Iskari - Der Sturm naht - Kristen Ciccarelli - E-Book

Iskari - Der Sturm naht E-Book

Kristen Ciccarelli

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Beschreibung

Als kleines Kind lockte Asha einst Kozu herbei, den mächtigsten aller Drachen. Er gab vor, ihr Freund zu sein, doch dann flog er auf und vernichtete mit seinen mörderischen Flammen Ashas Heimatstadt. Um die unverzeihliche Schuld, die sie damit auf sich geladen hat, zu sühnen, ist sie eine Iskari geworden, eine Drachentöterin – die beste und mutigste. Doch ihre größte Prüfung steht noch bevor. Denn ihr Vater, der König, stellt ihr ein schreckliches Ultimatum. Entweder befreit sie das Land endgültig von Kozu – oder sie muss den ihr verhassten Jarek heiraten. Aber Kozu ist unbesiegbar, der Kampf mit ihm selbst für eine Iskari viel zu schwer. Doch Asha ist nicht allein, denn plötzlich stellt sich jemand an ihre Seite. Jemand, der sie noch nicht einmal ansehen dürfte: Torwin, der geheimnisvolle Sklave Jareks …

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Seitenzahl: 471

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Das Buch

Als kleine Prinzessin lockte Asha einst Kozu herbei, den mächtigsten aller Drachen. Er gab vor, ihr Freund zu sein, doch dann flog er auf und zerstörte mit seinen Flammen Ashas Heimatstadt. Um die unverzeihliche Schuld, die sie damit auf sich geladen hat, zu sühnen, ist sie eine Iskari geworden, eine Todbringerin – sie ist die beste und mutigste Drachentöterin, die es jemals gab. Und sie wurde dem Jungen versprochen, der damals ihr Leben rettete und im Drachenfeuer beide Eltern verlor: Jarek.

Inzwischen ist Jarek kein Junge mehr, sondern ein gefürchteter und grausamer Kommandant. Und in sieben Tagen Ashas Ehemann. Asha hasst Jarek, und als ihr Vater, der König, den einzigen Weg nennt, einer Hochzeit zu entgehen, stimmt sie ohne Zögern zu: Vernichtet sie Kozu, ist sie frei. Aber Kozu ist unbesiegbar, der Kampf mit ihm selbst für eine Iskari viel zu schwer. Doch Asha ist nicht allein, denn plötzlich stellt sich jemand an ihre Seite. Jemand, der sie noch nicht einmal ansehen dürfte, geschweige denn berühren: Torwin, der geheimnisvolle Sklave Jareks, der es wagt, sie zu lieben. Und der Asha plötzlich an allem zweifeln lässt, was sie zu wissen glaubte.

Die Autorin

Kristen Ciccarelli wuchs in der kanadischen Provinz innerhalb einer großen slowenischen Familie auf. Die weitläufigen Wälder der ­Niagara-Halbinsel waren der Abenteuerspielplatz ihrer Kindheit. Heute erinnert sie sich in ihren Geschichten an die Wildnis der Natur und lässt ihre Heldinnen gegen gefährliche Drachen kämpfen. ISKARI – DER STURM NAHT ist der Auftakt ihrer ersten Fantasy-Trilogie, die sich auf Anhieb in zahlreiche Länder verkaufte.

Kristen Ciccarelli

Roman

Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »An ISKARI Novel – The Last Namsara« bei HarperTeen, einem Imprint von HarperCollins PublishersDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2017 by Kristen Ciccarelli

Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Uta Dahnke

Ornamente im Innenteil: © Shutterstock /Anna Poguliaeva

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München, unter Verwendung eines Motivs von www.ervinusman.co.uk /Getty Images

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München978-3-641-20785-4www.heyne-fliegt.de

Für Joe: Gefährte, Geliebter, Held all meiner Träume

1

Asha lockte den Drachen mit einer Geschichte an. Es war eine alte Geschichte, älter als die Berge in ihrem Rücken, und Asha musste sie tief aus ihrem Gedächtnis hervorzerren, wo sie im Verborgenen schlummerte.

Sie wollte es nicht tun. Solche Geschichten zu erzählen war verboten, gefährlich, tödlich sogar. Doch da sie diesen Drachen bereits seit zehn Tagen durch die felsige Tiefebene verfolgten, war ihren Sklaven mittlerweile der Proviant ausgegangen. Sie hatte die Wahl, entweder ohne Drachen in die Stadt zurückzukehren oder gegen das von ihrem Vater verhängte Verbot der alten Geschichten zu verstoßen.

Asha kehrte nie ohne Beute zurück, und sie hatte auch jetzt nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Immerhin war sie die Iskari, und es waren Vorgaben zu erfüllen.

Also erzählte sie die Geschichte.

Heimlich.

Während ihre Jagdhelfer glaubten, sie schärfte ihre Axt.

Der Drache kam, glitt tückisch, ganz wie es seinem Wesen entsprach, aus dem rotgoldenen Boden. Sandkörner rieselten schimmernd wie Wasser an seinem Leib herab, und zum Vorschein kamen stumpfe steingraue Schuppen. Dreimal so groß wie ein Pferd ragte er vor Asha auf und schlug mit dem gegabelten Schwanz, während seine Augen mit den schlitzförmigen Pupillen starr auf das Mädchen gerichtet waren, das ihn gerufen hatte. Das Mädchen, das ihn listig mit einer Geschichte geködert hatte.

Mit einem Pfiff befahl Asha ihren Jagdsklaven, sich hinter die Schilde zu ducken. Dann bedeutete sie den Bogenschützen mit einer Handbewegung, sich zurückzuziehen. Dieser Drache hatte die Nacht unter dem kalten Wüstensand verbracht. Da die Sonne eben erst aufging, war sein Körper noch nicht so warm, dass er hätte fliegen können.

Er saß am Boden fest. Aber derart in die Enge getriebene Drachen kämpften erbittert.

Mit der linken Hand hielt Asha einen rechteckigen Schild, mit der rechten griff sie nach der Wurfaxt an ihrer Hüfte. Das trockene Alfagras raschelte um ihre Knie, während der Drache sie umkreiste, auf eine Unachtsamkeit ihrerseits lauerte.

Das war sein erster Fehler. Asha wurde nie unachtsam.

Sein zweiter war, sie mit Flammen zu attackieren.

Asha hatte keine Angst mehr vor Feuer, seit der Erste Drache höchstselbst ihr eine schlimme Brandwunde zugefügt hatte, die über ihre ganze rechte Seite verlief. Jetzt war sie von Kopf bis Fuß in eine feuerfeste Rüstung gehüllt, gefertigt aus den Häuten all der Drachen, die sie getötet hatte. Das eng an ihrem Körper anliegende Leder und ihr Lieblingshelm, der mit seinen stacheligen schwarzen Hörnern an einen Drachenkopf erinnerte, schützten sie vor dem Feuer.

Sie hielt den Schild erhoben, bis die Flammen erstarben, und sobald der Feueratem des Drachen erschöpft war, warf sie den Schild beiseite. Einhundert Herzschläge hatte sie Zeit, bis die Säure in der Lunge des Drachen wieder aufgefüllt war und er erneut Feuer speien konnte. Bis dahin musste sie ihn getötet haben.

Sie zückte die eiserne Axt. Die gebogene Klinge blitzte im frühen Morgenlicht, der glatte Holzschaft schmiegte sich perfekt in Ashas vernarbte Hand.

Der Drache zischte.

Doch Asha kniff nur die Augen zusammen. Deine Zeit ist ab­­gelaufen.

Bevor er angreifen konnte, zielte und warf sie, genau auf sein Herz. Die Axt versank in der Brust des Drachen, und er schrie und warf sich herum, während sein Blut in den Sand floss. Mit knirschenden Zähnen starrte er sie aus wütenden Augen an.

Genau in dem Moment trat jemand neben sie und störte ihre Konzentration. Als sie den Kopf wandte, entdeckte sie ihre Cousine Safira, die den Schaft einer Hellebarde in den Sand rammte. Safira betrachtete den tobenden Drachen. Ihr dunkles Haar war auf Kinnlänge geschnitten, so dass es ihre kühnen, schrägen Wangenknochen und einen verblassenden Bluterguss an ihrem Kiefer betonte.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst hinter den Schilden bleiben«, knurrte Asha. »Wo ist dein Helm?«

»Mit dem Ding konnte ich überhaupt nichts sehen. Ich habe ihn bei den Sklaven gelassen.« Safira trug lederne Jagdkleidung, die Asha ihr in aller Eile genäht hatte, und ihre Hände wurden von Ashas feuerfesten Handschuhen geschützt. Für ein zweites Paar war keine Zeit gewesen.

Jetzt schleppte sich der blutende Drache über den Sand auf Asha zu. Seine Schuppen schleiften über den Boden. Sein Atem ging keuchend.

Asha griff nach der Hellebarde. Wie lange war es her, dass er zuletzt Feuer gespuckt hatte? Sie hatte es nicht mehr in Erinnerung. »Zurück, Saf! Hinter die Schilde!«

Safira rührte sich nicht. Beobachtete nur gebannt den Drachen, dessen Herzschlag immer langsamer wurde.

Das schleifende Geräusch verstummte, doch mit einem letzten Aufbäumen brüllte der Drache die Iskari hasserfüllt an, und in dem Moment, bevor sein Herz stillstand, schossen Flammen aus seiner Kehle.

Blitzschnell trat Asha vor ihre Cousine. »Duck dich!«

Ashas nackte Hand war ausgestreckt. Ungeschützt. Feuer um­­hüllte ihre Finger, verbrannte die Haut. Sie verbiss sich einen Schrei, als der Schmerz sie durchzuckte.

Dann war es vorbei, und der Drache brach zusammen. Asha drehte sich um und sah Safira unversehrt im Sand knien. Abgeschirmt vor den Flammen.

Sie stieß bebend den Atem aus.

Safira allerdings starrte die Hand ihrer Cousine an. »Asha. Du hast dich verbrannt.«

Asha nahm den Helm ab und betrachtete ihre Hand. Die versengte Haut warf Blasen, der Schmerz loderte heiß. Panik wallte in ihr auf. Es war acht Jahre her, dass sie von den Flammen eines Drachen schwer verletzt worden war.

Verstohlen ließ Asha den Blick über ihre Jagdsklaven schweifen, die gerade die Schilde senkten. Sie trugen kein Leder am Körper, nur Eisen – Eisen in ihren Pfeilen und Hellebarden und Speeren, eiserne Halsschellen. Ihre Augen waren unverwandt auf den Drachen gerichtet. Sie hatten nicht bemerkt, dass die Iskari von Flammen getroffen worden war. Gut. Je weniger Zeugen, des­to besser.

»Drachenfeuer ist giftig, Asha. Das musst du behandeln.«

Asha nickte. Allerdings hatte sie nichts gegen Verbrennungen dabei. Sie hatte es noch nie gebraucht. Nur um den Schein zu wahren, ging sie zu ihrem Tornister.

Da hörte sie hinter sich Safira sehr leise sagen: »Ich dachte, sie speien kein Feuer mehr.«

Asha erstarrte.

Ohne Geschichten speien sie auch kein Feuer.

Safira stand auf und klopfte sich die Lederrüstung ab. Pflichtschuldig mied sie Ashas Blick, als sie fragte: »Warum sollten sie jetzt auf einmal anfangen, Feuer zu spucken?«

Plötzlich wünschte sich Asha, sie hätte ihre Cousine nicht mitgenommen.

Hätte sie Safira allerdings zuhause gelassen, hätte diese jetzt nicht nur einen verblassten Bluterguss am Kinn. Es wäre viel schlimmer.

Zwei Tage bevor Asha zur Jagd aufbrach, hatten Soldaten Safira in ihrem eigenen Zimmer in die Ecke gedrängt. Wie sie ohne Schlüssel hereingekommen waren, konnte sie nur raten.

Beim Auftauchen der Iskari waren die Männer zwar in Panik geraten und hatten das Weite gesucht. Doch was wäre beim nächsten Mal? Asha war tagelang unterwegs, und ihr Bruder Dax befand sich immer noch mit Jarek, dem Kommandanten, zu Friedensverhandlungen im Buschland. Es wäre niemand da gewesen, der ein wachsames Auge auf ihre skralblütige Cousine haben konnte. Also hatte sie Safira mitgenommen. Denn noch schlimmer, als mit leeren Händen zurückzukehren, war es, zurückzukehren und Safira wieder im Behandlungsraum für die Kranken und Verletzten zu finden.

Ihre Cousine ließ sich von Ashas Schweigen nicht beirren. »Weißt du noch? Früher bist du im Morgengrauen losgezogen und hast noch vor dem Abendessen einen Drachen erlegt. Was ist denn nur passiert?«

Der glühende Schmerz in ihrer Hand machte Asha benommen. Sie kämpfte darum, klar im Kopf zu bleiben. »Vielleicht war es damals zu leicht.« Sie gab ihren Jagdsklaven mit einem Pfiff das Signal, mit dem Zerlegen der Beute zu beginnen. »Vielleicht bevorzuge ich Herausforderungen.«

In Wahrheit nahm die Anzahl der Drachen seit Jahren ab, und es wurde immer schwerer, Ashas Vater ihre Köpfe zu bringen. Deshalb hatte sie angefangen, heimlich die alten Geschichten zu erzählen. Die alten Geschichten zogen Drachen an, wie Juwelen Menschen anzogen. Kein Drache konnte einer laut erzählten Geschichte widerstehen.

Doch die Geschichten lockten die Drachen nicht nur an, sie machten sie auch stärker. Daher das Feuer. Es war ganz einfach: Wo die alten Geschichten laut erzählt wurden, gab es Drachen, und wo Drachen waren, gab es Zerstörung und Verrat und Feuer. Vor allem Feuer. Asha wusste das besser als jeder andere. Den Beweis dafür trug sie im Gesicht.

Seufzend gab Safira auf. »Geh und behandle deine Brandwunde.« Sie ließ ihre Hellebarde aufrecht im Sand stehen und lief zu dem massigen Kadaver. Während die Sklaven sich an dem Drachen zu schaffen machten, ging Safira einmal im Kreis um ihn herum und begutachtete ihn. Die staubgrauen Schuppen boten eine perfekte Tarnung in den Bergen, und die Hörner und Stacheln waren aus makellosem Elfenbein, weder abgebrochen noch eingerissen.

Als Asha allein war, versuchte sie, ihre verbrannten Finger zu beugen. Es tat so weh, dass sie nur mühsam ein lautes Aufstöhnen unterdrücken konnte. Die Landschaft aus rotem Sand, gelbem Gras und einzelnen grauen Felssprenkeln verschwamm vor ihren Augen. Sie befanden sich hier an der Nahtstelle zwischen der im Süden gelegenen flachen Wüste und den dunklen, zerklüfteten Bergen im Norden.

»Er ist wunderschön!«, rief Safira ihr zu.

Angestrengt konzentrierte Asha sich auf ihre Cousine, die sie ebenso unscharf sah wie alles andere auch. Sie versuchte es mit Kopfschütteln. Als das nicht half, stützte sie sich auf Safiras ­Hellebarde.

»Dein Vater wird sich freuen, Asha.« Die Stimme klang dumpf und breiig.

Wenn mein Vater doch nur die Wahrheit kennen würde!, dachte Asha.

Um Asha herum drehte sich alles. Sie umklammerte die Hellebarde fester und hielt den Blick starr auf Safira gerichtet.

Ihre Cousine bahnte sich ihren Weg durch die Sklaven, deren Messer in der hellen Sonne funkelten. Asha nahm wahr, wie Safira nach der in der Brust des Drachen steckenden Axt griff. Sie hörte, wie ihr Stiefelabsatz gegen die Schuppen prallte. Sie hörte sogar, wie sie die Waffe herauszog und wie das Blut dick und zäh in den Sand gluckerte.

Aber sie konnte sie nicht sehen. Nicht mehr. Die ganze Welt war konturlos und weiß geworden.

»Asha? Geht’s dir gut?«

Sie presste die Stirn gegen den glatten Stahl der Hellebarde, um den Schwindel zu vertreiben. Die Finger ihrer unversehrten Hand krümmten sich wie Klauen um den Schaft. Es dürfte nicht so schnell gehen.

Hastige Schritte erklangen. »Asha, was ist denn los?«

Der Boden unter ihr schien nachzugeben. Asha spürte, wie sie kippte. Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand nach ihrer skralblütigen Cousine aus – die sie von Gesetzes wegen nicht berühren durfte.

Erschrocken trat Safira zurück, außer Reichweite. Asha gab sich Mühe, das Gleichgewicht wiederzufinden. Da ihr das nicht gelang, sank sie in den Sand.

Obwohl Safira zu den Jagdsklaven schielte und obwohl Asha wusste, dass es deren Urteil war, das ihre Cousine fürchtete, und nicht sie, versetzte es ihr einen Stich. Immer versetzte es ihr einen Stich.

Doch Sklaven redeten. Ihre Cousine wusste das am allerbesten. Tuschelnde Sklaven hatten Safiras Eltern verraten. Und hier und jetzt waren sie von Sklaven umringt. Sklaven, die wussten, dass Safira Asha nicht berühren durfte, Asha nicht einmal in die Augen sehen durfte. Wegen des Skral-Blutes, das durch ihre Adern floss.

»Asha!«

Schlagartig rückte sich die Welt wieder gerade. Asha blinzelte. Da war Sand unter ihren Knien. Da war der Horizont in der Ferne, ein rotgoldener Streifen unter einem türkisfarbenen Himmel. Und da lag ein erlegter Drache vor ihr: klar umrissen und grau und tot.

Safira ging vor Asha in die Hocke. Kam ihr zu nah.

»Nicht«, sagte Asha schärfer als beabsichtigt. »Mir geht’s gut.«

Beim Aufstehen durchfuhr sie erneut der Schmerz. Aber das Gift sollte nicht so schnell wirken. Sie brauchte nur Wasser, mehr nicht. Sie war halb ausgedörrt.

»Eigentlich dürftest du gar nicht hier draußen sein«, rief Safira ihr nach, Besorgnis in der Stimme. »In sieben Tagen ist deine Hochzeit. Du solltest dich darauf vorbereiten, nicht davor weglaufen.«

Ashas Schritte gerieten ins Stocken. Trotz der brennenden Hand und der stetig steigenden Sonne lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

»Ich laufe vor überhaupt nichts weg«, gab sie zurück, den Blick auf den grünen Gürtel in der Ferne gerichtet. Den Rift. Den einzigen Ort, an dem sie wirklich frei war.

Die beiden Mädchen schwiegen. Eine Weile waren nur die Sklaven zu hören, die ihre Messer schärften.

Safira stellte sich hinter sie. »Drachenherzen sollen ja gerade groß in Mode sein, hab ich gehört.« Asha hörte an ihrer Stimme, dass sie zaghaft lächelte. »Besonders als Verlobungsgeschenk.«

Bei dem Gedanken rümpfte Asha die Nase. Sie bückte sich nach ihrem Jagdtornister aus robustem Drachenleder und holte den Wasserschlauch heraus.

»Noch sieben Tage nimmt der rote Mond ab, Asha. Hast du überhaupt schon mal über dein Verlobungsgeschenk nachgedacht?«

Mit einem warnenden Knurren richtete Asha sich auf, und alles drehte sich ihr wieder vor Augen.

Durch reine Willenskraft unterdrückte sie den Schwindel. Natürlich hatte sie darüber nachgedacht. Immer, wenn sie zu diesem furchtbaren Mond hinaufsah, der jeden Tag ein wenig schmaler wurde, dachte sie über alles nach: das Geschenk und die Hochzeit und den jungen Mann, den sie bald Gemahl nennen musste.

Das Wort fühlte sich in ihrem Innern hart wie ein Stein an. Es warf ein grelles Licht auf alles.

»Ach, komm schon.« Mit einem Lächeln wandte sich Safira den Gipfeln zu. »Das bluttriefende Herz eines Drachen? Ein perfektes Geschenk für einen Jungen, der selbst kein Herz hat.«

Asha schüttelte den Kopf, doch Safiras Grinsen war ansteckend. »Warum musst du so eklig sein?«

Genau in dem Moment stieg in einiger Entfernung aus der Richtung der Stadt eine rotgoldene Staubwolke auf.

Ashas erster Gedanke war: Ein Sandsturm, und sie wollte schon hastig einen Befehl erteilen. Doch hier befanden sie sich in der felsigen Tiefebene, nicht in der offenen Wüste. Als sie die Augen zusammenkniff, entdeckte sie zwei Pferde, die auf die Jagdgesellschaft zugaloppierten. Eines war ohne Reiter, auf dem anderen saß ein Mann in einem groben Wollumhang, rot vom Sand, den die Hufe seines Pferdes aufwirbelten. Die goldene Halsschelle blinkte im Sonnenlicht und wies ihn als einen der Palastsklaven aus.

Rasch versteckte Asha die Hand hinter ihrem Rücken.

Der ältere Mann zügelte seine Stute. Schweiß tränkte sein er­­grauendes Haar, die Augen blinzelten im Sonnenlicht. Langsam legte sich der Staub.

»Iskari«, sagte er, atemlos von seinem schnellen Ritt. Den Blick hielt er fest auf die Mähne seines Pferdes gerichtet, um Asha nicht anzusehen. »Euer Vater wünscht Euch zu sehen.«

Entschlossen umfasste Asha hinter ihrem Rücken ihr Handgelenk. »Das passt perfekt, denn ich werde ihm heute Abend den Kopf dieses Drachen überreichen.«

Der Sklave schüttelte den Kopf, immer noch ohne den Blick zu heben. »Ihr sollt sofort in den Palast zurückkehren.«

Asha runzelte die Stirn. Der Drachenkönig unterbrach sonst nie ihre Jagd.

Sie wandte sich dem Pferd ohne Reiter zu. Es war Oleander, ihre eigene Stute. Ihr rostbraunes Fell glänzte vor Schweiß, und ein röt­licher Sandfleck überdeckte den weißen Stern auf ihrer Stirn. In Gegenwart ihrer Reiterin bewegte Oleander nervös den Kopf.

»Ich kann hier mithelfen, bis sie fertig sind«, erbot sich Safira. Asha drehte sich zu ihr um, doch Safira wagte nicht, sie direkt anzusehen. Nicht unter dem wachsamen Blick eines könig­lichen Sklaven. »Ich komme dann nach.« Safira band die Lederschnüre der geborgten Jagdhandschuhe auf. »Du hättest mir die nicht geben sollen.« Sie streckte sie Asha entgegen. »Und jetzt geh besser.«

Ohne sich um die Blasen auf ihrer wunden Haut zu kümmern, zog Asha die Handschuhe über, damit der Sklave ihres Vaters die Verbrennung nicht bemerkte. Dann nahm sie Oleanders Zügel und schwang sich in den Sattel.

Das Pferd wieherte und tänzelte, ehe es, da sie es sachte mit den Fersen anstieß, losgaloppierte.

»Ich heb dir das Herz auf!«, rief Safira noch, als Asha bereits durch den Sand auf die Stadt zujagte. »Falls du es dir anders überlegst!«

Am Anfang …

… war der Große Alte einsam. Also schuf er sich zwei Ge­­fährten. Den ersten formte er als männ­liches Wesen aus Himmel und Geist und nannte ihn Namsara. Namsara war ein goldenes Kind. Wenn er lachte, funkelten Sterne in seinen Augen. Wenn er tanzte, endeten Kriege. Wenn er sang, heilten Gebrechen. Seine bloße Anwesenheit war wie eine Nadel, welche die Welt zusammennähte.

Den zweiten Gefährten schuf der Große Alte als weib­liches Wesen aus Blut und Mondlicht und nannte es Iskari. Iskari war ein unheilvolles Kind. Wo Namsara Lachen und Liebe brachte, da brachte Iskari Tod und Zerstörung. Wenn Iskari herumlief, versteckten sich die Menschen in ihren Häusern. Wenn sie sprach, weinten alle. Wenn sie jagte, verfehlte sie nie ihr Ziel.

Gequält von ihrem eigenen Wesen, trat Iskari vor den Großen Alten und bat ihn, sie neu zu erschaffen. Sie hasste sich. Sie wünschte sich, Namsara ähn­licher zu sein. Als der Große Alte ihr die Bitte abschlug, fragte sie ihn, warum. Warum durfte ihr Bruder Dinge erschaffen, wohingegen sie selbige zerstörte?

»Die Welt braucht ein Gleichgewicht«, sagte der Große Alte.

Wütend verließ Iskari den Herrschergott und ging auf die Jagd. Sie jagte tagelang. Aus Tagen wurden Wochen. Im­­mer stärker wurde ihr Zorn und ihr Blutdurst unstillbar. Sie tötete erbarmungslos und ohne Gefühl, derweil der Hass in ihr anschwoll. Sie hasste ihren Bruder, weil er glücklich und geliebt war. Sie hasste den Großen Alten, weil er sie so geschaffen hatte.

Und als sie das nächste Mal auf die Jagd ging, stellte sie Fallen für den Großen Alten selbst.

Das war ein schreck­licher Fehler.

Der Große Alte streckte Iskari nieder und hinterließ dabei eine Narbe auf ihrem Körper, so lang und breit wie das Rift­gebirge. Dafür, dass sie versucht hatte, ihn zu töten, nahm er ihr die Unsterblichkeit. Als Strafe für ihr Vergehen verfluchte er ihren Namen und ließ sie allein durch die Wüste streifen, heimgesucht von peitschenden Winden und heulenden Sandstürmen. Schmachtend unter der sengenden Sonne. Frierend unter dem eisigen Mantel der Nacht.

Doch nicht Hitze oder Kälte brachte sie um.

Eine unerträg­liche Einsamkeit war es.

Namsara suchte die Wüste nach Iskari ab. Sieben Mal veränderte sich der Himmel, bevor er ihren Leichnam im Sand fand, die Haut voller Blasen von der Sonne, die Augen von Aasvögeln gefressen.

Beim Anblick seiner toten Schwester sank Namsara auf die Knie und weinte.

2

Normalerweise badete Asha, wenn sie einen Drachen getötet hatte. Sich Blut, Sand und Schweiß vom Körper zu schrubben war ein Ritual, das ihr den Übergang erleichterte von der wilden, rauen Welt jenseits der Mauern des Palasts zu einem Leben, das sie einschnürte wie ein zu enges Kleidungsstück.

An diesem Tag jedoch ließ sie das Waschen ausfallen. Obwohl ihr Vater sie zu sich gerufen hatte, schlich sie sich zuerst an ihren Wachen vorbei in den Krankenbehandlungsraum, wo die Arzneien aufbewahrt wurden. Er war weiß getüncht und roch nach Kalk. Sonnenlicht strömte von der Terrasse herein, beleuchtete das Blumenmosaik im Fußboden und färbte die Terrakotta-Töpfe in den Regalen gelbgolden.

In diesem Raum war sie vor acht Jahren erwacht, nachdem Kozu, der Erste Drache, sie fast verbrannt hatte. Asha erinnerte sich ganz deutlich: an das Krankenbett, in dem sie damals, in Verbände gewickelt, lag, an das furchtbare Gefühl, das schwer wie ein Felsbrocken auf ihrer Brust lastete und ihr sagte, dass sie etwas Schreck­liches getan hatte.

Sie verscheuchte die Erinnerung und trat durch den Tür­bogen. Stück für Stück legte sie ihre Rüstung und die Handschuhe ab. Die Axt legte sie oben auf den Haufen.

Eine der Gefahren von Drachenfeuer, abgesehen davon, dass es das Fleisch bis auf die Knochen wegzubrennen vermochte, bestand darin, dass es giftig war. Schon die kleinste Verbrennung tötete von innen heraus, wenn sie nicht richtig oder zu spät behandelt wurde. Eine schwere Verletzung wie jene, die Asha vor acht Jahren erlitten hatte, musste unverzüglich behandelt werden, und selbst dann waren die Überlebenschancen des Opfers gering.

Asha besaß ein Rezept, um die Giftstoffe herauszuziehen, doch es sah vor, die Wunde zwei Tage lang abzudecken. So viel Zeit blieb ihr nicht. Ihr Vater hatte sie zu sich bestellt. Wahrscheinlich hatte er bereits erfahren, dass sie zurück war.

Eilig öffnete sie mehrere Schränke und holte Töpfe voller getrockneter Rinde und Wurzeln heraus, auf der Suche nach einer bestimmten Zutat. In ihrer Hast griff sie mit der verletzten Hand nach einem der glatten Tonbehälter und ließ ihn vor Schmerz fallen.

Er zersprang auf dem Fußboden. Zwischen den roten Scherben wirbelten weiße Leinenbinden auf.

Fluchend kniete Asha sich hin, um sie aufzuheben. Sie war vom Schmerz so benommen, dass sie nicht bemerkte, wie je­­mand sich neben sie hockte, wie seine Finger neben ihren die Scherben aufsammelten.

»Ich mache das schon, Iskari.«

Beim Klang der Stimme schrak sie zusammen. Sie hob den Blick, sah eine silberne Halsschelle, dann einen wirren Schopf.

Asha betrachtete seine sommersprossigen Hände. Sie kannte diese Hände. Es waren dieselben, die beim Abendessen Jareks Teller auftrugen. Dieselben, die ihr in Jareks Gläsern dampfenden Minztee brachten.

Die feinen Härchen in Ashas Nacken stellten sich auf. Wenn der Sklave ihres Verlobten im Palast war, dann war auch ihr Verlobter da. Jarek musste aus dem Buschland zurückgekehrt sein, wo er ein Auge auf Dax’ Verhandlungen hatte werfen sollen.

Ist das der Grund, warum mein Vater mich rufen ließ?

Plötzlich verharrten die Finger des Sklaven reglos. Als Asha den Kopf hob, ertappte sie ihn dabei, wie er ihre Verbrennung anstarrte.

»Iskari …« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Das müsst Ihr behandeln.«

Ihr Ärger loderte auf wie ein frisch angefachtes Feuer. Natürlich musste sie das behandeln. Wenn sie sich nicht so ungeschickt angestellt hätte, wäre sie längst dabei.

Doch genauso wichtig war jetzt, für das Schweigen dieses Sklaven zu sorgen. Jarek benutzte seine Sklaven häufig, um Feinde auszuspionieren. Sobald Asha diesen hier entließ, würde er mög­licherweise zu seinem Herrn rennen und sie verraten. Und wenn Jarek erst Bescheid wüsste, wüsste auch ihr Vater Bescheid.

Sobald jedoch ihr Vater davon erfuhr, wäre ihm klar, dass sie die alten Geschichten erzählt hatte. Ihm wäre klar, dass sie immer noch das gleiche verdorbene Mädchen wie früher war.

»Ein Wort zu jemandem, Skral, und das Letzte, was du siehst, ist mein Blick von oben auf dich herab, wenn du im Kampfrund der Arena stehst.«

Sein Mund wurde schmal wie ein Strich, seine Augen wanderten zu den Bodenfliesen, auf denen elegante Namsara – seltene Wüstenblumen, die jedes Leiden heilen konnten – ein kunstvolles Muster bildeten.

»Verzeiht mir, Iskari«, sagte er, während er die letzten Tonscherben mit den Fingern zusammenfegte. »Aber ich darf keine Befehle von Euch entgegennehmen. Auf Anweisung meines Herrn.«

Instinktiv tasteten ihre Finger nach der Axt – die zusammen mit ihrer Rüstung in der Ecke lag.

Sie konnte ihm natürlich drohen, aber dann rächte er sich vielleicht, indem er ihr Geheimnis verriet. Eine Bestechung wäre womöglich wirkungsvoller. »Und wenn ich dir für dein Schweigen etwas gebe?«

Seine Finger schwebten reglos über dem Scherbenhaufen.

»Was möchtest du denn?«

Sein Mundwinkel hob sich kaum merklich, und sie bekam eine Gänsehaut.

»Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Plötzlich war ihr beklommen zumute.

»Nein«, sagte er, und das Lächeln verschwand, als er wieder ihre gerötete, von Blasen übersäte Haut betrachtete. »Das habt Ihr nicht.« Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper. »Lasst mich darüber nachdenken, während Ihr die Verbrennung behandelt.«

Asha stand auf. Versuchte, sich unter Kontrolle zu behalten. Das Zittern beunruhigte sie, wenn sie ehrlich war. Also inspizierte sie, während er weiter aufräumte, wieder die Regale und fand endlich, was sie brauchte: Drachenknochenasche.

Für sich genommen, war sie genauso tödlich wie Drachenfeuer, wirkte allerdings auf andere Weise. Statt den Körper zu vergiften, entzog ihm die Knochenasche sämt­liche Nährstoffe. Asha hatte nie selbst erlebt, dass jemand daran starb, aber es gab eine alte Geschichte über eine Drachenkönigin, die ihren Feinden eine Lektion erteilen wollte. Sie lud sie als Ehrengäste in den Palast ein und streute jeden Abend eine Prise Drachen­knochenasche in ihr Essen, und am letzten Morgen ihres Aufenthalts lagen alle tot in ihren Betten, die Körper wie leere Hülsen. Als wäre alles Leben aus ihnen herausgesaugt worden.

Doch trotz der Gefahren war diese Knochenasche, in genau der richtigen Dosis und mit genau der richtigen Kräuter­mischung verabreicht, das Einzige, was gegen das Drachenfeuergift half, eben wegen ihrer Zugeigenschaft. Asha zog den Korken aus dem Topf und maß die passende Menge ab.

Einen guten Sklaven zeichnete aus, dass er sah, was gebraucht wurde, bevor man danach fragte, und Jarek erwarb von allem nur das Beste. Während also Asha die Zutaten zusammensuchte, zerstieß und zu einer dicken Paste einkochte, riss Jareks Sklave schon Leinenstreifen zu Verbänden.

»Wo ist er?« Sie rührte die Salbe, um das Abkühlen zu be­­schleunigen. Jareks Namen musste sie nicht aussprechen. Sein Sklave wusste, wen sie meinte.

»Der schläft in seinem Weinkelch.«

Plötzlich hielt er in seiner Arbeit inne und starrte auf ihre Hände.

»Ich glaube, das ist kühl genug, Iskari.«

Asha folgte seinem Blick. Ihre Hände zitterten stark. Sie ließ den Löffel fallen, hob sie vor das Gesicht und betrachtete sie. »Es dürfte nicht so schnell gehen.«

Vollkommen ruhig nahm der Sklave den Topf mit der Salbe und deutete mit dem Kinn auf die Tischplatte. »Setzt Euch«, sagte er. Als hätte er jetzt das Kommando und sie müsste ihm gehorchen.

Es gefiel Asha nicht, Anweisungen von ihm zu bekommen. Doch das heftige Zittern gefiel ihr noch weniger. Also hievte sie sich auf den Tisch, während er auf einen Löffel mit der schwärz­lichen Paste blies, bis sie nicht mehr dampfte. Asha legte sich die verbrannte Hand auf den Oberschenkel, und er verstrich mit dem Löffel die körnige Salbe auf Handfläche und Fingern.

Asha entfuhr ein Zischen. Mehr als einmal unterbrach der Sklave besorgt sein Tun wegen der Geräusche, die sie von sich gab. Doch sie ließ ihn fortfahren. Trotz des furchtbaren Geruchs – nach verbranntem Knochen – spürte sie bereits die Wirkung der Salbe: ein kühles Gefühl, das sich langsam ausbreitete und gegen den sengenden Schmerz ankämpfte.

»Besser?« Er hielt den Blick gesenkt, während er auf den nächsten Löffel blies.

»Ja.«

Noch zwei Schichten trug er auf, dann griff er nach dem ersten Verbandsstreifen. Als er ihn allerdings anlegen wollte, zögerten sie beide. Sie zog ihre Hand leicht zurück, er verharrte über sie gebeugt. Das ungebleichte Leinen hing wie ein Baldachin zwischen seinen Händen, während sie beide denselben Gedanken hatten: Um die Wunde zu verbinden, musste er Asha berühren.

Ein Sklave, der einen Draksor ohne Erlaubnis seines Herrn berührte, konnte zu drei Nächten im Kerker ohne Nahrung verurteilt werden. Handelte es sich um ein schwereres Vergehen, zum Beispiel das Anfassen eines Draksor von hohem Rang so wie Asha, wurde er auch ausgepeitscht. Und in dem seltenen Fall intimer Berührungen, etwa einer Liebesbeziehung zwischen einem Sklaven und einem Draksor, musste der Sklave in der Arena sterben.

Ohne Jareks Genehmigung würde – durfte – sein Sklave sie nicht anfassen.

Asha machte Anstalten, ihm den Stoffstreifen abzunehmen und sich selbst zu verbinden, doch er zog seinen Arm weg. Sprachlos sah sie zu, wie er ihr die Hand einwickelte, langsam, sorgsam und so geschickt, dass er jeg­liche Berührung dabei vermied.

Sein Gesicht war schmal und voller Sommersprossen. Sommersprossen, so zahlreich wie die Sterne am Nachthimmel. Er stand so nah vor ihr, dass sie seine Hitze spüren konnte. So nah, dass sie das Salz auf seiner Haut riechen konnte.

Sofern er bemerkte, dass sie ihn ansah, zeigte er es nicht. Stille herrschte zwischen ihnen, während er das Leinen immer wieder um die eingesalbte Stelle wand.

Asha betrachtete seine Hände. Große Innenflächen. Lange Finger. Hornhaut an den Fingerkuppen.

Seltsam bei einem Haussklaven.

»Wie ist es passiert?«, fragte er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.

Sie fühlte, dass er ihr beinahe ins Gesicht gesehen hätte und sich mühsam davon abhielt. Stattdessen nahm er den nächsten Streifen, einen schmaleren, und wandte sich ihren Fingern zu.

Ich habe eine alte Geschichte erzählt.

Asha fragte sich, wie viel ein Skral wohl von dem Zusammenhang zwischen den alten Geschichten und Drachenfeuer wusste, und sprach die Antwort nicht laut aus. Denn niemand durfte die Wahrheit erfahren: dass Asha, obwohl sie jahrelang versucht hatte, ihre Untat wiedergutzumachen, immer noch so schlecht war wie eh und je. Würde man sie öffnen und in sie hineinsehen, fände man ein Inneres, das zu ihrem vernarbten Äußeren passte. Abscheulich und abstoßend.

Ich habe eine Geschichte von Iskari und Namsara erzählt.

Iskari war der Name der einstigen Göttin, von der sich Ashas Titel herleitete. Dieser Tage bedeutete Iskari Todbringerin.

Auch die Bedeutung von Namsara hatte sich im Laufe der Zeit gewandelt. Es war sowohl der Name der Heilpflanze im Bodenmosaik dieses Zimmers als auch ein Titel. Und zwar für jemanden, der für ein edles Ziel kämpfte, für das Königreich oder seine Überzeugungen. Die Bezeichnung Namsara beschwor das Bild eines Helden herauf.

»Ich habe einen Drachen getötet«, sagte Asha schließlich zu dem Sklaven. »Und im Sterben hat er meine Hand verbrannt.«

Er klemmte das Ende des Verbands fest, und seine Finger legten sich dabei unwillkürlich um ihr Handgelenk, als hätte er vollkommen vergessen, wer sie war.

Bei der Berührung hielt Asha kurz den Atem an, und im selben Moment bemerkte er seinen Verstoß und erstarrte.

Asha lag ein Befehl auf der Zunge, doch ehe sie ihn ausstoßen konnte, fragte er sehr sanft: »Wie fühlt es sich jetzt an?« Als zählte für ihn ihre Verbrennung mehr als sein eigenes Leben. Als hätte er überhaupt keine Angst vor ihr.

Der Befehl erstarb in ihrem Mund. Sie sah auf die um ihr Handgelenk liegenden Finger. Nicht zitternd oder zögerlich, sondern warm und fest und stark.

Fürchtete er sie nicht?

Da sie nicht antwortete, tat er etwas sogar noch Schlimmeres. Er sah ihr in die Augen.

Völlig unerwartet durchströmte Asha eine Hitze, als ihre Blicke sich trafen. Seine Augen waren durchdringend wie frisch gewetzter Stahl. Er hätte sich abwenden müssen. Doch stattdessen wanderte dieser Stahlblick von ihren Augen – schwarz wie die ihrer Mutter – zu der hervortretenden Narbe, die über ihr Gesicht und den Hals verlief, ehe sie unter ihrem Hemd verschwand.

Alle starrten immer. Daran war Asha gewöhnt. Kinder zeigten mit dem Finger auf sie. Die meisten allerdings sahen vor Angst hastig weg. Dieser Sklave aber ließ sich Zeit. Sein Blick war neugierig und aufmerksam, als wäre Asha ein Wandteppich und er wollte keinen einzigen Faden überspringen.

Asha wusste, was er sah. Es starrte ihr aus jedem Spiegel entgegen. Fleckige Haut, uneben und verfärbt. Sie begann oben an der Stirn und zog sich über die rechte Wange. Sie schnitt das eine Ende der Augenbraue ab und riss ein Stück aus dem Haaransatz. Sie reichte über das Ohr, das nie seine ursprüng­liche Form wiedererlangt hatte und jetzt verkrüppelt war. Die Narbe nahm ein Drittel ihres Gesichts ein, den halben Hals und die rechte Seite ihres Körpers.

Safira hatte Asha einmal gefragt, ob ihr der Anblick zuwider sei. Doch das war er nicht. Sie war vom stärksten aller Drachen mit Flammen angegriffen worden und hatte überlebt. Wer sonst konnte das von sich sagen? Asha trug ihre Narbe wie eine Krone.

Nun wanderte der Blick des Sklaven weiter an ihr herab. Als stellte er sich den Rest der Narbe unter ihrer Kleidung vor. Als stellte er sich den Rest von Asha unter ihrer Kleidung vor.

Das riss sie aus ihren Gedanken. Mit einer Stimme, scharf wie ein Messer, sagte sie: »Sieh mich weiter so an, Skral, und du hast bald keine Augen mehr.«

Sein Mund verzog sich auf einer Seite leicht nach oben. Als hätte sie ihn herausgefordert und er hätte angenommen.

Das erinnerte sie an den Sklavenaufstand im letzten Jahr, als eine Gruppe von Skral die Kontrolle über die Sklavenquartiere errang, Draksor als Geiseln nahm und jeden Soldaten tötete, der sich näherte. Jarek war es schließlich, der in die Räume eindrang, die Revolte beendete und persönlich alle verantwort­lichen Sklaven hinrichtete.

Dieser Skral ist genauso gefährlich wie alle anderen.

Plötzlich wollte Asha ihre Axt. Sie rutschte vom Tisch, stellte einen räum­lichen Abstand zu dem Skral her.

»Ich habe mich für die Art der Bezahlung entschieden«, sagte er hinter ihr.

Ashas Schritte verlangsamten sich, sie drehte sich zu ihm um. Er hatte den übrigen Leinenstoff gefaltet und kratzte jetzt die rest­liche Salbe aus dem Topf. Als hätte er nicht gerade gegen das Gesetz verstoßen.

»Als Gegenleistung für mein Schweigen.« Der Holzlöffel stieß gegen den Ton. »Ich möchte einen Tanz.«

Mit großen Augen starrte Asha ihn an. Wie bitte?

Erst wagte er, ihr in die Augen zu sehen, und jetzt verlangte er einen Tanz? War er wahnsinnig? Sie war die Iskari. Die Iskari tanzte nicht. Und selbst wenn, dann ganz bestimmt nicht mit einem Sklaven. Es war absurd. Undenkbar.

Verboten.

»Einen Tanz«, wiederholte er und hob den Kopf. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. Wieder loderte der Schreck in ihr auf. »An einem Ort und zu einem Zeitpunkt meiner Wahl.«

Sie griff sich an die Hüfte, doch die Axt lag immer noch in der Ecke. »Such dir was anderes aus.«

Er schüttelte den Kopf. »Etwas anderes will ich nicht.«

Sie starrte ihn durchdringend an. »Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt.«

Er starrte genauso durchdringend zurück. »Ein Narr kann sich aller mög­licher Dinge sicher sein, doch deshalb muss er noch nicht recht haben.«

Wut flammte glühend heiß in ihr auf. Hatte er sie gerade einen Narren genannt?

Mit drei Schritten hatte Asha sich ihre Axt geschnappt, stand vor ihm und presste ihm die scharfe, funkelnde Klinge an die Kehle. Wenn nötig, würde sie ihm die Stimme auf der Stelle nehmen.

Der Topf entglitt seiner Hand und fiel krachend auf den Bo­­den. Er biss die Zähne zusammen, aber er wandte den Blick nicht ab. Die Luft zwischen ihnen war wie geladen. Er mochte ja einen halben Kopf größer als sie sein, aber Asha war daran gewöhnt, Beute zu erlegen, die größer war als sie.

»Reiz mich nicht, Skral.« Sie drückte noch fester zu.

Er schlug die Augen nieder.

Na endlich. Das hätte sie gleich zu Anfang machen sollen.

Mit dem Schaft der Axt rammte sie seine linke Schulter, so dass er ins Taumeln geriet und gegen das Regal mit den Ton­töpfen stolperte. Sie klirrten gefährlich.

»Du wirst das für dich behalten«, sagte sie. »Weil selbst Jarek dich sonst nicht beschützen kann.«

Wortlos richtete er sich auf, hielt aber den Blick gesenkt.

Asha machte auf dem Absatz kehrt und ging. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als diesen Sklaven zu Jarek zu schleifen und seine Vergehen aufzuzählen. Sie musste ihre Seidenhandschuhe finden, die frisch verbundene Hand verstecken und so tun, als wäre alles in bester Ordnung, wenn sie mit ihrem Vater sprach – der immer noch auf sie wartete.

Um Jareks Sklaven konnte sie sich später kümmern.

Die Geburt einer Jägerin

Es war einmal ein Mädchen, das sich von Bösem angezogen fühlte. Wie zum Beispiel von verbotenen, uralten Geschichten.

Es spielte keine Rolle, dass die alten Geschichten seine Mutter umgebracht hatten. Es spielte keine Rolle, dass sie vor ihr schon viele andere umgebracht hatten. Das Mädchen ließ die Geschichten herein. Es ließ sie sein Herz zerfressen und sich von ihnen verderben.

Seine Verderbtheit zog Drachen an. Dieselben Drachen, die die Häuser seiner Vorfahren eingeäschert und deren Fa­­milien abgeschlachtet hatten. Giftige, Feuer speiende Drachen.

Dem Mädchen war das gleichgültig. Im Schutze der Nacht schlich es sich über Dächer und durch verlassene Straßen. Es stahl sich aus der Stadt ins Riftgebirge, wo es den Drachen Geschichte um Geschichte laut erzählte.

Es erzählte so viele, dass es den tödlichsten aller Drachen aufweckte: einen, so dunkel wie eine mondlose Nacht. Einen, so alt wie die Zeit selbst. Kozu, den Ersten Drachen.

Kozu wollte das Mädchen für sich haben. Wollte die töd­liche Macht, die über seine Lippen sprudelte, horten. Wollte, dass es für ihn und nur für ihn Geschichten erzählte. Für immer und ewig.

Durch Kozu erkannte es, was aus ihm geworden war. Das machte dem Mädchen Angst. Also hörte es auf, Geschichten zu erzählen.

Doch so einfach war es nicht. Kozu bedrängte das Mädchen. Er schlug mit dem Schwanz und zischte warnend. Er machte deutlich, dass die Sache für das Mädchen, wenn es sich widersetzte, nicht gut ausgehen würde.

Das Mädchen zitterte und weinte, blieb jedoch standhaft. Kein Wort kam mehr über seine Lippen.

Aber niemand trotzte dem Ersten Drachen! Kozu wurde wütend, und als das Mädchen zu fliehen versuchte, verletzte er es mit einem töd­lichen Feuerstoß.

Und das war noch nicht genug. Kozu ließ seine Wut auch an der Heimat des Mädchens aus. Sein Zorn ergoss sich über die weiß getünchten Mauern und durchbrochenen Türme. Er spie sein giftiges Feuer, und die Einwohner der Stadt schrien und weinten, weil sie ihre verzweifelten Angehörigen und Liebsten in ihren brennenden Häusern hörten.

Der Sohn des Kommandanten war es, der das böse Mädchen halb tot im Rift fand. Der Junge trug es den ganzen weiten Weg bis in den Palast, während sein Vater die Stadt rettete.

Der Kommandant rief seine Truppen zusammen und verjagte den Ersten Drachen. Er befahl den Sklaven, die Brände zu löschen und die Schäden auszubessern. Er rettete die Stadt, doch seine Frau konnte er nicht retten. Beim Klang ihrer Todesschreie rannte er in sein in Flammen stehendes Haus. Und kam nicht wieder heraus.

Das Mädchen aber überlebte.

Es erwachte in einem fremden Raum in einem fremden Bett und erinnerte sich nicht an das, was geschehen war. Zu Anfang verheimlichte sein Vater ihm die Wahrheit. Wie sagte man einem Mädchen von zehn Jahren, dass es schuld war am Tod von Tausenden?

Stattdessen verließ er das Krankenlager nicht. Er saß neben seiner Tochter in den schmerzerfüllten Nächten. Er ließ Fachkundige kommen, um sie wieder ganz gesund zu machen. Als sie sagten, das Mädchen werde nie seine Beweglichkeit zurückerlangen, suchte er bessere Fachkundige. Und sehr, sehr langsam füllte er die Gedächtnislücken des Mädchens.

Als das Mädchen öffentlich um Verzeihung bat und sein Volk es bespuckte, stand sein Vater an seiner Seite. Als das Mädchen versprach, Sühne zu leisten, und das Volk den Namen einer verfluchten Göttin zischte, nahm er diesen Fluch und verwandelte ihn in einen Titel.

Die alten Helden würden Namsara genannt, nach einem geliebten Gott, sagte er. Also solle sie Iskari genannt werden, nach einer töd­lichen Göttin.

3

Der Thronsaal mit seinen beiden Bogengängen, den von Soldaten gesäumten Wänden und den makellosen Mosa­i­ken war so angelegt, dass er alle Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkte: den Thron des Drachenkönigs. Doch wann immer Asha durch den riesigen Eingangsbogen trat, war es die heilige Flamme, die ihren Blick zuallererst auf sich zog. Ein Podest aus poliertem Onyx stand genau in der Mitte zwischen dem Eingang und dem vergoldeten Thron. Darauf stand eine flache Eisenschale, und in dieser Schale brannte eine weiße, wispernde Flamme.

Als Asha noch ein Kind war, war die heilige Flamme aus der Höhle des Großen Alten geholt worden, um den Thronsaal zu erleuchten. Damals rief sie eine tiefe Ehrfurcht in Asha hervor, aber jetzt nicht mehr. Nun schien die Flamme Asha ebenso zu beobachten wie Asha sie einst.

Eine farblose Flamme, die sich aus nichts als Luft speiste? Das war unnatürlich. Sie wünschte, ihr Vater würde sie in die Höhle zurückbringen lassen. Doch sie war seine Trophäe, ein Zeichen dessen, was er bezwungen hatte.

»Entschuldige, dass ich deine Jagd unterbrochen habe, mein Liebling.«

Die Stimme ihres Vaters hallte durch den Raum und riss sie aus ihren Überlegungen. Asha ließ den Blick über die Teppiche an den schimmernd weißen Wänden schweifen, in die Bilder der Drachenkönige und -königinnen aus früheren Zeiten gewirkt waren.

»Das hast du nicht. Ich hatte ihn gerade erlegt, als dein Bote eintraf.«

In bis zu den Ellbogen reichenden Seidenhandschuhen und einem indigofarbenen Kaftan, der beim Gehen rauschte, durchquerte Asha den Saal unter den wachsamen Augen in den Wandteppichen. Weich fielen ihre Schritte auf das Meer von blauen und grünen Fliesen. Sonnenlicht drang durch das Fenster im kupfernen Kuppeldach und ließ Staubteilchen aufleuchten, die in der Luft schwebten.

Der Mann, der auf sie wartete, sah durch und durch königlich aus: Auf der rechten Schulter seines Gewands prangte das Königswappen – ein Drache mit einem Säbel im Herzen –, und um seinen Hals hing ein Medaillon aus gelbem Bergkristall. Goldene Pantoffeln, kunstvoll weiß bestickt, zierten seine Füße.

Dieser Mann war es, neben dem sie damals vor nahezu acht Jahren in dem Krankenraum zu sich gekommen war, und sein Anblick weckte in ihr eine Erinnerung: An Kozus rot glühende Flammen, die sie einhüllten. Den grauenhaften Geruch ihres brennenden Haars und Fleisches. Die in ihrer Kehle feststeckenden Schreie.

Das war das Einzige, woran Asha sich erinnerte. Das Verbranntwerden. Alles andere hatte sich ihrem Gedächtnis entzogen.

»Das war deine bisher längste Jagd«, sagte er. Asha blieb vor den goldenen Stufen zum Thron stehen. »Allmählich habe ich mir Sorgen gemacht.«

Sie sah auf den Boden. Vor Scham kribbelte es in ihrem Hals. Als hätte sie eine Handvoll Kaktusstacheln verschluckt.

Ihr Vater hatte auch so schon zu viele Sorgen, ohne dass Asha noch welche hinzufügte: ein drohender Krieg mit den Bewohnern des Buschlands, die ständige Gefahr eines erneuten Sklavenaufstands, Spannungen zwischen ihm und dem Tempel und – auch wenn ihr Vater mit Asha nie darüber sprach – die wachsende Macht seines Kommandanten.

Ashas verbundene Hand pochte unter dem Seidenhandschuh, zeugte überdeutlich von der Schandtat, die sie am Morgen erst begangen hatte. Als wollte sie Asha verraten. Krampfhaft hielt Asha sie an die Seite gepresst, in der Hoffnung, ihr Vater würde sie nicht auf die Handschuhe ansprechen.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Vater. Ich finde immer meine Beute.«

Der Drachenkönig lächelte sie an. Die Rückenlehne des Throns war aufwändig geschmückt mit einer Vielzahl von sich überschneidenden Formen und einander kreuzenden Linien, die an die verschachtelten Gassen der Stadt erinnerten oder an das Labyrinth von Fluren und Geheimgängen des Palasts.

»Ich möchte, dass du deine Beute heute Abend öffentlich präsentierst. Zu Ehren unserer Gäste.«

»Gäste?«

Das Lächeln ihres Vaters erstarb. »Du hast noch nicht davon gehört?«

Asha schüttelte den Kopf.

»Dein Bruder ist mit einer Abordnung aus dem Buschland zurückgekehrt.«

Ashas Mund wurde schlagartig trocken.

Die Bewohner des Buschlands siedelten überall im Sandmeer und weigerten sich, die Autorität des Königs anzuerkennen. Sie lehnten die Tötung von Drachen beinahe so ab, wie sie die Sklavenhaltung ablehnten. Das war der Grund, warum ihr Vater in der Vergangenheit solche Schwierigkeiten mit ihnen gehabt hatte – das und der Umstand, dass sie ihn immer wieder zu ermorden versuchten.

»Sie haben in eine Waffenruhe eingewilligt«, erklärte der Kö­­nig. »Und jetzt sind sie hier, um über die Bedingungen eines Friedensvertrages zu verhandeln.«

Frieden mit den Bewohnern des Buschlands? Unmöglich.

Asha trat näher an den Thron heran, ihre Stimme klang ge­­presst. »Sie sind im Palast?« Wie konnte Dax ihre ältesten Feinde in ihr Zuhause bringen?

Niemand hatte damit gerechnet, dass Dax im Buschland er­­folgreich wäre. Wenn Asha ehrlich war, hatte niemand damit gerechnet, dass Dax im Buschland überhaupt überlebte.

»Das ist zu gefährlich, Vater.«

Der Drachenkönig lehnte sich auf seinem Thron nach vorn und musterte sie mit warmen Augen. Seine Nase war lang und schmal, der Bart ordentlich gestutzt.

»Keine Angst, mein Liebling.« Er betrachtete die häss­liche Narbe, die ihr Gesicht entstellte. »Ein Blick auf dich, und sie werden sich mir nie wieder entgegenstellen.«

Asha runzelte die Stirn. Wenn sie das Henkersbeil nicht fürchteten, die Strafe für versuchten Königsmord, warum sollten sie dann die Iskari fürchten?

»Aber deshalb habe ich dich nicht rufen lassen.« Der Drachenkönig erhob sich und stieg die sieben Stufen vor seinem Thron herunter. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schritt er langsam an den Wandteppichen an der linken Seite des Raums entlang.

Asha folgte ihm, ohne die Soldaten zu beachten, die dazwischen Wache standen, mit im stauberfüllten Sonnenlicht schimmernden Brustharnischen, die Augen unter hoch gewölbten Sturmhauben verborgen.

»Ich möchte über Jarek sprechen.«

Asha hob ruckartig das Kinn.

Als die Menschen von Firgaard ihre Häuser und ihre Angehörigen durch Kozus Feuer verloren hatten, verlangten sie den Tod des dafür verantwort­lichen verdorbenen Mädchens. Da der König jedoch nicht dazu fähig war, seine eigene Tochter hinzurichten, bot er eine Buße an. Er versprach ihre Hand Jarek, dem Jungen, der sie gerettet hatte. Dem Jungen, der Vater und Mutter bei dem Brand verloren hatte, an dem sie die Schuld trug.

Ihre Ehe, so sagte der König, werde den letzten Teil von Ashas Sühne darstellen. Wenn beide das Alter der Mündigkeit erreichten, werde Jarek sich an Asha binden und dadurch seine Vergebung beweisen. Jarek, der Ashas wegen am meisten verloren habe, werde ganz Firgaard zeigen, dass es ihr ebenfalls verzeihen könne.

Für seine heldenhafte Tat wurde Jarek darüber hinaus vom König zum Nachfolger seines Vaters, des Kommandanten, ge­­macht. Es war ein Zeichen der Anerkennung und der Dankbarkeit.

In den darauffolgenden Jahren war dieser heroische Junge zu einem mächtigen Mann herangewachsen. Mit 21 Jahren hielt Jarek inzwischen die Armee in der Hand. Seine Soldaten waren ihm absolut ergeben. Zu ergeben, dachte Asha. Und wenn er erst einmal mit ihr verheiratet war, stünde Jarek dem Thron sehr nahe. Einem Thron, der sich leicht mit Gewalt erobern ließe. Das beunruhigte Asha.

»Er darf von diesem Gespräch nichts erfahren. Verstanden?«

Asha war ganz in Gedanken versunken. Als sie nun aufsah, stand er vor einem Wandteppich mit dem Bild ihrer Großmutter, der Drachenkönigin, die ihre schlimmsten Feinde, die Skral, besiegt und versklavt hatte. Für den Hintergrund hatte der Künstler dunkle Rot- und Brauntöne gewählt, für ihr Haar leuchtendes Silber und Dunkelblau. Die Drachenkönigin schien ihre Enkelin mit tiefer Missbilligung zu mustern. Als könnte sie direkt in Ashas Herz blicken und all die dort verborgenen Geheimnisse erkennen.

Asha drückte ihre verletzte Hand dichter an ihren Körper.

»Du darfst niemandem erzählen, was ich dir jetzt sage.«

Mit Gewalt riss sie den Blick von der alten Königin los und wandte sich ihrem Vater zu. Seine Augen ruhten auf ihr.

Ein Geheimnis? Sie war ihrem Vater bedingungslos treu ergeben. Sie verdankte ihm ihr Leben, und das in zweifacher Hinsicht. »Natürlich nicht, Vater.«

»Während deiner Jagd wurde ein Drache im Rift gesichtet. Einer, der seit acht Jahren nicht mehr gesehen wurde. Ein schwarzer Drache mit einer Narbe in einem Auge.«

Asha war wie vom Donner gerührt. Beinahe hätte sie sich an der Wand abgestützt, für den Fall, dass ihre Beine nachgaben. »Kozu?«

Ausgeschlossen. Seit seinem Angriff auf die Stadt war der Erste Drache nicht mehr aufgetaucht.

Doch ihr Vater nickte. »Das ist eine Chance, Asha. Wir müssen sie ergreifen.« Er verzog den Mund langsam zu einem strahlenden Lächeln. »Ich möchte, dass du mir Kozus Kopf bringst.«

Schlagartig roch Asha brennendes Fleisch. Spürte erstickende Schreie in ihrer Kehle.

Das ist acht Jahre her, dachte sie, während sie mühsam gegen die Erinnerung ankämpfte. Vor acht Jahren war ich noch ein Kind. Das bin ich nicht mehr.

Da er ihr den inneren Aufruhr ansah, hob der Drachenkönig die Hand, wie um sie zu berühren, was er eigentlich nie tat. Doch dann blitzte in seinen Augen etwas auf. Etwas, was auch in den Augen aller anderen immer aufblitzte, wenn sie Asha an­­sahen.

Ihr Vater ließ es sich nicht gern anmerken, weil er sie liebte. Weil er sie nicht verletzen wollte. Aber manchmal schimmerte es dennoch durch: Der Drachenkönig fürchtete seine eigene Tochter.

Einen Moment später war dieses Aufblitzen wieder verschwunden, und ihr Vater ließ die Hand auf den goldenen Knauf seines Prunksäbels sinken. »Wenn du den Ersten Drachen erlegen kannst, haben die religiösen Eiferer keinen Grund mehr, meine Autorität anzufechten. Auch die Bewohner des Buschlands werden eingestehen müssen, dass es mit den alten Bräuchen vorbei ist. Alle werden sich meiner Herrschaft unterwerfen. Vor allem aber, Asha, wird deine Hochzeit mit Jarek nicht mehr notwendig sein.« Wieder sah er den Wandteppich an. Die Abbildung seiner Mutter. »Damit wirst du dich von jeder weiteren Verpflichtung zur Sühne befreien.«

Asha schluckte. Sie musste diese Worte erst verarbeiten.

Die heiligen Geschichtenerzähler aus längst vergangenen Ta­­gen hatten vor dem Tod Kozus gewarnt. Kozu, sagten sie, sei der Quell aller Geschichten. Er sei die lebende Verbindung zwischen dem Großen Alten und seinen Menschen.

Sollte Kozu jemals getötet werden, würde jede alte Geschichte aus dem Gedächtnis, aus der Sprache, aus der Schrift getilgt werden – als hätten sie niemals existiert. Der Große Alte würde vergessen werden und das Band zwischen ihm und seinen Menschen zerschnitten. Aber solange Kozu lebte, lebten auch seine Geschichten, und Ashas Volk blieb unter dem Joch des Großen Alten.

Nicht einmal der gottloseste Jäger würde es wagen, Kozu zur Strecke zu bringen. Das wusste Ashas Vater. Deshalb bat er sie darum.

Asha hatte mehr Grund als jeder andere, den Ersten Drachen zu töten. Es wäre die vollendete Sühne. Eine Möglichkeit, alles wiedergutzumachen.

»Hast du mich gehört, Asha? Wenn du mir Kozus Kopf bringst, gibt es keinen Grund mehr, Jarek zu heiraten.«

Sie sah zu ihrem Vater auf.

Er lächelte sie an. »Sag mir, was du davon hältst, Asha. Wirst du es tun?«

Natürlich würde sie das. Die Frage war nur: Konnte sie es schaffen, bevor der rote Mond verschwunden war?

Der letzte Namsara

Einst waren die Draksor eine starke Macht. Sie waren die Flügelschläge in der Nacht. Sie waren das Feuer, das vom Himmel regnete. Sie waren das Letzte, was man sah.

Niemand wagte, sich ihnen entgegenzustellen.

Doch dann fegte ein weißer Sturm über die Wüste. Invasoren von jenseits des Meeres, genannt die Skral, hatten die nörd­lichen Inseln erobert, alles verwüstet und hungerten nach mehr. Die Skral blickten nach Firgaard, zu diesem leuchtenden Stern von einem Wüstenkönigreich. Dieser geschäftigen Stadt, genau auf der Nahtstelle zwischen meilenweitem weißem Sand und einem Berggürtel. Wenn sie Firgaard eroberten, dann konnten sie die Welt beherrschen.

In der Hoffnung, die Draksor zu überraschen, kamen die Skral im Schutze der Dunkelheit.

Doch wenn Dunkelheit hereinbricht, entzündet der Große Alte eine Flamme.

Der Große Alte hörte den Feind nahen. Er ließ den Blick über staubige Dörfer und Sanddünen schweifen, bis er einen genau für seine Zwecke geeigneten Mann fand. Einen Mann mit Namen Nishran.

Indem er diesen Namen flüsterte, weckte der Große Alte den Ersten Drachen aus seinem Schlummer, und der Erste Drache flog über die Wüste, um den Träger dieses Namens ausfindig zu machen.

Nishran war Weber. Er saß an seinem Webstuhl, als der Erste Drache ihn fand. Die Pedale verstummten, das Schiffchen verharrte, und der Weber blickte zu Schuppen, so schwarz wie eine mondlose Nacht, auf. Furcht erfüllte sein Herz.

Doch der Große Alte hatte Nishran erwählt, sein Namsara zu sein, und dem Großen Alten widersetzte man sich nicht.

Um ihm zu helfen, schenkte der Große Alte Nishran die Fähigkeit, in der Dunkelheit zu sehen. Von der finsteren Nacht unbeeinträchtigt, führte Nishran die Drachenkönigin und ihre Armee unter dem schwarzen Neumond durch den Sand geradewegs zum Lager der Skral.

Die Eindringlinge aus dem Norden waren auf die Pfeile und das Drachenfeuer nicht vorbereitet, unter denen sie er­­wachten. Sie wurden überwältigt von jenen, die sie hatten bezwingen wollen.

Als es vorbei war, vertrieb die Drachenkönigin die Feinde nicht aus ihrem Reich. Hätte sie die Skral ziehen lassen, so hätten sie nur anderswo ihren Eroberungsfeldzug fortgesetzt oder wären eines Tages gestärkt zurückgekehrt, um Rache zu nehmen. Die Königin weigerte sich, für die Auslöschung eines anderen Volkes verantwortlich zu sein. Also befahl sie, mit dem Namsara an ihrer Seite, allen Skral zur Strafe für den Schrecken, den sie auf den nörd­lichen Inseln verbreitet hatten, Halsschellen anzulegen.

Nun, da die Skral durch Eisen gefesselt waren, herrschte Friede bei den Draksor. Die Nachricht von den besiegten Invasoren verbreitete sich schnell. Herrscher weit entfernter Reiche durchquerten die Wüste, überquerten Berge und Meer, um der Drachenkönigin ihre Treue zu schwören.

Doch die Freude währte nur kurz.

Wieder versank Firgaard in Finsternis, als die Drachen sich plötzlich und ohne Vorwarnung gegen ihre Reiter wandten, deren Familien angriffen und deren Behausungen niederbrannten. Statt von Freudenfeiern mit Musik und Tanz war Firgaard von Drachenfeuer erleuchtet, als Gebäude und Gärten in Flammen aufgingen. Bei Tagesanbruch ballte sich der Rauch in der Luft, und schwarze Schatten fielen auf die engen Gassen, als die Drachen in den Rift flogen, um nicht wieder zurückzukehren.

Firgaard fiel ins Chaos. Ein Teil der Draksor schlossen sich ihrer Königin an, die die Drachen für ihren Verrat verfluchte; andere verbündeten sich mit der Hohepriesterin, die der Königin die Schuld an der Zerstörung gab. Draksor kämpften gegen Draksor. Noch mehr Häuser brannten, und Firgaard verfiel.

Das war der erste Verrat.

Der zweite geschah durch Geschichten.

4

Es gab eine langjährige Tradition in Firgaard: Immer wenn ein Drache getötet wurde, wurde dessen Kopf dem König überreicht. Das war Ashas Lieblingsteil einer jeden Jagd. Der triumphale Einzug, die ehrfürchtigen Schaulustigen und vor allem der stolze Blick ihres Vaters.

Heute Abend aber streifte ein größerer, älterer Drache jenseits der Mauern der Stadt durch die Wildnis, und Asha war rastlos. Sie konnte es kaum erwarten, ihn mit ihrer Axt ins Herz zu treffen.

Bald, dachte sie, als sie und Safira in den Tordurchgang zum größten Innenhof des Palasts traten, aus dem Musik zu ihnen drang. Das Wispern einer alten Laute war zu vernehmen, begleitet von einer blechernen Trompete und dem schnellen, treibenden Takt der Trommeln.

Bevor sie den Hof betrat, musterte Asha aus Gewohnheit ihre Cousine auf der Suche nach frischen Blutergüssen und fand keine. Safira strahlte in einem blassgrünen, mit Blüten bestickten Kaftan.

»Ich dachte, die kannst du nicht leiden.« Safira deutete auf Ashas Seidenhandschuhe. Sie waren nach einer fremden Mode gefertigt. Jarek hatte sie Asha ein knappes Jahr zuvor zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt.

Es stimmte, sie mochte sie nicht. Ihre Hände schwitzten da­­rin, und sie rutschten immer an den Armen herunter, aber so sah man ihre Verbrennung nicht.

Asha zuckte verkrampft die Achseln. »Sie passen zum Kaftan.«

Einem Kaftan, der in einem Silberkästchen mit Deckel neben ihrem Bett gewartet hatte. Noch ein Geschenk von Jarek.

»Klar«, sagte Safira, die sich den richtigen Grund denken konnte. »Genau wie die Stiefel.«

Asha sah auf ihre Füße, die unter dem Saum hervorlugten. In ihrer Hast hatte sie vergessen, die Jagdstiefel gegen ihre goldenen Pantoffeln zu tauschen. Sie fluchte halblaut. Zu spät.

Bronzelampen mit farbigen Glaseinsätzen flackerten auf der Galerie. Ihr Schein tauchte die Tänzer in buntes Licht, und in der Mitte des Innenhofs lag ein breites Wasserbecken, dessen ruhige Oberfläche unter dem schwarzen Sternenhimmel glitzerte.

Normalerweise herrschte Trubel auf der Galerie, und auf den bequemen, niedrigen Sofas saßen dicht an dicht Menschen, die süßen Tee tranken und genüsslich Klatsch und Tratsch austauschten.

Nicht so an diesem Abend. Trotz der Feierlichkeiten zu Ehren des zurückgekehrten Thronerben nach monatelanger Abwesenheit war die Galerie verlassen. Stattdessen drängten sich die Draksor unten im Innenhof, tuschelten leise und schielten zu den leeren Sofas hinüber.

Safira entdeckte den Grund zuerst. »Sieh mal.«

Sie zeigte auf ein unter der Galerie stehendes Grüppchen seltsam gekleideter Gäste, die sämt­liche Draksor beäugten, als rechneten sie mit einem Hinterhalt. Die Einheimischen trugen bunte Kaftane oder knielange, enge Tuniken mit komplizierter Stickerei und feiner Perlenverzierung. Die Gäste waren viel schlichter gekleidet. Sie hatten baumwollene Tücher locker um Schultern und Kopf gelegt, gekrümmte Schwerter um die Hüften geschnallt.

»Bewohner des Buschlands!«