Israel, um Himmels willen, Israel - Ralph Giordano - E-Book

Israel, um Himmels willen, Israel E-Book

Ralph Giordano

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Beschreibung

Ralph Giordanos Standardwerk über Israel und den Nahostkonflikt: Sein Bericht verblüfft und erschüttert. Ralph Giordano reiste vier Monate durch Israel, um mit Israelis und Palästinensern zu sprechen. Es entstand ein Buch, das so einzigartig ist wie das Land, das es beschreibt. Ausgestattet mit einer besonderen Beobachtungsgabe für Menschen und Situationen, stellt Giordano die Tragödie des Nahostkonflikts facettenreich dar: die Intifada, die Siedlerbewegung, die schwierige Rolle der israelischen Armee. Es geht um orthodoxe und ultraorthodoxe Juden und ihren Einfluss auf Staat und Regierung, um den Holocaust und seine Wirkung. Fragen, die uns bis heute beschäftigen und mehr denn je eine Antwort benötigen.

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Seitenzahl: 635

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

TitelLandkartenVorwort zur Taschenbuchausgabe 2002PrologJeruschalajimZwischen Hurva und DamaskustorErkenntnisse in Jerusalem»Aber ich traue ihnen nicht«Der Raw von Mea SchearimJeder Mensch hier, jeder Stein …Noch einmal: »Aber ich traue ihnen nicht«Die armenische Frage existiert nicht mehr?Jeruschalajim! Jeruschalajim!IntifadaHakam oder Der Widerstand hält die Hoffnung jungWarum werden eigentlich nur unsere Busse gebombt?Die Intifada ist der Motor des WandelsKlage eines Vaters – Trauer einer WitweDie Reise nach NazarethIsrael muss bleiben, wie es istIsrael muss ausradiert werdenHoffmann gegen HoffmannIst der Judenstaat zum Untergang verurteilt?SamarGazaNegevWoher bekam Avdat sein Wasser?Ehrenhäuptling der NavajosMake the desert bloomHeimat WüsteDas Experimentierobst des Yoel DemalachWenn du Wasser hast, blüht es auchI am in love with the desertDas Geständnis des Musa el-LataunaGeht noch ein paar Meter tieferWer ungebeten eindringt, kommt lebend nicht herausDie verhinderte Jordan-Jarmuk-AbleitungDie Lehre von Kfar ArobDie Pistole des Elijahu W.Yad VashemDas Foto von Gardelegen»Sie werden uns Juden töten – alle, alle, alle!«Wo ist das Schaf, das geschächtet wird?Impossibile possibile estDer Vater Kapo, die Mutter BrotdiebinIch hätte mich auch wie ein Schaf benommenHatte Manfred Klafter recht?MasadaMasada wird nie wieder fallenWir stehen nicht unter NaturschutzDies ist ein verrückter KriegMan ist nicht ungestraft BesatzungsmachtMonolog des ehemaligen Panzerkommandanten Jossi P.Die fantastische Story des Eli CohenSie konnten uns mit Steinen tötenDas Credo meines BuchesWird Masada nie wieder fallen?Israel, mein Israel!EpilogBuchAutorImpressum

Vorwort zur Taschenbuchausgabe 2002

Die Erstausgabe dieses Buches erschien im Herbst 1991, also vor elf Jahren. Aber die Aktualität des zentralen Themas – der Nahostkonflikt zwischen Arabern und Israelis – hat sich inzwischen angesichts seiner blutigen Eskalation eher noch erhöht. Was umso bestürzender ist, als die Verhandlungen von Madrid und Oslo 1991/92 sowie die Verleihung des Friedensnobelpreises an Jitzchak Rabin, Shimon Peres und Jassir Arafat 1994 eine Zwischenphase bescherten, die mit dem Codewort »Friedensprozess« zu berechtigtem Aufatmen führte – inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verflogene Hoffnungen.

Jitzchak Rabin, Israels Premier, wurde von einem Juden ermordet, der Palästinenserführer durch islamistische Fanatiker so gut wie entmachtet, während der Judenstaat seit der zweiten Intifada von einer ganz neuen Form kollektiver Furchtverbreitung heimgesucht wird – den islamistischen Selbstmordattentaten der »lebenden Bomben«.

Das Buch verteilt keine Lösungsrezepte, vielmehr war sein Autor bemüht, beiden Seiten zuzuhören – fußend auf der Unteilbarkeit der Menschenrechte, dem einzigen Standpunkt, der zu schließlichem Frieden führen kann. Das Werk definiert ein damals wie heute konstantes Verhältnis zu dem kleinen Mutterland: meine Liebe zu Israel, meine Sorge um Israel, meine Kritik an Israel. Ein Freibrief für falsche Bundesgenossen ist letztere nicht. Ich akzeptiere niemandes Kritik an Israel, der mir nicht nachgewiesen hat, was ihm die Menschenrechte und ihre Unteilbarkeit wert sind – Credo eines Rasters, durch das schon mancher Jude, Christ und Muslim gefallen ist.

Hinter allem aber hocken, heute wie damals, jene untrennbar miteinander verschweißte Angst und Hoffnung, deren Ungewissheiten mich, fürchte ich, bis an mein Ende begleiten werden, und die sich aufschreiartig in den fünf Worten des Buchtitels brechen:

»Israel, um Himmels willen, Israel«

Köln, im Juli 2002

Ralph Giordano

Prolog

Das östliche Mittelmeer liegt flach wie ein Spiegel da. Nur der griechische Seelenverkäufer, die »Silver Paloma«, zu dessen Bug ich mich über allerlei Gerümpel vorgearbeitet habe, krängt deutlich nach Steuerbord.

Zyperns lang gestreckte Silhouette ist längst am westlichen Horizont verschwunden. An Backbord, unsichtbar, irgendwo die Küste des Libanon. Im Osten nichts als Nacht über dem Wasser, das vom Bug rauschend zerteilt wird.

Ich warte an der Reling, viel zu früh, denn es wird noch Stunden dauern, bis die Dunkelheit weicht und das Land zu sehen sein wird. Aber um alles in der Welt will ich die Sekunde nicht versäumen, wenn es auftauchen wird, und deshalb stehe ich hier wie angenagelt.

Ein Newcomer kommt da nicht – als Fernsehautor war ich bereits fünfmal in Israel, mit Kameramann, Assistent und Toningenieur. Diesmal aber bin ich ganz auf mich gestellt, und so stehe ich denn mutterseelenallein an Deck des dreißigjährigen Mittelmeerveteranen, der schwerfällig und dröhnend dahinpflügt. Und während ich sonst jedes Mal auf dem Luftweg gereist war, steht im Schiffsbauch, vollständig verdeckt von einer mammuthaften Phalanx zypriotischer Lastwagen, mein alter Ford Granada. Der Verlag hat mich zwar mit bemerkenswerten Konditionen bedacht, aber um in Israel über Monate hin einen Leihwagen zu mieten, müsste man über die Finanzkraft eines Ölpotentaten verfügen.

Wie seinerzeit im Jet am Himmel, so erwarte ich jetzt auf der »Silver Paloma« den Augenblick, an dem die Küste auftauchen wird, warte ich klopfenden Herzens, ob sich auch diesmal wieder meine Empfindungen in jenem inneren Aufschrei Luft machen würden, der sich seit der ersten Ankunft bisher jedes Mal artikuliert hatte.

Alle Nachrichten auf der langen Anreise über Brindisi, Patras, Athen, Rhodos und Zypern waren schlecht: Die Gewalt im Zuge der Intifada, des Aufstands der Palästinenser, hatte sich auf beiden Seiten drastisch gesteigert – Bomben in der Altstadt und in Ostjerusalem; Tränengas auf der Westbank; Tote und Verwundete im Gazastreifen; Sprengsätze, Streiks, erschossene Kinder in Hebron; brennende Felder und Wälder im Galil; attackierte Kibbuzim; geschändete jüdische Gräber bei Haifa; von der Armee eingerissene Häuser in Nablus.

Inzwischen, sechs Uhr früh, ist es hell geworden, die See liegt ruhig da wie auf der ganzen zweieinhalbtägigen Fahrt von Piräus aus. Endlich, gegen sieben, verformt sich der Horizont, verliert sich allmählich seine Glattheit, schwindet sacht die dunstige Symmetrie im Osten, wachsen Küste, Bauten, Berge auf, kommen näher und verdichten sich zu den Konturen einer Stadt ganz in Weiß – Haifa.

Und da ist es wieder, das, wovor ich mich gefürchtet, was ich mit Beklemmung erwartet habe …

Als ich das erste Mal nach Israel kam, im Dezember 1967, konnte der Judenstaat drei Siege feiern – den im Unabhängigkeitskrieg von 1948/49, den beim Sinaifeldzug von 1956 und den im Sechstagekrieg elf Jahre später. Bis zu meinem letzten Aufenthalt, 1976, war dann noch der Triumph im Jom-Kippur-Krieg dazugekommen.

Immer aber habe ich dieses Land betreten mit jener allgegenwärtigen, sengenden Frage, die sich wie von allein stellt und die längst zu meinem zentralen Daseinsproblem geworden ist, die Frage, die auch jetzt, bei dieser Ankunft, wieder da ist, genau wie früher, und die auch dieses Mal, wie eh und je, auf mich einhämmert: Was wäre geschehen, wenn die Araber nur einmal, ein einziges Mal nur, gesiegt hätten? Was, wenn sie im nächsten Krieg siegen würden?

Und wieder, wie schon fünfmal zuvor, höre ich, der nicht an ein höheres Wesen glaubt, weder an den Ewigen, Jahwe, noch an den Allgütigen und Allmächtigen der Christen, noch an irgendeine andere göttliche Projektion seiner selbst, die der Mensch ans Jenseits heftet, wieder höre ich jetzt meine Angst und meine Liebe gebündelt in dem tonlosen Aufschrei:

Israel, um Himmels willen, Israel!

Jeruschalajim

Zwischen Hurva und Damaskustor

Mischkenot Scha’ananim.

Vorgewarnt, dass dies die schönste Wohnstätte Israels sei, betrete ich mein Appartement im lang gestreckten Gästehaus der Stadt, stoße die Tür zur Terrasse auf, nach Osten, und da liegt es vor mir – das alte Jerusalem! Goldene Vormittagssonne auf der ottomanischen Mauer, ein Ausschnitt wie aus einem Gemälde; links, die Straße von Hebron hoch, das Jaffator; rechts davor ragt der Turm der David-Zitadelle empor; vor mir Mount Zion; und südlich davon, mit unbeschränktem Blick hinweg über die Senke des Toten Meeres und Judäas Wüste, dolomitrötlich – die Berge Moabs, Jordanien schon, der Nachbar.

Welch eine Bleibe! Ich hatte Teddy Kollek, Jerusalems Bürgermeister, um Wohnung gebeten, hier, in seiner Stadt, und nicht in Tel Aviv, aus so mancher Erfahrung dort bei meinen fünf Aufenthalten in Israel als Fernsehmann zwischen 1967 und 1976, und Kollek schrieb mir rasch zurück. Wen immer ich in Deutschland über die Adresse informierte, die Folge war höchstes Entzücken: »Mischkenot Scha’ananim!«

Aber jetzt hält es mich nicht mehr, ich muss hier heraus und drüben durch die Tore hinein. Und so mache ich mich, Sir Moses Montefiores Windmühle im Rücken, auf und davon, die Treppen des gediegenen Künstlerviertels Yemin Moshe nebenan hinab, eile weiter durch das Hinnom-, das Teufelstal, vorbei an den Ruinen eines römischen Amphitheaters, und gelange auf die Hativat Jeruschalajim. Auf dieser großen Verkehrsader geht es hoch zum Jaffator.

Tauben fliegen in der Luft, über die Zinnen des Tors hinaus ragt eine Baumkrone, struppig und zerzaust. Ich kann die Mauer anfassen, tue es, drehe mich um. Drüben, im Westen, das neue Jerusalem, mit seinen Pylonen aus Beton, Stahl und Glas, endlos gedehnt, und doch an diesem Standort beherrscht vom nahen Hotel »King David« – sein mächtiges Rechteck erinnert mich unwillkürlich an den Alkazar von Toledo. Am 22.Juli 1946 war sein ganzer rechter Flügel in die Luft gesprengt worden – von Menachem Begin, damals Leiter der jüdischen Untergrundorganisation Irgun Zwai Leumi, später, zusammen mit Muhammad Anwar As Sadat, Friedensnobelpreisträger.

Die Luft des Märzmorgens ist aus Samt und Seide; drüben im Tal steigt ein Drachen hoch, wie ein Zitterrochen, der sich in ein fremdes Element verirrt hat; der Himmel ist blau, von verstreuten Wolkenfächern bedeckt, eine unwirkliche Atmosphäre. Aber gleich zu Beginn spüre ich wieder: In diesem Land hockt neben jeder Poesie – Hiob …

Durch das beleuchtete Tor auf die orientalische Suk-El-Bazaar Road. Arabische Mütter, die Hühner kaufen; Wassermelonen von erschreckender Größe; duftendes Sesambrot zuhauf. Jugendliche, die das abschüssige Terrain auf ihre Weise überlisten: An ihren hochbeladenen Karren haben sie einen Reifen gebunden, auf den sie treten, wenn das Tempo die abgewetzten Steine bergab zu schnell wird. Ein junger Moslem beugt sich über eine Hand und küsst sie – uralte Geste: Hat der Ahn sie überhaupt wahrgenommen? Vor tausend Jahren geboren und doch aufrecht, geht der Patriarch davon, eine einzige Hoheit und Würde.

Weiter in die El Wad Road. Blinde werden geführt oder ertasten sich mit einem Bambusstock selbst den Weg. Dauergeschrei, gellendes Anpreisen der Waren, und über allem der ständige Ruf: »Schekel, Schekel, Schekel!« Ein Schmied hämmert auf glühendes Eisen ein; Töpfe türmen sich; die blutige Demonstration orientalischer Fleischerläden; plötzlich der Ruf des Muezzins, scheppernd aus Lautsprechern. Das gebündelte Parfüm von Feigen, Datteln, Aprikosen und Gewürzpulvern, scharf abgelöst vom stechenden Geruch der Fischstände. Dahinter das grellbunte Potpourri gehäufter Süßigkeiten, bei deren Anblick auch das gesündeste Gebiss schmerzen muss.

In einer Seitenstraße des Muslimviertels finde ich eine Stelle, wo ich mich hinsetzen kann. Etwas erhöht, wird der Blick auf entfernter liegende Häuser frei – ein Wald von Fernsehantennen, und überall auf den Dächern Tanks und Sonnenkollektoren, die das Wasser darin aufheizen.

Endlich am Damaskustor.

Dort greift mich ein Honighändler, erkennt mich an meinem europäischen Habitus, will mir jedoch nichts von seinem goldenen Seim andrehen, sondern mich zum Muslim bekehren. Er ist Vater von zwei Kindern, im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit (weshalb ich stumm zuzuhören habe) und heißt Mohammed. Er ist von Himmel und Hölle überzeugt, wie auch davon, dass jeder, der einen anderen tötet, kein wahrer Muslim sei und das Paradies nicht erleben werde. Mein schüchterner Hinweis auf den Dschihad, den Heiligen Krieg, kann Mohammed nicht wankend machen – inbrünstig wiederholt er das Tötungstabu. Seine Augen glühen, wenn er vom Koran und vom Islam spricht, blicken aber gleichzeitig freundlich. Berührungsängste hat er nicht, dauernd tatscht er mir mit den Händen gegen das Knie und wiederholt immer wieder: »I will tell you something …« Er möchte mir beweisen, dass das Leben in Europa und Amerika schlecht sei und dass man nur als Moslem gut leben könne in der Welt. Die Bibel sei unzählige Male umgeschrieben worden, im Gegensatz zum Koran, der unverändert geblieben sei – darauf kommt er mehrfach zurück.

Zwischendurch treten Leute heran, fragen nach dem Preis des Honigs, öffnen die Deckel, stecken ihre Finger ins Goldgelbe, lecken sie ab, mal nach dieser, mal nach jener Probe, und manche kaufen auch. Mohammed lässt sich nicht ablenken, wirft ein paar arabische Brocken hin, ohne unser Gespräch, besser seinen Monolog, wirklich zu unterbrechen. Bei aller Konzilianz, so kommt zum Vorschein, entbehrt seine missionarische Überzeugungswut nicht eines gewissen Fanatismus. Mein Geständnis, dass ich Jude sei, wenn auch kein religiöser, beeindruckt ihn nicht: So mancher Ungläubige, beharrt Mohammed, sei schon bekehrt worden. Mein Einwand, dass ich an keinen Gott glaube, weder an den der Christen noch an Jahwe, noch an Allah, geht über sein Begriffsvermögen – er lächelt verständnislos. Ich gebe ihm die Hand, entkomme, von Segenswünschen geleitet – und hatte, unerwartet, mein erstes Gespräch mit einem Palästinenser auf dieser Reise.

Auf dem Rückweg zum Jaffator sehe ich einen israelischen Soldaten, den einzigen bisher, mit Sonnenbrille, allein in einer Nische gegen die Mauer gelehnt, die Uzi-Maschinenpistole in der Hand.

In Mischkenot Scha’ananim zurück, nehme ich ein Päckchen aus Deutschland in Empfang. Darauf ein roter Zettel: »Be careful, dear citizen, for your security«. Aber es war keine Briefbombe darin.

In der Nacht grollt über Jerusalem ein ausgiebiges Gewitter. Der Regen platscht und klatscht auf das lang gestreckte Terrassendach des Gästehauses. Aber das Trommeln wird noch übertönt von einem Geräusch, das zwar auch tagsüber unüberhörbar ist, das nun jedoch immer aufdringlicher wird – der Lärm von Motoren! Und der hält bis morgens an.

Zerschlagen erhebe ich mich, stoße die leicht klemmende Tür zur Terrasse auf und schaue auf das unbeschreibliche Panorama da drüben. Mischkenot Scha’ananim, es wird in Israel keinen schöneren Platz geben als dich! Aber wie nur soll ich die Nächte überleben?

Ich gehe durch das Ziontor, biege nach rechts ein in die Batei Mahasse Street und bin nach einigen Hundert Metern in einer völlig anderen Welt als der muslimisch-orientalischen – ich bin im Jüdischen Viertel. Es erstreckt sich entlang der südlichen und dann der östlichen Mauer nach Norden hoch, gegen den Tempelberg.

Licht ist das Jewish Quarter, sehr licht, durch den hellen Stein, aus dem hier alles errichtet und der nach dieser Stadt benannt worden ist – Jerusalemstein, rosa, bernsteinfarben, changierend im Wechsel der Tageszeiten und des Sonnenstandes: auf uraltem Boden Neubauten, erst in den letzten Jahrzehnten, seit 1970, entstanden. Bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 war hier jordanisches Hoheitsgebiet gewesen.

Ich setze mich am Eingang der Ha Yehudim, der Jewish Quarter Road, auf die Treppe gegenüber einem Restaurant, neben dem ein Polizeiposten liegt: Uniformen, Waffenträger neben ungerührt eisschleckenden Menschen – an den Gegensatz muss ich mich erst gewöhnen. Links Palmen, ein Minarett und dahinter, von fast unirdischer Schönheit, an seinem Scheitel wohl zwanzig Meter hoch, ein steinerner Bogen – letzte Erinnerung an die Hurva-Synagoge. Ecksteinlegung 1856, Einweihung 1864. Hier hatten Juden, Gründer der Ramban-Synagoge, der ersten Jerusalems nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer, seit 1250 gelebt, vermehrt dann durch die im 16.Jahrhundert vor der Spanischen Inquisition geflüchteten Sephardim. Zwei Tage nach der Unabhängigkeitserklärung Israels, am 16.Mai 1948, war das Viertel mit seinen 1600 Einwohnern und 200 Kämpfern umzingelt und zwölf Tage später an die Arabische Legion übergeben worden. Einen Tag zuvor hatten die Eroberer die Synagoge, die keine militärische Bedeutung hatte, in die Luft gesprengt. Bis die Altstadt von Jerusalem am 7.Juni 1967 eingenommen worden war, durfte ihre Ruine von Juden nicht betreten werden.

Die Hurva war die erste Synagoge Jerusalems gewesen, die allein im Freien stand, ein kolossales Gebäude, gedrungen, klotzig, wie für die Ewigkeit hingestellt. Und nun nichts als die Ästhetik dieses gleichsam schwerelosen Bogens, dessen Anblick ans Herz greift.

Aus seiner Richtung kommen Stimmen, Gesang, Musik, Jubel – dort hat sich eine größere Menschenmenge angesammelt, Frauen und Männer, viele von ihnen in schwarzer Tracht und mit schwarzem Hut. Es wird in die Hände geklatscht – ein freudiges Ereignis scheint bevorzustehen. Das spielt sich auf zwei Ebenen ab: hier oben, auf der Höhe des Bogens, wo Tische mit Süßigkeiten, Früchten, Datteln und Feigen aufgebaut sind, und auf einem tiefer gelegenen Terrain daneben. In dessen Mitte eine Art Baldachin, graublauer Samt, oben der Davidstern; dazu ein Mann mit drei Fahnen.

Dort lassen sich jetzt Soldaten nieder, spielen Kinder unberührt von den Zeremonien, die Knaben mit der Kippa auf den Köpfchen. Eingekeilt von zuschauenden, mitsingenden Passanten, sitze ich auf einem schmalen Mauersims, von dem aus ich in beide Ebenen Einblick habe. Die Sonne steht halb zwischen Zenit und Horizont, der von den Häusern des Jüdischen Viertels gebildet wird. Es weht ein leichter Wind.

Hier oben spielt ein Gitarrist, lächelnd, hingerissen von den eigenen Klängen, diesen temperamentvollen, einschmeichelnden und doch dynamischen Melodien des modernen Israel – alle singen mit, getragen, rhythmisch, viele klatschen in die Hände. In der Menge, mir sehr nahe, eine junge Frau – das Gesicht verzückt, sich hin und her wiegend, singt sie die Texte mit. Und jetzt begreife ich: Es geht um eine Hochzeit! Neben dem Gitarristen hier oben der Bräutigam, in gesetztem Alter, um die fünfzig, Charakterkopf, in ein offenbar kostbares Gewand gekleidet, lächelnd, von vornehmem Engagement. Jetzt steht er auf, verschwindet inmitten der Singenden und Klatschenden an einer Treppe. Während unten um den Baldachin getanzt wird in hektisch-fröhlicher Atmosphäre, erscheint der Bräutigam, hinter ihm der Gitarrist, schwarz, mit Bart – The Fiddler an the Roof in »Anatevka«!

Dann kommt die Braut, eine stattliche Frau, kein junges Mädchen mehr. Mit einem Blumenstrauß in der Hand, wird sie langsam geleitet zu den Stufen des kleinen Podests, geht mit ihren beiden Begleiterinnen um den Bräutigam herum, der auch groß ist, von ihr aber noch um Haupteslänge überragt wird. Wein wird in einen silbernen Kelch gegossen, er trinkt, steckt ihr den Ring an den Finger, zertritt das Glas unter dem Lächeln der Braut – hübsch, sehr hübsch sieht sie aus.

Rabbiner kommen hoch, greifen zum Mikrofon, der Verstärker dröhnt ihren Gesang heraus. Die Braut, den Schleier jetzt nach hinten, das Gesicht frei, bekommt eine zweireihige Kette um den Hals gelegt. Die Szene ist von feierlicher Unbefangenheit. Alle singen, klatschen und verlaufen sich nur langsam, wie widerwillig, nach dem Ende der Trauung.

Die Sonne steht dicht über den Dächern des Jüdischen Viertels, ich hocke auf der Mauer, kann mich an dem Bogen der Hurva nicht sattsehen und nicht daran, dass gleich daneben das Minarett aufragt, sehr nahe und so, als hätte es zwischen Juden und Moslems nie etwas anderes als Frieden gegeben.

Wer durch diese Straßen geht, der steigt hinab in 3000Jahre geschriebene und von Menschenhand in Stein gehauene Geschichte. Ausgrabungen, versehen mit Schildern wie »Jerusalem in the first temple period«, womit man im Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z.) ist, während der jüdische Kalender bereits das Jahr 2761 zeigt. Schlünde tun sich auf hier in der Plugat Hakotel Road, von der aus man in die Zeit der ersten Tempelperiode hinunterschauen kann. Die damalige Straßenhöhe ist angezeigt, auch die geschätzte Höhe der Tempelmauer, acht Meter, die verschiedenen Stadien ihres Baus sind vermerkt, und dass sich Jerusalem am Ende des achten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung über die Stadt Davids hinaus nach Westen ausdehnte. Während ich hier stehe und staune, rekapitulieren sich Geschichtsdaten wie von selbst: assyrische Truppen, die 721 v.u.Z. gegen Juda marschierten, Jerusalem eroberten und grausam wüteten, ihre Herrschaft jedoch nicht lange aufrechterhalten konnten. Zwanzig Jahre später dann, 701, der zweite Anlauf dieses ersten durch und durch militaristisch organisierten Staats. Aber der Sturm wird abgewehrt durch König Hezekias Wall, erbaut aus großen Feldsteinen, wie sie da unten sichtbar werden. Die ausgegrabene Sektion ist 65 Meter lang!

Dann Babylon, Nebukadnezar, 586 v.u.Z., nach jüdischer Zeitrechnung 3175 – das Jahr der Zerstörung des ersten Tempels. Die Reste eines Turms, der beim Fall Jerusalems niedergerissen wurde, stehen noch und sind zu besichtigen. Da muten römische Baurelikte fast wie Zeugen von gestern an, etwa die sorgfältig restaurierten Quader, Säulen und Kolonnaden des byzantinischen Geschäfts- und Ladenviertels Cardo aus dem sechsten Jahrhundert – vom Zeitalter der Kreuzfahrer zu Beginn unseres, des zweiten Jahrtausends gar nicht zu reden.

Ich kann mich nicht sattsehen an den behauenen und unbehauenen Felsbrocken, auf die die Sonne nach Äonen der Finsternis unter der Erde nun wieder brennt – die hasmonäische Mauer, weiß man heute, war 4,65 Meter dick.

Die Geschichte baut von unten nach oben, verplombt sich, wartet auf den Kuss der Wiedererweckung.

Ebenfalls von gestern, aber viel jünger, die Synagoge »Tiferet Israel« (»Ruhm Israels«), Zentrum »for most Chassidim who lived in the walled city«, wie dort angeschlagen steht. Ein Bau, der 5603 – das ist 1863 – errichtet und 1948 nach einer der schwersten Schlachten um Jerusalem von den Arabern in einen Haufen Schutt verwandelt worden ist. Ein wunderschöner Bogen über dem Haupteingang und zwei Nebenbogen können für Sekunden einen Hauch von der einstigen Majestät des Orts hervorzaubern.

Als ich hochgucke von meinem Standort in der Plugat Hakotel Road, sehe ich drüben, über den archäologischen Abgrund hinweg, einen Jungen, etwa fünf Jahre alt, mit Peies, den geringelten Löckchen, an den Schläfen und einer Pistole in der Hand. Er zielt auf mich – und drückt ab. Aber der Wasserstrahl erreicht mich nicht.

Es gibt ganz versteckte, verschwiegene Winkel im Jüdischen Viertel von Jerusalem, eine Architektur, die mich an maurische Bauweisen erinnert. Schmale Gänge, Höfe, Treppen auf und ab, verschachtelte Quartiere, überall Vegetation, Bäume, aus denen zu Zeiten so lautes Vogelgezeter erschallt, dass man sich die Ohren zuhalten möchte; Büsche, auch Stacheliges, Kakteen; Blumen hinter schmiedeeisernen Gittern; Grün, das aus der Erde herauswächst und an den Mauern.

Ein Kinderspielplatz, kleine Mädchen und Jungen, die Kippa auf den Köpfchen. Ein Knabe läuft weg, sichtlich böse, wird aber zurückgeholt von dem jungen Mann, der die Aufsicht hat. Ein Kreis schließt sich um die beiden, der Fall wird besprochen. Dann stiebt die Schar wieder auseinander, springt über Taue, fegt Rutschen herab, hantelt an Balken – ein Bild des Friedens.

Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber die Laternen haben schon ihr Licht entzündet.

Ich stehe da und prügle innerlich auf mich ein, kann mich aber der Gedanken nicht erwehren, die mir stets bei solchem Anblick kommen: So haben jüdische Kinder überall gespielt, gelacht, gejubelt, sich gefreut – und am nächsten Tag schon waren sie und ihre Eltern nicht mehr am Leben.

»Schabbat Schalom«, begrüßen sich zwei Männer in dunklen Anzügen und schwarzen Hüten, gehen auf die tobende Schar zu und greifen sich ihre Sprösslinge heraus.

Aus dem moslemischen Viertel schallt die Stimme des Muezzins herüber, fliegt über die Dächer des Ha-Rova Ha-Yehudi, wie das Jüdische Viertel auf Hebräisch heißt, und verliert sich über die Mauer nach Süden.

Am nächsten Tag vor der Hurva, im Angesicht ihres betörenden Bogens. Ein graumelierter Himmel – noch fünf Minuten bis Sabbatende. Kinder, überall Kinder, das Jüdische Viertel ist fruchtbar. Sie spielen auf der Ha-Mekubalim Road mit Bällen, springen über Taue, lärmen respektlos und jagen sich.

Alle Erwachsenen sind schwarz gekleidet und tragen schwarze Hüte. Ein dicker Vater trägt einen in Kissen gehüllten Säugling auf dem Arm, seine Frau schiebt einen Kinderwagen über den Platz, umtanzt von kleinen Jungen mit der Kippa. Es erscheinen drei Männer mit langen, ausgefransten Bärten, Bücher untergeklemmt, parlierend. Einer von ihnen bückt sich, reißt eine Pflanze aus dem Boden, sagt auf Englisch: »Das wächst hier in der Stadt, ohne Wettbewerb – riech mal! Hast du so etwas schon je gerochen?« Mag sein, denke ich, dass es irgendwo in Israel oder sonst wo auf der Welt einen Platz gibt, der noch unverwechselbarer jüdisch ist als dieser – ich jedenfalls kenne keinen.

Vom Ziontor aus sind Moabs Berge im Abendsonnenschein so klar zu erkennen, als erhöben sie sich gleich hinter der Stadt. Dabei beträgt die Entfernung, über die gewaltige Senke des Toten Meeres hinweg, in Luftlinie mehr als dreißig Kilometer.

Ich schaue über das Hinnomtal zu der stummen, unbeweglichen Windmühle von Sir Moses Montefiore. Plötzlich hinter, neben mir Stimmen. Eine Schulklasse, Jungen, Sieben-, Achtjährige, lachend, scherzend, fluchend. Der Lehrer als Letzter – mit Gewehr.

Als ich nach Mischkenot Scha’ananim zurückkehre, sitzen auf der Treppe dem Gästehaus gegenüber zwei zauberhafte Teenager, Schmelz der Jugend, ein Junge und ein Mädchen – malend: das alte Jerusalem, wie sie es von hier sehen. Sie kommen, wie ich auf meine Frage hin erfahre, aus der Sowjetunion und leben seit einem Jahr hier. Sie blicken auf, zurückhaltend und doch sprechbereit, tastend, witternd, schmetterlingshafte Erscheinungen. Ob sie glücklich seien? Da nicken sie beide heftig mit dem Kopf, sagen »Da! Da!« und verbessern das russische Ja dann schnell ins israelische »Ken! Ken!«.

In Nablus wurden zwei junge Araber getötet, als sie israelische Soldaten mit Handgranaten anzugreifen versuchten. Am Damaskustor kam es zu Zusammenstößen mit steinewerfenden Jugendlichen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummiknüppeln gegen sie vor. Der irakische Präsident Saddam Hussein hat laut »Jerusalem Post« erklärt: »Sollte Israel irgendetwas gegen den Irak unternehmen, dann werden wir dafür sorgen, dass ein Feuer die Hälfte dieses Landes vernichtet. Wer uns mit der Atombombe bedroht, den rotten wir mit der chemischen Bombe aus.«

Über die Maalot Rabbi Yehuda Ha-Levy im Jüdischen Viertel hinunter zur Klagemauer.

Hier war ich zuletzt vor zwanzig Jahren gewesen, im Juni 1971, als ich einen Fernsehfilm über Soldaten in aller Welt drehte. Das Team hatte Quartier bezogen in Tel Aviv, und wir waren nach Jerusalem gefahren, weil an dieser symbolischen Stätte eine feierliche Vereidigung stattfinden sollte. Sie dauerte bis spät nach Mitternacht, und ich erinnere mich nicht, in meinem Leben je so gefroren zu haben wie damals vor der Klagemauer. In Tel Aviv hatte brütende Hitze geherrscht, und ich war im Hemd geblieben. Jerusalem aber liegt 800 Meter hoch, und nachts wird es, auch im Sommer, empfindlich kühl.

Die freie Fläche vor den rechteckigen Quadern, die sich übereinandertürmen: Teil der westlichen Grundmauer des Tempels, den König Herodes auf dem Berg Moriah hatte errichten lassen (deshalb auch western wall genannt). Nachdem Titus, später römischer Kaiser, im Jahr 70 das größte jüdische Heiligtum zerstört hatte, kamen die Besiegten zu den Trümmern, um ihr Schicksal zu beklagen. Und wenn es in den Jahrtausenden der Diaspora, der Zerstreuung der Juden über die ganze Erde, hieß: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«, so war dabei vor allem an die Klagemauer gedacht. Bis zur Einnahme Ostjerusalems durch die israelische Armee 1967 ohne Zugang zu der heiligen Stätte, stürzten gleich hinter den Panzern Tausende von Juden hierher, Bilder von unvergesslicher Inbrunst. An ihr hat sich nichts geändert.

Eingeteilt in zwei nach Geschlecht getrennten Sektoren, geht es links auf dem Platz vor der Mauer wild bewegt zu. Eine Gruppe schwarzberockter Männer tanzt ekstatisch – flatternde Hände, schwingende Arme, Trommelwirbel, ein brausender, anschwellender Rhythmus. Hinter ihr setzt sich eine Prozession in Gang, Orthodoxe, darunter sehr junge, in ihren Reihen ein Akkordeonspieler, der gegen das monotone Trommeln kaum ankommt. Ein Teenager – weiße Kopfbedeckung, weißes Hemd, schwarze Fliege – zieht, entrückt und isoliert, kleine Kreise. Ein Vater stemmt sein Kind gegen den Himmel hoch, als wollte er es fliegen lassen. Rechts erscheint eine Gruppe mit tremolierendem Gesang und jenen schrillen Rufen, wie man sie von Arabern kennt – orientalische Juden. Ein Bürschchen, vier Jahre alt, trägt einen Kampfanzug und hantiert mit einem Holzgewehr. Viele Soldaten vor und hinter der Barriere, die den heiligen Bereich nach außen abgrenzt – nur wer eine Kopfbedeckung hat, darf ihn betreten.

Ich setze die meine auf und nähere mich der Mauer – gewaltige Steine, an der Seitenfläche oft unbehauen, das Ganze porös, zernagt von Licht und Luft und von der Zeit, hoch aufragend, wie eine aufgeschnittene Geologie. Es ist genau erkennbar, wo eine neue Steinlage aufgesetzt wurde. Aber das geht nicht nur aufwärts, das steigt auch tief hinab in die Erde. Ich hatte da hineingeschaut, in die soeben aufgedeckten Eingeweide der Klagemauer, damals, im Dezember 1967, ein halbes Jahr nach der Einnahme Jerusalems, während meines ersten Aufenthalts in Israel. Nach 1900Jahren fremder Verfügungsgewalt waren Archäologen noch in den Schwaden der Panzerabgase der Truppe auf dem Fuß gefolgt, hatten gegraben und bloßgelegt, und da hatte ich sie gesehen – die Tempelfundamente, die Wurzeln Israels, ungeheure Quader aus einem Felsstück, bei deren atemverschlagendem Anblick man sich fragt, wie ein nur auf Muskelkraft angewiesenes Zeitalter sie dorthin transportieren konnte!

Nun an der Mauer.

Ein Vater hebt sein Kind auf den Arm, drückt es sanft gegen den Stein, lange und mit geschlossenen Augen. Ein anderer Israeli, etwa dreißig Jahre alt, hat die Wange an die Wand gedrückt und eine Hand auf den Stein gelegt – so verharrt er bewegungslos. Es ist, als würde er von dem tosenden Lärm ringsum überhaupt nicht erreicht. Andere, lesend, murmelnd, haben Stühle mitgebracht, als wollten sie hier übernachten. Jemand stößt in ein Horn, den Schofar, singt, macht tanzende Bewegungen, legt Kindern und Erwachsenen die rechte Hand aufs Haupt.

Die Ritzen der Mauer sind vollgepfropft, übersät mit kleinen Zetteln – Botschaften, Bittschriften, Hilfeschreie an Jahwe den Ewigen.

An der metallenen Scheidewand zwischen den Sektoren drängen sich Männer und Frauen, auf die Brüstung gelehnt, gestikulierend.

Ich verlasse den Platz, trete zurück. Tauben nisten in Lücken und kleinen Höhlen der Klagemauer, fliegen auf, kommen zurück, aufgeregt und doch vertrauensvoll – nie wurde ihnen hier auch nur eine Feder gekrümmt.

Darüber, auf dem Tempelberg, der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee. Aber das Tor dahin, oben rechts, ist geschlossen.

Gerade als ich gehen will, zurück in die versteckten und verschwiegenen Winkel des Jüdischen Viertels, sehe ich die »Miami-Leute« auf die Klagemauer zukommen – und kehre um.

Ich war ihnen schon auf dem Weg hierher begegnet, auf dem Areal zwischen der Stadtmauer und der Batei Mahasse Street: etwa hundert Männer und Frauen mit Schildern und Transparenten, auf denen immer wieder das Wort »Miami« auftauchte und die Versicherung: »Israel, we are with you« – Juden aus den USA.

Die Menge war in Blau gekleidet, sie sang, klatschte in die Hände, wiegte sich rhythmisch, das Gesicht der Stadtmauer zugewandt. Dort standen, auf einem Podest erhöht, Soldaten, keine Bewacher, sondern Teilnehmer. Über allem ein Transparent: »One people – one desire« (»Ein Volk – ein Begehren«). Und dann erklang aus einer Musikbox, aber von allen mitgesungen, die wunderbare Melodie des Jeruschalajim-Lieds. Die Stimmen schallten von der Stadtmauer zurück, hinein in das offene Jüdische Viertel. Kein Zweifel, es ging um die Stadt, das Herz der Judenheit, die Geliebte, die fast 2000Jahre nur von fern Angerufene – es ging diesen amerikanischen Juden um Jerusalem.

Einer von ihnen sagte es: Hier hätten immer Juden gelebt, hier hätten sie gelitten, Sorgen gehabt und Tränen vergossen, des Leids und der Freude. Der Mann sprach ein gutturales Englisch, unbefangen und unprätentiös, auch wenn er von der Heiligkeit Jerusalems redete – da war kein falsches Timbre. Die Blauen hörten zu, man spürte ihre Ergriffenheit, sie hielten Schilder hoch – »Miami loves Israel« –, und einige weinten.

Dennoch wirkten die Amerikaner in ihrer lässigen Kleidung und in ihrem touristischen Habitus fast schmerzhaft unterschieden von den vielen Zuschauern, die sich aus dem Jewish Quarter eingefunden hatten – in Schwarz, mit Bärten, hochgeschlossen trotz der schon spürbaren Hitze, Pelzmützen oder Hüte auf dem Kopf, schweigend, ohne eine Empfindung zu äußern, fremdartig gegenüber den bunten, zwanglosen, leicht bekleideten Besuchern. Ich habe diesen Gegensatz ganz stark gespürt.

Nun kommen die Miami-Leute hier herunter, setzen die Kippa auf und gehen über den Platz zum western wall, dem Hakotel Hama’aravi. Einige von ihnen greifen in die Tasche, holen Zettel heraus, stopfen sie in die Ritzen zwischen den Riesenblöcken, Botschaften an den Ewigen, recken sich dabei hoch. Ihre blauen Jacken wehen. Vier von ihnen halten die israelische Fahne hoch, jeder mit einer Hand am Schaft. Dann gehen sie auf die Mauer zu. Einer von ihnen lehnt sich mit dem linken Arm gegen die Wand, neben ihm drückt ein Orthodoxer – schwarze Schuhe, weiße Strümpfe, schwarzer Mantel, Hut – seine Wange gegen die Wand, verbeugt sich unzählige Male und küsst die Mauer dann wieder und wieder. Da stellen die Blauen die Fahne ab und pressen ihre Lippen ebenfalls auf den Stein, wiegen sich, wie der Orthodoxe, murmeln, beten, werden Teil der Szene. Neben ihnen, die Augen geschlossen, ein Soldat mit herunterhängender Waffe. Plötzlich ist der Wall besetzt von blauen Tupfen, die Männer auf der linken, die Frauen auf der rechten Seite.

Es ist ein Wind aufgekommen, ich muss meine Kippa festhalten, dass sie mir nicht vom Kopf weht.

Die Männer aus Miami stehen jetzt zusammen, bilden einen Kreis, singen – viele, wie herauszuhören ist, auf Iwrith, Neuhebräisch –, schwenken die Fahne Israels, tanzen. Dann, auf einmal, sind ihre Reihen durchsetzt mit den Schwarzen, denen mit Bart und Pelzmützen, den Chassidim oder anderen Orthodoxen. Sie alle zusammen schaukeln hin und her, einmal in die Richtung, dann in die andere. Die Fahne Israels wird hochgehoben, mal von diesem, mal von jenem – ein ungeheurer Trubel an der heiligen Stätte, die seit einer Stunde von der Farbe Blau aus Amerika beherrscht wird.

Ich sitze, links vom Eingang, auf einem noch sonnenwarmen Stein und denke: Donnerwetter, bei diesem Anblick würde wohl so mancher daheim in Florida erstaunt gucken.

Die Klagemauer ist nur noch oben beschienen, am Rand, ein ungleichmäßiger Schatten. Über ihm auf dem Tempelberg, vom Standort des nahen israelischen Militärpostens klar zu erkennen, die glänzende Kuppel des Felsendoms und die Al-Aksa-Moschee.

Auf der Terrasse von Mischkenot Scha’ananim macht sich eine Katzensippe von furchterregender Fruchtbarkeit immer bemerkbarer. Die frei umherschweifenden Fellknäuel werden offenbar von niemandem versorgt, müssen sich also ihre Nahrung selbst suchen, und da sie sehr scheu sind, vermute ich, dass sie dabei mit Menschen keine guten Erfahrungen gemacht haben. Meine Einschmeichelungsversuche jedenfalls waren bisher vergeblich. Heute Abend aber ist es mir durch sanftes Zureden immerhin gelungen, sie bei meinem Anblick von der bis dahin selbstverständlichen Flucht abzuhalten. Als es dunkel wird, öffne ich die Tür zur Terrasse, und nun sitzt eine der Katzen, offenbar die Mutter der zahlreichen Würfe, auf der Stufe vor dem Eingang, kneift mit den Augen, den Schwanz elegant um die Vorderpfoten gelegt, und harrt der Dinge, die da kommen. Aber bei der ersten Bewegung auf sie zu ist sie auf und davon.

Erkenntnisse in Jerusalem

»Interessieren Sie sich auch für die Palästinenser?«

»Natürlich!«

Das war, am Telefon, der erste Dialog zwischen Tsilli G. und mir. Dann lerne ich sie in der Abu Obeida, Ostjerusalem, persönlich kennen.

Tsilli G. ist 38, in Israel geboren und aufgewachsen, Mutter von zwei Kindern aus einer Ehe mit einem Österreicher (zweimal im Jahr fährt sie nach Wien) und Kopf und Herz von Hotline, einer Organisation mit dem Beinamen »For victims of violence« – »Für Opfer von Gewalt« –, und zwar ausschließlich israelischer Gewalt gegen Palästinenser. Tsilli G. ist groß, von kräftiger Statur und residiert hinter einer erbärmlichen Außenfassade in einem erbärmlichen Büro mit der Selbstverständlichkeit eines von der Situation aufgerufenen Gewissens. Das sechs Tage in der Woche und assistiert von Alica H., einer israelischen Rechtsanwältin, die aus den USA kam und blieb, und Ala K., einem Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft, die beide, wie Tsilli G., ihre Arbeit hauptamtlich machen. Dazu kommen gegen dreißig israelische und zwanzig palästinensische Helfer, eine schwankende Zahl, aber kontinuierliche Unterstützung.

An der Wand des karg eingerichteten Büros hängt eine große Karte: »Die besetzten Gebiete«, sagt Tsilli G., »die Westbank mit den Distrikten Jenin, Tulkarm, Jericho, Nablus, Ramallah, Bethlehem. Dazu Ostjerusalem und, natürlich, Gaza.«

Ich will alles von Tsilli G. wissen. Sie spricht aus ihrer Wiener Zeit ein Deutsch, das bei komplizierteren Wendungen durch Englisch abgelöst werden muss, aber nur dann. Hotline ist im Juli 1988 von einer anderen Organisation gegründet worden, die ebenfalls gegen Gewalt auf beiden Seiten kämpft: Sovlanut (was auf Hebräisch Toleranz heißt), machte sich dann aber 1989 selbstständig.

Tsilli G. hat sich spezialisiert auf die Hilfe für Palästinenser, die ihrer Ansicht nach Opfer von Rechtsbrüchen durch Angehörige israelischer Behörden geworden sind – Polizei, Sicherheitskräfte, Armee und zivile Verwaltungen. Von jedem Fall wird eine Akte angelegt, der jeweiligen Behörde eingereicht und der Verlauf verfolgt. »Nach beträchtlichen Schwierigkeiten haben wir eine gewisse Anerkennung bei den Spitzen der Armee und der Polizei gefunden. Unsere Arbeit wird heute ernster genommen. Es gibt da zum Beispiel einen Mann von der border police, der nimmt jede Anklage auf und prüft und verhört gewissenhaft.« Dennoch dauert die Bearbeitung lange, sehr lange, wenn überhaupt etwas dabei herauskommt, da die Haltung jenes Grenzpolizisten nicht typisch ist. Es hat bisher nur eine Verhandlung gegeben, und bis dahin waren zwei Jahre vergangen.

Groß und stark sitzt Tsilli G. da, eine erklärte Linke, die keine eindeutige Antwort weiß auf die Frage, ob der Sechstagekrieg – »der uns das alles eingebrockt hat« – ein Präventivschlag war oder nicht; die sich und mir die Frage stellt, wie sich die Eroberungen von 1967 auf die Demokratie und die Gesetzgebung auswirken (eine rhetorische Frage, da für sie die Schlussfolgerung – »verheerend!« – nicht zur Debatte steht), und die einen ungeheuren Erinnerungsfundus der einzelnen Fälle hat: Tötungen, Verletzungen, Beschlagnahme von Eigentum, Zerstörung von Häusern, Verschwinden von Menschen – Hunderte und Aberhunderte sind registriert.

Unser Gespräch wird immer wieder unterbrochen, weil ein Palästinenser nach dem anderen hereinkommt, jetzt gerade ein alter Mann an der Hand seines etwa neunjährigen Enkels – der Großvater ist blind. Geduldig hört Tsilli G. seiner Geschichte zu.

Der Alte erklärt zunächst, dass er nicht ohne Augenlicht geboren wurde, sondern erst vor drei Jahren erblindet ist. Es habe angefangen mit Kopfschmerzen, derentwegen er ins Hospital gebracht und dort operiert worden sei. Danach habe er nichts mehr sehen können. Tsilli G. erfährt, dass der Mann dreizehn Söhne hat – die Aufzählung der Namen dauert eine Zeit – und dass einer davon im Gefängnis ist: Dieser Sohn habe einen Molotowcocktail geworfen und sei dafür zu drei Jahren verurteilt worden, von denen zwei um seien. Das Gericht habe außerdem verfügt, dass einer von den beiden Räumen des Hauses geschlossen werde, was üblich sei, jedoch nun die Familie bestrafe. Er bitte Hotline, dafür zu sorgen, dass der Raum wieder geöffnet werde, denn es sei in dem anderen, einzigen Zimmer unerträglich.

Der Alte hatte eineinhalb Stunden gebraucht, um von seinem Wohnort auf der Westbank hierherzukommen – der Busfahrer hatte kein Geld von ihm genommen. Während der langen Zeit, die der Großvater, ohne unterbrochen zu werden, spricht, steht der Enkel, auf einen Regenschirm gestützt, da, mit ernsten Mandelaugen und ohne jede mimische Bewegung. Erst als der Alte nach seiner Hand greift, lächelt er, strahlend und sanft.

Tsilli G. hat aufmerksam, gespannt zugehört und sich Notizen gemacht, obschon sie solche Klage nicht zum ersten Mal vernimmt.

Es wird eine Akte angelegt.

Die Arbeit von Hotline ist wichtig, auch für das israelische Selbstverständnis, die Uneigennützigkeit Tsilli G.s und ihrer Mitarbeiter steht außer Zweifel. Dennoch stimme ich mit zweierlei nicht überein. Das eine ist, ganz spürbar, die Abwesenheit eines wirklich inneren Verhältnisses zu den jüdischen Betroffenen des Konflikts, ihren Opfern, ihren Verletzten und Toten – und wenn es keine Abwesenheit ist, so doch eine deutliche Ferne zu ihnen. Das andere ist das, was ich den Umarmungseffekt nenne, eine Art pauschaler Kritikabschirmung des Kreises von Betroffenen, dessen man sich angenommen hat. Dadurch wird nicht nur ihr Anteil am Konflikt tabuisiert, sondern dessen Zusammenhänge werden auch voneinander getrennt. Ich habe diesen Umarmungseffekt immer wieder feststellen können, in Deutschland und anderswo, ob es sich um feministische Organisationen handelt oder um solche, die sich gegen die Ausländerfeindlichkeit richten. Die liebevolle Vereinnahmung bewirkt Blindheit gegenüber den Ursachen, weil sie geneigt ist, die Welt in Gute und Böse einzuteilen – was zu reduzierter Wahrnehmung der Wirklichkeit führt. In dem konkreten Fall des israelisch-palästinensischen Konflikts erschwert oder verhindert die Umarmung greifbar die Auseinandersetzung mit den Gewalt- und Killertendenzen der PLO und ihrer Anhänger. Der Umarmungsmechanismus verschiebt die Verantwortungsgewichte einseitig zugunsten der Schützlinge und versetzt den Umarmer in eine Art Mutterrolle, die nur die Gefahr für den Umarmten sieht, aber nicht die Gefahr, die von ihm ausgeht.

Dazu schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Hat eine israelische Organisation wie Hotline eigentlich ein Gegenstück auf der anderen Seite, ein Ebenbild in der palästinensischen Gesellschaft oder in den arabischen Staaten? Die Antwort ist eindeutig – man findet dort nichts Vergleichbares. Wohl existieren Palästinenser, die um Aussprache bemüht sind, aber keine oppositionellen Organisationen, die sich mit Hotline verständigen und die die komplexe Zweiseitigkeit des Konflikts behandeln könnten. Denn natürlich sind in ihn nicht nur Israelis und Palästinenser eingeschlossen, sondern auch die arabischen Staaten!

Und so taucht in dem schlichten Büro in der Abu Obeida, dessen Arbeit sich gegen die israelische Regierungspolitik richtet, das aber doch wirken kann, eine der großen Ursachen auf, die den Konflikt prägen: Israel ist die einzige Demokratie in der Region. Wäre es ein Streit zwischen Demokratien, trüge er einen vollständig anderen Charakter – wie das gewandelte Verhältnis zwischen Ost und West in Europa nach dem Untergang des Stalinismus zeigt. Nun hat es keinen Sinn, im Nahen Osten auf Ähnliches zu warten, aber das besagt nichts anderes, als dass die Abwesenheit von Demokratie in der Region den Charakter der Auseinandersetzung entscheidend mitbestimmt. Handelt es sich bei Israels arabischen Nachbarn doch ausnahmslos um instabile, demokratisch nicht legitimierte und dazu oft noch von ethnischen Minderheiten bestimmte Gewaltregimes, die innenpolitisch in beständiger Sorge um die Erhaltung ihrer Macht schweben und deren einzige Gemeinsamkeit ihre Antiisraelpolitik ist.

Bei jedem Unrecht und jeder Untat, die von Israelis begangen wird, schlage ich mich auf die Seite der Betroffenen, aber ich verliere darüber die Zusammenhänge des Konfliktes nicht aus den Augen. Umarmung ist allemal die falsche Position – und auch die Tatsache, dass die Palästinenser die Schwächeren sind, kann mich an ihrer Fehlerhaftigkeit nicht irremachen.

Erkenntnisse in Jerusalem.

Am Nachmittag mache ich mich mit Ala K. von der Abu Obeida nach Ramallah auf. Er sucht dort einen Jungen, Achmed, hat aber die genaue Adresse nicht.

Der Gesuchte hatte einen Bus voll Soldaten mit Steinen beworfen. Darauf waren etliche der bewaffneten Insassen herausgesprungen und hatten sich einige Jugendliche gegriffen, darunter auch Achmed. Da er zu jung war, unter vierzehn, konnte er nicht eingesperrt werden, wurde aber verurteilt, tausend Schekel zu zahlen. Für die hatten laut Gesetz die Eltern zu haften – mit bis zu einem Jahr Gefängnis. Hotline hatte etwa zwanzig solcher Fälle registriert.

Jetzt lenkt Ala K. uns kundigen Steuers in seinem heruntergekommenen Peugeot aus Ostjerusalem heraus, in westlicher Richtung. Ich schätze ihn auf 25Jahre, ein Mann mit angenehmen Gesichtszügen, von einem Flor unjugendlicher Traurigkeit bedeckt und nur verhalten auskunftswillig.

Ala K. ist israelischer Staatsbürger, gibt seine Identität aber mit palästinensisch an: »Diese Spaltung ist mein, ist unser Dilemma.« Er ist seit sieben Jahren in Jerusalem, studiert Biologie und will Genetiker werden. Das Studium, für das er zahlen muss, dauert sechs Jahre, von denen er die Hälfte hinter sich gebracht hat. Alle drei Brüder studieren, in Essen, Frankfurt am Main und Berlin. Der in Essen hat eine deutsche Frau geheiratet und ist Vater von zwei Kindern. Einer der Brüder ist nach Deutschland gegangen, weil er in Jerusalem nicht akzeptiert wurde. »Es gibt keine vollen Rechte für uns«, sagt Ala K., »und mir scheint, sie sind für einen palästinensischen Israeli viel schwerer zu bekommen, als einen palästinensischen Staat zu erkämpfen.« Schweigen, ein todtrauriges Schweigen. Wir fahren an einem israelischen Militärposten vorbei. Darauf Ala K.: »Es heißt immer, wenn wir die gleichen Rechte hätten, müssten wir dann nicht auch in die Armee – und gegebenenfalls gegen die eigenen Landsleute vorgehen? Gut zurechtgelegt!« Ala K. lacht bitter. »Ein schönes Argument ist das, um uns die vollen Rechte vorzuenthalten!«

In Ramallah.

Schwerbewaffnete Israelis, ein Armeelager, von dichtem Stacheldraht umgeben, davor viele Leute, vor allem Frauen. Ala K. fährt ganz langsam. »Kann man so auf die Dauer leben? Kann das für die Ewigkeit sein? Die Leute warten hier, weil alles genehmigt werden muss. Jetzt ist wenigstens ein Gebäude errichtet worden, jahrelang aber haben die Leute hier unter freiem Himmel stehen müssen, auch wenn es regnete.« Und nach einer Weile: »Ich fühle mich wie im Krieg mit den Soldaten.«

Er fährt durch einen Ortsteil Ramallahs, sucht, steigt aus, fragt Passanten. Sie beäugen ihn, misstrauisch, denn sein Wagen trägt ein israelisches Nummernschild – es ist gelb, während die Autos auf der Westbank blaue haben.

Dann scheint Ala K. das Haus gefunden zu haben. Aber es ist niemand da. Wir warten. Ich höre ihm zu, spüre, wie es ihn erleichtert zu sprechen. »Sehen Sie den Erdwall da hinten? Da sind Steine geworfen worden, und dann wird das ganze Viertel abgesperrt – ein großer Erdwall mit großen Steinen.« Er sieht mich dann an, sagt: »Würde es Sie überraschen, wenn ich feststelle: Die Araber sind nicht mein Volk? Ich bin Palästinenser! Die Araber haben uns verraten. Man kann als Palästinenser in arabischen Staaten kein Land kaufen. Wir haben von jedem mehr Unterstützung – von Deutschen, Amerikanern, Russen – als von Arabern. Die Führer der arabischen Staaten haben 1947/48, gegen den Teilungsplan der UNO, entschieden: Ganz Palästina solle arabisch werden – das ist unser Unglück gewesen, in diese Mühle sind wir geraten. Es wäre vielleicht längst Frieden, wenn die Araber den Teilungsplan akzeptiert hätten.«

Ein Mann kommt auf das Haus zu, Ala K. spricht mit ihm, kehrt zurück: »Es ist nicht das richtige Haus« und gibt auf. Wir steigen wieder in seinen Peugeot. »Das ist auch eines der Probleme von Hotline – diese kümmerliche Infrastruktur in den besetzten Gebieten, wenig Telefone, eine unzulängliche Postzustellung, es ist zum Verzweifeln. Wir kennen die Adresse der Familie nicht. Und wo könnten wir sie erfahren?«

Wieder in Jerusalem. Wir hatten nur noch wenig miteinander gesprochen. Die ganze Zeit dachte ich: Wie verlassen muss sich dieser Mann neben mir fühlen.

Und dann sagt Ala K., bevor er mich in Mischkenot Scha’ananim aussteigen lässt: »Ich brauche das Wort nicht gern – aber wir Palästinenser sind die Opfer von Israelis und Arabern.«

Ich sehe ihm nach, wie er mit seinem Vehikel davontuckert.

Heute hat sich Wichtiges ereignet: Ich habe zum ersten Mal auf dieser Reise mit einem Palästinenser israelischer Staatsbürgerschaft gesprochen – und ich war, wenn auch indirekt, mit der Intifada in Berührung gekommen.

Erkenntnisse in Jerusalem.

»Aber ich traue ihnen nicht«

In einem Bus auf der Fahrt nach Bet Schemesch, einem Ort südlich der Autobahn nach Tel Aviv, noch in der Nähe von Jerusalem, dort wo das Gebirge in die Ebene übergeht.

Ich bin unter lauter weiblichen Mitgliedern von Sovlanut, jener bereits erwähnten Organisation, die im Sinne ihres Namens – Toleranz – ausgleichend wirken will zwischen Juden und Arabern. Nun sind wir unterwegs zu einer Schule, wo über die Frage »Gespräche mit Arabern – ja oder nein?« diskutiert werden soll.

Neben mir sitzt eine ältere Frau, Michal D., Lehrerin für englische Literatur und, wie ich von ihr erfahre, vor fünf Jahren aus New York nach Israel gekommen. Als der Bus auf der abschüssigen Strecke an Wrackteilen von Lastwagen rechts der Straße vorbeifährt, sagt sie: »Eine jüdische Kolonne, die im Unabhängigkeitskrieg 1948 Medikamente in das eingeschlossene Jerusalem bringen wollte und in einen arabischen Hinterhalt geriet.«

35Minuten Fahrt durch das wilde Gebirge bis Bet Schemesch, dann sind wir angekommen.

Zum Streitgespräch haben sich die Schülerinnen und Schüler, ausschließlich Israelis, in der riesigen Turnhalle eingefunden, etwa 150 Zuhörer auf ansteigenden Sitzreihen, davor die acht Diskutanten, je vier für und gegen Gespräche mit Arabern. An dem Pro-Tisch drei Mädchen, bei der Kontra-Gruppe nur eines. Für uns aus Jerusalem, die zwölf Frauen von Sovlanut und mich, sind die ersten Reihen freigehalten worden. Die Atmosphäre ist gespannt.

Die Gruppe gegen Gespräche eröffnet den Reigen. Ein Schüler liest aus Schriften der PLO vor, mit starker Stimme und sehr bestimmt: Sie wollen alles, nicht nur die Westbank und Gaza, sie wollen auch Jerusalem, die Golanhöhen, Tel Aviv und Jaffa. Der Schüler nennt Namen von Familien, deren Angehörige palästinensischen Anschlägen zum Opfer fielen.

Es wird still in der Turnhalle bei der Aufzählung.

Ein zweiter aus der Kontra-Gruppe entfaltet eine Landkarte: Guckt euch das an, wie gefährdet wir ohnehin sind – überall offene Grenzen. Was aber wäre erst, wenn es einen Palästinenserstaat gäbe? Das jedoch sei Sinn und Ziel von Gesprächen – was denn sonst? Gesprächen mit wem? Mit der PLO, die erklärt hat, dass die Juden an allem schuld seien, eingeschlossen die Französische Revolution, und dass die Zionisten die ganze Welt gekauft hätten? »Das haben sie geschrieben, hier steht es, oder glaubt ihr, ich denke mir solchen Wahnsinn aus?«

Jetzt das einzige Mädchen aus der Gruppe, dunkelhäutig, temperamentvoll, Kind orientalischer Juden, wie manches andere hier ringsum: »Erinnert ihr euch an den Anschlag auf den Touristenbus zwischen Ismailijja und Kairo? Und an all die anderen Überfälle? An die Getöteten und Verwundeten? Mit diesen Mördern soll ich sprechen? Ich will auch Frieden – aber mit denen sprechen? Niemals!«

Die Unruhe im Auditorium wächst. Zwischenrufe, Applaus, Widerspruch.

Der vierte sagt: »Habt ihr mal an das demografische Problem gedacht – auch ohne die Gebiete, die 1967 dazugekommen sind? Die Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft, fast 800000 heute, vermehren sich viel schneller als wir. Eines Tages können sie uns über die Wahlurne aushebeln, nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann könnten sie zahlreicher sein – was dann?«

Da springt ein Mädchen aus der Gegengruppe auf: »Das ist doch ein entscheidendes Argument für Gespräche! Was können wir denn dagegen tun, dass ihre Bevölkerung sich rascher vermehrt als unsere? Wollen wir sie umbringen? Wir müssen Frieden machen, weil die Zeit nicht für, sondern gegen uns arbeitet. Und da wir mit dieser Zeitbombe leben, müssen wir mit ihnen sprechen. Ich wäre stolz darauf, wenn wir es täten, denn es ist besser, für unser Land zu leben als zu sterben.« Die Stimme kippt über, schlägt dann noch höher: »In den besetzten Gebieten sind wir Eroberer und benehmen uns auch so – Juden als Eroberer!« Einen Moment sieht es aus, als könnte sie nicht mehr weitersprechen. Dann fügt die Schülerin an: »Möglich, dass es leichter wäre, wenn unsere Gesprächspartner Europäer wären – aber es sind nun einmal Araber.«

Beifall, der bisher stärkste.

Der einzige Schüler der Pro-Gruppe: »Die Intifada hört nur auf, wenn wir Gespräche führen, sonst nicht. Golda Meir und die anderen Staatsgründer hatten das Palästinenserproblem überhaupt nicht gesehen, es existierte für sie gar nicht. Und wo sind wir heute? Wenn wir nicht mit dem gemäßigten Flügel der PLO sprechen, dann überlassen wir den Radikalen das Feld.«

Es soll nach dem Streitgespräch abgestimmt werden, die Schule hat Übung darin. Es ist bereits der vierte Disput über kontroverse Zeitthemen hier. Nach den äußeren Reaktionen ist schwer auszumachen, für welche der beiden Gruppen sich die Mehrheit entscheiden wird. Ich fühle nur, dass ich inständig hoffe: für die Pro-Gruppe.

Einer der Kontra-Gruppe: »Ben Gurion wollte mit den Terroristen nicht sprechen, stimmt. Aber der Mufti von Jerusalem, der zuvor mit Hitler geredet hatte, auch nicht mit Ben Gurion. Sie waren immer Terroristen, und sie sind es noch.«

Widerspruch von der Gegenseite: Die Situation schafft den Terror. Auch Schamir und Begin waren Angehörige einer Terroristengruppe, einer rechten, vor Gründung des Staates Israel. »Manche Palästinenser haben sich im Lauf der Auseinandersetzung geändert, und ein unabhängiger Staat würde solche Leute fördern.«

Wieder eine Gegenstimme: »Wenn wir Gespräche mit ihnen anfingen, so wäre das das Ende. Wir würden nicht nur unser Territorium, wir würden auch unsere Existenz aufs Spiel setzen.«

Michal D. neben mir, die Lehrerin aus New York, bemerkt, dass die Rechten immer und überall auf der Welt »aus dem Bauch« dächten und dass in dieser Turnhalle die Gegenseite über die höhere Intellektualität und Moral verfüge. Ich denke, und das schon eine ganze Weile: In welchem arabischen Land könnte eine solche Diskussion stattfinden, öffentlich und mit Auffassungen, die der Regierungspolitik so diametral entgegengesetzt sind? In keinem, auch in Ägypten nicht.

Der Gesprächsleiter, der sich kaum eingemischt hat, macht ein Zeichen, das auf das Ende der Debatte schließen lässt. Da hebt einer aus der Kontra-Gruppe noch einmal die Hand, sagt, er möchte auch Frieden haben, und fügt dann, unpolemisch, wie ratsuchend, hinzu: »Aber ich traue ihnen nicht!«

Der Satz haftet in meinem Ohr, weil ich ihn nicht zum ersten Mal höre. Ich muss seinem Inhalt nachgehen.

Die Abstimmung ergibt: 69 Jungen und Mädchen dieser Schule in Bet Schemesch sind für Gespräche mit Arabern, 34 dagegen.

Danach kommen die Kontrahenten noch einmal zusammen, vorn, sprechen mit den Frauen von Sovlanut und sitzen dabei friedlich nebeneinander, der Hauptsprecher der Kontra-Gruppe neben einer Dunklen mit mächtiger Mähne, die seine vehementeste Gegnerin gewesen war. Es sind Sechzehn- bis Achtzehnjährige, jede und jeder von ihnen war von bestechender Beredsamkeit – und sie können zuhören. Was die Sovlanut-Frauen ihnen mitgeben, kann in einen Satz gefasst werden: »Präparieren Sie sich nicht nur auf das, was Sie sagen wollen, sondern antworten Sie vor allem auch auf das, was von der anderen Seite kommt.«

Schließlich geben beide Seiten unaufgefordert zu, dass sie Zweifel an der eigenen Meinung hätten. Alles in allem, so finde ich, ein Lehrstück für Demokratie in einer Situation äußerster Gefährdung.

Auf der Rückfahrt nach Jerusalem, nun bergauf, sitze ich in dem Bus wieder neben Michal D., vormals Brooklyn, und komme mit ihr ins Gespräch. Das heißt, es wird bald ein Monolog daraus, denn ich werde zum Zuhörer einer jener unerhörten Geschichten, wie die Menschen keines anderen Landes sie in solcher Dichte erzählen können.

Großvater und Großmutter väterlicherseits waren im zaristischen Russland von Kosaken getötet worden. Die Kinder konnten in den Wald entkommen, kehrten zurück und begruben ihre Eltern. Nach dem Sturz des Zarismus emigrierte der Vater mit seiner Frau, Michal D.s Mutter, und wenig Verwandtschaft nach Deutschland, blieb dort bis 1927 und wanderte dann in die USA aus.

Das Gros der Sippe, Onkel, Tanten, Nichten und Neffen, war in der Sowjetunion geblieben. Etliche Angehörige wurden Kommunisten, wähnten ihr Heil in der KPdSU und kannten fortan weder den Sabbat noch andere jüdische Fest- und Feiertage. Erst 1971 hörten Michal D. und ihr Mann über Auswanderer wieder von den Verwandten, dass sie und ihre Nachkommen lebten unter den jämmerlichen Bedingungen des Systems und in völliger Desillusionierung hinsichtlich ihrer einstigen Ideale. 1976 flog Michal D. mit ihrem Mann nach Moskau, von wo aus sie versuchten, zu den Verwandten nach Minsk zu gelangen, in der Sowjetunion Leonid Breschnews jedoch ein vergebliches Unterfangen – die Genehmigung war nicht zu erhalten. Es bedurfte erst der Perestroika des Michail Gorbatschow, um die Briefverbindung herzustellen, 1988. »Und jetzt«, sagte Michal D. im Bus neben mir mit einer Mischung aus unirdischer Verzückung und sachlicher Genugtuung, »jetzt kommen sie in den nächsten Wochen alle nach Israel – drei Generationen, von einem Neunjährigen bis zu den Siebzigjährigen, mehr als sechzig Menschen.«

Der Bus prescht die breite Autobahn Tel Aviv-Jerusalem hoch.

In welchem Volk, welchem Staat sonst könnte sich dergleichen ereignen? denke ich. Hier bist du in einem Land, wo du sofort in der Weltgeschichte steckst, wenn du dich mit einem Nachbarn, mit Bekannten, Freunden, Fremden unterhältst, und zwar bist du an den Punkten unseres Jahrhunderts, an denen die ganze Menschheit durchgeschüttelt wurde, niemand sonst aber so wie die Juden.

Die Einwanderungswelle von Juden aus der Sowjetunion nach Israel hat allerdings einen Januskopf, ein Doppelgesicht. Sie ist das Gesprächsthema der Nation, in der Öffentlichkeit und privat, meist zustimmend, jedoch auch kontrovers. Der ohnehin herrschende Wohnungsmangel in Israel wird durch die Immigranten noch brisanter. Vor allem junge Paare, die schon lange warten, sehen sich durch die Bevorzugung der Juden aus der Sowjetunion geprellt.

Sie hat Folgen. Unterhalb des Israel-Museums in Jerusalem sind Zelte aufgeschlagen, von Menschen, jungen und alten, verheirateten und unverheirateten, mit und ohne Kinder, für die die gestiegenen Mieten unerschwinglich geworden sind.

Als ich dorthin komme, brummt ein großer Generator, und die Versammlung unter offenem Himmel, auf der gerade die Wohnungsnot besprochen wird, hat Mühe, gegen den Lärm anzukommen. Nackte Glühbirnen leuchten in der Dunkelheit. Sie erhellen eine trostlose Atmosphäre, die unter dem wie immer sterneprangenden Himmel nur umso dumpfer erscheint. Bei Tageslicht kann man von hier auf Luxusblöcke schauen mit den teuersten Wohnungen, die es in Jerusalem, ja im ganzen Land gibt. Sie sind nur als Eigentum zu erwerben. Jetzt, bei der großen Immigration von Juden aus der Sowjetunion, rächt sich, dass in Israel fast nur Eigentumswohnungen gebaut worden sind, von Anfang an, und es vergleichsweise wenige Mietwohnungen gibt. Klar, dass es bei der ungeheuer gewachsenen Nachfrage teurer wird, darin zu leben, und die Hausbesitzer die Gelegenheit beim Schopfe packen, die Mieten kräftig zu erhöhen. Das führt zu Spannungen zwischen denen, die bei der allgemeinen Wohnungsnot schon lange auf eine menschenwürdige Unterkunft warten, und denen, die nun kommen und sofort von den großzügigen Einwanderungsbestimmungen profitieren.

Dennoch stehen die öffentliche und die veröffentlichte Meinung Israels hinter den Juden aus der Sowjetunion.

Ich bin ein halbes Dutzend Mal bei ihrer Ankunft auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Lod dabei gewesen, ein Anblick, Gesichter, die ich nie vergessen werde: ekstatisch und hilflos, verstört und mühsam gefasst, Gesichter, die wie ein Aufschrei des Glücks waren, und andere, in denen nichts als Angst und Ungewissheit vor dem Kommenden geschrieben standen. Ich habe auf diesem schrecklich nüchternen Gelände Menschen gesehen, die wie im Traum einherwandelten, und andere, die den Eindruck machten, als wollten sie auf dem Fuße umkehren und wieder zurückfliegen. Aber ich habe nicht gehört, dass das geschehen sei.

Aus den sogenannten Absorption Centers wird über die Juden aus der Sowjetunion Gutes berichtet. Das sind Stätten, in denen die Einwanderer aus allen Ländern, woher auch immer, an ihre neue Heimat gewöhnt werden, Israels Sprache erlernen und auf ihre Neigungen und Begabungen geprüft werden sollen, und wo ihnen, jedenfalls für eine gewisse Zeit, die Sorgen um die elementarsten Lebensbedingungen wie Wohnung und Nahrung abgenommen sind. Viele haben keine Ahnung von Dingen, die den Israelis selbstverständlich sind, und sei es, wie ein Bankkonto zu eröffnen oder ein Führerschein zu erwerben ist.

In einem dieser Zentren, Mevasseret Zion bei Jerusalem, berichtet mir der Leiter, dass die Juden aus der Sowjetunion die gelehrigsten Schüler und Schülerinnen unter allen Immigranten seien, am willigsten zu arbeiten und auch sprachbegabter als Einwanderer aus anderen Ländern.

Dennoch gibt es bei ihnen Schwierigkeiten besonderer Art. Die meisten kommen aus qualifizierten Berufen, sind Ärzte, Physiker, Chemiker, aber aufgrund der Rückständigkeit in der Sowjetunion nicht auf der Höhe des israelischen, des westlichen Know-how und Know-where. Die Anforderungen hier sind viel größer, und so finden diese Leute zunächst einmal keine Arbeit in ihrem gewohnten und erlernten Beruf und müssen umsatteln. Das kollidiert mit den Erwartungen, die sie ihrer neuen Heimat entgegenbringen, und führt zu vielen Enttäuschungen und innerfamiliärem Streit.

Dazu kommt das Motiv, das die Juden aus der Sowjetunion hierhergetrieben hat: Verfolgung, Angst, physische Bedrohung und alltägliche Diskriminierung. Sie wandern als Flüchtlinge ein, nicht als Zionisten, jedenfalls die meisten von ihnen.

Aber wie gesagt, die allgemeine Haltung in Israel ihnen gegenüber ist außerordentlich positiv, und der Leiter des Absorption Center Mevasseret Zion ist nur eine exemplarische Stimme, wenn er mir gegenüber versichert, er verspreche sich von der großen Immigrationswelle aus der Sowjetunion nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten Prosperität für Israel.

Die Leute in den Zelten vor dem Israel-Museum sehen das anders. Ihr Disput unter freiem Abendhimmel ergibt, dass sie, bei allem Verständnis für die Not der Juden in der Sowjetunion, auf die Einwanderer von dort nicht gut zu sprechen sind. Einige weisen auch auf die künftige politische Belastung hin, da es heißt, ein Teil von ihnen werde auf der Westbank angesiedelt werden. »Und dann kriegen wir noch mehr Kummer ihretwegen«, sagt ein Hüne von Israeli, stehend, ein kleines Kind auf dem Arm und neben sich seine winzige Frau.

Teddy Kollek hat mehr Zelte versprochen und einen besseren Wasseranschluss als bisher – Maßnahmen, die auf einen längeren Aufenthalt schließen lassen. Heute Morgen habe ich erfahren, dass auch vor der Knesset, Israels Parlament, Zelte aufgebaut worden sind.

Die Immigration von Juden aus der Sowjetunion, es wird von einer Million Menschen gesprochen, wird das Land noch lange beschäftigen.

Der Raw von Mea Schearim

Der erste Anlauf wird scheitern, um das vorwegzunehmen.

Es ist Sabbat, Sonnabendmorgen, und ich lasse mich in einem Taxi bis an den Rand von Mea Schearim fahren, Jerusalems orthodoxem Viertel. Seit gestern Abend sind stählerne Barrieren aufgestellt worden, damit es niemandem einfalle, hier hineinzufahren. Denn alles, was wie Arbeit aussehen könnte, ist am Sabbat streng verboten. Wenn sich auch weite Teile des modernen Israel darum so wenig scheren wie die übrige Welt – in diesem selbst gewählten Getto sind die Frommen überaus wachsam. Ich kriege das sogleich zu spüren.