wie in der Ehe mit seiner Cousine aus dem Stamm der Shakya, der ihm mit 16 Jahren angetrauten Frau Yasodhara.
Einzig aus der Natur schöpfte er Kraft.
Allein sie erinnerte ihn an gute Zeiten jener Phase vor der Entnahme. Zu dem zählten der braune Strom zu seinen Füßen und die Blätterkrone über ihm, wofür er früher etwas empfand. Etwas, das schon damals über ihn und sein vertanes Leben hinauswies. Doch erst heute, hier und jetzt, da begann sein eigentliches Leben.
Schon recht spät geworden war es an diesem seinem ersten Tag auf dem heimatlichen Planeten. Die Sonne begann sich zu neigen, ihre sanfte Röte legte über die flachen Felder im Westen ein leuchtendes Band. Siddharta warf einen Blick auf den Fluss, nahm nicht Abschied, hieß ihn eher in einem neuen Leben willkommen. Nun beschloss er, der Sonne entgegen zu gehen.
Wohin immer sein Weg ihn von nun an auch führte.
Die ersten Schritte auf hartem Boden erinnerten ihn an seine Jugend. Als er, das hochgeborene Kind, viel mit den anderen Prinzen spielte. Beschirmt wurde, in Weiß, gegen die Sonne, verwöhnt und doch gelangweilt.
Dies sollte ihm nie mehr widerfahren.
Eine Gruppe Bauern hatte sich am Wegrand versammelt und hockte, von der Feldarbeit erschöpft, beisammen. Misstrauisch sahen sie dem Mann in dem seltsam strahlenden Rot entgegen. Zeigten sich vorsichtig, was er von ihnen wollen konnte. Reckten die dürren, verwitterten Hände, unter deren Haut jeder Knochen zu sehen war und die wie Speere der Abwehr wirkten.
Nein, Nahrung gaben sie nicht ab, sollte es ihm um Betteln gehen!
Näher kam der Fremde, der ihnen jedoch milde zulächelte. Was sollten sie nun davon halten, war das eine List? Sie zu überfallen, lohnte doch nicht…
Als er auf ihrer Höhe anlangte, hob er jedoch nur die Hand und sagte im Vorbeigehen:
Mittwoch, 13. Oktober 1999
EUROPA; Großbritannien, Schottland, Fort William, 11.49h
»Extrablatt, Extrablatt!«
Ungeübt, schaffte es die heisere Stimme des Ausrufers kaum, im Lärm der Einfahrt gehört zu werden. Wiederauferstehung feierte aus dem Nichts die Tradition einer Zeitungs-Sonderausgabe. Die Passagiere des Zuges, der wie an jedem Werktag den Hauptbahnhof von Edinburgh verlassen hatte und morgens in Richtung Invernessshire weiterfuhr, trauten den Ohren kaum, als sie den Ruf am Bahnsteig hörten. Er kam aus dem Kiosk am Fahrkartenschalter, kaum war ihr Zug am neuen Bahnhof von Fort William angekommen. Der alte, noch aus dem grauen Granit der Berge, hatte einer Umgehungsstraße weichen müssen. Die Verkehrsenge zwischen Bergen hatte Tribut gefordert. Der jetzige Flachbau mit nur zwei Bahnsteigen lag unmittelbar im Schatten des Ben Nevis, gälisch: Beinn Nibheis.
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