Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos? - Volker Frühling - E-Book

Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos? E-Book

Volker Frühling

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Beschreibung

Der Neoliberalismus ist dabei, die Gesellschaft durch eine konsequente Kommerzialisierung zu unterwandern – mit dem Ziel ihrer Zerstörung. »Gesellschaft« stört bei dem Versuch, den Menschen durch übertriebenen Wettbewerb, propagierten Egoismus und systematische Erhöhung des Leistungsdrucks zu vereinzeln. Der Neo-liberalismus fördert unverblümt egoistische, ja in hu -mane Verhaltensweisen; er propagiert Un ge rechtigkeit und einen ruinösen Wettbewerb als Prinzip einer sogenannten marktgerechten Gesellschaft der Zukunft. Das Buch spürt den schon eingetretenen Folgen der neoliberalen Strategie in unserer Gesellschaft nach. Dies geschieht in Form eines f ktiven Dialogs zur politischen Ökonomie zwischen Zeitgenossen und interessierten Menschen aus der Zukunft. Dabei werden Hintergründe und viele Zusammenhänge deutlich, die so nicht in der Zeitung stehen – und es ergeben sich Vorschläge für Maßnahmen, die geeignet sind, die Auswirkungen des Neoliberalismus wenn nicht aufzuheben, so doch einzudämmen. Unsere Politiker waren in den letzten Jahrzehnten nicht sehr einfallsreich (Stichwort »Alternativlosigkeit«). Der Autor ist der festen Überzeugung, dass es immer eine sinnvolle Alternative gibt – vorausgesetzt, man ist bereit, sie zu denken.

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Die Vernunft kann sich mit größerer Wuchtdem Bösen entgegenstellen,wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.

Papst Gregor der Große

Vorwort

Die folgende Geschichte beruht auf der Fiktion, dass zwei Freunde, die hier in der Gegenwart leben, durch einen Zufall über das Internet regelmäßigen Kontakt mit zwei Menschen aufnehmen können, die in der Zukunft leben und den Zeitgenossen unserer Gegenwart um hundert Jahre an Erfahrung voraus sind.

Der Kontakt ging von den Freunden aus der Zukunft aus, weil nur von dort aus eine sichere und nachvollziehbare Beziehung zwischen unserer Gegenwart und deren Gegenwart besteht, die aber nicht zwangsläufig unsere Zukunft sein muss. Wir Menschen unserer Gegenwart sind aus der Sicht der Zukunft deren Vergangenheit und Geschichte. Unsere Zukunft liegt im Dunkeln. Wir als Menschen der Gegenwart können nicht erwarten, dass die Zukunft, deren Vergangenheit wir sind, auch unsere Zukunft ist. Im Rückspiegel gibt es einen historischen roten Faden, der sich in der Realität Bahn gebrochen hat. Ein Blick in einen Spiegel der Zukunft zeigt eine blinde Fläche, die eine solche Linie nicht erkennen lässt. Alles, was uns die Menschen aus der Zukunft mitteilen können, sind ihre Erfahrungen und ihre Überlegungen, die sie gemacht haben und die ihren Weg in ihre Zukunft geführt und begleitet haben.

Da E-Mail-Kontakt besteht, können die Freunde unserer Gegenwart Fragen stellen, um zu erfahren, wie sich das Leben der Menschen in den letzten hundert Jahren entwickelt hat, und um daraus eventuell Konsequenzen für das eigene Verhalten zu ziehen. Wichtig ist, dass die Menschen des Jahres 2115 über unsere Zukunft keine bessere Erkenntnis haben als wir Gegenwärtigen. Jedoch haben sie einen Zeitabschnitt schon überwunden, vor dem wir noch stehen, und müssten in manchen Fragen vielleicht klüger und erfahrener sein als wir in unserer Gegenwart. Der Dialog mit der Zukunft verspricht also spannend zu werden. Da für die Freunde in der Zukunft unsere Gegenwart deren Geschichte ist, liegt der Schwerpunkt der Fragen auf der Seite unserer Gegenwart, um möglichst viele Erkenntnisse über eine mögliche Zukunft zu erhalten.

Gegenstand der Diskussionen sind Gesichtspunkte unserer heutigen Gesellschaft mit einem Schwerpunkt auf der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik und ihren möglichen Entwicklungssträngen. Die Politik ist nie alternativlos; nur die Politiker glauben uns die Alternativlosigkeit vermitteln zu müssen, um uns leichter für ihre Zwecke einspannen zu können. Alternativlosigkeit ist ein politisches Armutszeugnis, ein Zeugnis der Bequemlichkeit und des Machterhalts. Dieses Buch soll jenseits der Ideologie des ökonomischen Mainstreams zeigen, dass es immer Alternativen gibt. Es gibt keinen Mangel an Ideen, es gibt aber ein machtvolles Interesse, uns einen Mangel an phantasievollen Handlungsalternativen einzureden.

Abschließend möchte ich all denen danken, die sich immer wieder bereiterklärt haben, sich meine Gedankenfragmente geduldig anzuhören. Mein Dank gilt dabei insbesondere meiner Frau Ingrid und meinem Studienfreund und Lektor, Dr. Arnulf Krais, die mich mit schier unermüdlicher Geduld auf offensichtliche Fehler und formale Mängel hingewiesen haben. Da das Buch meine Auffassung wiedergibt, sind alle verbliebenen Ungereimtheiten von mir zu verantworten.

Olching, Pfingsten 2015

Volker Frühling

Inhalt

Einleitung und Kontaktaufnahme

Ausgangsfrage: Merkantile oder humane Werte

Der Motor der Ungleichheit

Das einseitige Meinungsbild

Was ist Kapitalismus?

Kapitalismus als etwas Konzeptionelles?

Schulden? Was ist die Gegenbuchung?

Geld horten in der Finanzwirtschaft

Neoliberalismus

Kapitalismus als ›Krieg Reich gegen Arm‹?

Und nochmals die Ausgangsfrage

Wirtschaftshörigkeit

Wo liegen die Änderungspotenziale?

Neue Orientierung

Sind wir noch richtig gepolt?

Und die Moral von der Geschichte?

Das ›gute Leben‹

Mentale Dammbrüche

Manipulation als Strategie

Die Aufwertung von bestehenden Regeln

Die Illusionen um Wachstum und Rendite

Globalisierung versus Regionalisierung

Schulden – ein etwas modifizierter Ansatz

Steuern und Verhaltensänderung

Versorgung als öffentliche Aufgabe

Grund und Boden

Grundeinkommen

Grundsätzlich veränderte Steuerstrukturen?

Abschied

Zusammenfassende Schlussbemerkung

Ausgewählte Literatur

Stichwortverzeichnis

Endnoten

Einleitung und Kontaktaufnahme

Wir sitzen vor dem Computer von Max. Er führt stolz die neuesten Features vor, die sich diesem neuen Rechner im Internet eröffnen.

»Gestern Abend bin ich auf eine Website gestoßen, die ist ausgesprochen merkwürdig aufgebaut, und ich kann mit der IP-Adresse gar nichts anfangen.«

»Ruf sie doch bitte mal auf.«

»Sie heißt ›Zukunft‹, und sie ist ein wenig ungewöhnlich aufgebaut. Aber ich habe dort eine E-Mail-Adresse gefunden mit der Aufforderung, doch bitte in Kontakt zu treten, wenn man sich mit dem Inhalt der Website identifizieren kann.«

»Um was geht es denn bei der ›Zukunft‹?«

»Sie spricht uns so an, als ob das Gegenüber die Möglichkeit habe, aus der Zukunft von ziemlich genau hundert Jahren, also aus dem Jahr 2115, mit uns Kontakt aufzunehmen. Sie behauptet, sie habe eine technologisch begründete Methode gefunden, über einen Zeitraum von hundert Jahren mit uns zu kommunizieren – und ihre Vergangenheit sind wir und unsere Zeitgenossen.«

»Wenn wir deren Vergangenheit sind, so bleibt nur das technologische Problem der in der Zukunft Lebenden, in ihre Vergangenheit von vor hundert Jahren eintauchen zu können.«

»Aber ist deren Status (unter Vernachlässigung der Zeitkomponente) auch zwangläufig unsere Zukunft?«

»Nein, das glaube ich nicht. Es kann eigentlich nicht sein. Sieh mal: Aus der Sicht der Zukunft sind wir deren Vergangenheit, und deren Vergangenheit hat aus der Sicht der Zukunft (ihrer Gegenwart) tatsächlich stattgefunden. Wir sind – vorausgesetzt, wir sind wirklich deren Vergangenheit – für sie Geschichte, und es gibt damit eine ein-eindeutige Relation zwischen ihnen und uns.«

»Aber was ist mit der Zeit? Kann es denn sein, dass sie zur gleichen Zeit leben wie wir, aber hundert Jahre mehr auf dem Buckel haben?«

»Erklären kann ich das auch nicht. Das, was wir aus unserer Sicht als Zeitfolge verstehen, muss durch einen intelligenten Trick in Synchronizität umgewandelt werden können. Mir ist so ein Gedanke im Rahmen der Esoterik mal vor vielen Jahren über den Weg gelaufen – Rudolf Steiner, glaube ich, hat diesem Gedankenexperiment den Namen »Akasha-Chronik« gegeben, indem er behauptete, unsere Zeitvorstellung sei nur eine Sichtweise auf die Zeit und es gebe auch jene Akasha-Chronik, in der alle Zeiten parallel abgebildet werden und deshalb alles gleichzeitig ablaufe.«

»Ist das ernstzunehmen?«

»Ich kann das nicht ernstnehmen, weil ich dafür keine Erklärung habe, aber unser E-Mail-Kontakt – wenn er denn die Erwartungen erfüllt – zeigt, dass wir offensichtlich nicht am Ende der Möglichkeiten sind.«

»Wenn wir auf diese E-Mail eingehen, wie können wir sicher sein, dass wir nicht getäuscht werden?«

»Da gibt es keinen Nachweis, den wir verlangen könnten. Unsere Zukunft ist ja nicht zwangsläufig deren Gegenwart. Alles was sie uns über ihre Geschichte erzählen können, mag interessant sein, ist aber in letzter Konsequenz nicht unsere Zukunft.«

»Wieso denn nicht?«

»Wir treffen täglich private und gesellschaftliche Entscheidungen, die unsere Freiheitsgrade für die künftige Entwicklung einerseits einschränken, andererseits aber neue Räume eröffnen mögen; aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass wir die gleichen Entscheidungen treffen werden, die Menschen getroffen haben, die uns hundert Jahre voraus sind. Würden unsere Entscheidungen zur gleichen Zukunft führen, die der Gegenwart unserer in der Zukunft lebenden Gesprächspartner gleicht, dann wäre der Verlauf des künftigen Geschehens doch determiniert. Und das ist mir nicht vermittelbar. Dazu sind mir die Entscheidungen, die in unserer heutigen Welt jeden Tag getroffen werden, zu erratisch und kopflos. Eine Richtung ist dabei nicht erkennbar.«

»Dann lass uns mal eine E-Mail schicken – mal sehen, was passiert! Sollen wir sie in unserer Sprache aufsetzen oder mehrsprachig?«

»In Deutsch – die Website ist doch auch in deutscher Sprache formuliert.«

»Und was schreiben wir? Sei erst mal vorsichtig und leg nicht gleich alle unsere Details auf den Tisch.«

»Gute Idee – also ganz förmlich. Und – was wollen wir von unserem Gegenüber? Wir müssen doch einen Grund für die Kontaktaufnahme vorbringen.«

»Richtig. Wir wollen uns mit ihm austauschen, um zu verstehen, wo die Unterschiede zwischen hier und dort sind.«

»Nennen wir unsere richtigen Namen oder nehmen wir Decknamen?«

»Wenn ich es recht bedenke: Diese Website hat ihren Weg zu uns gefunden. Eine große Verkleidung erscheint da wenig erfolgversprechend. Aber wir können ja mal schauen, wieviel das Gegenüber von sich preisgibt.«

Max nimmt die E-Mail-Adresse auf und schreibt:

»Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben Ihre Website entdeckt und sind neugierig, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Mit freundlichen Grüßen – Max«

und löst aus.

Es ist inzwischen spät geworden, und wir beschließen, uns wieder zu treffen, wenn eine Antwort vorliegt.

Die Kontaktaufnahme

Am nächsten Morgen ist die Antwort da:

»Lieber Max, wir danken Dir für Deine Anfrage und sind sehr interessiert, den E-Mail-Kontakt auszubauen. Für uns ist es interessant, von Euren gegenwärtigen Problemen und Herausforderungen zu erfahren, und wir werden bemüht sein, unsere Erkenntnisse aus hundert Jahren Vorlauf in die Diskussion einzubringen. Aufgrund der Tatsache, dass wir mit Dir in E-Mail-Kontakt treten können, ist es wohl auch verständlich, dass wir über die laufende Internet-Kommunikation EurerZeit recht gut informiert sind. Wir haben technische Möglichkeiten, uns von ›außen‹ in das Netz einzuschleusen, ohne dass es die jeweiligen Betreiber bemerken – so ähnlich wie die NSA – wenn Du weißt, was ich meine? Wir nutzen eine sogenannte Mimikry, um unseren Zugang verdeckt zu halten. Da wir keine finanziellen Beiträge leisten, sind wir ja gewissermaßen ›Schwarzfahrer‹, und das Netz wäre deshalb auf uns nicht gut zu sprechen – wenn sie uns denn entdecken würden. Wir möchten uns gerne vorstellen – wir sind unser zwei. Ich nenne mich Immanuel, und mein Freund hört auf den Namen Benedikt. Wir würden uns freuen, wenn wir den Kontakt fortführen könnten. Gruß – Immanuel«

An diesem Morgen sind wir etwas ratlos. Wie sollen wir diese Nachricht einordnen? Wenn uns hier jemand auf den ›Roller‹ nimmt, so ist es zumindest recht originell. Wir bleiben ernst und antworten:

»Lieber Immanuel, es freut mich, dass Ihr Euch gemeldet habt. Wir sind uns aber nicht sicher, ob das Spiel, das wir hier betreiben, echt oder ein schlechter Scherz ist. Habt Ihr eine Idee, wie Ihr uns versichern könnt, dass unser Kontakt wirklich über eine ›Entfernung‹ von hundert Zeitjahren erfolgt? Wir sind einfach skeptisch, da unser Zusammentreffen jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeiten liegt. Gibt es bei Euch noch Tageszeitungen oder andere Periodika, die ein Datum tragen? Dann könntet Ihr doch eine Kopie anfertigen, sie in ein für uns lesbares Format bringen und uns zusenden. Wäre das zumutbar?

Übrigens, ich bin auch nicht allein, bei mir ist Moritz. Wir kennen uns schon lange und sind vielfach in politischen und ökonomisch-ökologischen Fragen engagiert. Gruß – Max«

Nach wenigen Stunden kommt die Antwort:

»Lieber Max, lieber Moritz, auch wir kennen noch Wilhelm Busch – sind das Eure richtigen Namen? Aber, egal. In der Anlage haben wir die heutige Zeitung gescannt und beigefügt. Ihr seht, es gibt uns im Jahr 2115. Ihr könnt auch gerne die Überschriften und Texte lesen. Ob Ihr aber die Zusammenhänge versteht, bezweifeln wir. In den letzten hundert Jahren haben sich heftige Umbrüche ergeben, und die Diskussionen, die wir hier und heute führen, sind nur in Teilen mit den Fragen vergleichbar, die Euch bewegen werden. Wir stehen vor Wahlen, und die politische Landschaft hat sich doch gegenüber Eurer Zeit sehr verändert. Das können wir gerne ein andermal ausführlich diskutieren. Heute geht es uns um unsere Glaubwürdigkeit.Wir möchten Euch versichern, dass wir keinen ›fake‹ darstellen und uns keinen Scherz erlauben. Gruß – Immanuel«

»Klingt doch recht vernünftig. Jetzt lass uns mal in ihre Zeitung schauen. Sieht völlig verändert aus, aber das Datum stimmt, und bei jedem der Beiträge steht auch ein Datum und ein Name. Lassen wir es dabei, und gehen wir davon aus, dass die Angaben ihre Richtigkeit haben. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«

»Wir haben jetzt die einmalige Chance, unsere ›Kollegen‹ aus der Zukunft über die Entwicklungen unseres politischen und ökonomischen Systems zu befragen. Sie können zwar nicht sagen, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln wird; sie können aber berichten, wie sich ihre Gesellschaft entwickelt hat, und uns dadurch an ihren Erfahrungen teilhaben lassen.«

»Also, Max, wir schreiben ihnen unsere Erwartung und warten auf die Reaktion.«

Antwort:

»Lieber Max, Eure Idee finden wir großartig. Wir haben es nicht gewagt, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber genau diese Themen erscheinen uns eine ideale Gesprächsgrundlage. Wir geben Euch Recht, wir können nur über unsere Entwicklung berichten, und wir tun das bestimmt auch relativ subjektiv. Eure Entwicklung wird sicher anders verlaufen, aber es wäre eine ungeheure Bereicherung, zu hören, wie sich Sachverhalte unter ähnlichen Ausgangsbedingungen fortentwickelt haben, auch dann, wenn es nicht zwangsläufig Eure Zukunft beschreiben wird. Gruß – Immanuel.«

»Moritz, ich bin begeistert! Stell Dir vor, was wir für ein Glück haben, ausgerechnet auf Leute zu treffen, die bereit sind und dann auch noch Interesse daran haben, mit uns Probleme und Herausforderungen unserer Gegenwart aus ihrer Perspektive zu diskutieren. Da müssen wir uns ein bisschen vorbereiten und einen roten Faden entwickeln, an dem wir uns entlanghangeln können. Viele Dinge greifen ja in einander, und wenn zu viele Wiederholungen auftreten, wird das Gespräch für beide Seiten eher anstrengend.«

»Max – ich denke, wir sollten zuerst versuchen, etwas über die Entwicklungslinien aus ihrer Welt zu erfahren. Wir haben ja ein Stück weit die gleiche Vergangenheit, und sie könnten doch die Hauptlinien umreißen, die sie in den letzten hundert Jahren durchlaufen haben. Es ist sicherlich nicht unsere Zukunft, aber es wäre trotzdem überaus prickelnd zu erfahren, wie und warum sich ihre Sicht der Dinge verändert hat. Wenn wir hier ein Verständnis der Zusammenhänge erreichen, dann können wir uns doch eventuell danach Einzelfragen widmen.«

Gut! Gesagt – getan.

Erste Berührungspunkte

Die Antwort dauert einige Zeit und fällt recht lang und ausführlich aus:

»Lieber Max, danke für Eure Fragestellung, die wir begeistert aufgreifen. Wir mussten aber leider feststellen, dass sich hundert Jahre schlecht in fünf E-Mail-Zeilen zusammenfassen lassen. Wir haben aus Eurem Internet gelernt, dass die veröffentlichte Meinung damit kämpft, dass die Fähigkeit der Leser, längere Texte zu verfolgen, verloren zu gehen droht. 40 Zeilen sei angeblich so das Maximum, was der Durchschnittsbürger intellektuell am Stück verkraftet. Bei längeren und etwas höher codierten Texten soll ganz massiv die Verständnisfähigkeit der Leser leiden. Wir werden uns daran nicht orientieren können; wir benötigen eine ganze Reihe weiterer Zeilen und Absätze, denn wir haben schon bei der groben Zusammenstellung der möglichen Inhalte festgestellt, welcher Aufwand dahintersteckt, wenn man diesem Projekt etwas Sorgfalt angedeihen lassen möchte.

Wir erklären das Jahr 2015 zu unserer gemeinsamen Basis. Bei der Betrachtung der folgenden Jahre werden wir unseren Lauf der Dinge beschreiben und zu ergründen versuchen, warum sich dieser Verlauf ergeben hat und nicht ein anderer. Die Vorgeschichte ist uns ja gemeinsam. 2008 hat es in der westlichen Hemisphäre eine große Wirtschaftskrise gegeben, die das Wirtschaftssystem des Westens – eine Form des Kapitalismus – an den Rand eines Abgrundes manövrierte. Die Politik sah sich gezwungen, das System mit Hilfe der Steuergroschen der kleinen Leute zu retten. Die Rettungsaktion hat viele Staaten an den Rand ihrer Finanzierungsfähigkeit gebracht: aus der Bankenkrise wurde eine Finanzkrise, und die Rettungsversucheführten dann vereinzelt zu Staatkrisen. Die Politik glaubte aus der Krise von 1929 gelernt zu haben, hat unter Vernachlässigung einer sinnvollen Zielsetzung die Märkte mit billigem Geld überflutet und dadurch vordergründig das Vertrauen in ein blindes ›Weiter so‹ hergestellt. Einzig erkennbares Ziel war ganz offensichtlich, sich Zeit zu erkaufen, um das Problem dann schrittweise zu lösen. Als Folge ist der Finanzmarkt nicht zusammengebrochen, die Banken machen weiter wie vorher, und 2015 ist die Situation im Bankensektor nicht besser geworden; manche sprechen davon, dass die Blase wieder mindestens so groß sei wie 2008.

Da es aufgrund der Geldflut keine richtige Implosion gegeben hat, die den Wähler hätte verschrecken und gar aus seinem Schlaf aufwecken können, erkennen die Marktteilnehmer auch keinen richtigen Grund, ihr Verhalten zu verändern, und die Politik scheint zu schwach, um sich gegen die Wirtschaftsinteressen durchzusetzen.

Deutschland hat alle Kraft im Export gebündelt. Export ist aber nur möglich, wenn den Finanz- und Warenströmen Importe in anderen Ländern spiegelbildlich gegenüberstehen. Importe lösen in der Zahlungsbilanz des jeweiligen Landes Verbindlichkeiten aus, denen Forderungen in der deutschen Zahlungsbilanz gegenüberstehen. Exportweltmeister haben systemimmanent sehr hohe Außenstände. Wenn im Rest der Welt völlige oder partielle Zahlungsunfähigkeit eintritt, ist schlagartig der Exportweltmeister im wahrsten Sinne des Wortes ein ›armes Schwein‹. Seine Forderungen aus dem Export lösen sich über Nacht in Luft auf. Der Schuldner zuckt mit den Achseln und bucht aus. Der Gläubiger verliert seine Forderung, und die vom Gläubiger erwirtschafteten Wertschöpfungsvorteile verbleiben ohne Gegenleistung beim Schuldner. Je mehr wir exportieren wollen, desto mehr müssen wir dafür sorgen, dass die ›Fußkranken‹ auch bezahlen können. Das stand nun in einigen Fällen in Frage, wobei wir unverantwortlicherweise immer weiter lieferten, obwohl das Problem absehbar und erkennbar war. Aber der sinnlose Titel ›Exportweltmeister‹ hat der Vernunft den Rang abgekauft. Das ist in groben Zügen die gegenwärtige deutsche Position. Und das Problem ist keinesfalls gelöst.

Wir haben dann 2015 noch ein paar weitere Merkmale, die es zu erwähnen gilt: Das Wachstum, vom dem die Mehrzahl der Ökonomen zu wissen meint, dass es als immerwährend gedacht werden kann, ist in den letzten 10 bis 15 Jahren in Europa äußerst gering.1 Wachstum ist die Entscheidungsgröße für politische Maßnahmen geworden. Dabei wird vergessen, dass Wachstum ohne Ressourcenverbrauch und ohne Beschäftigung, die dann wieder zu Konsum wird, nicht möglich ist.2 Wir beobachten, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf immer noch steigt. Dasgilt gemeinhin als Indikator für eine prosperierende Wirtschaft. Diese Durchschnittszahl wächst natürlich auch dann, wenn große Teile des Mittelstandes verlieren und ein kleiner vermögender Teil der Bevölkerung überproportional zulegt. Das BIP pro Kopf verdeckt also manchmal mehr als es erklären kann.

Aus unserer Sicht, mit einem Abstand von hundert Jahren, fällt besonders auf, dass die Gesellschaft des Jahres 2015 gespalten ist. Es gibt eine politische Struktur, und es gibt eine in die Gesellschaft teilweise eingebettete Wirtschaftsstruktur, die Werten folgt, die politisch überhaupt nicht legitimiert sind. Beide Bereiche laufen nicht mehr nebeneinander, sondern gegeneinander. Es fällt insbesondere aus der Perspektive eines Abstands von hundert Jahren auf, dass nicht mehr klar ist, wer das Sagen hat – dient die Wirtschaft der menschlichen Gesellschaft, oder hat sich die Gesellschaft einfach den Bedingungen der Wirtschaft unterworfen? Diese Frage wird uns noch öfter beschäftigen – wir haben sie vor circa 60 Jahren (also etwa 2050) sehr heftig diskutiert und dann auch entschieden. Darüber später mehr.

Das sind in groben Zügen unsere gemeinsamen Grundlagen, die wir 2015 erkennen können.

Mit besten Grüßen aus der Zukunft – Immanuel«

»Immanuel – Wir glauben als Zeitgenossen unserer Gegenwart die Sache deutlich differenzierter zu sehen, aber aus einer langfristigen Perspektive fallen viele Meinungen dem Zahn der Zeit zum Opfer. Bemerkenswert erscheint mir die These, dass sich aus Eurer Sicht unsere Gesellschaft vor die Entscheidung gestellt sieht, welche Werte künftig Priorität erhalten sollen: jene des Wirtschaftssystems oder die unserer verfassten Gesellschaft. In vielen Diskussionen unserer Zeit fällt auf, dass Ökonomen und Nicht-Ökonomen immer öfter aneinander vorbei reden. Diejenigen, die sich mit Wertvorstellungen befassen und immer wieder davor warnen, bewährte und gemeinschaftsfördernde Werte nicht zugunsten ökonomischer Werte aufzugeben, stehen einer Kaste von Managern gegenüber, die meist wenig gebildet, aber gut ausgebildet ist und die von Wertdiskussionen überhaupt nichts hält. Für die Mehrzahl dieser Damen und Herren gelten der Markt und die ökonomische Rationalität als Ausdruck von Werten. Ökonomie ist komplett wertgesteuert, aber eben nicht durch gesellschaftlich getragene und legitimierte Werte. Vernunft ist nach Auffassung dieser Manager und Unternehmer nur dort angesiedelt, wo der Markt herrscht. Ihr Horizont reicht i.d.R. nicht aus, zu erkennen, dass Markt und Rationalität Vernunft und Legitimität nicht ersetzen können. Upton Sinclair (1878 – 1968) hat es auf den Punkt gebracht: ›Es ist schwer, einen Mann dazu zu bewegen, etwas zu verstehen, wenn die Höhe seines Gehaltes davon abhängt, dass er es nicht versteht.‹«

»Was Du da ausgeführt hast, ist das allgemeine Auffassung? Ich denke, Max, das ist Deine persönliche Meinung.«

»Das will ich nicht abstreiten. Doch schau Dir doch bitte die politischen Entscheidungen der letzten 20 Jahre an. Immer dann, wenn es in der Politik um die Frage geht: ›Nützt eine geplante Maßnahme den konkreten Menschen oder dem Wirtschaftssystem?‹, hat sich die Politik regelmäßig für die Seite des Systems entschieden. Es wird dann behauptet, die betreffende Maßnahme schaffe Wachstum oder Beschäftigung oder Export, und das sei dann der Nutzen für die Menschen. Merkwürdig ist nur, dass zur gleichen Zeit alle diese Entscheidungen regelmäßig dazu geführt haben, dass die Einkommens- und Vermögensschere zwischen Arm und Reich immer weiter zu Gunsten der ›Reichen‹ aufgegangen ist. Wo soll das hinführen, und wann begreifen die Politiker, dass ihre Wirkung ganz entscheidend dazu beiträgt, dass sie auch künftig gewählt werden? Und gewählt wird immer noch nach Köpfen und nicht nach Geldbeuteln. Das heißt doch, dass sich hier ein Problem auftürmt, das gelöst werden muss.«

Die Außensicht

»Lass uns doch mal schauen, was Immanuel dazu anzumerken hat.«

»Hallo Max, diese Diskussion kommt mir aus unserem Geschichtsunterricht sehr bekannt vor. Ihr müsst wissen, wir beide sind heuer (in 2115) etwa 60 Jahre alt und kennen Eure Zeit im wesentlichen auch nur aus dem Geschichtsunterricht. Unsere Geschichtsbücher sehen die Entwicklung ähnlich wie wir sie angesprochen haben und wie Max sie ausgeführt hat. Dabei geht die Diskussion nicht über die alte Frage, ob diese Erkenntnis nun links- oder rechtslastig, konservativ oder fortschrittlich ist. Die beschriebene Situation hat sich in den dann folgenden Jahrzehnten durch weitere heftige Krisen des Wirtschaftssystems so verschärft, dass wir etwa im Jahr 2050 vor massiven Unruhen standen und das vor uns her geschobene Problem endlich lösen mussten. Die alte Parteienlandschaft hatte sich völlig aufgelöst. Es gab nur noch eine Vertretung der ›Reichen und Vermögenden‹ und letztlich eine Reihe von Parteien, die den verarmten kleinen Mann vertraten. Hehre Ziele wie Freiheit, Solidarität, Menschenwürde sowie Tugenden wie Vertrauen, Zuverlässigkeit,Mitmenschlichkeit waren in aller Munde, nur nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die führende Kaste, die sich durch Vermögen und hohes Einkommen auszeichnete, trat immer noch für jene Ziele ein, deren Verfolgung ihnen, ohne Rücksicht auf die Mehrzahl der Bevölkerung, Ertrag in ihre Taschen spülte. Leistung wurde zwar immer vehement eingefordert, aber eben so definiert, dass Leistung wesentlich in einer Einheit gemessen wurde, über die die Wirtschaftseliten im Überfluss verfügten – also Geld. Die Mehrzahl der abhängig Beschäftigten war damit zwangsläufig in der Kategorie ›underperformer‹ versammelt und hatte sich ständig zu rechtfertigen und den Vorwurf der ›Trägheit‹ abzuwehren. Das haben sich die Leute irgendwann nicht mehr gefallen lassen, und im Rahmen einer neuerlichen Krise kam es dann zum gesellschaftlichen Big Bang. Aber den Bericht über das Ereignis wollen wir noch zurückstellen. Gruß – Immanuel«

»Das, was er hier äußert, ist nicht sehr beglückend. Ist das, was diese beiden aus der Entfernung glauben erkennen zu können, in Ansätzen auch bei uns heute schon erkennbar?«

Die Innenansicht

»Ich weiß nicht, ob das so einfach ist. Aber ich will es mal versuchen, denn ich habe eine Idee, die diese Sicht der Zusammenhänge stützen würde. Es geht dabei um Struktur und Ziel.

Wir verstehen uns als komplexe, hoch entwickelte Gesellschaft, die nach allgemeiner Auffassung demokratischen Regeln folgt. Es besteht auch, so meine ich, ein Einverständnis, dass die demokratischen Regeln dazu führen, dass Entscheidungen langsam erfolgen und manchmal verschlungene Wege gehen, bis eine Meinung gebildet ist, die i.d.R. nicht zu Extremen neigt. Das ist die Schwäche des demokratischen Systems, die gleichzeitig aber auch seine Stärke darstellt.

Unsere Gesellschaft in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern hat eine Reihe von systemischen Untergliederungen, die deshalb als so wichtig angesehen werden, weil sie auch wesentliche Teile unserer Identität und Anerkennung hervorbringen. Ein bedeutendes Subsystem unserer Gesellschaft ist unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem. Historisch gesehen, hat sich diese Struktur in den letzten rund hundert Jahren stark verändert. Die Strukturen waren früher in erster Linie auf die Versorgung gerichtet, um dem Mangel zu entkommen. Der Mangel ist lange überwunden; heute verwaltet die Struktur eher den Überfluss und hat sich dabei von einer produktionsorientierten Versorgungswirtschaft zu einer primär geldorientierten Wirtschaft gewandelt. Das primäre Ziel einer Vielzahl von Unternehmen ist nicht mehr die Produktion und Versorgung einer bestimmten Bevölkerung mit Gütern, sondern die Erzielung einer Geldrendite, also tendenziell die Produktion von Reichtum. Die meisten Top-Probleme eines Unternehmens drehen sich nicht um die Frage der Versorgung, Produktion und Bereitstellung von Gütern, sondern um Fragen des Geldes, seines effizienten Einsatzes und seiner Rentierlichkeit. Das ist die reine Shareholder-Perspektive, bei der das Geschäftsmodell nur Mittel zum Zweck ist. Seine Pervertierung erfährt das gegenwärtige System im Finanzmarkt mit dem ernsthaften Versuch, schlicht Geld aus Geld zu machen.

In diesem Wirtschafts-Subsystem herrschen aber nicht die gleichen Regeln wie im Gesamtsystem. Das Wirtschaftssystem arbeitet über Verfahren und Einstellungen, die man beim besten Willen nicht demokratisch nennen kann. Die Folge sind Herrschaftsformen, die wesentlich vom Eigentum bestimmt sind. Das kapitalistische System fußt auf Eigentum, verstanden als ein Recht, andere von den Nutzungen dieses Rechtes auszuschließen. Wer das Recht hat, handelt und fragt nicht, weil das Eigentumsrecht Grundlage unserer Wirtschaft ist. Wir haben deshalb in der Wirtschaft Entscheidungsbefugnisse zugelassen, die hierarchisch von oben nach unten durchstrukturiert sind. Widerspruch ist i.d.R. nicht erwünscht und wird i.d.R. nicht geduldet. Wenn er trotzdem kommt, muss sich der Widersprechende versichert haben, dass sein Einwand breite Unterstützung erfahren wird. Kritik bleibt ein hohes Risiko, und deshalb gibt es dieses Phänomen im Wirtschaftssystem eher selten.«

Ausgangsfrage: Merkantile oder humane Werte

»Vergleichen wir dieses System mit den demokratischen Regeln des Gesamtsystems, so müssen wir, was Schnelligkeit, Effektivität und Durchsetzungsfähigkeit betrifft, leider feststellen, dass das Wirtschaftsteilsystem dem demokratischen Gesamtsystem unter dem Gesichtspunkt der Effizienz überlegen ist. Auf der anderen Seite fehlt den privaten wirtschaftlichen Entscheidungen i.d.R. der gesellschaftliche Bezug, weil die Entscheidungen unter dem Primat der Eigentumsordnung legal ohne Rücksicht auf andere, insbesondere nicht wirtschaftliche (z.B. soziale) Interessen getroffen werden können. Das ist nicht selbstverständlich, sondern es ist ein demokratisch verfasstes Zugeständnis, welches das Gesamtsystem der merkantilen Ordnung unter der Voraussetzung zubilligt, dass sie dem Wohle der Allgemeinheit dient (Art. 14, II GG).

Solange die Politik machtvoll als Repräsentant des gesellschaftlichen Gesamtsystems auftritt und die für den Menschen angemessenen Prioritäten verfolgt, ist der Wettbewerb der Teilsysteme kein grundsätzliches Problem. Es wird aber zum Problem, wenn es dem Subsystem gelingt, über seinen Einfluss und seine durch das Geld ausgeübte Macht das politische Gesamtsystem auf eine untergeordnete Position zurückzudrängen. Wenn das Subsystem in der Lage ist, Legitimität aus der Tatsache zu ziehen, dass wirtschaftliche Entscheidungen gewissermaßen auf der ›Höhe der Zeit‹ (also schnell und effizient) getroffen werden können, dann wirkt der demokratische Prozess dagegen einfach alt und schwerfällig und verliert allein schon dadurch an Attraktivität.

Das wirtschaftliche Sub-System wird schwerpunktmäßig durch einen Personenkreis geführt, der – ohne sich regelmäßig abstimmen zu müssen – über die einfachen Regeln zur Ausübung von Macht und wirtschaftlichem Einfluss deutlich homogener handelt als der heterogene ›Haufen‹ der restlichen Wähler. Letztere wären aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit klar in der Mehrheit und könnten dem Einfluss der wenigen, aber einflussreichen Kader daher leicht widerstehen. Aber sie sind in ihrer Willensbildung heterogen organisiert und haben keine vergleichbar verbindende Position oder Haltung wie die Netzwerke von Macht und Geld.

Die Politik hat das schon lange begriffen. Politisch schwierige Sachverhalte werden deshalb bevorzugt auf die wirtschaftliche ›Schiene‹ geschoben, weil dort die Netzwerke (oder soll man sagen: Seilschaften) schneller handeln und glaubhaft politische Sachzwänge schaffen, die es der Politik ersparen, sich in demokratisch angemessene, aber oft höchst unsichere politische Auseinandersetzungen begeben zu müssen. Stößt der inszenierte Sachzwang erst einmal auf breite Akzeptanz, dann kommt das berühmte Wort von der ›Alternativlosigkeit‹ zum Einsatz, und die Sache ist politisch gegessen.«

»Das klingt in meinen Ohren nicht sehr aufbauend. Kannst Du mal ein praktisches Beispiel geben?«

»Schau Dir die Entscheidungen an, welche die Regierung im Rahmen der Bewältigung der Finanzkrise getroffen hat und die viele unserer bisherigen Handlungsgrundsätze über den Haufen geworfen haben.«

»Ja, aber – in der Situation musste die Regierung doch handeln und nicht debattieren.«

»Zugegeben. Aber auch danach gab es keine richtige Auseinandersetzung über den eingeschlagenen Weg. Es gibt kein Ziel und keine politische Haltung. Es wird nur das System am Laufen gehalten. Das ist als Ziel etwas anspruchslos. Die Opposition hat sich zwar wacker bemüht, aber die Regierung hat das einfach ›alternativlos‹ weggebügelt. Es geht mir schlicht darum, dass hier Demokratie auf der Strecke geblieben ist. Es könnte ja sein, dass nach ausgiebiger Diskussion zwar keine andere Lösung herausgekommen wäre, aber die Entscheidungen würden dann von einer breiteren demokratischen Basis getragen als jetzt, wo sich die Meisten übergangen fühlen. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins kann auch daran liegen, dass die Sachverhalte möglicherweise so kompliziert sind oder so kompliziert vorgetragen werden, dass die Mehrzahl der Bürger einfach aussteigt. Letzteres kann ja auch ein ›Ziel‹ der Politik sein.«

»Was aber diese Feststellungen jetzt hoffentlich deutlich machen, ist Folgendes: Im Gesamtsystem der Gesellschaft übt das wirtschaftliche Subsystem einen Einfluss aus, der die Frage rechtfertigt, ob wir noch die richtigen Entscheider wählen oder ob wir nicht gleich dem Subsystem und seinen Wirtschaftssöldnern alle Entscheidung überlassen sollten.«

»Das meinst Du doch nicht im Ernst?«

»Das meine ich mit einem sehr sarkastischen Unterton, weil ich befürchte, dass der Primat der Politik auf diese Weise durch die Hintertür schon oft ausgehebelt wurde. Die Politik entscheidet heute doch nicht mehr zugunsten der Menschen oder Wähler und ihrer wirklichen Bedürfnisse. Sie sieht den Menschen und seine Bedürfnisse durch die Wirtschaftsbrille und reduziert ihn im Einklang mit den Vertretern des Wirtschaftssystems auf Arbeitnehmer, Verbraucher, Kunden und Konsumenten. Das sind alles Begriffe, die aus der Ökonomie stammen, aber den Menschen als Ganzes in seiner Komplexität und seinem Anspruch auf Würde bewusst vernachlässigen. Es ist nicht (mehr) das Ziel der Ökonomie, die Gesellschaft, die Gemeinschaft, das Leben, das Wohl oder das Glück aller zu verbessern. Die Ökonomie bzw. ihre Vertreter instrumentalisieren den Menschen, um schlicht Nutzen aus ihm zu ziehen, aber nicht, um ihn glücklich oder zufrieden oder solidarisch werden zu lassen.«

Die E-Mail piepst – Immanuel meldet sich:

»Hallo, wir müssen schmunzeln. (Wir haben per Skype mitgehört.) Genau die gleichen Diskussionen haben unsere Väter vor etwa 90 Jahren intensiv auf politischer Bühne geführt. Ganz plötzlich gab es dann einen Meinungsumschwung, der nicht zu erklären war.3 Jahrzehntelang waren die Bürger geduldige Diener des Wirtschaftssystems und stellten ihre persönlichen Erwartungen zurück, damit die Wirtschaft alle Chancen hatte zu florieren. Und plötzlich brennt da eine Sicherung durch. Das war extrem schwer nachzuvollziehen, denn es war kein Big Bang imeigentlichen Sinne. In unserem Geschichtsbuch war aber eine kleine Episode aufgeführt: Die Schweizer haben im Rahmen ihrer direkten Demokratie die Höhe der Manager-Boni grundsätzlich in Frage gestellt. Wenige Monate später tritt eine kleine Gruppe auf, die sich gegen die Maßlosigkeit wendet, die im gegenwärtigen Wirtschaftssystem herrsche. Die Argumente der Gruppe finden eine knappe Zustimmung. Die Medien haben diesen Vorgang hauptsächlich unter der Überschrift ›Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz‹ behandelt und die eigentliche Ursache gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen. In einem weiteren Referendum, nur ein paar Monate später, haben die Schweizer dann auch noch einen Mindestlohn einführen wollen. Europa hat sich verwundert die Augen gerieben – Was machen die denn da? Wenn man genau hinschaut, und das ist angesichts der lauten Medienpropaganda nicht einfach, stellt man fest, dass sich hier der ›kleine Mann‹ aufgerafft hat und einfach feststellt: ›Jetzt ist genug!‹ Und er schaffte es sogar, die übermächtigen Schweizer Wirtschaftsverbände und deren heftige Propaganda zu paralysieren. Plötzlich wird einer Mehrzahl der Bürger klar, dass bei Abstimmungen nur der Kopf zählt und nicht die Menge des Geldes, die dieser Kopf repräsentiert. Bei uns (aus der Sicht von 2115) ist dieser Vorgang als der Bruch mit der Wirtschaftshörigkeit der Politik in die Geschichtsbücher eingegangen. Es hat sehr klein angefangen und hat dann ständig größere Kreise gezogen.

Das war eine jahrelange heftige, aber rückblickend erfolgreiche Auseinandersetzung. Am Anfang (und das kann man sehr schön in alten Fernsehreportagen erkennen) war das Klima ziemlich vergiftet. Die Kritiker wurden nach alter Väter Sitte als ›Linke‹, ›Sozialisten‹, ›Kommunisten‹ und als ›Vaterlandsverräter‹ beschimpft, die ›unseren Wohlstand‹ leichtfertig aufs Spiel setzen wollten. Die Situation war emotional und sachlich völlig verfahren.

Dann kam uns das Schicksal ein Stück weit entgegen: Es gab eine neuerliche Bankenkrise, mindestens so verheerend wie 2008, aber sie setzte den Umkehrpunkt, denn in der Krisensituation den kleinen Mann nochmals bluten zu lassen, war politisch nicht mehr durchsetzbar. Das Ende der Fahnenstange war erreicht. Auch die Staatsverschuldungen waren durch die vorhergehenden (zahlreichen kleinen) Krisen so erheblich angewachsen, dass die Mehrzahl der Staaten die Waffen strecken musste. Jetzt waren die Gläubiger dran, die viel von ihrem Geld in dem Kasino-System stecken hatten. Mit anderen Worten: Dieser Kreis von Vermögenden verlor schlagartig große Teile seiner Machtmittel und wurde plötzlich ziemlichkleinlaut. Das war die Chance für Veränderungen. Ihr seht aber, das hatte leider gar nichts mit höherer Erkenntnis, großer Einsicht oder gar mit Vernunft zu tun.

Aber die Auseinandersetzung hat sich dann noch lange hingezogen. Der erste Schritt von dem, was wir heute (also in unserer Zeit) unter dem Begriff der ›Kündigung der Wirtschafsthörigkeit‹ verstehen, entstand aber damals und in diesem Zusammenhang. Was bedeutete dieser Begriff? Wir waren – aus dem Rückspiegel gesehen – der Auffassung, dass die Vertreter des Wirtschaftssystems die Politik so dominiert und korrumpiert hatten, dass sie die von uns gewählten Politiker willenlos vor sich hertreiben konnten. Bei jeder Entscheidung, die getroffen werden musste, wurde immer erst gefragt: ›Und was sagt die Wirtschaft(-selite) dazu?‹ Statt sich zu fragen ›Was nützt die Maßnahme den vielen davon Betroffenen?‹ hatte die Wirtschaftselite erfolgreich den Eindruck vermitteln können, dass alles, was ihr Vorteile brachte, angeblich auch der breiten Bevölkerung zugutekomme. Das Vertrackte ist, dass die Aussage hin und wieder auch mal zutrifft, dass aber die Verhältnismäßigkeit in keiner Weise gewährleistet war: Die Vorteile waren für die Wirtschaftselite und die Brosamen für die breite Bevölkerung vorgesehen, also für diejenigen, welche die Wertschöpfung produzieren mussten, damit die nachfolgende Vermögensaufteilung überhaupt möglich wurde.«

»Dann meinst Du, Max, dass die Verengung der Perspektive auf die Ökonomie das Entscheidungsfeld der Politik in eine völlig einseitige Richtung drängt.«

»Ja Moritz, genau. Nehmen wir ganz einfache Zusammenhänge: Viele Stoffe, die die Industrie in diversen Gütern verwendet, stehen im begründeten Verdacht, krank zu machen. Wie würde sich die (von der Politik so oft bemühte) ›schwäbische Hausfrau‹ und) Mutter mit ihrem Kleinkind entscheiden? Sie würde das Produkt sofort von ihrer Einkaufsliste streichen und nach Alternativen suchen. Und wie macht es die Politik? Sie macht erstmal gar nichts, zieht sich auf die unhaltbare Position des ›mündigen Verbrauchers‹ zurück, oder sie fragt höflich bei der betroffenen Industrie an, wie es sich denn verhalte? Wenn dann über die NGOs4 (und am Ende auch die Medien auf der Suche nach Sensation) endlich entsprechend Druck aufgebaut wird, lässt man lasche Übergangszeiten zu, in denen das Produkt weiter vermarktet werden darf. Was heißt das konkret? Die Chance des Geldverdienens Einzelner wird höher bewertet als das Gesundheitsrisiko der Vielen!«

»Du meinst damit sicher auch die Deklarationspflichten auf den Waren – da ist das Spiel doch ähnlich.«

»Ja! Moritz, es ist gleiche Dilemma. Die Argumentation ist falsch. ›Freie Bürger‹ müssen doch die freie Wahl haben, hat die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner sinngemäß gesagt – die freie Wahl scheitert oft aber schon an der Brille, die ich brauche, um das unverständliche Kauderwelsch der Deklarationen überhaupt entziffern zu können, geschweige denn zu verstehen. Wenn wir ein so mächtiges Wirtschaftssystem zulassen, dann muss doch der kleinste begründete Verdacht auf eine fehlerhafte Handlung eines Mitglieds dieses Herrschafts-Systems ausreichen, ein Produkt sofort aus dem Markt zu nehmen. Es kann doch nicht darum gehen, dass die Unternehmen ihre Gewinne auf dem Rücken von potenziell kranken Kunden machen, weil ein schädlicher Zusammenhang kurzfristig wissenschaftlich nicht abschließend zu klären ist. Hier stimmt die Verhältnismäßigkeit nicht mehr.

Unternehmer sind doch keine Dummköpfe, die nicht wissen, was sie aus Kosten- und Imagegründen in ihre Produkte verarbeiten. Sie kennen ihr Risiko und halten es für gering, weil sie sich i.d.R. darauf verlassen können, dass die Politik stets zugunsten der Wirtschaft einknickt und sie im Grunde gegen die eigenen Wähler entscheidet. Aber die merken es oft gar nicht. Damit das nicht zu krass und offensichtlich wird, werden dann die Nachteile mit dem Argument der Arbeitsplätze und der Beschäftigung verschleiert. Und wenn argumentativ gar nichts mehr geht – wird regelmäßig die politische Ikone ›Wachstum‹ ins Feld geführt.

Es gibt den elementaren Grundsatz in der Rechtsprechung: ›Im Zweifel für den Angeklagten‹. Er gilt als der schwächere Part und soll auf diese Weise vor Übergriffen geschützt werden. In der Politik muss dieser Grundsatz lauten: ›Im Zweifel für den Souverän, den Bürger (und nicht für die Wirtschaft)‹. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Unternehmen – wenn dieser Grundsatz klar ausgesprochen, also als ein verbindlicher Rahmen gesetzt würde – immer noch auf dem Rücken von Menschen Geld verdienen wollen. Der Imageschaden wäre für sie unermesslich, und damit würden sie gezwungen, Alternativen zu suchen. Das ist für die Wirtschaft auch zumutbar, wenn man letztlich von den Konsumaktivitäten der potentiellen Kunden lebt.«

»Max, ich höre schon die Politiker, wie sie in das Horn der Wirtschaft stoßen: Wir müssen doch auch dafür sorgen, dass Arbeitsplätze, Vollbeschäftigung oder ähnliche Wirtschaftsziele realisiert werden.«

»Wo sind wir eigentlich, Moritz? Das ist doch politisch verdreht! Man argumentiert mit Arbeitsplätzen und Vollbeschäftigung, meint aber in erster Linie privaten Umsatz und Gewinn, den man aus einer hinreichend belegten potenziellen Gesundheitsgefährdung auf dem Rücken einer Mehrzahl von Menschen erzielt. Ich glaube mich zu erinnern, dass in unserer Verfassung irgendwo steht: ›Die Würde des Menschen ist unantastbare‹. Da darf es doch keinen Deal geben. Heute liest man diesen einfachen Satz anscheinend anders: ›Der Profit der Wirtschaft ist unantastbar‹.«5

»Was ist, wenn das Wirtschaftssystem, hier vertreten durch die Pharma-Industrie, ein Grippemittel vertreibt und die dazu gehörigen Wirksamkeitsdaten vorsätzlich zurückhält, weil aus ihnen hervorginge, dass das Mittel überhaupt keine Wirkung zeigt? Wenn dann dieses Unternehmen mit den Ländern der Bundesrepublik Deutschland Geschäfte auf dieser betrügerischen Grundlage schließt, die das Geld der Steuerzahler in die Taschen der Pharmafirmen fließen lässt: Ist das auch unantastbar? Mit Sicherheit! Diejenigen, die eine Anklage auf Schadenersatz anstrengen müssten, haben sich als so dilettantisch und liebesdienerisch oder wirtschaftshörig erwiesen, dass es für sie besser ist, den Mantel des Schweigens auszubreiten. Der Steuerzahler, der diese Fehlentscheidung finanziert hat, wird, so ihre Hoffnung, schon den Mund halten. Hoffentlich nicht!! – Man kann nur hoffen, dass dieser Fall irgendwann von den NGOs erfolgreich aufgegriffen wird6 und sich als ein GAU für die Pharmaindustrie und ihr Transparenzverhalten erweist.«

Aufrichtigkeit als notwendige Grundlage

»Immanuel, wie wir später noch sehen werden, besteht eine ständige Auseinandersetzung zwischen den Vertretern von Werten, die einer Gesellschaft gut zu Gesicht stehen und sie fördern, und jenen, die versuchen, die gesellschaftliche Konvention Schritt für Schritt auf subtile Weise auf die merkantile Seite zu ziehen. Die alten Begriffe ›Aufrichtigkeit‹ und ›Redlichkeit‹ gehen dabei verloren. Ihr Inhalt wird im merkantilen Denken primär durch ›Nützlichkeit‹ ersetzt.

Aufrichtigkeit ist eine Haltung, eine persönliche Einstellung, die man lebt und die ein Individuum zwar als sinnvoll, aber nicht unbedingt als nützlich versteht. Aufrichtigkeit ist eine Grundlage für Vertrauen und Respekt. Aufrichtigkeit ist auf die Person gerichtet; Redlichkeit ist eine Eigenschaft, die von der Aufrichtigkeit ausgeht und im Dialog zur Anwendung kommt. Redlichkeit ist eine Folge von Aufrichtigkeit in der Kommunikation mit anderen. Aufrichtigkeit kann schonungslos sein, Redlichkeit erlaubt Aufrichtigkeit auf einer niedrigeren Stufe: Man darf in der Kommunikation auch etwas weglassen und bleibt trotzdem redlich. Aufrichtigkeit und Redlichkeit sind Grundlagen für Vertrauen, Respekt, Sicherheit, Persönlichkeit und Entwicklung einer Gemeinschaft. Sie stellen also Grundlagen für den Aufbau und insbesondere auch für den Erhalt einer menschlichen Gesellschaft dar. Die Eigenschaft der Aufrichtigkeit ist dabei unauflöslich mit dem ganzen Menschen verbunden. Gleiches gilt für die Redlichkeit. Gefragt ist der ›freie Mann von gutem Ruf‹,7 eine mindestens 300 Jahre alte Formulierung, um gesellschaftlich der Idee eines aufrichtigen Menschen Ausdruck zu verleihen.

Die Begriffe ›Aufrichtigkeit‹ und ›Redlichkeit‹ sind aber auf dem besten Weg, durch den Begriff der ›Nützlichkeit‹ ersetzt zu werden. Der Primat der Nützlichkeit im Persönlichen ist tendenziell eine egoistische Haltung. In der Kommunikation haben Nützlichkeitsüberlegungen das Ziel, die eigenen Vorteile gegen die Interessen des Gegenübers durchzusetzen. Vertrauen als wichtige gesellschaftliche Eigenschaft wird dabei nicht gefördert, eher der Wettbewerb als Sorge um den eigenen Vorteil. Wenn eine Aussage aufrichtig ist, dann ist sie nach besten Wissen richtig. Eine Aussage unter dem Primat der Nützlichkeit kann auch eine glatte Lüge sein. Es kommt ja nur auf den Nutzen an. Aufrichtigkeit ist eben eine Haltung mit sehr geringem Deutungsspielraum. Nützlichkeit hat Konnotationen von ›aufrichtig‹ bis zu ›kurz vor der offensichtliche Lüge‹. Wenn letztere erkannt wird, verliert sie ihren Nutzen. Im Wissen um das Nützlichkeitsdenken wird Misstrauen geschürt, Sicherheit in Frage gestellt und Respekt verweigert. Das Nützlichkeitsdenken hat u.E. keine positiven gesellschaftlichen Konnotationen.

Es gab eine Zeit, die vor etwa fünfzig Jahren endete, als man bemerkte, dass die Redlichkeit in Gefahr stand, als Wert verloren zu gehen. Man hat damals versucht, die Nützlichkeit mit der Redlichkeit zu verbinden und hat die Figur des ›ehrbaren Kaufmanns‹ geschaffen. Sie verband den Gedanken der Nützlichkeit mit dem Primat der Redlichkeit. Heute werden Kaufleute nicht mehr als ›ehrbar‹ wahrgenommen, und man verbindet mit ihnen auch keine Vorstellung von Redlichkeit mehr. Die Nützlichkeitsbetrachtung als schlichter Ausdruck des einseitig monetären Interesses hat dieses Feld aus merkantiler Sicht erobert.«

Der Computer piepst, und Immanuel meldet sich:

»Lieber Max! Wir lesen diese Zeilen mit großer Genugtuung. Es entspricht in vielen Aspekten unserer Wahrnehmung der jüngeren Geschichte, und wir können Euch versichern: Diese Frage hat auch uns noch jahrzehntelang in wechselnder Intensität beschäftigt. Je mehr sinnlosen Überfluss unser Wirtschaftssystem produziert hat, desto schwieriger wurden die Märkte für die Unternehmen und desto fragwürdiger die Methoden des Verkaufens.

Wir sind sogar so weit gegangen, dass wir den Sachverhalt des Betruges neu, d.h. enger, definiert haben. So haben wir Tatbestände, die man früher einfach hinnahm oder sogar noch mit dem Etikett der Nützlichkeit verbrämte (beispielsweise Mogelpackungen, nicht haltbare oder völlig übertriebene Werbung), unter relativ hohe Strafe gestellt. All diese halbseidenen Verhaltensweisen des Nützlichen wurden bewusst vom Gesetzgeber kriminalisiert. Sie kommen so richtig zum Tragen, wenn die Märkte ausgereizt sind und Geschäfte auf sogenannte normale Weise nicht mehr funktionieren. Die Anbieter neigen dazu, immer stärker manipulative (nützliche) Aussagen und Lügen einsetzen, die – geschickt verwendet – den Kunden unter einen inakzeptablen psychischen Druck setzen. Hier ist die persönliche Freiheit wirklich in Gefahr, und nicht bei der verfehlten Forderung nach freier Wahl von überflüssigen Gütern.

Wir kamen auf diese Gesetzesverschärfung, weil wir den Eindruck gewonnen hatten, dass mit der Grauzone zwischen Mogeln und Betrug ein Zustand geschaffen wurde, der auch in das gesellschaftliche Leben ausstrahlte. Wenn wir Kindernvermitteln wollen, was wir allgemein mit Redlichkeit und Aufrichtigkeit verbinden, müssen wir Vorbild sein und diese Werte auch vorleben. Das gilt primär für die Privatsphäre. Die Merkwürdigkeit beginnt dann, wenn die Kinder in der Öffentlichkeit auf den Markt treffen und feststellen müssen, dass Aufrichtigkeit und Redlichkeit dort eher als eine Form von nützlicher Dummheit gehandelt werden. Diesen Widerspruch mussten wir lösen, sollte nicht eine ganze nachgewachsene Generation unser gesellschaftliches Wertekonzept für aufgeblasene Sonntagsreden halten.8

Auch Dein Hinweis auf die Politik und ihre Scheinargumentationsketten über Zusammenhänge, die keine sind,9 beschreibt leider eine Haltung, mit der wir heute noch kämpfen. Das Wirtschaftssystem, von dem und in dem wir leben und arbeiten, lässt sich ja nicht kurzfristig durch ein grundsätzlich anderes ersetzen. Und da liegt die Schwierigkeit: Unsere Altvorderen waren unaufmerksam oder hatten sich korrumpieren lassen und dem Wirtschaftssystem in unserer Gesellschaft stillschweigend eine Macht zugestanden, die dieses System ›gnadenlos‹ für seine höchst privaten10 Zwecke gegen die berechtigten Forderungen und Erwartungen einer Mehrheit von Bürgern ausnutzt.11 Die Aufgabe bestand für uns in der Kunst, die Macht der Wirtschaftseliten schrittweise zu beschneiden und auf das zurückzuführen, was für eine Gesellschaft langfristig von allgemeinem Nutzen ist. Das beginnt bei der Zieldefinition, also bei der Frage: Wieviel ›Menschsein‹ lässt dieses System zu, oder sollen wir den Menschen einfach zugunsten des Wirtschafts-Systems opfern? Dann dürfen wir uns nur noch als Verbraucher, Kunde, Konsument oder Arbeitnehmer verstehen. Ein selbstbestimmtes Leben ist das nicht mehr, weil uns dann alle Werte jenseits der Ökonomisierung als schlecht, schwach oder einfach ›des Teufels‹ verkauft werden. Verbraucher, Kunden, Konsumenten und Arbeitnehmer kennen aber in einer solchen Welt keine Aktivitäten außerhalb eines forcierten Konsumwettbewerbs jeder gegen jeden. Kultur, Muße, Vertrauen, Reflexion und Pflege eines menschlichen Miteinanders sind dann nicht mehr ihre Sache.«

Wirtschaftsziele in der Politik

»Immanuel, ich habe den Eindruck, wir müssen uns ausführlicher über Ziele austauschen. Welche Ziele verfolgt die Politik als ›Kondensator‹ des gesellschaftlichen Aufbaus? Was soll eigentlich das oberste Ziel der Politik sein?