Irische Nierchen gefällig? - Chris Alder - E-Book

Irische Nierchen gefällig? E-Book

Chris Alder

3,9

Beschreibung

Die schreiende Frau lag am Boden und eine dunkle Gestalt schlug auf sie ein. "Aufhören!", hörte Peter sich schreien. Sofort hielt die Gestalt inne und fuhr herum. Peter George Forgerson, Anwalt der englischen Krone und Mitglied der royalen Familie Forgerson, muss aus der Zeitung erfahren, dass er aus einer Samenspende seines Onkels entstanden ist. Um Ruhe im Königreich einkehren zu lassen, wird Peter in ein verschlafenes Dorf nach Nordirland versetzt, um den Nachlass eines englischen Richters zu ordnen. Bald schon stößt er in dem kleinen Dorf auf unverhältnismäßig viele verstorbene Kinder, eine schwangere Frau, die vor seinen Augen überfallen wird, und zu allem Überfluss taucht bei einem unfreiwilligen Bad im See eine Frauenleiche neben ihm auf. Seine teils unorthodoxe Art Nachforschungen zu betreiben, bleiben nicht lange unentdeckt und bringen ihn und seine neugewonnenen Freunde in tödliche Gefahr ... Für spannende Stunden ist gesorgt!

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

1

Wenn es nach dem Wetter ginge, konnte der Tag nicht besser werden. Doch wenn es nach der Laune von Dr. Peter George Forgerson ginge, wäre es besser, der Tag würde nicht existieren. Wie oft hatte er sich schon eingeredet, dass man ein Justizgebäude nur betreten sollte, wenn es unbedingt nötig war. Leider half das alles nichts. Er arbeitete in diesem Gebäude als jüngster Crown Counsel Prosecuter der Königin und wohl auch oftmals der umstrittenste.

Der heutige Tag gehörte wieder zu einen der zahlreichen, schwarzen Tage seines Lebens.

„Hören Sie, Dr. Fox.“ Dr. Peter George Forgerson stoppte seinen Vorgesetzten mit einem scharfen Blick.

„Forgerson“, berichtigte er dann kühl. „Seit vier Wochen ist mein Nachname Forgerson, falls Sie dies vergessen haben, Dr. Brooks. Seit zwölf Wochen weiß ich und die ganze Welt, dass ich nicht der Sohn von John Fox bin. Seit zwölf Wochen ist wohl ganz Großbritannien informiert, dass Lord Sheringham sich als Samenspender für meine Mutter zur Verfügung gestellt hat, da sein Bruder impotent war. Seit vier Wochen heiße ich jetzt Forgerson. Ich bin der Sohn meines Onkels, Sir Julian Forgerson, des vierzehnten Earl of Sheringham!“ Bei seinem Wutausbruch färbte sich Peters Gesicht rot.

„Das ist mir wohl bekannt, Dr. Forgerson. Mir ist völlig bewusst, dass Sie diese Geschichte sehr berührt. Ebenso habe ich volles Verständnis für Ihren Gemütszustand im Moment, jedoch kann ich Ihr Benehmen gegenüber der Presse nicht tolerieren. Sie repräsentieren das Rechtsystem des Königreichs. Ihr Betragen gegenüber den Medien war völlig indiskutabel.“ Dr. Brooks hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet. Sein Mienenspiel ließ nichts Gutes erwarten.

„Auch die Presse hat die Regeln von Respekt und Anstand zu befolgen“, verteidigte sich Peter. Seine Augen hatten sich dunkel gefärbt. „Es ist nicht rechtens, wie dieser Journalist mich in aller Öffentlichkeit verunglimpfte. Natürlich setzte ich mich zur Wehr. Vielleicht war meine Bemerkung etwas harsch“, gestand er ein und fuhr sich verlegen durchs Haar. Dr. Brooks musterte ihn eingehend. Er kannte den Charakter von Dr. Forgerson nur zu gut. Er war impulsiv, ehrgeizig und vor allem stur. Manchmal war er auch ein ganz guter Staatsanwalt. Dr. Brooks konnte gut nachvollziehen, dass ihn die Neuigkeit über seine Herkunft und deren Folgen in Aufruhr versetzte.

Ein Reporter vom ‚The Strand‘ hatte eine Reportage über die ältesten und reichsten Familien Großbritanniens gestartet. Dazu gehörte auch die royale Familie Forgerson. Das Geschlecht Sheringham wurde das erste Mal im zehnten Jahrhundert erwähnt. Sie besaßen große Ländereien. Seit dem achtzehnten Jahrhundert folgten sie der Wissenschaft der Medizin. Über zwei Jahrhunderte entwickelten sie sich von anfänglichen Forschern zu Pharmazeuten. Das Laboratorium entwickelte sich zu einer Pharmaindustrie, die sich durch Sir Julian Forgersons emsigem Bestreben im globalen Markt sicher behauptete. Sir Julian Forgerson war der jüngste der drei Brüder des XIII. Earl of Sheringham. Richard Forgerson, der Älteste, verspürte keinerlei Interesse am Titel und an der Firma. Er verliebte sich in eine Schottin, deren Vater stolzer Besitzer einer Whiskeydistillery war. Sein Bruder John Forgerson, der sich der Justiz zuwandte, folgte seinem Beispiel und heiratete die Schwester seiner Frau.

John Forgerson wurde Richter. Er und seine Frau wünschten sich sehnlichst Kinder. Bald jedoch mussten sie feststellen, dass er nicht zeugungsfähig war. Nach langer Überlegung baten sie Julian Forgerson, dessen frisch angetraute Frau Maude bereits sein Kind in sich trug, um eine Samenspende. Nachdem Maude zustimmte, willigte er ein. Sie alle genossen die unbeschwerte Zeit miteinander. Doch bald schon sollte sich das Blatt wenden. Auf John Forgerson wurden, nachdem er zwei Schwerverbrecher eines Syndikats verurteilte, mehrere Attentate verübt. Zum Schutz seiner Frau und der Familie ließ er sich in ein Zeugenschutzprogramm aufnehmen. Er erhielt einen neuen Namen und die Möglichkeit, ein Leben in Amerika zu beginnen. Seither hieß er John Fox. Seine Frau gebar nach der erfolgreichen Samenspende eineiige Zwillinge. Peter George und Paul. Die Geburt verlief jedoch dramatisch und sie verstarb nach schweren Blutungen noch am gleichen Tag. John zog die Kinder mit all der Liebe, die er ihnen geben konnte, auf. Unterstützt wurde er von seine französischen und italienischen Haushaltshilfen, die den Jungen die Leviten lasen. Als die beiden sechs Jahre alt waren, verunglückte John Fox bei einem Autounfall tödlich. Ein Freund von ihm adoptierte sie, nachdem es offiziell keine Verwandten gab. Die Spannung, die sich zwischen Peter und seinem neuen Vater aufbaute, war unerträglich und vergiftete das Familienleben. Peters Abscheu schlug schon bald in Hass um und er ließ es Mr Harrison zu jeder Zeit wissen. So das Mr Harrison, um ihn Manieren beizubringen, ins Internat steckte . Dabei sorgte er dafür, dass Peter für seine Aufsässigkeit und schlechtes Benehmen strengst gemaßregelt wurde.

Zur gleichen Zeit verstarben die Eltern von Julian und Richard Forgerson. Mit Entsetzen musste Julian Forgerson feststellen, dass das Überleben der Firma und des Anwesens am seidenen Faden hing. Mit all seinem Willen und seinen Fähigkeiten schaffte er es schließlich, die Firma aus der Krise zu führen und sie zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz anderer Pharmafirmen wiedererstehen zu lassen. Sir Julian Forgerson erfuhr erst einige Zeit später vom Tod seines Bruders John. Nachdem ihm die Situation zwischen Mr Harrison und Peter bekannt wurde, adoptierte er Peter und holte ihn zu sich nach Hause nach England. Peters Lebensart veranlasste ihn, ihn streng zu erziehen, um ihn so vor seinen waghalsigen Abenteuern zu schützen und ihn auf seinen Werdegang vorzubereiten.

Während der Recherche über die reichsten Familien Englands stieß ein Journalist des Strands auf die Geburtsurkunde von Peter, die nur die Initialen JF des Vaters trug. Dies ließ ihn sofort stutzig werden. Nach eingehenden Nachforschungen stieß er auf die Lösung des Rätsels. Es war die Sensation. Die passende Story für das Sommerloch. Der Monat war gerettet:

‚Staatsanwalt Fox, Kind eines Samenspenders‘

Darunter stand ein ausführlicher Bericht über die Zeugung des Herrn Staatsanwalts. Peter konnte diesen Artikel leider nicht vor der Herausgabe bewahren, da er erst durch diese Titelseite von seinem richtigen Vater erfuhr. Seitdem wurde er Tag und Nacht von Journalisten malträtiert. Bei einem Schlagabtausch zwischen ihnen kam es zu unschönen Worten. Peter scherte sich darüber jedoch wenig. Man hatte ihm beinahe sechsundzwanzig Jahre ein Märchen vorgespielt.

Sir Julian wollte dem Ganzen endlich ein Ende setzen. Er gab der BBC ein Interview, bestätigte die ganze Geschichte und schritt zur Tat. Bevor Peter sich versah, wurde er als leiblicher Sohn von Sir Julian Forgerson anerkannt und trug seither den Namen Forgerson.

„Es geht nicht um diesen Journalisten, Dr. Forgerson“, riss ihn Dr. Brooks aus den Gedanken.

„So, es geht wohl um meine neue Identität?“, fragte er angriffslustig. „Unsinn! Setzen Sie sich endlich.“ Mit einer energischen Handbewegung deutete er zum Sessel gegenüber. Widerwillig nahm er Platz. Dr. Brooks seufzte abgrundtief. „Ich habe Sie wegen der Arkwoodaffäre kommen lassen. Gestern Abend erhielt ich einen Anruf aus dem Justizministerium.“

Peters Augen begannen gefährlich zu funkeln.

„Tatsächlich“, bemerkte er vorwurfsvoll und warf verächtlich die Zeitung, die er in der Hand gehalten hatte, auf den Schreibtisch. Die Überschrift schrie ihm schon ins Gesicht: ‚Bastard zerstört Ehre einer adeligen Familie.‘

Dr. Brooks Blick glitt über die Schlagzeile. Er kannte bereits den Titel. Mit einem Seufzen hob er den Kopf und musterte Peter. „Lächerlich!“, fauchte Peter. Seine Wangen glühten, seine Augen glitzerten wie Fixsterne. „Sie machen mich dafür verantwortlich, dass mein Vater als Samenspender agierte. War ich denn schon verdammt, bevor ich überhaupt atmen konnte?“

„Ich weiß, dass Sie im Focus des Interesses stehen und es ist weitaus verständlich, dass Ihnen dies ziemlich zusetzt. Wir verstehen dieses Problem. Es liegt uns am Herzen, Ihnen die Möglichkeit zu geben, die neuen Umstände zu verarbeiten. So sind wir zu einer zufriedenstellenden Lösung gelangt.“ Der freundliche Ton setzte Peter sofort in Alarmbereitschaft. Argwöhnisch legte er den Kopf schief und harrte der Dinge, die folgen würden. Dr. Brooks richtete sich auf.

„Vor kurzem verstarb in Nordirland Richter Dixon. Er gehörte dem englischen Gerichtshof an und vertrat für lange Zeit die Krone. Nun, man bat uns die Hinterlassenschaft, die die englische Justiz betreffen, zu sichten und dafür zu sorgen, dass die Dokumente in die englische Gerichtsbarkeit zurückgeführt werden.“ Peter traute seinen Ohren nicht. Er musste sich eindeutig verhört haben.

„Sie wünschen mich nach Nordirland, um Akten eines verstorbenen Richters aufzuarbeiten?“, fragte Peter ungläubig, „ich?“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist völlig unmöglich. Ich bin in drei wichtigen Fällen tätig. Von all den anderen gar nicht zu sprechen. Es ist mir unmöglich zu vereisen. Auf gar keinen Fall.“ Dr. Brooks hob leicht den Kopf.

„Dr. Forgerson, missverstehen Sie mich nicht. Dies ist keine Bitte. Es ist eine Anordnung des Justizministeriums. Ihre Arbeit wird einer Ihrer Kollegen weiterführen. Sie werden jetzt nach Hause fahren, Ihre Koffer packen und die Maschine um vierzehn Uhr nach Belfast nehmen“, setzte er ihn vor vollendete Tatsachen. Peter schnappte nach Luft. Sein Puls raste. Bestimmt würde er dies nicht tun.

„Ich werde dieser Aufforderung sicherlich nicht Folge leisten. Meine Arbeit hier…“

Dr. Brooks hatte sich von seinem Sessel erhoben. Seine Gestalt nahm eine bedrohliche Haltung an.

„Es schadet dem Crown Counsel, wenn die Medien an der Glaubwürdigkeit unserer Anwälte rütteln. Mit Ihrem Eid haben Sie sich verpflichtet, der Ehrbarkeit des Amtes Folge zu leisten. Mehr gibt es dazu nicht zu kommentieren. Ich werde mich nicht wiederholen.“ Entschlossen hielt er ihm das Ticket hin. Peter stand kurz vor einer Explosion. Unwirsch griff er nach dem Ticket und verließ wutschnaubend den Raum.

Ohne einem seiner Kollegen eines Blickes zu würdigen, rauschte er an ihnen vorbei und knallte mit voller Wucht die Tür seines Büros hinter sich zu. Miss Kandler zuckte vor Schreck zusammen. Sie warf einen Blick auf die Tür und wandte sich mit einem resignierten Schulterzucken wieder ihrer Arbeit zu. In letzter Zeit gab es des Öfteren diese Reaktion. Mitleidig warf sie einen Blick auf die verschlossene Tür. In den letzten Wochen setzte man dem jungen Anwalt mächtig zu. Kein Wunder, dass seine Nerven blank lagen.

„Ich hasse euch!“, schrie Peter und fegte ein dickes Gesetzbuch von seinem Schreibtisch, das mit einem großen Krach zu Boden fiel. Entmutigt ließ er sich auf seinen Sessel fallen und starrte ausdruckslos auf seinen mit Akten, Papieren, Büchern und Computer überfüllten Schreibtisch. Ein paar orange Rosenblätter hatten sich von der Blüte gelöst und zierten einen Stoß Dokumente in der Ablage. Verdammt sei der Tag, an dem er zur Welt kam! Warum spielte man ihm immer etwas vor? Warum hatte man ihm die Wahrheit verschwiegen?

„England, wie ich dich hasse! Deine Menschenmassen lechzen nur danach, den Spott und die Missgunst über andere zu ergießen.“ Entmutigt stand er auf, warf ein paar Akten in seinen Aktenkoffer, zog seinen Mantel an und setzte sich den Hut auf. Er ließ nochmals seinen Blick durch den Raum schweifen.

„Ade, Ort meiner kläglichen Arbeit“, verabschiedete er sich und öffnete die Tür. Mit entschuldigender Miene wandte er sich noch kurz an Miss Kandler: „Miss Kandler, ich möchte mich verabschieden.“

„Verabschieden?“, wiederholte sie überrascht und zog fragend ihre peinlichst genau gezupften Augenbrauen nach oben.

„Ich wurde nach Nordirland berufen.“

„Nordirland“, murmelte sie und musterte ihn verstohlen.

„Eine nicht aufschiebbare Angelegenheit erwartet mich dort“, antwortete er durch zusammengebissene Zähne.

„Wann werden wir Sie zurückerwarten können?“

Peter zog scharf die Luft ein. „In ein paar Wochen wohlmöglich.“

„Ich verstehe.“ Ihr Blick glitt zur Bürotür. „Ich werde mich in Ihrer Abwesenheit um Ihre Pflanzen kümmern und das Buch aufheben, das Ihnen zu Boden geglitten ist“, fügte sie mit einem feinen Lächeln an.

„Danke“, murmelte Peter verlegen, reichte ihr nochmals die Hand und verließ das Gebäude.

Peter hoffte, seinen Vater zu Hause nicht anzutreffen. Als er die große Eingangshalle betrat, fiel sein Blick auf den dunklen Aktenkoffer, der beim Kabinett stand. Seine Hoffnung war zerstört. Schritte waren vom Westflügel her zu vernehmen. Peters Miene verdunkelte sich augenblicklich.

„Guten Tag, Dr. Forgerson. Wir haben Sie noch nicht zurück erwartet“, begrüßte ihn Darson, der Butler reserviert.

„Jedoch wie mir scheint Lord Sheringham“, knurrte Peter. Für diese Bemerkung erntete er einen strafenden Blick des Butlers. Schon im ersten Moment, seit Peter wieder im Hause seines Vaters lebte, war es gegeben, dass Darson Peter verachtete. Er war seinem Vorgesetzten zu hundert Prozent loyal. Peters Benehmen, seine Abenteuer, die Art, wie er die Familie immer wieder in den Focus der Öffentlichkeit brachte, missfiel ihm zu tiefst. Er machte keinen Hehl daraus und ließ es Peter bei jeder Begegnung wissen.

„Ich denke, dass Ihr Vater das Recht besitzt zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebt. Er schuldet Ihnen sicherlich keine Rechenschaft. Und um auf Ihre Bemerkung zu antworten, Dr. Forgerson, haben wir in der Tat gewusst, dass Lord Sheringham zum Lunch zu Hause sein würde“, entgegnete er Peter scharfzüngig. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, weshalb er schon jetzt hier war.

„Bitte richten Sie doch Sir Julian aus…“, begann Peter, doch Darson bremste ihn mit einer energischen Handbewegung.

„Lord Sheringham erwartet Sie bereits.“

„Mir fehlt die Zeit für eine Unterredung“, erwiderte er scharf und wandte sich zur Treppe.

„Ihre Koffer werden bereits gepackt. Es hindert Sie nichts daran, Ihren Vater zu sehen, Dr. Forgerson, und ich lege Ihnen wirklich nahe, Lord Sheringhams Geduld nicht weiter auf die Probe zu stellen.“ Peter sog scharf die Luft ein. Seine Augen funkelten wie Fixsterne. Darson deutete zum Westflügel, hob herausfordernd den Blick. Die Spannung war deutlich fühlbar. „Wünschen Sie meine Begleitung?“, fragte Darson.

„Danke nein, Mr Darson. Ich kenne den Weg“, zischte Peter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und ging, ohne Darson nochmals anzusehen, zum Arbeitszimmer seines Vaters.

Im Kamin brannte ein Feuer. Angenehme Wärme verbreitete ein anheimelndes Gefühl. Die Sonne warf ihre Strahlen auf den Teppich und ließ Staubpartikel in der Luft tanzen. Peters Vater saß hinter seinem schweren Kirschholzschreibtisch und blätterte in einem dicken Wälzer. Der Computer lief. Als Peter eintrat, hob er den Blick und musterte ihn prüfend. Seine geröteten Wangen, das Funkeln in den dunklen Augen sprachen für sich.

„Du bist schon hier?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er sah Peter prüfend an.

„Ja, ich werde jedoch nicht lange bleiben“, bemerkte Peter barsch.

Sir Julian hob fragend die Augenbrauen. Diese Geste machte Peter umso wütender. „Ich werde verreisen“, verkündete er mit schneidendem Unterton.

„Verreisen“, wiederholte Sir Julian ruhig.

„Ja, wie du sehr wohl weißt, bin strafversetzt worden. Nach Nordirland, solange bis sich die Lage beruhigt hat.“ Verzweifelt warf er die Arme in die Luft. „War das auch dein Tun? Ist es noch nicht genug, wie mit mir verfahren wird?!“

„Peter…“

„Nein, erspare mir bitte dieses Gerede. Ich bin es überdrüssig.“ Sir Julian legte seinen Stift beiseite und schaute seinem Sohn geradewegs in die Augen.

„Setz dich bitte. Wie mir scheint, kannst du die Tatsache deiner Herkunft immer noch nicht akzeptieren.“ Schärfe mischte sich in die Stimme seines Vaters. Peter ballte die Hände zu Fäusten. Zögernd nahm er in dem Sessel gegenüber seines Vaters Schreibtischs Platz.

„Wir haben eingehend darüber gesprochen. Diese Gespräche würde ich keinesfalls als Gerede bezeichnen. Blutproben, Gentests und die Zeugenaussage von Maude sollten dir als Beweises genügen. Über die Umstände, weshalb du nicht darüber informiert worden bist, wurdest du bestens informiert. Es wird nun wirklich Zeit, dass du akzeptierst, mein Fleisch und Blut zu sein. Du bist mein Sohn.“ Sir Julian ließ eindeutig die Endgültigkeit seiner Aussage erkennen.

„Ihr hättet es mir viel früher sagen können!“, platzte es aus ihm heraus. Er konnte den Gedanken nicht verscheuchen. All diese Vortäuschungen, all die langen Jahre. Sir Julian musterte ihn für einen langen Moment. Die dunklen Locken und geschwungenen Lippen stammten von Elizabeth, seiner Mutter, die nussbraunen Augen und hohen Wangenknochen waren eindeutig von ihm. Bei genauer Betrachtung war deutlich zu erkennen, wessen Kind Peter war.

„Hätte es dir etwas genützt? Du fühltest dich nie wie ein Forgerson.

Du hast dich regelrecht dagegen gewehrt, zu unserer Familie zu gehören. Warum hätte ich dir also erzählen sollen, dass du mein leiblicher Sohn bist? Mein eigen Fleisch und Blut?“

„Es macht dir wohl noch Spaß, mich in dieser Lage zu sehen!“, fauchte Peter aufgebracht.

„Ich frage mich nur, warum du dich so dagegen wehrst, Peter? Was bewegt dich, uns nicht anzunehmen?“

„Das fragst du noch?“ Peter fuhr hoch. Er konnte sich nicht mehr im Sessel halten. Sein Puls raste. Seine Hände waren feucht. Sein Brustkorb hob und senkte sich deutlich im schnellen Rhytmus. „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre. Ich bin doch nur ein Spielzeug in deinen Händen. So wie es dir zu Gemüte steht, setzt du mich ein. Ich kann nicht einmal sagen, ob es dein oder mein Wille ist, wenn ich irgendetwas tue. Ich fühle mich wie eine Marionette in deiner Hand. Ganz langsam hast du mich zu dem gemacht, was ich bin. Ein willenloses Ding in deiner Gewalt. Je mehr ich mich dagegen wehre, desto mehr engst du mich ein. Solange bis ich aufgebe. Erwartest du, dass ich dich dafür liebe?“

„Deine Phantasie geht wieder völlig mit dir durch, mein Junge. Du setzt dir selber Grenzen. Dazu brauchst du mich nicht, mein Kind.

Tatsächlich hast du diese Luftveränderung wirklich nötig. Es gibt dir die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen und die Dinge wieder klar zu sehen. Dr. Brooks hatte mit dem Vorschlag, dich nach Nordirland zu senden, völlig Recht. Es wird die Dinge wieder ins rechte Licht setzen und dir die Gelegenheit geben wieder auf den Boden zu kommen, was du wirklich nötig hast“, setzte er scharf hinzu. Peter hatte seine Augen geschlossen und zählte seine Atemstöße. Er hatte keine Lust mehr, weiter darüber zu streiten. Wieder wurde er nicht ernst genommen. Ihm wurde wieder einmal schmerzlich klar, wer die Fäden seines Lebens in der Hand hielt.

„Ich muss mich fertig machen. Mein Flugzeug geht in drei Stunden.

Ich bin ohnehin schon zu spät dran.“ Sir Julian stand auf und trat zu ihm.

„Es sind nur ein paar Wochen, Peter“, beschwichtigte er ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. Peter sah weg. Tränen glitzerten in seinen bereits tiefschwarzen Augen. Ein dicker Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet.

„Ich muss gehen“, murmelte er und wandte sich ab.

„Du wirst mir schreiben.“ Peter drehte sich zu ihm um. Sir Julians Augen durchbohrten ihn. Peter nickte. Ein feines Lächeln erschien auf den Lippen seines Vaters. Aus einem Impuls heraus nahm er ihn in die Arme und drückte ihn. „Pass auf dich auf, Peter.“

„Werde ich“, antwortete Peter krächzend, löste sich aus der Umarmung und verließ so schnell wie möglich das Zimmer. Niemand sollte seine Tränen sehen.

2

Das Flugzeug landete pünktlich um Fünfzehn Uhr Fünfundvierzig in Belfast. Kreidebleich und mit wackeligen Knien verließ Peter das Flugzeug. Es war jedes Mal ein Alptraum für ihn, den sicheren Boden zu verlassen. Er nahm den nächsten Eilzug nach Enniskillen und fuhr dann mit dem Bus nach Belleck. Die Turmuhr der Dorfkirche schlug gerade die volle Stunde, als der Bus an der verwaisten Haltestelle anhielt.

„Bitte alle aussteigen. Der Bus endet hier“, rief der Fahrer und öffnete die Türen. Peter sah von seinem Buch auf.

„Sind wir hier in Garrison?“, fragte er und setzte seinen Hut auf.

„Nein, Sir. Wir sind in Belleck“, antwortete der Fahrer ihm gutmütig.

Eine kleine Falte bildete sich zwischen Peters Augenbrauen. Er zog seinen Mantel aus dem Gepäcknetz und schlüpfte hinein.

„Man sagte mir, der Bus fährt nach Garrison.“

„Da hat man Ihnen wohl das Falsche gesagt. Hier ist Endstation.“

Peter warf einen Blick aus dem Fenster. Der Herbstwind zauste in den Bäumen und trieb das gelbe Laub in die Dunkelheit. Die Sonne verabschiedete sich mit einem letzten roten aufglimmen am Horizont.

„Gibt es hier ein Taxi?“, wollte Peter wissen, während er sein Buch in einem kleinen Koffer verstaute. Der Busfahrer lachte laut auf.

„Typisch Engländer“, bemerkte er abschätzig und schüttelte mitleidig den Kopf.

„Und wie komme ich jetzt nach Garrison?“, wünschte Peter zu wissen und starrte durch die Scheibe in die hereinbrechende Nacht hinaus.

„Na, zu Fuß“, antwortete der Busfahrer, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind. „Heute fährt keiner mehr nach Garrison.“

„Zu Fuß?“, stieß Peter entsetzt aus.

„Aber natürlich oder sind Sie nicht fähig zu gehen?“

„Es ist mittlerweile dunkel“, erinnerte ihn Peter und schob seine zwei Koffer den Gang entlang. Demonstrativ warf der Busfahrer einen Blick aus dem Fenster.

„Tatsächlich, wie schnell es zur Zeit schon dunkel wird“, bemerkte er und troff vor Ironie.

„Gibt es hier eine Übernachtungsmöglichkeit?“ Peter war nun ziemlich genervt.

„Übernachten?“, wiederholte der Busfahrer ungläubig und grinste dann über das ganze Gesicht. „Keine Chance, Engländer.“ Er beobachtete kurz Peters Mienenspiel, dann fügte er freundlich hinzu: „Morgen fährt der Postwagen rüber. Sie gehen jetzt zum Posthaus und geben dort Ihre Koffer ab. Der Postbote nimmt Ihre Koffer sicher morgen mit nach Garrison. Wenn Sie zügig gehen, sind Sie in zwei Stunden in Garrison.“

Peter seufzte abgrundtief. „Danke für die Auskunft.“

„Hab ich doch gerne gemacht, Engländer.“ Dabei grinste er Peter schadenfroh an. Irgendetwas an diesem Busfahrer konnte Peter nicht leiden. Er zog seine zwei Koffer aus dem Bus und marschierte rüber zu dem kleinen Posthäuschen. Der Wind war kalt und schnitt ihm ins Gesicht. Im Untergeschoss brannte Licht. Er musste dreimal läuten, bis ihm geöffnet wurde. Ein hochgewachsener, gut proportionierter Mann mit dunklem Vollbart und roten Wangen öffnete ihm die Tür.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. aber man sagte mir...“

„Ein Engländer“, unterbrach ihn der Mann und machte eine geringschätzige Bewegung. Peter hatte langsam die Nase voll. Für heute hatte er nun schon genug Strapazen hinter sich gebracht.

„Man sagte mir...“, begann er wieder. Nochmals wurde er unterbrochen „Sie wollen nach Garrison. Lassen Sie die Koffer hier, ich nehme sie morgen mit. Wenn Sie nach Garrison wollen, müssen Sie da vorne links abbiegen und dann immer die Straße entlang. Nach drei Meilen kommt eine Abzweigung, da gehen Sie rechts. Das erste Haus links ist das Richterhaus. Sie können es nicht übersehen. Sie sollten jetzt losgehen, sonst könnte es sein, dass die Werwölfe Sie holen. Die haben Engländer nämlich zum Fressen gern“, fügte er hinzu. Peters Wangen röteten sich. Seine Augen färbten sich dunkel. Was dachten diese Personen, wer sie waren? Peters Abneigung gegen diesen Herrn war grenzenlos.

„Ich nehme diesen Koffer mit. Es wäre nett, wenn Sie mir den großen liefern würden“, erklärte er kühl, schob sich den Rucksack zurecht und hob den kleinen Koffer vom Boden auf.

„Guten Abend Sir.“ Peter nickte ihm knapp zu und drehte sich um.

„Ach, Engländer!“, rief ihm der Mann nach. Peter wandte sich zögernd um. Sein Gesicht glühte vor Wut und die Augen funkelten wie zwei Fixsterne. „Kommen Sie nicht vom Weg ab, ich habe keine Lust, Ihr Zeug versteigern zu lassen.“

Ohne ein Wort zu erwidern, drehte Peter sich um und marschierte die Straße entlang.

Mittlerweile war es stockdunkel. Der Wind ließ ihn frieren. Seine Finger waren klamm von der klirrenden Kälte. Hunger und Müdigkeit plagten ihn. Er sehnte sich nach einem warmen Platz und einem Bett. Wenn man ihn hier schon so herzlich begrüßte, wie würde man ihn dann erst im Richterhaus empfangen?

Es war kurz vor acht, als er das Haus erreichte. Auf halben Weg hatte Regen eingesetzt. Peter war völlig durchnässt. Sein Anzug war zerknittert und von seinem Hut troff der Regen. Als Peter den Klopfer betätigen wollte, bekam er kaum seine Finger von dem Griff seines Koffers los. Mit einem Plumps ließ er den Koffer fallen, machte mit seinen Händen eine Höhle und pustete hinein. Aus der überfüllten Dachrinne platschte das Wasser auf das Pflaster. Ein paar Begonien ließen am Eingang traurig ihre Köpfe hängen. Die Vorhänge waren zugezogen und ließen buntes Licht durch die Fenster fallen. Peter hörte den Regen auf seinen Hut prasseln. Ihm war eiskalt. Vorsichtig griff er nach dem Türklopfer. Mit seinen klammen Fingern hatte er große Mühe, das Stück Eisen zu bewegen. Es dauerte nicht lange, da vernahm er Schritte im Hausgang. Sofort trat er einen Schritt zurück.

Die Tür öffnete sich und er fand sich einer großen, selbstbewussten Frau gegenüber. Ihre grauen Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt, die wachsamen grünen Augen glitten musternd an ihm herunter. Ein Grübchen erschien zwischen ihren Augenbrauen. Die spitze Nase war leicht gerümpft. Die rosa Lippen skeptisch gespitzt. Ihre Hand ruhte ruhig auf dem Türgriff.

„Guten Abend, Madam. Mein Name ist Peter Forgerson. Ich komme im Auftrag des Justizministeriums, um die Akten von Richter Dixon durchzuarbeiten, zu sortieren und für die Überstellung an den High Court zu sorgen. Ich entschuldige mich für mein spätes Eintreffen.

Mir war leider nicht bekannt, dass der Bus nicht nach Garrison fährt“, stellte er sich verlegen vor.

„Sie sind ein Kind“, war ihre schlichte Antwort auf seinen langen Text. Sie war das Urbild einer Haushälterin. Peter starrte sie perplex an.

„Bitte?“, fragte er irritiert.

„Kommen Sie herein! Sie sind völlig durchnässt.“ Mit einer Handbewegung winkte sie ihn herein. Peter folgte ihrer Einladung. Mit seinen starren Finger griff er nach seinem Koffer und trat nach ihr in den Flur. Kurzerhand schloss sie die Tür hinter ihm. Sie befanden sich in einem kleinen Hauseingang. Rechts führte eine Holztreppe in den ersten Stock. An den weißen Wänden hingen Landschaftsbilder. Alles glänzte und funkelte in dem warmen Licht. Das Regenwasser tropfte vom Mantel auf den Boden und ließ um ihn herum kleine Pfützen entstehen.

„Legen Sie doch ab.“ Ihre Aufforderung klang mehr nach einem Befehl. Peter ahnte wohl, was ihn in den kommenden Wochen erwarten würde. Seufzend befreite er sich von den nassen Utensilien.

Ohne viel Umschweife wurde er danach in die Küche geführt. Ein Holzherd verbreitete mollige Wärme. Es duftete nach frischem Kuchen. Peter nahm am kleinen Esstisch Platz und sah sich um. Die Einrichtung bestand aus einem Holzherd mit großer Kochplatte, einem silbrig glänzendem Spülbecken mit großer, massiver, aus Eichenholz gearbeiteter Arbeitsplatte. Daneben schmiegte sich ein alter Nussbaumschrank. Eine Anzahl an Souvenirs aus der Schweiz und Italien standen fein säuberlich aufgereiht darauf. Gegenüber am Fenster befand sich die bunt gepolsterte Sitzecke, die mit handbestickten Kissen dekoriert war. In der Ecke der Sitzbank befand sich eine Muttergottesstatue. Peter kannte diese Figur. Es handelte sich um eine Nachbildung der Madonnenfigur von Lourdes. Zu ihren Füßen stand eine kleine Vase mit Fuchsienblüten. Zwei hellblaue, mit bunten Blumen verzierte, zugezogene Vorhänge versperrten die Sicht nach draußen. Die Blümchentapete verlieh dem ganzen Raum das Aussehen einer Puppenstube. Peter betrachtete eine Schwarzweißfotographie, die an der Wand hing, wobei die Dame des Hauses seinen Blicken folgte.

„Das ist Richter Dixon“, antwortete sie seinem Blick folgend. Aus einem Topf, schöpfte sie Suppe in einen Teller und stellte ihn vor Peter auf den Tisch. Stirnrunzelnd berührte sie Peters Jackett, das ebenso nass war wie sein Mantel.

„Sie sind ja nass bis auf die Knochen“, tadelte sie ihn mit strenger, mütterlicher Miene. „Sie werden sich erkälten, mein lieber Junge.“

Peter zuckte gleichmütig mit den Schultern.

„Das Jackett trocknet schon wieder“, bemerkte er leichthin, bedankte sich für die Suppe und begann zu essen. Sie schmeichelte seinem Gaumen und schenkte seinen blassen Wangen wieder etwas Farbe.

„Ich habe mich noch nicht richtig vorgestellt. Mein Name ist Clare McAlister. Ich war die langjährige Haushälterin von Richter Dixon.“

„Freut mich“, murmelte Peter.

„Richter Dixon lebte hier seit über zehn Jahren.“ Peter hob fragend die Augenbrauen.

„Ja?“, fragte er und wartete darauf, dass Miss McAlister fortfuhr.

„Richter Dixon verbrachte hier seinen Ruhestand. Er war jedoch all die Jahre in seinem Beruf engagiert. Die Menschen hier schätzten seine Art und Lebensauffassung.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Peter freundlich zurückhaltend. Sie legte leicht den Kopf schief und musterte ihn.

„Tee?“, schlug sie dann vor.

„Gerne“, antwortete er, legte den Löffel in den leeren Teller und wartete darauf, was noch kommen würde. Schweigend nahm sie den Teller vom Tisch. Nachdem sich Miss McAlister nicht weiter äußerte, setzte Peter verlegen an: „Ich möchte nicht impertinent erscheinen, aber wie wird sich Ihr zukünftiges Leben gestalten? Ich meine jetzt, da Richter Dixon aus dem Leben geschieden ist und Sie Ihre Pflicht erfüllt haben.“ Miss McAlister nahm den Wasserkocher und füllte ihn.

„Wie darf ich das verstehen?“

„Nun…“ Seine Wangen färbten sich rot. „Es ist…“ Er ließ den Satz fallen. „Tut mir leid. Vergessen Sie das Ganze.“ Behände drehte sie sich zu ihm um.

„Möchten Sie wissen, ob ich dieses Haus verlassen werde?“ Pikiert griff Peter nach dem Glas Wasser. Beinahe schüchtern hob er den Blick.

„Werden Sie es verlassen?“

„Bestimmt nicht, solange Sie hier die Dinge regeln werden. Einer muss sich ja um Sie kümmern. Wie mir scheint, sind Sie dazu nicht in dieser Lage“, setzte sie im mütterlichen Ton hinzu und deutete auf sein nasses Jackett. Peters Augen färbten sich dunkel. Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Und wenn Ihre Arbeit getan ist und Sie zurück nach England gehen, werde ich immer noch hier sein. Mir wurde das Bleiberecht auf Lebenszeit zugesprochen.“

„Verstehe“, grummelte Peter und trank einen Schluck Wasser. Langsam wurde sein Körper wieder warm. In seinen Fingerspitzen begann es zu prickeln. Routiniert nahm sie die Teekanne und zwei Tassen aus dem Schrank, füllte das Netz mit Tee und goss das heiße Wasser darüber. Während ihrer Tätigkeit ließ sie ihren Blick wieder über Peter gleiten. Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg. Eine Hand hielt immer noch das Wasserglas umschlossen. Seine dunklen Augen schienen leer. Sie stellte die Tassen, Löffel, Zuckerdose und Milch auf den Tisch, nahm die Teekanne und setzte sich ihm gegenüber.

„Darf ich Ihnen auch eine persönliche Frage stellen?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken.

„Wie?“, fragte er verwirrt. Sein Blick klärte sich sogleich. „Entschuldigen Sie bitte meine Unaufmerksamkeit. Möchten Sie Ihre Frage wiederholen?“, bat er sie verlegen.

„Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“ Peter machte eine offene Handbewegung.

„Bitte.“ Sie reichte ihm eine Tasse und goss den Tee ein.

„Warum hat man gerade Sie geschickt? Einen so jungen, unerfahrenen Anwalt, der außerdem auch noch Engländer ist.“

Sofort begannen seine Augen zu funkeln. Die Wanduhr schwang im nie endenden Takt ihr Pendel hin und her. Der stetige Rhythmus ließ keine tiefe Stille aufkommen. Clare McAlister ließ ihn nicht aus den Augen. Das ärgerliche Funkeln veränderte sich. Traurigkeit überflog sein Gesicht. Peter hob die Tasse an seine Lippen und nippte daran.

„Die Frage ist schwierig zu beantworten“, gestand er dann.

„Versuchen Sie es“, ermunterte sie ihn. Peter nahm den Teelöffel vom Tisch und beäugte sein gespiegeltes Ebenbild.

„Es gab einiges Aufsehen zwecks einer Begebenheit, die vor vielen Jahren geschah. Sie wurde jetzt von einem Journalisten aufgedeckt und brachte ziemliche Unruhe. Um wieder Ruhe einkehren zu lassen, hielten es meine Vorgesetzten für das Beste, mich mit dieser Aufgabe zu betrauen.“

„Sie müssen ja ganz schön was angestellt haben.“

Peters Augen färbten augenblicklich schwarz. Seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. Die Knöchel seiner Hand, die immer noch das Glas hielt, wurden weiß. Unwillkürlich überzog eine Gänsehaut den Rücken von Miss McAlister.

„Eher mein Vater“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

„Ihr Vater?“, hakte Miss McAlister nach. Ihre Neugierde war entfacht.

„Ich…“, stammelte Peter unbeholfen.

„Ihr Name ist Forgerson, richtig?“ Peter nickte. Sein Herz schlug einen schnelleren Rhythmus. „Ich denke, der Name wurde erst in der Zeitung erwähnt.“ Sie fixierte ihn, beobachtete, wie sich sein Körper verspannte, seine Augenbrauen sich zusammenzogen und er an Farbe verlor.

„Das ist möglich“, wisperte Peter und legte den Löffel sofort auf den Tisch zurück, als er sah, wie seine Hand zitterte. Vor ihr saß tatsächlich der Sohn eines millionenschweren Großindustriellen.

„Möchten Sie noch Tee?“, fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln. Peter verneinte freundlich. Ein Gähnen entfleuchte ihm. „Der Tag war sicherlich anstrengend. Möchten Sie sich zurückziehen?“

Peter nickte dankbar.

„Wenn es Sie nicht stört, gerne.“

Sie schenkte ihm wieder ein Lächeln. Die kleinen Lachfalten an ihren Augen milderten ihre strenge Ausstrahlung.

„Ich werde Ihnen morgen Richter Dixons Arbeitszimmer zeigen“, schlug sie vor und stand mit Leichtigkeit auf. Es war ihm unmöglich ihr Alter zu schätzen. Die Frisur, die Kleidung, das Makeup, das sie trug, ließ sie Ende Sechzig schätzen, jedoch wirkten ihre Bewegungen zehn Jahre jünger. Peter folgte ihr, nahm seinen Koffer und Rucksack und stieg hinter Miss McAlister die Treppe hoch. Das Zimmer lag unter dem Dach und war ebenso liebevoll eingerichtet wie die Küche. Peter holte nur Pyjama und Toilettensachen aus dem Koffer und ging ins Bad. Erst jetzt bemerkte er wirklich, wie müde er war.

Tiefe Wolken trieben am Himmel, als Peter nach einem tiefen Schlaf langsam seine Augen öffnete. Sein Kopf brummte und die Nase war verstopft. Die Erkältung hatte ihn eiskalt erwischt. Wunderbar.

Griesgrämig schaute er zum Fenster. Egal wie lange er hier verweilen würde, irgendwann musste er das Bett verlassen. Seufzend schlug er die Decke zurück und stand auf. Mürrisch griff er sich den Morgenmantel und schlurfte fröstelnd ins Bad. Das Kratzen im Hals ließ ihn nichts Gutes ahnen. Seine Augen starrten ihn glasig an. Missgestimmt putzte er sich die Zähne wusch und rasierte sich und zog sich an. Der Tag konnte nur besser werden.

Das Frühstück stand schon auf dem Tisch, als er in die Küche kam.

„Guten Morgen“, begrüßte Miss McAlister Peter gut gelaunt. Peter tat sein Bestes den Gruß freundlich zu erwidern und setzte sich. Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und füllte einen Teller mit Speck und Eiern. Peter nahm sich einen Toast und bestrich ihn dünn mit Butter. Ihm war schlecht. Sie nahm ihn gegenüber Platz, ließ ihren Blick skeptisch an ihm herunter gleiten und begann ihr Frühstück zu verzehren. Peter kaute nachdenklich an seinem Toast.

„Sie haben sich erkältet“, bemerkte sie streng. Während Peter immer noch an seinem Toast kaute, hatte sie ihr Frühstück verzehrt.

„Möglich“, gab Peter zu und trank einen Schluck Kaffee.

„Ich habe es Ihnen gesagt, aber man will ja nicht hören“, tadelte sie und nahm den kalt gewordenen Teller vom Tisch.

„An etwas Schnupfen stirbt man nicht“, entgegnete er grimmig und biss in seinen Toast.

„Ihre Wangen glühen, Ihre Augen glänzen fiebrig. Sie haben Fieber!“

Mit einem herausfordernden Blick auf Peter, goss sie frischen Tee in ihre Tasse. Er fröstelte trotz der Wärme.

„Es ist wirklich nur eine Unpässlichkeit, Miss McAlister. Es gibt keinen Grund zur Sorge“, entgegnete er ihr scharf. Seine Augen funkelten gefährlich.

„Wenn das so ist, zeige ich Ihnen jetzt das Arbeitszimmer von Richter Dixon.“ Entschlossen stand sie auf und machte eine Handbewegung zur Tür.

„Vielen Dank“, erwiderte er und folgte ihr immer noch wütend.

Das geräumige Zimmer lag im ersten Stock. Die Fenster gingen nach Süden. Eine Wand bestand aus einem völlig überfüllten Bücherregal, das bis zur Decke reichte. Anschließend folgte eine Regalwand, aus der unzählige Akten herausquollen. Rundherum türmten sich am Boden Akten zu Bergen. Peter öffnete einen Karteischrank und zog willkürlich eine Akte heraus. Sie war falsch eingeordnet. Auch eine zweite und dritte war nicht hinter dem passenden Buchstaben und so ging es weiter. Peter drehte sich um und wandte sich an Miss McAlister, die ihm neugierig zuschaute.

„Hatte Richter Dixon ein besonderes Ordnungsschema?“ Ungläubig sah sie Peter an.

„Bitte?“

„Er war doch ein ordnungsliebender Mensch?“ Peter ahnte Schreckliches.

„Sehen Sie, Dr. Forgerson, Richter Dixon war alles: rechtsliebend, gutmütig, intelligent, weltgewandt, aber ordentlich und systematisch?“ Sie hob bedauernd die Hände. „Er konnte keinen halben Tag Ordnung halten, dafür war er viel zu vielseitig interessiert. Ich habe es nach zwei Monaten aufgegeben, hier Ordnung zu schaffen.“

Peters Verzweiflung war deutlich in seinem Gesicht zu lesen.

„Sie sagten mir, er habe hier über zehn Jahre gelebt…“

„Siebzehn, um genau zu sein“, antwortete Miss McAlister mitleidig.

„Oh nein!“ Verzweifelt ließ er die Schultern hängen. „Das kann Jahre dauern, bis ich mich da durch gearbeitet habe“, jammerte er und fuhr mit der Hand durch seine dunklen Locken. Vor seinem inneren Auge sah er sich völlig ergraut mit zitternden Händen Stöße von Akten durchstöbern.

„Ach, Sie sind doch ein fleißiger Junge“, tröstete Miss McAlister ihn und strich ihm aufmunternd über die rechte Schulter. „Sie schaffen das schon.“ Sie schenkte ihm nochmals ein Lächeln und ließ ihn mit der Mammut-Aufgabe allein.

Peter seufzte abgrundtief und ließ kopfschüttelnd seinen Blick über die Berge von Papier schweifen. In London wartete der Arkwoodfall und er saß hier vor einem Ozean von Papier, der die Wirbelstürme der Zeit nicht überlebte. Der Schreibtisch war bedeckt mit Papieren, Akten, Büchern und Schreibutensilien. Er sollte seine Koffer packen und nach London zurück fliegen. Egal, ob ihm eine Disziplinarstrafe wegen Arbeitsverweigerung ins Haus stand oder nicht. Lieber drei Monate im tiefen Ungemach leben, als den Rest seines Lebens hier zu verbringen. Es hatte zu regnen begonnen. Dicke Tropfen prasselten an das Fenster. Resigniert trat er an den Schreibtisch. Ohne es wirklich zu wollen, begannen seine Finger die Stifte aufzusammeln und in einen Krug zu stecken, Bücher zu stapeln, die Schriftstücke nach Datum geordnet zu sortieren. Er selbst lebte in einer Art von Unordnung, sobald er zu arbeiten begann, aber ein solches Durcheinander brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Nach unermüdlicher Arbeit schaffte er es, den Schreibtisch und die Oberfläche des Karteischranks in Ordnung zu bringen. Den Nachmittag über kämpfte er mit den Akten im Schrank. Stöhnend musste er feststellen, dass nicht nur die Akten nicht geordnet waren, nein, sogar die Dokumente steckten in den falschen Ordnern. Es war heillos.

„Sie waren ja sehr fleißig“, lobte ihn Miss McAlister beim Abendessen.

„Fleißig? Ich habe ja noch gar nichts getan. Wenn ich an die vielen Ordner und Akten denke, die vor mir liegen, könnte ich in Tränen ausbrechen.“ Sie schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln und goss heißen Tee in seine Tasse. Seine roten Wangen und glänzenden Augen gefielen ihr gar nicht. Stirnrunzelnd berührte sie seine Stirn.

„Sie haben eindeutig Fieber!“

Peter wich sofort zurück. Sein Hals kratzte, er fühlte sich müde und fror erbärmlich . Jedoch war dies immer noch als Unpässlichkeit zu werten.

„Mir geht es gut“, erwiderte er fest.

„Sie haben heute Morgen fast nichts zu sich genommen, heute Mittag haben Sie nur eine Suppe gegessen und jetzt nur eine Scheibe trockenes Brot. Sagen Sie mir nicht, dass es Ihnen gut geht. Sie werden jetzt ins Bett gehen. Ich mache Ihnen noch einen Erkältungstee und sehe, was ich im Medizinschrank finde. Dann werden wir Ihre Temperatur messen. Solange sie nicht bei sechsunddreißig Grad liegt, werden Sie das Bett nicht verlassen.“

„Miss McAlister!“, brauste Peter empört auf. „Ich denke, ich kann sehr gut für mich sorgen. Morgen werde ich natürlich arbeiten. Ich sollte jetzt mich wieder an die Aufga…“

„Dr. Forgerson, reden Sie nicht so einen Unsinn!“, unterbrach sie ihn unwirsch und stand auf. „Sie werden sich sofort nach oben begeben und ins Bett legen. Ich dulde in diesem Haus keine Widerrede. Tun Sie das, was ich Ihnen sage!“, herrschte sie ihn an. Überrascht von ihrer Heftigkeit riss Peter die Augen auf. Jedoch erholte er sich schnell.

„Ich habe noch zu arbeiten“, erwiderte er stur.

„Möchten Sie meine Geduld wirklich auf die Probe stellen? Während Sie in diesem Haus leben, habe ich die Verantwortung, dass es Ihnen gut geht. Ich werde dieser Pflicht nachkommen und ich erwarte von Ihnen Respekt für mein Tun.“ Peter funkelte sie wütend an. Fiebrig suchte er eine Antwort. Ihm fiel jedoch nichts passendes ein. Miss McAlister deutete zur Tür. „Sie kennen den Weg zu Ihrem Schlafgemach“, forderte sie ihn im strengen Ton auf. Widerwillig stand Peter auf, entschuldigte sich durch zusammengebissene Zähne und stapfte die Treppe hoch.

Wie konnte sie es wagen, so mit ihm zu sprechen? Er war ein Anwalt der Krone, beim Zeus! Ungestüm erledigte er seine Toilette und kroch ins Bett. Nur wenige Minuten darauf stand Miss McAlister im Schlafzimmer mit der besagten Tasse Tee.

„Trinken Sie. Danach werden Sie schlafen“, befahl sie herrisch und setzte drohend hinzu: „Ich werde nachsehen, ob Sie gehorchen.“ Mit diesen Worten reichte sie ihm die Tasse. Missmutig begann er zu trinken. Peter hörte ihr Kleid rascheln, als sie das Zimmer verließ. Er trank das bittere Gebräu zur Hälfte und stellte die Tasse auf den Nachttischen ab. Wohin hatte es ihn nur verschlagen? Von der Traufe in den Monsun? Gedämpfte Laute drangen an sein Ohr. Miss McAlister war noch in der Küche zu Gange. Peter ließ sich in die Kissen sinken und schloss die Augen. Langsam schlummerte er ein.

Peter verbrachte den folgenden Tag im Bett, das Fieber war am Morgen noch nicht gewichen. Miss McAlister wachte mit Argusaugen über ihn. Er fühlte sich wie zu Hause. Nach einer Kanne von dem Gebräu und ein paar weiteren Hausmitteln klang das Fieber gegen Abend ab.

Mit gutem Glück konnte er am nächsten Tag an den Akten weiterarbeiten.

Ein grauer Himmel begrüßte ihn am folgenden Tag. Er fühlte sich wesentlich besser. Verstohlen maß er seine Temperatur und war zufrieden. Sie lag knapp unter Sechsunddreißig Grad. Entschlossen stand er auf. Je schneller er mit der Arbeit beginnen konnte, umso schneller würde er dieses Dorf verlassen und nach England zurückkehren können. Miss McAlister musste wohl oder übel seinem Tatendrang nachgeben. Peter begab sich gleich nach dem Frühstück ins Arbeitszimmer und begann mit seiner Arbeit. Den ganzen Tag über beschäftigte er sich mit den Auflistungen von Geburten, Vermählungen und Verstorbenen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass in einem Ort dieser Größe so viele Menschen geliebt und gelebt hatten.

Das Tageslicht schwand dahin. Die ‚Bankers Lampe‘ auf dem Schreibtisch war eine Zierde, jedoch war die Lampe so schwach, dass es nicht zum Arbeiten reichte. Gähnend stand er auf, streckte sich, ging zum Lichtschalter der Deckenbeleuchtung und schaltete das Licht ein. Dabei fiel sein Blick auf eine verstaubte, braune Aktentasche, die unter dem Aktenschrank herausspitzte. Die Unordnung in diesem Raum war wirklich unbeschreiblich. Niedergeschlagen ließ er seinen Blick über all die Aktenberge und Bücher gleiten. Im hellen Licht der Deckenlampe kamen ihm die Papierberge noch immenser vor. Seine Augen wanderten wieder zu der braunen Aktentasche. Weshalb versteckte Richter Dixon eine Aktentasche unter einem Aktenschrank? Der gute Richter war zwar unordentlich, aber dies schien nicht seinem Charakter zu entsprechen. Peters Neugierde war geweckt. Er trat zum Schrank, bückte sich und zog sie unter dem Schrank hervor. Die Tasche konnte noch nicht lange dort gelegen haben. Die Staubschicht bildete eine dünne Patina auf der Oberfläche. Mit einem Atemzug blies er den Staub beiseite, der in seiner Nase kitzelte. Interessiert begutachtete er die Tasche. Sie war aus feinem, italienischem Leder gefertigt worden. Die Nähte waren handgenäht. An den Ecken gab es leichte Beschädigungen, die von regelmäßigem Gebrauch zeugten. Das Messingschloss wies feine Kratzer auf. Neugierig nahm er sie zum Schreibtisch und versuchte sie zu öffnen. Sie war tatsächlich verschlossen. Peter sah sich suchend um. Er öffnete die Schubladen des Schreibtischs und ging eine nach der anderen gründlich durch. Er fand alles Mögliche, jedoch keinen Schlüssel, der zu dem Schloss der Aktentasche passen wollte.

Mit einem Axel zucken zog er eine große Heftklammer aus einer Schale und verbog sie geschickt zu einem seltsamen Haken. Er begutachtete den Haken kritisch, steckte ihn dann in das Schloss und drehte ihn herum. Es dauerte keine zehn Sekunden, da hörte er das verräterische Klicken. Peter drückte die Lasche herunter und das Schloss sprang auf. Neugierig schlug er den Deckel zurück. Wie nicht anders zu erwarten, fand er Akten darin.

Das Papier war noch weiß. Es gab keine Vergilbungen an den Rändern. Die Dokumente konnten noch nicht all zu alt sein. Sorgfältig ging er die Papiere durch. Seine Aufmerksamkeit wurde auf eine Liste mit Namen und deren Geburts- und Sterbedaten gelenkt. Es handelte sich zumeist um Bewohner des Dorfes. Die Sterbedaten waren alle im Zeitraum von fünf Jahren. Ein beunruhigendes Gefühl beschlich ihn. Er blätterte weiter und stieß auf eine weitere Liste.

Wieder Namen und Geburts- und Sterbedaten. Doch dieses Mal waren die Daten zwischen Geburt und Tod nicht weit auseinander.

Es war eine Liste von verstorbenen Kindern. Ein Schauer lief ihn über den Rücken. Seine Lippen wurden schmal. Peter las die Liste zweimal durch. Es musste ein Muster geben. So begann er die Daten miteinander zu vergleichen. Der Zeitraum zwischen den Todeszeiten der einzelnen Kinder schwankte zwischen vier und sechs Monaten. Mit dunkler Miene zog er eine Akte aus seinem heute gesichteten Stapel heraus und schlug sie auf. Es befand sich eine identische Liste in ihr.

Peter ging sie akribisch durch und verglich beide miteinander. Es gab hier nur zwei verstorbene Kinder. Das eine starb im Alter von elf und das andere vier Jahre später im Alter von zwölf Jahren.

Peter hob den Kopf und spürte wie sein Herz einen schnelleren Rhythmus anschlug. Wieder nahm er die Liste aus der Aktentasche und schlug die Seite mit den Sterbedaten der Kinder auf. Es war äußerst ungewöhnlich, dass sieben Kinder nicht älter als drei Jahre geworden sind. Ebenso die geringen Zeitabstände, in denen sie starben. Peter Gesichtszüge verdunkelten sich. Sein Blick schaute ins Leere. Eine grauenhafte Ahnung stieg in ihm auf. All diese Kinder… Mit einem Ruck schlug er die Akte zu, packte sie zurück in die Tasche und verstaute sie wieder unter dem Aktenschrank. Er würde nichts unternehmen. Keinen Fingerbreit. Es ging ihn absolut nichts an, was sich in diesem Dorf zutrug. Er war hier, um Akten und Dokumente zu sortieren und zu nichts anderen. In ein paar Wochen war er wieder zurück in England. Das hier war dann nur ein Schatten seiner Erinnerung.

Mit fahriger Bewegung nahm er die Brille ab und rieb sich das Gesicht. ‚Keine Sherlock Holmes-Geschichten!‘, hörte er seinen Vater drohen. Verstohlen glitt sein Blick zum Aktenschrank. Nein, keine Sherlock Holmes-Geschichten. Dieses Mal nicht.

Das Abendessen verlief sehr schweigsam. Peter hing seinen trüben Gedanken nach. Kindersterben. Vor seinen Augen tauchten kleine, weiße Kindersärge auf. Eltern, die sich halb wahnsinnig vor Schmerz hinterher schleppten und herzzerreißend weinten. Kindersterben.

Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen.

„Ich weiß nicht, was in Ihrem Kopf vorgeht, aber so kann es beim besten Willen nicht weitergehen“, rügte Miss McAlister ihn streng.

Erschrocken fuhr Peter hoch. Er fühlte sich wie aus einer anderen Welt gestoßen. Bestürzt starrte er auf den riesigen Kaffeefleck, der sich auf dem Tischtuch vor ihm immer weiter ausbreitete.

„Verzeihung“, murmelte er betroffen und stellte die noch umgekippte Tasse wieder auf den Unterteller zurück. Miss McAlister sagte keinen Ton mehr, doch der Tadel lag schwer in der Luft. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge. Vorsichtig hob er die Augen zu ihr und schaute sie an. Ihre Augenbrauen waren zu einer finsteren Miene zusammen gezogen. Pikiert schaute er wieder auf den Kaffeefleck und beide schwiegen. Peter wusste, dass er ihr eine Erklärung schuldig war, doch er zog es vor zu schweigen. Unverzüglich stand er auf, nahm sich einen Lappen vom Spülbecken und versuchte den Fleck zu entfernen.

„Bitte lassen Sie das, Dr. Forgerson. Es hat ohnehin keinen Zweck mehr.“

„Ich… es tut mir Leid“, entschuldigte er sich erneut beschämt. Miss McAlister nahm ihn den Lappen aus der Hand und stand ebenfalls auf. Ihre Augen hingen aneinander. Peter war, als sah sie tief in seine Seele. „Ich werde nach oben gehen“, murmelte er und wandte sich von ihr ab. Er fühlte deutlich ihren forschenden Blick auf seinem Rücken, als er das Zimmer verließ.

Ungewollt trieb es ihn wieder in das Arbeitszimmer des Richters. Er knipste die Leselampe an und setzte sich in den Ohrsessel. Melancholie überfiel ihn. Niedergeschlagen ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Seine Augen blieben bei einem Geigenkasten hängen. Neugierig stand er auf, ging zu dem Stapel und befreite den Kasten von einem Stoß Magazine. Sanft strich er den Staub von den Schlössern, ließ sie aufschnappen und schlug den Deckel zurück.

Talggeruch entfloh dem Kasten. Das Licht spiegelte sich auf dem Kirschholz der Geige. Es war eindeutig ein teures Stück. Vorsichtig nahm er sie aus dem Kasten und wog sie in seinen Händen. Seine Augen glitten über das schöne Stück. Kleine Kratzer waren auf dem Holz zu sehen. Der Lack am Kinnteil war abgenützt. Sein Besitzer hatte mit ihr eindeutig seine Freude gehabt. Sein erster Impuls war, sie in den Kasten zurückzulegen, doch irgendetwas hielt ihn zurück.

Er griff sich den Bogen und begutachtete ihn. Nachdem er seine Zustimmung erhielt, fettete er ihn mit Talg aus dem Döschen, das er in dem Geigenkasten fand. Sein Puls schlug schneller, als er die Geige unter sein Kinn legte. Überrascht bemerkte er, wie selbstverständlich sie sich an ihn schmiegte. So als wäre sie für ihn gearbeitet worden. Er legte den Bogen an und strich vorsichtig über die Saiten. Die Töne, die er ihr entlockte, waren hell und klar. Diese Geige war wirklich ein kleines Meisterwerk. Wie von selbst begannen seine Finger die Schrauben zu drehen und sie zu stimmen. Der Bogen glitt wie von allein über die Saiten. Die Musik erfüllte bald das ganze Haus.

Peter spielte Stücke von Mozart und Vivaldi. Seine Gedanken drifteten jedoch bald ab. Je länger er spielte, umso schwermütiger wurde seine Musik.

Seine Gedanken wanderten über die Felder der Zeit. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild eines Friedhofs auf. Schwerer Veilchenduft lag in der Luft. Ein paar Vögel zwitscherten im dichten Laub der Bäume. Eine plötzlich aufkommende Brise zerzauste das Laub.

Erschreckt flog ein Vogel auf, während ein anderer wie ein herbstgefärbtes Blatt zu Boden schwebte. Still und zu Tode erstarrt lag er da.

Einzelne, schwere Regentropfen fielen auf seinen Köper. Dort wo sie ihn berührten, begann Blut zu fließen. Wie kleine Rinnsale überzog es die Erde und hinterließ im Staub seine Spuren.

„Mendelssohns Violin Concerto in E-Moll“, drang plötzlich eine Stimme in sein Bewusstsein. Erschreckt fuhr er herum. Miss McAlister stand im Türrahmen. Vor Überraschung entging ihm ihr besorgtes Gesicht. Sofort hörte er zu spielen auf.

„Ich…“, begann er stotternd. Verlegen schaute er auf die Geige. „Ich entdeckte die Geige unter diesen Magazinen. Sie hat mich verführt, sie zu spielen. Es tut mir leid“, entschuldigte er sich reuig. Miss McAlister löste sich von ihrem Platz und kam langsam zu ihm hinüber. Ihr Schritt war geschmeidig, ihre Gestalt erhaben. Peter richtete seinen Blick zu Boden. Schuldgefühle zerrten an ihm. Wie konnte er so dreist sein und diese Geige einfach so nehmen, ohne daran zu denken, dass sie für sie etwas Besonderes war. Etwas sehr persönliches.

Eine Reliquie.

„Sie haben wunderbar gespielt.“ Ihr Groll, den sie gegen Peter hegte, schien verflogen. „Wie kann ein Junge in Ihrem Alter nur so traurig sein?“ Peter zuckte mit den Schultern und legte die Geige zurück in den Kasten. Sie seufzte leise, wartete auf eine Antwort. Peter schwieg. Seine Augen ruhten auf dem Geigenkasten. Traurig schüttelte sie den Kopf. Es schmerzte sie, ihn so unglücklich zu sehen.

Sanft berührte sie seinen rechten Oberarm. „Gehen wir runter. Ich mache uns eine schöne Tasse Tee und Sie erzählen mir, was Sie so belastet.“ Peter öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch sie hob gebieterisch die Hand. „Keine Widerrede, so kann man nicht leben und auch nicht arbeiten.“ Entschlossen griff sie seinen Arm und zog ihn buchstäblich aus dem Zimmer.

Ein neues Tischtuch zierte den Tisch. Peter setzte sich auf die Bank. Während sie den Tee richtete, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Sein Blick war leer. Sein Gesicht wirkte niedergeschlagen. Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg. Sie ertrug es nicht, einen Menschen so unglücklich zu sehen. Der Richter war immer ein gutgelaunter, heiterer Mensch gewesen. Er lachte ständig und leistete ihr oft am Abend Gesellschaft mit lustigen Geschichten, die er aus dem Stehgreif erzählte. Wie sollte sie verstehen, dass ein junger Mensch, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte, so unglücklich war? Mit einem warmen Lächeln stellte sie die Tasse vor Peter auf den Tisch und setzte sich zu ihm.

„Nun was macht Sie so traurig?“, fragte sie und gab einen großen Löffel Zucker in Peters Tee. So, wie sie es vom Richter gewohnt war.

Sofort runzelte er die Stirn. Er konnte Zucker im Tee nicht leiden.

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete er und mied ihren Blick.

„Ich habe alle Zeit der Welt“, ermunterte sie ihn zu erzählen.

„Ich glaube nicht, dass es richtig wäre...“, konterte Peter. Miss McAlister berührte seinen Arm. Ihre Stimme war eindringlich und voller Überzeugung.

„Ich bin sicher, dass es genau das Richtige ist.“ Peter nahm einen Schluck und sann darüber nach. Er kannte Miss McAlister erst seit zwei Tagen. Wie konnte er ihr sein Herz ausschütten? „Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich glaube nicht, dass…“ „Was haben Sie zu verlieren? Ich kann gut zuhören.“

„Ich denke nicht, dass es eine gute Idee wäre“, entgegnete Peter und hob die Tasse an seine Lippen.

„Davon bin ich nicht überzeugt. Ich sehe doch, wie Sie sich quälen.

Es kann heilend sein, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen.

Manchmal ist es sogar am besten mit einem Fremden zu sprechen.

Was Sie mir erzählen, wird dieses Haus nicht verlassen. Dafür gebe ich Ihnen mein Wort.“ Peter schielte sie über den Tassenrand hinweg an. Sie wirkte aufrichtig. Aber konnte er, wünschte er über seine Misere zu sprechen?

„Ich bin mir wirklich nicht sicher…“

„Hat Sie Ihre Frau verlassen?“ Peter starrte sie entgeistert an. Tee schwappte über seine Finger und tropfte auf das Tuch.

„Oh nein!“, stöhnte er und stellte mit zitternden Fingern die Tasse auf die Untertasse.

„Das ist nicht schlimm“, beschwichtigte ihn Miss McAlister. Tränen glänzten in seinen Augen. Seine linke Hand berührte seinen rechten Ringfinger. Er wurde damals in der Klinik genötigt, seinen Ehering abzulegen. Das Ziel dieser Übung war, ein neues Leben zu beginnen.

Doch es war bei weitem nicht so einfach. Er hatte April von ganzem Herzen geliebt. Ein dicker Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet. Die ersten Tränen rannen über seine Wangen. Beschämt wischte er sie mit einem Taschentuch ab und schnäuzte sich.

„Meine Frau, April, verstarb vor eineinhalb Jahren“, schluchzte er und vergrub sein Gesicht in den Händen. Entsetzt starrte sie ihn an.

„Dr. Forgerson…“ Behutsam legte sie ihre Hand auf seine Schulter.

„Es tut mir leid“, schluchzte Peter. Miss McAlister wusste nicht, was sie erwidern konnte. Stille herrschte. Das Schluchzen nahm ab. Peter hatte sich alsbald wieder unter Gewalt. Er wischte sich die Tränen ab, schnäuzte sich wieder und atmete bewusst ein und aus. So wie er es gelernt hatte. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich erneut. „Es ist nur…“ Peter holte nochmals Luft, setzte nochmals an. „Es ist zu manchen Zeiten immer noch schwer zu ertragen. Aber es wird besser.“ Es klang mehr, als wolle er sich selbst überzeugen als sein Gegenüber. „Können wir es dabei belassen?“, fragte er hoffnungsvoll.

Ein feines Lächeln erschien auf ihren Lippen.

„Natürlich.“ Der Name April Forgerson kam ihr bekannt vor. Schwache Erinnerungen tauchten auf. Richter Dixon war damals schwer getroffen gewesen, als er von einem Attentat auf einen Minister hörte, wobei ein Gast, der den Minister schützen wollte, ums Leben kam. Die Frau eines jungen, ambitionierten Anwalts. Die Erinnerungen kamen zurück. Vor ihrem inneren Auge sah sie den tief besorgten Richter vor sich, hörte seine Stimme: „England hat nicht nur eine mutige Bürgerin verloren, nein, ebenso einen Anwalt, der wirklich für die Rechte des Volks ohne Wenn und Aber einsteht.“ Miss McAlisters Blick durchdrang ihn. Peter bemerkte es jedoch nicht. Er war seiner Umgebung weit entrückt.

Um ihn herum herrschte Tumult. Der Festsaal war mit Polizisten in Zivil und Uniform gefüllt. Das SEK sicherte die Eingänge. Die Spurensicherung packte ihr Material zusammen. Die Herren vom Coroner waren dabei, den Leichensack in den schlichten Metallsarg zu schließen. Ein paar rotblonde Strähnen ergossen sich über das schwarze Plastik.

„April“, flüsterte Peter. Er kam näher. Völlig betäubt. Das blasse Gesicht umrahmt von schwarzem Plastik. Die Augen waren geschlossen. Ihre Lippen wirkten unnatürlich bläulich…

„Dr. Forgerson“, hörte er von weiten eine Stimme. Eine Berührung am Oberarm. Peter blinzelte. In seinen Ohren begann es zu rauschen. Ein hoher, penetranter Ton stellte sich ein.

„Dr. Forgerson“ Ihre Stimme war eindringlich, zutiefst besorgt. Peter räusperte sich.

„Es ist alles in Ordnung, Miss McAlister. Ich war mit meinen Gedanken woanders. Tut mir leid.“ Seine Augen klärten sich. „Ich möchte jetzt gerne nach oben gehen. Es ist spät…“

„Hören Sie“, setzte sie an. Ihr Gesicht war angespannt. Ihre Augen ängstlich geweitet.

„Es ist alles in Ordnung“, versicherte Peter ihr mit fester Stimme. „Es war ein langer Tag.“ Ihr Blick ruhte auf ihm. Langsam nickte sie. Peter stand auf, verabschiedete sich und verließ sie. Miss McAlister stand mit einem Seufzen auf und stellte die Tassen in die Spüle. Die Uhr zeigte Viertel nach Zwölf. Welch eine Tragödie. Sie empfand tiefes Mitleid mit dem Jungen. Was würde die Zukunft für ihn bereithalten? Sie hoffte, dass es etwas Besseres war, als seine Vergangenheit. Das konnte doch nicht schwer sein.

Am folgenden Vormittag, versuchte Peter weiter, Ordnung zu schaffen. Er begann Aufzeichnungen aufzulisten und ihnen eine gewisse Bedeutung beizumessen. Doch irgendwie wurden seine Gedanken immer wieder abgelenkt. Sein Blick schweifte von den Schriften ab und wanderte zu dem Schrank mit der braunen Aktentasche. Bis zum Mittagessen schaffte er es noch seine Konzentration auf die momentane Arbeit zu beschränken, doch je weiter die Zeit fortschritt, desto unkonzentrierter wurde er. Nach zwei Stunden gab er es auf. Ohne einen weiteren Blick auf seine Arbeit zu werfen, stand er auf und holte die Aktentasche aus dem Versteck. Ein Prickeln durchzog seinen Körper, sein Herz schlug schneller. Sein ‚Sechster Sinn‘ sagte ihm: ‚Lass es sein! Es geht dich absolut nichts an. Öffnest du die Aktentasche, begibst du dich in Gefahr! ‘ Unentschlossen hielt er die Tasche in den Händen und starrte sie wie hypnotisiert an. ‚Tu‘s nicht! ‘, rief seine innere Stimme. ‚Leg die Tasche wieder an den alten Platz zurück! Dich geht die Sache nichts an, du bist Engländer und kein Ire, du bist Anwalt und kein Detektiv. Du bist nicht Sherlock Holmes! Erledige die Arbeit, für die man dich hierher geschickt hat.

Nichts weiter.‘ Aber sieben Kinder waren tot. Gestorben, bevor das Leben für sie überhaupt begonnen hatte. Durch Umstände, die nicht wirklich geklärt waren. Der kurze Zeitabschnitt, der zwischen dem Sterben lag, musste Argwohn aufkommen lassen. Langsam ging Peter zum Fenster und sah hinaus. Stahlblauer Himmel lachte ihm entgegen. Die Sonne strahlte verführerisch und ließ die herbstlichen Blätter in all ihrer verbliebenen Kraft leuchten. Eine schwarzgetigerte Katze strich durch das braun gewordene Stoppelgras. Er seufzte lautlos und drehte sich um. Nein, er würde diese Tasche nicht aufmachen. Warum sollte er sich in einem fremden Land Ärger einhandeln? Zu Hause hatte er schon genug davon. In ein paar Wochen wäre Irland eh nur noch eine Erinnerung.

Entschlossen legte er die braune Tasche wieder unter den Schrank.

Er hatte Lust seinen Freund anzurufen. Er vermisste dessen witzige, heitere Art und besonders seine Ratschläge. Peter suchte seine Taschen nach dem Mobiltelefon ab und fand es in seiner Manteltasche.

Er drückte ein paar Knöpfe und musste feststellen, dass der Akku leer war. Sein Blick wanderte durch den Raum. Wo hatte er nur sein Aufladegerät verstaut? Brühend heiß fiel es ihm ein. Es lag zu Haus auf seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Deutlich sah er es vor sich. Damn it! Seufzend legte er es auf seinen Schreibtisch und machte sich auf den Weg, Miss McAlister zu suchen. Das war nicht weiter schwer, denn der süße Duft von frischem Kuchen wies ihm den Weg. Es ließ einem das Wasser im Munde zusammen laufen.

„Erwarten Sie Besuch?“, wollte Peter wissen und schloss die Tür hinter sich. Überrascht drehte sie sich um und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Ich hörte Sie gar nicht kommen“, entschuldigte sie sich und wischte ihre Hände an der Schürze ab. Peter sah sich die Zutaten, welche fein säuberlich auf dem Tisch lagen, an.

„Gedeckter Apfelkuchen“, schloss er. „Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“ Er nahm auf der Bank Platz und begann die Äpfel zu schälen. Verwundert beobachtete sie, wie er geschickt mit dem Messer hantierte. Seine Bewegungen waren wie selbstverständlich.

Aber er war doch ein Lord. Ein Millionär. Wie konnte er Äpfel schälen? „Gibt es hier eigentlich ein Telefon?“, fragte er ohne die Aufmerksamkeit von den Äpfeln zu nehmen.

„Nun“, Miss McAlister suchte nach Worten. „Wir hatten eins, doch das ging vor zehn Jahren kaputt. Der Richter bestand darauf, es nicht reparieren zu lassen, denn er verabscheute alles, was modern war.

Er liebte die Abgeschiedenheit und nur in ihr fühlte er sich sicher.“