Irish Heartbeats - Uschi Zietsch - E-Book

Irish Heartbeats E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Wenn ein Anruf bei einer Shampoo-Hotline zu einem unverhofften Abenteuer führt …
Der humorvolle Sommerroman voller Chaos, Freundschaft und Liebe

Sandra ist 30 ½ und besitzt alles, was eine Frau sich nicht wünscht: Einen Job, in dem sie „freiwillige Mehrarbeit“ ohne Bezahlung leisten muss, und drei gescheiterte Beziehungen innerhalb eines Jahres. Und das Schlimmste: Die Zukunft scheint nichts Besseres zu bieten. Bis ihre Beschwerde bei einer Shampoo-Hotline ihrem Schicksal plötzlich eine neue Wendung gibt. Denn der Fremde am Telefon lädt sie kurzerhand zu einem Date ein – nach Dublin!
Mit ihrer Freundin Franzi bricht Sandra in die irische Hauptstadt auf. Auf der Suche nach dem Mann mit der schönen Stimme trifft sie dann auch noch auf den charismatischen, düsteren Bandleader Conor und verliebt sich Hals über Kopf. Allerdings brechen Rockstars bekanntlich viele Herzen ... Kann Sandra Conors Liebe für sich gewinnen?

Dies ist eine Neuauflage des Romans Irish Summer.

Erste Leserstimmen
„Ein super unterhaltsamer Liebesroman vor der wunderschönen Kulisse Irlands.“
„Macht sofort gute Laune und Sommergefühle!“
„turbulent, witzig und fesselnd“
„Sympathische Protagonisten und eine mitreißend erzählte Geschichte – klare Empfehlung!“
„Sehr erfrischende und lustige Urlaubslektüre.“

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Seitenzahl: 368

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Über dieses E-Book

Sandra ist 30 ½ und besitzt alles, was eine Frau sich nicht wünscht: Einen Job, in dem sie „freiwillige Mehrarbeit“ ohne Bezahlung leisten muss, und drei gescheiterte Beziehungen innerhalb eines Jahres. Und das Schlimmste: Die Zukunft scheint nichts Besseres zu bieten. Bis ihre Beschwerde bei einer Shampoo-Hotline ihrem Schicksal plötzlich eine neue Wendung gibt. Denn der Fremde am Telefon lädt sie kurzerhand zu einem Date ein – nach Dublin! Mit ihrer Freundin Franzi bricht Sandra in die irische Hauptstadt auf. Auf der Suche nach dem Mann mit der schönen Stimme trifft sie dann auch noch auf den charismatischen, düsteren Bandleader Conor und verliebt sich Hals über Kopf. Allerdings brechen Rockstars bekanntlich viele Herzen ... Kann Sandra Conors Liebe für sich gewinnen?

Dies ist eine Neuauflage des Romans Irish Summer.

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe August 2020

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-288-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-289-7

Covergestaltung: Coverboutique unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © MNStudio, ©Wavebreakmedia freepik.com Lektorat: Daniela Pusch

E-Book-Version 07.07.2023, 13:00:23.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Irish Heartbeats

1. Dreißigeinhalb

»Tu es!«, drängelte ein kleines Stimmchen in ihrem Hinterkopf kurz nach dem Aufwachen.

»Okay«, murmelte Sandra, gähnte und streckte sich, blinzelte ins Morgenlicht. »Und was eigentlich?«

»Genau das«, antwortete das Stimmchen.

»Ach was. Heute, am Sonntag?«

»Jep.«

»Also gut.«

Allmählich schüttelte Sandra den Schlaf ab, ging davon aus, dass dieser Dialog ein letzter Traumrest gewesen war, der gleich verwehen würde, und kämpfte sich aus dem Bett.

»Ich meine es aber so«, hörte sie das Stimmchen erneut. Nicht in den Ohren, sondern wie zuvor im Hinterkopf.

Sandra zuckte zusammen. Jetzt war es also soweit. Sie war verrückt geworden.

»Endlich kapierst du!«

»Ich … äh … soll verrückt sein?«

»Jep.«

»Also gut.«

Sie zuckte mit den Achseln.

Damit war es wohl beschlossene Sache, an diesem Sonntag ein paar verrückte Dinge zu unternehmen.

»Verrückt« bedeutete bei ihr in erster Linie: ungeplant. Viel weiter war sie noch nicht, da ihre diesbezügliche Fantasie jämmerlich zurückgeblieben war, ein brachliegendes Feld mit einem kümmerlichen Hälmchen darauf.

Warum hörte sie überhaupt auf das Stimmchen? Warum gehorchte sie ihm, ohne nachzudenken? Dafür gab es keine Erklärung, jetzt nicht und in Zukunft wahrscheinlich auch nicht. Am naheliegendsten war wohl … aber nein, sie war nicht verrückt geworden. Sondern sie vermutete, das Stimmchen sei der personifizierte, seit Wochen herumschleichende, unausgegorene Wunsch, etwas zu verändern. Aus ihrem eintönigen – nein: faden – Leben etwas zu machen. Wahrscheinlich in dem Moment geboren, als der junge Mann an der Supermarktkasse »meine Dame« und »Sie« zu ihr gesagt hatte. Das war der offizielle Bescheid dafür gewesen, dass sie endgültig aus den Zwanzigern raus war.

Also vielleicht sollte sie auf das aufmüpfige Stimmchen hören, das sich mit dem »Sie« und »meine Dame« nicht abfinden wollte. Einmal »spontan durchgeknallt« sein, noch einmal so wie eine Zwanzigerin (»Twen«, würde ihre Oma sagen, so wurden die jungen Erwachsenen der antiken Zeiten bezeichnet), bevor sie, weil diese Aktion aufgrund Unerfahrenheit garantiert total schiefging, reumütig als Dreißigerin in den Alltagstrott zurückkehrte.

»Aber ich brauche einen Anlass!«, stellte sie fest.

»30 ½«, antwortete das Stimmchen prompt.

Weil sie damit endgültig zur »Generation 30+« gehörte und ab sofort auf jene tollen Motto-Partys zu gehen hatte, stets überladen mit verzweifelten Singles und Schlagern, die Tinnitus auslösten und die den Probelauf zum späteren Tanz-Café darstellten, für die in unsichtbar machendes Beige gekleideten »80+«. Die schlimmste Un-Farbe aller Zeiten. Schwarz war Punk und Trauer, weiß und bunt war das Einhorn, also was blieb den Alten als Erkennungszeichen ihrer Gilde, glaubten sie? Beige.

So langweilig Sandra auch sein mochte: Beige würde sie niemals tragen, nicht mit »100+«, und auch nicht, wenn Louis Vuitton draufstand. Ihr Leben mochte vielleicht so wenig ereignisreich sein, dass sie auch gleich in Rente gehen könnte, das stimmte durchaus. In der Arbeit übersah man sie, außer wenn sie »freiwillige Mehrarbeit«, sprich ohne Bezahlung, leisten sollte, weil alle anderen bei schönstem Sommerwetter zum Baden gingen. Sandra war hilfsbereit und hatte nie gelernt, »nein« zu sagen. Tief in sich drin war sie sich bewusst, dass sie sich ausnutzen ließ, doch sie war zu schüchtern, um mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Wahrscheinlich würde sie sich dabei nur den kleinen Finger brechen.

Ja, Sandra war farblos. Aber beige? Niemals!

»30 ½ … Kein toller Anlass«, murmelte sie.

»Aber verrückt«, meinte das Stimmchen.

»Weißt du was? Ich gönne mir heute einfach mal was Gutes.«

»Was soll daran verrückt sein?«

»Nichts, aber es ist spontan.«

»Dein Leben ist ja noch viel trauriger, als mir bisher bewusst war …«

Wenn das Stimmchen Augen gehabt hätte, hätte es diese jetzt verdreht, dessen war sich Sandra sicher. Na und? Das Stimmchen war nicht ihre Mutter. Sie tat, was sie wollte! Zumindest heute und wenn niemand zusah.

»Du solltest das jeden Tag tun, nicht nur heute.«

»Dann wäre es nicht mehr spontan.«

»Ich geb’s auf. Ich verabschiede mich jetzt, du langweilige Tröte. Tschüss, Arrivederci, Servus, mach’s guat – dein Unterbewusstsein!«

Ein ausgiebiges Sonntags-Bad mit Verwöhn-Aromen und Schokoladenmaske anstelle des gestern Abend angesetzten Schlechtes-Gewissen-wegen-Eiskonfekt-Joggings war ein sehr guter Beginn. Und dazu für die Haare diese beiden neuen Sachen mit dem hopsenden Känguru drauf ausprobiert. Eine geschickte Verkäuferin hatte ihr das Zeug angedreht, weil es neu im Programm sei »und bestimmt hilfreich«. Sie hatte Sandra ratlos vor dem acht Meter langen Regal stehen sehen und garantiert auf der Stelle Mitleid bekommen. Jedenfalls hatte sie aufmunternd gelächelt und die »Helfer gegen haarige Angelegenheiten« in ihren Einkaufskorb gelegt.

Gegen unartiges Haar stand da wörtlich drauf.

Ja, so konnte man das auch nennen.

Wie sie es gewohnt war, hatte sie bemüht erleichtert zurück gelächelt, sich artig bedankt und war damit zur Kasse gedackelt. Und, warum auch nicht? Vielleicht wirkte es tatsächlich und machte ihre Haare glatt! Das wäre ja mal was. Etwas richtig Verrücktes!

Fröhlich genoss Sandra Bad und Maske und machte sich zuletzt an Shampoo und Conditioner, um die eifrig beworbene »ganz neue Erfahrung« zu machen. Sie hoffte wenigstens auf deutlich glatteres Haar, wie die Aufschrift ihr vollmundig versprach.

Als Erstes fiel ihr der unangenehme Geruch auf. Nach Kaugummi und sauren Drops und etwas, das sie nicht benennen konnte. Das sollte in ihre Haare?

Aber vielleicht entwickelte sich das Wunder ja noch. Sie schäumte das Shampoo auf und massierte es in die Kopfhaut. Das klappte soweit ganz gut. Das Auswaschen dauerte länger als normal und der Geruch hielt sich hartnäckig.

Vielleicht brauchte es ja als zweite Stufe den Conditioner, um die perfekte, glänzende Welle zu erschaffen, wie sie die Models im Fernsehen immer so anmutig schwangen.

»Bah!«, rief Sandra nach Öffnen der zweiten Flasche laut aus. »Das stinkt nicht nur – das Zeug klebt!«

Voller Empörung spülte sie kräftig aus und war versucht, ihre normalen Mittel für eine Nachwäsche zu verwenden – dennoch wollte sie dem fröhlich hopsenden Känguru eine letzte Chance geben. Das Haar musste möglicherweise zuerst trocknen – und dann zeigte sich bestimmt das versprochene Ergebnis!

Die Hoffnung stirbt zuletzt, hieß es.

Und sie starb. Nach dem Blick in den Spiegel.

Alle Versprechungen umsonst.

Was soll’s!, dachte Sandra. Im Grunde hatte ich damit gerechnet, oder? Ein weiteres schiefgegangenes Experiment, mehr nicht.

Anschließend: Frühstück. Aber nicht irgendein Frühstück. Sie hatte noch einen Piccolo Valdobbiadene, ein Geschenk ihrer Mutter zum … Ein Geschenk. Punkt.

Und dazu eine Folge irgendeiner Staffel der »Vampire Diaries«. Da sie »wie in den Zwanzigern« sein wollte, gehörte das dazu, denn zur Serien-Ausstrahlung war sie in den Zwanzigern gewesen und der Prosecco passte vorzüglich. Lieber Sektschlürfer als Bluttrinker.

Dazu eine übriggebliebene Orange, abgelaufener Joghurt, labbriges Toastbrot, Orangenmarmelade … nicht sehr üppig, aber das wurde aufgepeppt durch eine versiegelte Packung mit drei Nugatpralinen, die sie irgendwann ganz hinten im Schrank versteckt hatte, für »äußerste Notfälle«.

Dann eben kein Notfall, sondern spontan etwas Gutes.

Während sie genüsslich an der ersten Praline lutschte, fiel ihr Blick auf diese dämliche Shampoo-Flasche, die sie vorhin aus dem Bad zusammen mit dem Conditioner zum Ausgießen und anschließenden Entsorgen mitgebracht hatte. Von wegen »kein unartiges Haar mehr«.

Allerdings, der Text auf den Flaschen klang so vertraut und kumpelhaft, dass sie schon fast wieder versöhnt war.

»Beruhige dein unartiges Haar! Wir haben die Lösung für dich, denn nichts ist schlimmer als ein unzufriedener Blick in den Spiegel.«

Als könne der Hersteller ihr Problem nur zu gut verstehen und wolle sich dessen höchstpersönlich annehmen. Denn er hatte eine Gratis-Hotline mit 0800-Nummer angegeben und forderte dazu auf, anzurufen, wenn man Fragen oder sonst was auf dem Herzen habe.

Klang schon fast nach Sorgentelefon.

Hatte sie Sorgen?

Nein, an sich nicht, aber ein langweiliges Leben mit nicht zu bändigendem Haar, und hier waren Shampoo-Leute, die seit dem Kauf der Ware auf ihren Anruf warteten – also, warum nicht?

Sie nahm das Telefon und ging an die frische Luft. (Vermutlich war der Prosecco dran schuld, der sie jetzt derart enthemmte.)

Und nicht einfach irgendwohin an die frische Luft: aufs Dach! Unterwegs hielt sie kurz inne – würde sie wirklich dort hinaufsteigen? Ging es nicht doch zu weit?

Aber nein. Was war schon dabei? Sie hatte andere gesehen, die auf der Dachkante gesessen hatten, und diese ein wenig beneidet, weil sie so unbeschwert wirkten.

Nun. Heute würde sie unbeschwert sein.

Sandra kicherte, als sie wenig später die sich selbst gestellte Mutprobe tatsächlich bestand. Nächster Schritt: Sich beim Shampoo-Hersteller beschweren. Und zwar am Sonntag. Stand ja drauf - »ruf jederzeit an«.

Sandra tippte die Nummer ein und bereits nach zweimaligem Klingeln, bevor sie ihren Entschluss bereuen konnte, wurde die Verbindung hergestellt und jemand meldete sich mit dem britischen Firmennamen, zu dem das australische Shampoo gehörte. Firmen waren ja heutzutage alle global.

»Ich habe unartiges Haar«, sagte sie zur Eröffnung, nachdem die andere Seite ihren Begrüßungssermon in akzentfreiem Deutsch abgelassen hatte.

»Hauptsache, du bist nicht unartig«, kam es zurück, und sie hörte, wie der Mann – übrigens eine jung klingende, angenehme Stimme – augenblicklich erschrocken Luft holte.

»Wie bitte?«, fragte sie irritiert, aber zugleich belustigt. Genau das hatte sie haben wollen. Das fing gut an!

»Ähm, äh, kleiner Begrüßungsspruch. Wir sollen die Leute lockermachen. Und im Englischen ist ja alles per Du, gell?« Versteckt hörte sie ihn murmeln: »Oh mein Gott, was rede ich da …«

Jetzt lachte sie laut. »Ehrlich gesagt rufe ich an, weil ich keine Ahnung habe, wozu ihr eure Telefonnummer angegeben habt.«

»Na, um dir haufenweise von dem Zeug anzudrehen! – Jessas.«

Sie konnte sich kaum mehr zurückhalten. Das war offenbar ein sehr fröhlicher Kerl am anderen Ende, der redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war, und damit das pure Gegenteil zu ihr: Er war spontan. Vermutlich noch nicht lange im Telefonverkaufsdienst … und gewiss nicht mehr lange, wenn er das mit jedem Anrufer machte. »Ja … das ist mir schon bewusst. Aber es gefällt mir, wie innovativ ihr seid. Mit eurem Geduze und euren lustigen Sprüchen.«

»Etwa wie ›unartiges Haar‹?«

»Genau. Übrigens rufe ich wegen einer Beschwerde an. Euer Mittel klebt und stinkt fürchterlich.«

»Steht das auch da drauf?«

»Nein, da steht was von ›Blue Gum‹ aus Eukalyptusbaum.«

»Ah.«

»Weißt du, was das ist?«

»Da Baum dabeisteht, nehme ich an, handelt es sich um so Grünzeugs, das irgendwo im Wald rumsteht.«

»In Australien?«

»Ja, vermutlich. Hm. Keine Ahnung. Eukalyptusbäume wachsen ja inzwischen überall, oder?«

»Bist du in Australien?«

»Schön wär’s. Ich sitze hier im Call-Center fest.«

»Und ich sitze in München auf dem Flachdach des Hauses, in dem ich wohne.«

»Hoffentlich weit genug weg von der Kante.«

Ihr war klar, er meinte das wie seine flapsigen Sprüche als Witz, deshalb sagte sie ernsthaft: »Also ehrlich gesagt sitze ich ziemlich genau auf der Kante, und ich bin nicht schwindelfrei. Das sind sechs Stockwerke, und es pfeift ganz schön hier oben, obwohl es unten stickig schwül ist.« Mitten im Mai, dem Wonnemonat. Ab und zu war er das jedenfalls. Und wenn es dann so war, so wie heute, erstickte Münchens Altstadt mit ihren engen Gassen unter dem Dunst und der stehenden Luft.

Das Haus stammte aus den 1970ern mit Flachdach, auf dem zwischen mehreren Sat-Schüsseln ein paar rostige Fernsehantennen herumlagen, die niemand entsorgt hatte. Der Zugang zum Dach war eigentlich gesperrt, aber irgendwelche Herumtreiber hatten mal das Schloss geknackt und eine Dosenbierparty gefeiert, und seither hatte es niemand der Mühe für wert befunden, das kaputte Teil auszutauschen. Oder vielmehr, der Hausmeister hatte die Hausverwaltung um Bewilligung und Bestätigung der Kostenübernahme gebeten, um den Austausch vorzunehmen, aber nie eine Antwort erhalten.

Kurzes Schweigen. Dann vorsichtig: »Machst du das öfter oder ist das ein Belastungstest für unser Shampoo?«

Sie nickte, bevor ihr einfiel, dass er das nicht sehen konnte. »Erstens, nein, zweitens, so was Ähnliches. Weißt du, in der Schule war noch das Netteste, was sie zu meinen Haaren gesagt haben: Krauskopf. Obwohl meine Haare gar nicht kraus, sind, nur eben …«

»Unartig.«

»Richtig. Es war auch Putzwolle oder Mopp dabei. Und noch andere Nettigkeiten. Das änderte sich erst, als meine Brille dazukam. Die habe ich inzwischen aber abgeschafft. Kontaktlinsen. Nur die Haare bleiben so, egal, was ich ausprobiere.«

»Und … äh … wirkt das Zeug?«

»Bei dem Wind lässt sich das schwer feststellen.«

»Du … du meinst das ernst, oder? Du sitzt wirklich da oben?«

»Klar, was denn sonst?«, gab sie verwirrt zurück. Sie war schließlich bekannt für ihre Ehrlichkeit. Deswegen war sie ja bei den Mutproben mit den Kaugummidiebstählen im Discounter immer erwischt worden, weil sie so schuldbewusst dreinschaute. Geprügelt wie ein Hund und so. Alle anderen Kids waren cool, und sie … na ja, der Krauskopf eben.

Zum Glück konnte der junge Mann am anderen Ende sie nicht sehen. Vielleicht stotterte er deswegen so herum. »Für diese Situation bin ich eigentlich nicht ausgebildet.«

»Was für eine Situation denn?« Also irgendwie redete er schon reichlich kraus. Passend zu ihrem Haar.

»Ach, nichts. Sag mal … haben deine unartigen Haare eigentlich Vorbehalte gegen einen Glatzkopf?«

Jetzt fing auch sie zu stottern an. »Äh, ich glaube nicht, warum?«

Es brach regelrecht aus ihm heraus. »Weil ich erst achtundzwanzig bin und kein einziges Haar mehr auf dem Schädel habe. Unfreiwillig.«

Sie prustete ins Telefon. »Na, dann arbeitest du ja in der richtigen Branche.«

Er kicherte nervös. »Ach, ehrlich gesagt, wir wechseln alle paar Tage die Produkte. Ich vertrete mehrere Firmen, dann kriegen die Auftraggeber eine billi… günstigere Pauschale.«

»Aber du nicht mehr Geld.«

»Nö, natürlich nicht.« Er räusperte sich. »Sag mal, könntest du dir vorstellen, dass unartige Haare und gar keine Haare miteinander zum Essen gehen?«

»Sicher. Sind Schuppen oder Kopfläuse im Angebot?« Sie war stolz auf ihre Schlagfertigkeit. Sonst fiel ihr so etwas immer erst Stunden später ein. Die Königin des Esprits. Der Call-Boy – Wortwitz, sieh dich vor, ha, ha – holte verborgene Talente aus ihr heraus!

»Findet sich bestimmt. Also, was meinst du?«

»Wenn du hier in München wohnst, warum nicht?«

»Also, eigentlich sitze ich in Irland, in Dublin, wo die meisten Call-Center-Betreiber firmieren.«

»Dann ist das eine ziemlich unverschämte Anmache«, sagte sie entschieden und war jetzt ungemein stolz auf sich für diese schnelle und klare Antwort. Natürlich weil sie darauf gefasst gewesen war, aber das zählte trotzdem.

Doch er war auch nicht ohne. »Ich mag deine Stimme. Echt jetzt! Und irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich finde, du bist lustig. Mein bestes Telefonat seit Langem. Willst du?« Das klang fast schüchtern. Erwartungsvoll. Gar nicht wie ein Kerl, der jeden Tag eine flachlegt. Also war er entweder Profi oder wirklich so natürlich und ein wenig naiv.

Moment, hatte er sie gerade als lustig bezeichnet?

»Du spinnst doch!«

»Du sitzt auf der Kante eines Dachs!«

»Touché«, musste sie zugeben.

»Wenn du auf der Kante eines sechsstöckigen Hauses sitzt, bist du offenbar auf der Suche nach Abwechslung. Dann komm her! Hier findest du jede Menge davon. Und ich bin ganz nett. Bestimmt! Ich zahle auch. Aber nur, wenn du nicht viel isst.«

Sie lachte. »Das ist wirklich süß von dir. Aber ich glaube, ich mache jetzt lieber Schluss.«

»NEIN!«, schrie er.

»Was denn?«, fragte sie verwundert. »Ich will doch nur auflegen.«

»Bitte nicht«, flehte er. »Versprich mir, dass du kommst.«

»Das kannst du nicht ernst meinen.«

»Bitterernst! Du musst mir glauben. Komm hierher! Ich will dich kennenlernen. Ich muss dich kennenlernen! Ich will das Gesicht zu dieser Stimme sehen. Und die Haare. Vor allem die Haare. Sie sind blond, nicht wahr?«

»Ich wüsste nicht, was … okay, ja. Mittleres bis helles Blond.«

»Also sag ja!«

»Der spontane Typ, was?«

»Eben nicht. Überhaupt nicht! Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Das wäre trotzdem ziemlich verrückt.«

»Und wieso?«

»Na ja, ich kenne dich überhaupt nicht.«

»Ich bin Thomas. Thomas Himmel.«

»Du lieber Himmel.«

»Deswegen trage ich keinen Bart, weil der Spruch einen hat. Und zwar sooo ‘nen langen.«

Ihr blieb die Luft weg. »Du meinst, du heißt wirklich so?«

»Jep.«

Wenn sie ihm jetzt ihren Namen nannte, glaubte er ihr ohnehin nicht. »Also dann …«

»Warte! Verrate mir wenigstens deinen Vornamen, damit ich davon träumen kann. Vielleicht tust du es ja doch. Ich meine, herkommen und mich daten.«

»Niemand macht so was. Das ist doch albern. Bescheuert.«

»Möglicherweise bin ich heute noch diesen Job hier los. Sehr wahrscheinlich sogar, falls der Chef gerade mithört. Aber ich werde jeden Tag um achtzehn Uhr zum Starbucks beim O’Connell Monument an der Liffey, Ormond Quay Lower, gehen und eine Stunde auf dich warten. Ab morgen, für … sagen wir … acht Wochen. Dann glaube ich auch, dass es verrückt ist, wenn du nicht kommst.«

»Das hältst du doch keine drei Tage durch.«

»Ich werde es nicht vergessen! Sag es!«

»Was soll ich sagen?«

»Die Adresse. Die ich gerade genannt habe.«

»Monument … keine Ahnung.«

»Da haben wir es! Du meinst es nicht ernst.«

»Na, und du denn?«

»Jawohl! Ich werde warten! Jeden Tag von achtzehn bis neunzehn Uhr, vor dem Starbucks beim O’Connell Monument an der Liffey, Ormond Quay Lower. Merke dir nur das Monument, das ist wirklich leicht, direkt am Fluss. Das Starbucks liegt gut erkennbar, jeder kennt es.«

»O’Connell Monument«, wiederholte sie langsam. Verdammt, jetzt hatte sie es sich gemerkt. Aber sobald er ihr seine Handynummer geben wollte, würde sie ablehnen.

»Ja! Du hast es!«

»Und vermutlich vergeblich.«

»Aber es könnte möglich sein! Finde es doch heraus. Immer noch besser als auf der Dachkante herumzuhocken.«

Er fragte nicht nach ihrem Handy, und er gab auch nicht seine Nummer durch. Wie merkwürdig war das denn? So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Bevor sie richtig nachdachte, entfuhr es ihr. »Sandra.«

»Wie bitte?«

»Ich bin Sandra«, sagte sie und legte hastig auf.

Er hat trotzdem meine Nummer, dachte sie panisch. Die Festnetz-Nummer, die wird angezeigt und bestimmt gespeichert, um mich künftig mit Werbung zuzuschütten und verkaufswütige Call-Center-Telefonisten auf mich zu hetzen, die mir irgendwelchen Mist andrehen wollen.

Das aber war momentan das Geringste ihrer Probleme, überlegte sie weiter, denn sie war verwirrt und ratlos, was sie nun mit diesem Dating-Angebot und dem restlichen Tag anfangen sollte.

2. Ganz spontan

»Du hast was und wo gemacht?« Ihre Freundin Franziska Sammer, genannt Franzi, starrte sie aus aufgerissenen, dunkel umrandeten, haselnussbraunen Augen an.

»Das Shampoo war schuld«, murmelte Sandra Hering und schaute sich nervös um. Montag, acht Uhr dreißig, die Büroküche würde sich jeden Moment mit unausgeschlafenen, schlecht gelaunten Kolleginnen und Kollegen füllen, die ihren Kaffee wollten und zwar aus ihrer persönlichen Tasse und vor jedem anderen in der Reihe, und das subito. Keiner von denen durfte etwas davon mitbekommen, am wenigsten die Flurhupe Judith Müllerschön.

»Ja, natürlich, aber … das hast du dir doch ausgedacht, oder?«

»Bist du endlich fertig? Mein Kaffee wird kalt!«

»Gleich, gleich …« Franzi zupfte den Teebeutel aus ihrer Tasse und warf ihn in den Bio-Eimer. »He, langsam, ich verschütte …« Weiter kam sie nicht, denn Sandra, obwohl acht Zentimeter kleiner, zerrte sie energisch aus dem Raum Richtung Kopierer. Zu dieser Zeit trieb sich dort niemand auch nur in der Nähe herum, nicht mal eine Praktikantin.

»Es ist wahr!«, zischelte sie. »Eigentlich will ich das niemandem verraten, aber ich muss es loswerden! Ich halt’s nicht aus!«

»Ja, und … was stellte diese Aktion dar?« Franzi war ratlos. »Panikattacke? Besoffen? Ausbruch aus der Routine?«

Sandra hob die schmalen Schultern. »Ich glaube, alles zusammen«, gestand sie. »Man soll ja ab und zu das Kind in sich rauslassen, heißt es, und deshalb …«

»… machst du lebensgefährlichen Quatsch und rufst bei Shampooleuten an.«

»Aber wenn das Zeug doch so stinkt.«

Franzi musterte sie kritisch. »Diese Haare kann niemand imitieren. Du bist es demnach wirklich und kein falsch gepolter Klon.«

»Tja, so viel steht fest: Gegen meine Filzwolle kommt nicht mal klebriger Blaugummi an.« Sandra zupfte seufzend an ihrem Haar, das sie nur mit diversen Klammern zusammengesteckt einigermaßen bändigen konnte. Sie beneidete nicht zum ersten Mal Franzi um die schulterlangen, glatten, braunen Haare.

Franzi hingegen machte deutlich, dass sie Sandra um ihre weiblichere Figur beneidete, nicht so groß und eckig und dünn wie sie selbst, alles genau richtig, und das ohne Push-up. Und, das war nicht zu glauben, wegen ihrer Haare. »Bis zur Taille, so ein herrlicher Wuschelkopf, ist das zu fassen …«

Sandra nahm daraufhin an, dass Franzi sich über sie lustig machen wollte, und war für einen Moment wütend.

Aber Franzi stritt das nicht minder vehement ab. »Du wirst nie kapieren, was für tolle Haare du hast, aber egal. Und was jetzt?«

»Wie, was jetzt?«

»Na, wann fliegst du nach Dublin?«

»Geht’s noch?« Sandra tippte sich gegen die Schläfe. »Der Typ hat das doch nicht ernst gemeint. Und ich war für einen Tag spontan genug, das reicht mir erst mal. Der Kater von dem Prosecco ist auch nicht ohne. Ich muss das erst verarbeiten! Ich habe keine Ahnung, was mich geritten hat.«

»Na, das ist doch wohl klar.« Franzi, die ein halbes Jahr älter und somit erfahrener war, grinste. »Deine innere Uhr tickt. Aber immer noch besser als Selbstgespräche zu führen, so wie ich. Ich hatte schon überlegt, mir einen Papagei anzuschaffen.«

»Denkst du, mit mir stimmt was nicht?«, fragte Sandra ängstlich. »Hormonschwankungen oder so? Ich kenne mich ja selbst nicht mehr …«

»Wir arbeiten seit Jahren in dieser Firma, da kann man nicht normal sein«, lautete Franzis Standard-Antwort in solchen Fällen. »Ich geh dann mal in mein Büro, die großartigen neuen Verträge mit den künftigen großartigen Firmenkunden anzuleiern. Hasta la vista, Baby. Um zwölf zum Gute-Laune-Green-Smoothie?«

»Ja.« Oh Gott, verschone mich, dachte sie mit einem Würgen in der Kehle.

Franzi balancierte ihre Teetasse bereits den Gang entlang. Sandra sah ihr nachdenklich nach. Irgendetwas an dem Gesichtsausdruck ihrer Freundin kam ihr nicht recht geheuer vor.

Auf dem Tisch lag einiges an Arbeit. Neue Verträge, die von Franzi geprüft und an Sandra zur Eingabe weitergeleitet worden waren und Schadensfälle, zu denen sie die Verträge heraussuchen und beides an die zuständige Stelle weiterleiten musste, aber Sandra brachte nicht die nötige Konzentration auf. Sie grübelte über ihr gestriges Verhalten nach – und den Mann im Call-Center. Beinahe wäre wieder Call-Boy durch ihre Gedanken gehuscht, aber heute war Montag, und für den schwersten Tag der Woche, der noch nicht mal richtig begonnen hatte, war der Witz allzu flach.

Doch dann kam Judith Müllerschön mit irgendeinem Anliegen, und Sandra war sofort bei der Sache. Niemals, niemals, niemals durfte sie sich etwas anmerken lassen. Die Müllerschön wollte natürlich wissen, wie das Wochenende gewesen sei, um sich an der Einsamkeit anderer zu weiden und mit heilen Familienerlebnissen zu protzen, doch Sandra schaffte es, dem Glatteis fernzubleiben. Bis sie sich versah, war Mittagspause, und sie machte sich auf den Weg zur Kantine.

Franzi traf zeitgleich ein, aber anstatt mit ihr hineinzugehen und sie zu einem dieser grässlichen Säfte zu zwingen, die so aussahen und schmeckten wie etwas, das schon sehr lange in einer Pfütze vor sich hingammelte, packte sie Sandra am Arm und zog sie auf die Terrasse hinaus. Diese lag zwar gleich neben dem Parkplatz, aber man konnte draußen essen, das war besser als nichts.

»Sandra! Ich hab’s getan!«, verkündete Franzi freudestrahlend und wedelte mit zwei Papieren.

Sie hatte es doch geahnt. »Was hast du getan?«, fragte sie lauernd, auf das Schlimmste gefasst.

»Unseren Urlaub eingereicht! Vielmehr, von Juni auf jetzt geswitcht! Und es ist bereits genehmigt! Macht ja nur zwei Wochen Unterschied. Und momentan ist sowieso Flaute.«

Sandra hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen. Sie steuerte auf einen freien Tisch am Rand zu, und Franzi blieb nichts anderes übrig, als sich ihr gegenüberzusetzen. Die Sonne strahlte vom Himmel, es war warm, ein laues Lüftchen umschmeichelte sie, aber Sandra bekam Gänsehaut. »Franzi«, wiederholte sie langsam, »was hast du getan?«

»Es geht doch nicht an, dass du etwas Außergewöhnliches tust und mich, deine beste Freundin – BFF, um mit meiner Nichte zu sprechen – außen vor lässt!«, rief Franzi mit glühenden Wangen und dämpfte dann ihre Stimme, weil einige neugierige Kolleginnen schon herblickten. »Ich war genau wie du – ich war spontan!«

Sandra bedeckte ihr Gesicht mit Händen. »Sag nicht, du hast …«

»Doch! Aber ja! Genau das! Wir fliegen nach Dublin, du und ich, zwölf Tage lang, und werden einen wahnsinnig aufregenden Urlaub erleben, weil wir nichts, aber auch gar nichts vorher begrübelt haben!«

Sandra stand kurz vor dem Schüttelfrost. Sich planlos auf eine Reise, in die Fremde, zu begeben, das lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Unmöglich. Keine Chance. »Das mache ich nicht«, erklärte sie leise.

»Oh doch! Und damit du nicht kneifen kannst, habe ich auch schon den Flug gebucht! Übermorgen geht’s los!« Franzi hüpfte wie eine Erstklässlerin auf der Bank herum und gluckste dazu, als wäre es der größte Streich ihres Lebens. Wahrscheinlich war das auch so.

Sandra ließ die Hände sinken und sah ihre Freundin fest an. »Das. Mache. Ich. Nicht!«

»Oh. Doch. Genau. Das!«

»Auf keinen Fall! Wir haben den Urlaub ab Mitte Juni geplant, wir wollten an den Gardasee fahren, das Hotel ist gebucht …«

»Wo wir immer sind! Mit Halbpension!«

»Ganz recht! Es muss alles seine Ordnung haben! Klare Linien! So geht das! Dann muss man im Urlaub nicht viel nachdenken und kann genießen.« Sandra verschränkte die Arme vor der Brust und zog jene Miene, die Franzi immer, das t betonend, »teutsch verkniffen« nannte und dann mit »Frau Oberschulmeister« salutierte.

Aber heute nicht. »Ich weiß«, beschwichtigte Franzi. »Es war ja auch immer schön, und ich wäre ohne dich aufgeschmissen.«

»Allerdings.«

»Ich vergesse, wo wir wohnen, ich verliere die Schlüssel …«

»… und du kümmerst dich null um die Reisemodalitäten.«

Das schien das Stichwort zu sein, auf das Franzi gewartet hatte. »Aber diesmal schon! Ich habe das Hotel am Gardasee storniert. Und zwar kostenfrei! Die waren sogar froh, weil sie so viele Anfragen haben. Und ich habe unseren Urlaub vorgezogen und genehmigt bekommen und den Flug nach Dublin gebucht! Es musste alles schnell gehen, damit du nicht zum Nachdenken kommst. Die Kolleginnen, mit denen ich getauscht habe, sind total glücklich darüber. Na bitte, noch eine gute Tat dazu! Und das alles an einem Montagmorgen! Ist das nicht der Wahnsinn?« Sie strahlte, als hätte sie dem Chef gerade erzählt, sie habe im Lotto gewonnen und wolle daher seinen heruntergewirtschafteten Saftladen aufkaufen.

»Stimmt. Du bist verrückt geworden«, stellte Sandra entschieden fest. »Dabei hat das Stimmchen gesagt …«

»Was für ein Stimmchen?«

»Ach, nichts.«

Franzi blinzelte konsterniert und schien zu überlegen, wer von ihnen beiden denn nun verrückt geworden war. Dann fand sie den Gesprächsfaden wieder. »Das war kein Stimmchen, das ist ein Wink des Schicksals! Ach, was sag ich – des Universums! Wenn es so glatt läuft, muss es einfach so sein! Wir beide, zwei gestandene Dreißigerinnen, auf neuen Wegen!«

Sandra schüttelte den Kopf. »Franzi … wenn du mal von etwas begeistert bist, bist du nicht zu bremsen, ich weiß. Dann rennst du noch mit dem Kopf durch die Wand und wunderst dich hinterher, warum dir der Schädel brummt. Aber das verpufft so schnell, wie es gekommen ist, und darüber hinaus bist du genauso eingefahren und langweilig wie ich.«

»Richtig! Ich rede, bevor ich denke, trete beruflich auf der Stelle, bin Single, träume davon, richtig cool zu sein und habe in Wirklichkeit Angst davor. Gleichzeitig stolpere ich über jede Teppichfalte und mache mich lächerlich.« Franzi hob die Hände. »Sandra, du und ich, uns hat doch gerade das zusammengeschweißt, dass wir wahnsinnig langweilig sind, weil unsere Obergluckenmamas uns eingetrichtert haben, immer schön auf der sicheren Seite zu bleiben! Wir sind damit zwar Dreißigplus geworden und haben unbefristete Arbeitsverträge, weil wir uns nie weggewagt haben, aber so wirklich was leisten können wir uns nicht, und weiter gebracht haben wir es auch nicht. Wenn einer zu uns sagt, wir sollen auf einem Bein hüpfen und dazu Schlagzeug spielen, dann tun wir das! Und das war’s auch schon mit uns, da stehen wir, jede ohne Kerl, und die Zeit läuft uns davon.«

»Bist du fertig …«

»Nein! Ich finde, das ist die Gelegenheit für uns. Ergreifen wir sie beim Schopf und ab mit uns! Und du hast ‘n Date! Das lässt man nicht verstreichen.«

»Ich wiederhole: Der Glatzkopf, wenn es denn einer ist, hat das nicht ernst gemeint.«

»Und wenn schon! Dann gibt’s andere! Wir sind im Mai in Dublin! Das ist schon fast Sommer! Feen, Elfen, Bier und Pub-Musik! Was haben wir denn zu verlieren?«

Sandra holte Luft, öffnete den Mund – und schloss ihn wieder.

»Ähm«, machte sie dann.

»Siehst du!« Franzi grinste triumphierend. »Nix haben wir zu verlieren. Wir sind allein, es gibt nicht mal einen Goldfisch in unserem Leben! Deine Kakteen halten es zwölf Tage ohne dich aus, und mein Ficus sogar noch länger, weil ich vergessen hab, ihn zu gießen und er eh schon hinüber ist.«

Jetzt fiel Sandra doch etwas ein. »Ich war noch nie in Irland.«

»Ich auch nicht. Ein Grund mehr!«, meinte Franzi unnachgiebig. »Zeig, dass der letzte Englischkurs was gebracht hat. Muss doch für irgendwas gut sein!«

So weit weg in der Fremde, ohne Planung, ohne Organisation, ohne zu wissen, worauf man sich einließ … Sandra schauderte es. Das überforderte sie schlichtweg. »Wo werden wir denn übernachten?«

»Keine Ahnung, da findet sich schon was. Wir kommen mittags an, das ist genug Zeit. Da gibt’s doch haufenweise Bed and Breakfasts, das klappt schon.«

»Aber … das ist doch ein Risiko …«

»Jaaaa! Stell dir vor, wir beide gehen auf Abenteuer! Unverhofft und unerwartet, genau wie Bilbo Beutlin!«

»Ja, nur hatte der einen Zauberer dabei …«

»Sandra!« Franzi packte ihre Hände und sah sie eindringlich an. »Du wünschst dir schon so lange eine Änderung in deinem Leben. Gestern hast du den ersten Schritt dazu unternommen. Soll es das jetzt gewesen sein?«

»Ich weiß nicht«, murmelte Sandra.

Franzi wurde pathetisch. So ernst war es ihr. »Sag mir, dass du rundum glücklich und zufrieden bist und dass alles bestens ist, und ich storniere den Flug und trage sogar die Kosten. Sag mir, dass ich mich geirrt habe!«

Sandra schluckte. »Du … du hast es also wirklich getan?«

»Was? Den Flug gebucht? Aber natürlich.« Franzi ließ ihre Hände los und breitete die beiden Blätter vor ihr aus. Auf dem einen stand die Unterschrift zur Genehmigung des Urlaubsantrags, das andere war eine Rechnung von Aer Lingus. Mit Datum von Mittwoch, Abflugzeit 11:25, Flughafen München.

»Du bist irre.«

»Du hast damit angefangen!«

Da konnte sie nicht widersprechen. Ihr Fehler war, es Franzi erzählt zu haben. »Ich hab Schiss«, wisperte sie.

Franzi setzte den treuherzigen Hundeblick auf, den sie sich von dem rothaarigen Setter einer Kollegin abgeschaut hatte, mit der sie ab und zu im Sommer nach Büroschluss in den Biergarten gingen. Diesem Blick konnte niemand widerstehen, ganz unmöglich. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch im Personalbüro bei der Abgabe des Urlaubsantrags gezeigt.

Aber sie beherrschte ihn nur dann, wenn ihr etwas sehr am Herzen lag.

Es war also verflixt ernst. Sandra fühlte sich, als würde sie im nächsten Moment von einer schweren Grippe überfallen.

»Lass uns einfach ganz spontan spontan sein!«, bettelte Franzi. »Sag schon ja!«

Wenn nicht jetzt, dann nie. Und außerdem konnte das Ticket nicht kostenfrei storniert werden, und Sandra hasste nichts mehr als sinnlos das Klo hinuntergespülte Geld. Auch wenn es Franzis Geld war. Verschwendung war nicht ihr Talent.

Sie gab sich einen Ruck und nickte. »Also gut.«

»Wahnsinn!«, schrie Franzi, ungeachtet der Blicke ringsum, sprang auf und umarmte Sandra stürmisch. »Ich drehe durch!«

Sandra sah erschrocken auf die Uhr. »Franzi, dreh später durch, wir müssen sofort zurück ins Büro! Die Müllerschön kontrolliert bestimmt schon!«

»Das ist mir heute so was von egal …«, trällerte Franzi.

Sandra hielt sie am Arm fest. »Unter einer Bedingung«, sagte sie. »Du erzählst es niemandem. Niemandem, verstanden? Wenn das eine Pleite wird, dann brauchen wir uns nicht auch noch der Häme auszusetzen. Das stehen wir allein durch.«

Franzi legte Daumen und Zeigefinger an den Mund, vollzog die Geste des Verschließens und kicherte wie ein Mädchen, das sein erstes Date mit dem Klassenschwarm verabredet hatte.

3. Mutter

Am Dienstagabend rief Mutter an. Am festgesetzten Tag, zur festgesetzten Stunde. Sandra hatte lange hin- und herüberlegt, ob sie bis dahin warten sollte, um ihr die Mitteilung der bevorstehenden Reise zu machen. Ihr natürliches Phlegma überwog. Wozu einen Tag früher anrufen? Sie telefonierten am Dienstag und am Mittwoch ging die Reise los. Das genügte ja wohl. Und sie hatte den Rest des Montags und fast den ganzen Dienstag ihre Ruhe. Oder wenigstens weniger Stress, denn das Packen war auch nicht ohne. Sie hatte kaum Zeit gehabt, eine Checkliste anzulegen, was sie alles mitnehmen musste. Die Klimatabelle im Internet war wenig aufschlussreich – es war wohl nicht kalt, aber man musste permanent mit Regen oder Sonne rechnen. Ein Wahlspruch der Iren lautete: »Wenn’s regnet, dauert’s nur ein Viertelstündchen. Wenn nicht, auch.« Schnelle Wechsel – das brachte Sandra jetzt schon ins Schwitzen. Das sah ganz und gar nicht nach geordneten Bahnen aus.

Und dann hatte Franzi noch nicht einmal eine Unterkunft organisiert! »Buchen Sie rechtzeitig, der Mai ist ein beliebter Reisemonat!«, stand auf einer Irland-Website.

Ich sage ab, dachte Sandra panisch. Egal, was es kostet, das schaffe ich nicht.

Da läutete das Telefon und schreckte sie noch mehr auf. Dabei war es auf die Sekunde genau.

»Hier ist deine Mutter«, meldete Frau Hering sich wie stets förmlich und vor allem, noch bevor Sandra etwas sagen konnte, wie etwa ihren Namen, oder »Hallo«, oder »Hallo, Mama«. Nein, Hannelore Hering musste nicht nur das letzte, sondern auch das erste Wort haben.

»Hier ist deine Tochter«, entfuhr es Sandra, und sie lachte. Schon wieder schlagfertig. Somit stand es fest: Sie war endgültig übergeschnappt. Wie konnte sie in dieser Situation lachen? »Wie geht es dir, Mama?«

»Ach, es ist immer dasselbe«, beklagte sich die Mutter und ja, das war dasselbe: »Dein Vater ist ein fauler Sack und unterstützt mich nie im Haushalt, dein Onkel hat einen Knall, will er doch tatsächlich schon wieder ein neues Auto kaufen, wovon frag ich dich, und …«

Und so ging es weiter, ohne einmal Atem zu holen. Die gesamte Familie wurde durchgehechelt. Bla-bla-bla, nörgelnörgel, blabla, nörgel.

Im Grunde genommen war es so am angenehmsten für Sandra. Sie musste nur ab und zu »Aha«, oder »Also nein, das glaube ich ja nicht!« in den kurzen Kunstpausen einwerfen, damit ihre Mutter den Eindruck erhielt, sie spräche mit einem zuhörenden Menschen und nicht mit einer Wand. Wobei es keinen Unterschied für Matriarchin Hering machen würde, denn sie erzählte ihre Geschichten so oder so, ob man wollte oder nicht. Aber für Sandra war es besser, denn andernfalls würde sie in den Focus rücken, und nicht auf positive Weise.

Allerdings war das nur eine kurze Schonzeit. Sobald die Familie durch war, kam Sandra an die Reihe – und es ging auch schon los. Haarkleine Ansagen, was sie zu tun und zu lassen hatte, um die schon lange ausstehende Karriere zu machen. Und damit endlich mal einer bei ihr blieb, Herrgott, das konnte doch nicht so schwer sein, Papa war ja schließlich auch noch bei Mama, und das seit zweiunddreißig Jahren! Und gar so hässlich war sie ja nun auch wieder nicht, also da fand sich doch sicher einer, der über ihre Haare hinwegsehen konnte. Wenn Sandra so weitermachte und nicht auf das Ticken der inneren Uhr hörte, endete sie bald als alte Jungfer, so wie Großtante Mathilde, von der sie offenbar nicht nur die Haare geerbt hatte …

Als Sandra das hörte und ahnte, wie das Telefonat enden würde – mit großer Frustration, wenn nicht Tränen, wie so oft –, wusste sie auf einmal, was sie zu tun hatte.

»Übrigens«, sagte sie beiläufig, als ihre Mutter sich doch einmal räuspern musste, bevor sie so richtig loslegte, »ich verreise morgen.«

Stille.

Dann: »Du … was? Wann? Wohin? Warum?«

»Ich verreise. Morgen früh. Nach Dublin. Weil ich Urlaub habe.«

Ihre Mutter räusperte sich erneut, völlig aus dem Konzept gebracht. Selten nahm ein Telefonat eine derart unerwartete Wendung. Nahm ihr die Führung des Gesprächs aus der Hand.

»Du bist also schwanger!«, vermutete sie mit dem Scharfsinn eines Menschen, der hinter jedem gesprochenen Wort eine Finte vermutete, weil derjenige sich nicht traute, die Wahrheit zu sagen.

»Nein«, erwiderte Sandra, keineswegs überrascht über diese für Außenstehende gewiss kaum nachvollziehbare Schlussfolgerung. »Ich fliege morgen früh nach Dublin in Urlaub.«

Sie konnte ihre Mutter geradezu grübeln hören. Das passte nicht ins Konzept, ins Leben … in gar nichts.

»Du … fliegst.«

»Ja.«

»Aus der Firma!«

»Nein. Nach Dublin, morgen früh, zusammen mit Franzi, in Urlaub.«

»Aber ihr wolltet doch im Juni an den Gardasee!«

»Das haben wir geändert.«

»Statt Juni Mai, und statt …«

»… Gardasee Dublin. Ganz genau.«

»Aber … warum?«, wiederholte ihre Mutter überfordert. »Was stimmt denn mit dem Gardasee nicht mehr?«

»Irland ist toll, ich war noch nie da. Und irgendwie muss sich mein Englischkurs ja mal bezahlt machen.«

»Franzis Vorschlag also?«

»Schon«, gab Sandra zu.

»Ich hab ja immer gesagt, die ist zu allem fähig.«

»Nur zu Gutem, Mama.«

»Und warum erfahre ich erst jetzt davon?«

»Weil wir es heute erst gebucht haben, so ein Last-Minute-Ding«, schwindelte Sandra. Eine kleine Notlüge war erlaubt, um weiteren unnötigen Diskussionen auszuweichen.

»Wie stellst du dir das vor? Wie kommst du zum Flughafen? Und hast du dir das auch gründlich überlegt? Wo kommt ihr dort unter? Und was ist, wenn du Zahnschmerzen bekommst?«

»Es ist dort alles wie bei uns, Mama, nur dass sie englisch sprechen.«

»Es ist eine Insel!« Hannelore Hering wurde fast hysterisch. »Ein Spucknapf mitten in einem wilden, unkontrollierbaren Ozean! Was ist, wenn das Flugzeug abstürzt? Hast du denn einen gültigen Reisepass? Und was ist mit …«

Sandra unterbrach. Das wagte sie selten, aber jetzt musste es sein. Denn allmählich wurde sie nervös. Das dauerte zu lange und sie hatte noch sehr viel zu tun. Vor allem würde ihre Mutter ihr Reisefieber nur noch mehr verstärken.

Allerdings reifte in ihr ein Entschluss heran: Erst recht würde sie jetzt nicht mehr absagen, wie panisch sie auch sein mochte, sondern die Sache durchziehen, was immer daraus wurde. Denn die positive Konsequenz bedeutete: zwölf Tage keine Selbstverteidigung und Tränen. Dafür würde sie sogar auf der Parkbank schlafen, um das einmal zu erleben. Der Gardasee war bisher nicht weit genug entfernt gewesen, Mutter Hering war selbst schon oft dorthin gefahren und kannte sich aus. Irland allerdings war terra incognita. Da konnte sie weder gute Ratschläge noch ihr Wissen anpreisen.

Zwölf Tage lang ein Ozean zwischen ihr und ihrer Mutter. Der Mars wäre nicht weiter entfernt gewesen.

»Es wird schon gut gehen, Mama, mach dir keine Gedanken! Es ist alles (hüstel) genau geplant. Zum Flughafen fahren zwei S-Bahnen. Der Rest ist ausgeschildert. Jeden Tag gehen hunderte Flüge. Mir wird nichts passieren. Und der Personalausweis genügt. EU, du verstehst? Ich muss nicht mal Geld wechseln. Und jetzt muss ich Schluss machen, weil der Koffer gepackt werden will, okay?«

»Ja … okay …« Hannelore Hering war fassungslos. »Na, dann … schönen Urlaub … komm gesund zurück …«

»Werd ich, Mama. Ich schicke dir eine Postkarte. So richtig old-fashioned. Die kannst du an die Kühlschranktür pinnen. Und ich werde dir über WhatsApp Bescheid geben, wenn ich gut angekommen bin.« Und danach weder ins WLAN gehen noch die mobilen Daten freischalten.

Zwei Wochen unabhängig.

Zwei Wochen lang ein Ozean zwischen ihnen.

Also, fast. Aber ob zwölf oder vierzehn Tage, das machte kaum einen Unterschied.

»Ja, bitte. Tschüss, Tochter.«

»Ciao, Mama. Äh – Bye, meine ich natürlich. Oder, wie die Iren sagen: chéile arís.« Das hatte sie auch auf der Reiseseite gefunden. Es war Gälisch und wurde so ähnlich wie das englische »cheers« ausgesprochen, klang genuschelt so ein bisschen wie »tschüss«.

Großartig! Sie hatte es geschafft, ihre Mutter allein mit diesem Wissensvorsprung mundtot zu machen!

Sandra wollte gerade triumphierend auflegen, ihre Mutter war trotzdem schneller.

»Und du bist sicher nicht schwanger?!«

4. Es wird wahr

Franzi war genauso aufgeregt. Vielleicht sogar noch mehr. Sandra merkte es daran, dass ihre Freundin ununterbrochen redete, und zwar alles durcheinander, sie stolperte über jede Bodenunebenheit und stieß gegen eine Säule.

»Warum passiert mir das nie mit einem attraktiven Mann?«, beschwerte sie sich. »Im Film machen sie das immer so!«

Sandra hingegen wurde desto stiller, je aufgeregter sie war.

So auch jetzt, was Anlass für eine weitere Beschwerde seitens Franzi war: »Mensch, du Trauerkloß, hier geht’s nicht zur Beerdigung, sondern in Urlaub!«

Sandra versuchte ein Lächeln. Die kurze Euphorie nach dem Telefonat mit ihrer Mutter war rasch verflogen, obwohl sie danach noch einige weitere irisch-gälische Floskeln aus dem Internet gezogen und sich daran erfreut hatte. Sie hatte gemerkt, dass ihr der Sprachausflug Spaß machte und sogar die Aussprache geübt.

Nach Abschalten des Laptops folgten Ernüchterung und kein Schlaf.

Nun, da es so richtig ernst wurde, stand sie kurz vor einer Panikattacke. Nichts war von langer Hand vorbereitet worden, wie es sich gehörte. Alles ging stattdessen völlig ungeplant vor sich.

Es war eine Sache, von einer Veränderung zu träumen, aber eine andere, sie derart plötzlich umzusetzen. Sandra hatte keine Zeit gehabt, sich mental darauf einzustellen. Damit kam sie nicht so schnell zurecht.

»Saaandraaa, du ziehst ein Gesicht, als hätte man dir fristlos gekündigt und die Abfindung von dir angefordert!«, fuhr Franzi fort.

»So fühle ich mich auch«, gestand sie kläglich.

»Ach was, das ist nur Reisefieber. Wann bist du zuletzt geflogen?«

»Mit fünfzehn … nach Mallorca mit den Eltern …«

»Der Klassiker. Ich auch.« Franzi schaffte es gerade noch, einer Hürde in Form einer achtlos weggeworfenen Keksschachtel auszuweichen. »Ja, mir geht es wie dir. Am liebsten würde ich umkehren und nach Hause rennen und mich vierzehn Tage unter der Bettdecke verkriechen.«

»Klingt himmlisch.« Sandra seufzte.

»Nicht wahr?«

»Also, tun wir’s?«

»Aber klar. Nein! Einen Kerl lässt man nicht warten!«

Warum eigentlich nicht? Es war zumeist umgekehrt gewesen, dass nämlich Sandra vergeblich gewartet hatte. Keine »Beziehung«, wenn man das überhaupt so nennen wollte, hatte im vergangenen Jahr länger als drei Wochen gehalten. Die kurze WhatsApp: »Du, ich kann heute nicht, melde mich, tschüss«, war nicht nur einmal vorgekommen. Wie beim Vorstellungsgespräch: Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an.

Vielleicht gab es ja eine App »Schlussmachen per Message«, die nur wenige Auswahlpunkte hatte, aber trotzdem hilfreich dabei war, das Eintippen zu sparen. Click and send. Es gab zur Auswahl noch »es war total schön mit dir, danke« mit anschließender Blockierung, oder der Klassiker »lass uns Freunde bleiben«, und, der absolute Burner, »du bist total süß und verdienst mich gar nicht«.

Warum habe ich nicht so eine App erfunden?, dachte Sandra. Dann wäre ich jetzt wahrscheinlich reich. Mir würden noch viele Sprüche einfallen, die als Upgrade stufenweise immer teurer würden, bis zum Abschluss mit Rosenfoto. ›Du bist wie diese Rosen – wunderschön, kostbar, unerreichbar. Und nach einer Woche mit mir welk. Daher halte dich länger frisch ohne mich‹.