... ist dicker als Wasser - Dolores Ida - E-Book

... ist dicker als Wasser E-Book

Dolores Ida

4,8

Beschreibung

Die Freundin eines jungen, bei den Frauen sehr beliebten Arztes wird von einem Auto überfahren. Die Ermittlungen übernimmt die Kommissarin wider Willen, Nelli Franke; dabei stößt sie auf einen ähnlich mysteriösen Fall, der einige Jahre zurückliegt.

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Seitenzahl: 235

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Der Morgen des letzten Tages im Leben von Sabine Brinkmann unterschied sich in nichts von denen anderer Tage. In der allerletzten Minute war sie aufgestanden, ins Badezimmer getaumelt und hatte so heiß wie möglich geduscht. Erst, als ihre Haut zu brennen anfing und sich rötete wie ein Hummer, frottierte sie sich trocken und cremte sich von Kopf bis Fuß mit Hautmilch ein. Dann sprayte sie großzügig das neue Parfüm, das Markus ihr neulich mitgebracht hatte, auf den Hals und zwischen die Brüste und sog genießerisch den Maiglöckchenduft ein. Eigentlich bevorzugte sie sportliche, moderne Düfte und war überrascht, als sie das Papier aufriss und den nostalgischen Flacon sah. "Das ist mal etwas anderes und ich mag diesen Duft," hatte Markus gesagt.

Und er sollte Recht behalten, sie hatte sich in das Parfüm verliebt. In Kürze würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen, sie würde im Krankenhaus kündigen, in die Praxis ihres Vaters einsteigen, eine große, sonnige Wohnung suchen und, das Allerwichtigste, mit Markus die beste Ehe führen. Sie kannte keine zwei Menschen, die besser zusammenpassten. Sie hatten die gleiche praktische Veranlagung, den gleichen distanzierten Blick für den gemeinsamen Beruf, eine gesunde Portion Ehrgeiz, aber nicht so viel, dass sie nicht noch Zeit für ihr Hobby, das Tennisspiel, das sie übrigens mit den meisten Kollegen im Krankenhaus teilten, aufgebracht hätten. Obwohl sich Sabine nie eingehendere Gedanken darüber gemacht hatte, war sie der Ansicht, dass Markus´ Familie sie gut leiden konnte. Er war der Jüngste von drei Geschwistern und sowohl seine Eltern wie auch der Bruder und die Schwester verwöhnten ihn und hatten nur sein Wohlbefinden im Sinn. Vielleicht taten sie alle eine Spur zuviel für ihn. In der Ehe würde sie ihm dieses „Kronprinzentum“ schon austreiben. Er müsste auch Aufgaben zu Hause übernehmen, schließlich wollte sie auch ihren Beruf ausüben, selbst wenn Kinder kamen und das wollten sie beide, das wusste sie. Aber das hatte noch Zeit. Jedenfalls nahm sie sich vor, keine nervenzermürbenden Streitereien zu haben wie so viele andere Paare. Sie wollten eine harmonische, kameradschaftliche Ehe führen, das hatten sich beide fest vorgenommen.

Manchmal, wenn sie allein im Bett lag und nicht gleich einschlafen konnte, nachdem Markus gegangen war, beschlich sie ein leiser Zweifel, eher ein Unbehagen, welches sie sich nicht zu erklären wusste. Sie hatten guten Sex miteinander; er ging zärtlich und sehr einfühlsam vor, wartete, bis sie soweit war und schritt dann selbst zum Höhepunkt. Alles durchaus sehr gut gemacht und ausgeführt. Es war angenehm mit ihm im Bett. Warum wurde sie dann das Gefühl nicht los, dass er daneben stand und sie beide beobachtete, dass er sich niemals ganz gehen und sich einmal völlig hinreißen ließ? Das machte sie befangen und beeinträchtigte ihren Genuss erheblich. Vielleicht sollte sie das einmal ganz offen ansprechen. Jetzt aber lag erst einmal ein langer, harter Arbeitstag auf der Hals-Nasen-Ohren-Station vor ihr. Heute Abend war sie mit Markus bei seiner Familie zum Essen eingeladen; sie wollten den 65. Geburtstag seines Vaters feiern und Näheres über ihre bevorstehende Hochzeit besprechen.

In ihre Duftwolke eingehüllt schwebte sie zu ihrem Kleiderschrank und stöberte kritisch in ihren Sachen herum. Nach dem Dienst würde sie keine Zeit mehr zum Umziehen haben, also musste sie jetzt schon die Sachen für heute Abend anziehen. Nach einigem Hin und Her entschied sie sich für den hellgrauen Hosenanzug und die rote, bequem sitzende Seidenbluse. Den Blazer würde sie in ihr Spind auf der Station hängen, bevor sie sich den weiten Arztkittel über die anderen Sachen ziehen würde. In der Mittagspause hoffte sie, Markus in der Kantine zu treffen, sicher war das jedoch nicht. Er arbeitete auf der Internistischen Station und hatte mitunter so viel zu tun, dass der Imbiss mittags ausfallen musste.

Sabine war jetzt so spät dran, dass nur noch Zeit für einen lauwarmen Nescafe blieb, den sie mit angewidertem Gesichtsausdruck hinunterwürgte. Auf der Station würde sie richtigen Kaffee bekommen, die Schwestern hatten immer eine große Thermoskanne bereit stehen. Alle dort tranken unglaublich viel Kaffee und das rund um die Uhr.

Sie griff sich ihre Umhängetasche, warf die Wohnungstür, ohne abzuschließen hinter sich zu und stürzte die Treppe hinunter. Zum Glück konnte sie laufen zum Krankenhaus. Es lag nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt, so beanspruchte sie keinen Parkplatz in dem engen Parkhaus der Klinik und konnte ihren etwas klapprigen Golf vor ihrem Haus stehen lassen. Sie wohnte in einer ruhigen Nebenstraße und bog in eine noch ruhigere kleine Straße ein. Es gab hier keine Geschäfte und kein Mensch war zu sehen; es fuhr auch kein Auto auf der noch mit Kopfsteinen gepflasterten Fahrbahn. Mit routiniertem Blick und ohne nach links und rechts zu sehen, hatte Sabine das erfasst und war im Begriff auf die andere Seite zu eilen, als ein heller Wagen plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zuraste wie eine Rakete auf ein genau eingestelltes Ziel. Völlig überrascht wandte sie sich dem Wagen zu, sah in zwei bekannte Augen, verharrte den Bruchteil einer Sekunde bewegungslos auf der Stelle, drehte sich rückwärts, um sofort wegzurennen, auszuweichen der tödlichen Gefahr, aber das Auto machte einen Schlenker auf sie zu, erwischte sie von hinten und riss sie auf den Boden, fuhr mit den Vorderdann mit den Hinterrädern über ihren Körper hinweg, raste weiter und verschwand.

Sie war nicht sofort bewusstlos, sie war auf den Rücken gerollt und schaute in den Himmel über ihr, der mit Schäfchenwolken besprenkelt war, die immer verschwommener wurden und kurz darauf in einer grauen Masse zusammenflossen, bis sie nichts mehr erkennen konnte. Sie wartete auf das Einsetzen des Schmerzes, der kommen musste, aber sie fühlte überhaupt nichts, nur die Unfähigkeit, Luft zu holen, weil sich ihr Mund mit einer heißen Flüssigkeit gefüllt hatte und ihr Brustkorb von einer ungeheuren Kraft zusammengepresst wurde. Sie sah nicht ihr Leben an sich vorbeiziehen und ihre letzten Gedanken waren auch nicht erhaben und bedeutungsvoll. Unmittelbar, bevor sie starb und ihr Gehirn sich mit gnädiger Schwärze füllte, dachte sie daran, wie schwierig es sein würde, die Blutund Ölflecken aus ihrer Bluse zu entfernen.

*

Markus Scholl war gerade bei der Visite, als ihn die Nachricht erreichte. Die Stationsschwester mit Stift und Block in der Hand, die Diätassistentin mit elektronischem Organizer versehen, eine Krankenpflegeschülerin im ersten Jahr und der Famulus, der ständig gähnte, sie alle zogen den sperrigen Kurvenwagen über den spiegelblank geputzten Boden. Sieben Zimmer hatten sie schon besucht und steuerten jetzt das letzte an; die kleine Schülerin öffnete beflissen die Tür. Markus sehnte sich nach einem Kaffee und ärgerte sich über den Famulus, der im Stehen fast einzuschlafen schien. Warum konnte sich der Kerl nicht zusammennehmen? Er hatte letzte Nacht auch nur fünf Stunden geschlafen, aber auf Station musste man fit sein. Er war überaus beliebt bei den Patienten, besonders bei den weiblichen und noch mehr bei den Schwestern, die den gutaussehenden hochgewachsenen Mann anhimmelten und sich darum rissen, ihm jede Gefälligkeit zu erweisen. Früher hatte es einige Liebeleien und Bettgeschichten mit einigen von ihnen gegeben. An Bewunderung gewöhnt hatte er mitgetanzt im Reigen ohne tiefer angerührt zu werden; abgesehen von ein paar Kratzern an der Oberfläche war er unverletzt geblieben. Sabine war anders als die willigen Frauen, die von ihm angezogen wurden wie Insekten von dieser blauen Lampe, die man im Sommer auf dem Balkon anbringen konnte und die immer surrte, wenn sich ein größerer Quälgeist als eine Mücke tödlich an ihr verbrannte. Sie hatte sich selbstbewusst und zielstrebig um seine Zuneigung bemüht, nachdem sie sich in ihn verliebt hatte und eine Chance für eine gemeinsame Zukunft sah.

Und er fühlte sich wohl in der Beziehung, sein Leben war in geordnete Bahnen gelenkt worden, im Grunde mochte er die Flatterhaftigkeit der bedeutungslosen Liebeleien nicht. Von Hause aus an ein geordnetes Familienleben gewöhnt, strebte er dasselbe auch für sich an, allein eine gewisse Trägheit des Charakters hatte ihn gehindert, aktiv etwas für die Pflege und Vertiefung einer Freundschaft zu tun. Diese leichte Schwäche kam Sabines dominierendem Wesen entgegen, vielleicht hatte sie sich dieser Eigenschaft, dieses geringfügigen Persönlichkeitsmangels wegen zu ihm hingezogen gefühlt.

Sie war die große Organisatorin, sie trieb die Dinge voran, die kleinen, alltäglichen und die großen bevorstehenden, die ihrer beider Leben entscheidend verändern würden. Und er war erleichtert, einen Menschen in seinem schwankenden Dasein zu wissen, der ihn führte und ihm das seiner Position angemessene Leben vorlebte, das den allgemeingültigen Regeln entsprach. Zuweilen vergaß er das und lief Gefahr, sich in verworrene und angstmachende Gedanken zu verlieren.

Erleichtert hatte er festgestellt, dass es leicht war, Sabine zu lieben, das Zusammensein mit ihr war angenehm. Mit einer gewissen arroganten Genugtuung hatten beide ihre gepflegte Harmonie zur Schau gestellt und demonstrativ ihr Zusammengehörigkeitsgefühl als Schild gegen ihre Umwelt verwandt. Bei den weiblichen Mitgliedern des Personals gab es tiefe Seufzer und manch heimliche Träne. Bei einigen männlichen, eher dem gleichen Geschlecht zugeneigten, resignierte lange Blicke.

Das Krankenzimmer war mit drei Betten belegt und Markus stand vor dem mittleren in das Krankenblatt vertieft. Er seufzte; die Patientin war 87 Jahre alt, litt an massiver Linksherzinsuffizienz und schwerer Diabetes, sie würde nicht mehr in ihr Seniorenheim, in dem sie die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte, zurückkehren können. Sie war in verwirrtem Zustand nachts auf der Straße aufgegriffen worden und bedurfte der ständigen Pflege und Versorgung. Ihm tat es Leid um die humorvolle alte Frau, die in seltenen Augenblicken der Klarheit um ihren Zustand wusste, aber meistens in seliger Vergangenheit lebte, in der sie wieder das fröhliche, 16-jährige Mädchen war. Ihr Gesicht war derart von Runen und Linien durchzogen, als hätte ein gelangweilter Schüler im Geschichtsunterricht mit einem Bleistift ein zerknittertes Blatt Papier vollgekritzelt. Ihre braunen Augen aber blitzten Markus so lebhaft und blank entgegen wie ein Kind, dass neugierig an jeder Straßenecke ein Geheimnis vermutet.

"Tag, Frau Bredow, na, wie geht`s denn heute?"

Sie summte leise vor sich hin, ihre brüchige Stimme hell wie von einem kleinen Mädchen: "Ich habe keine Zeit, ich habe jetzt Klavierstunde, wenn ich zu spät komme, schimpft Mama mit mir!"

Mama sprach sie mit Betonung auf dem zweiten a.

Die Stationsschwester drängte sich an seine Seite und tippte auf eine Stelle im Krankenblatt: "Gestern Nachmittag hat sie einen Schaukeleinlauf bekommen, nachdem sie den vierten Tag nicht abgeführt hat. Abends ist sie beim Aufstehen kollabiert, hat sich aber nichts getan."

Markus befühlte die Haut der alten Frau zwischen Daumen und Zeigefinger.

"Sie trinkt nicht genug, ist völlig dehydriert, infundieren Sie NaCl."

Nicht zum ersten Mal ärgerte er sich über das Pflegepersonal. Das hätten sie schon längst tun können, solche Dinge konnten sie allein entscheiden, die Patientin hatte schließlich einen zentralen Venenzugang. Er überlegte, ob er eine kurze Stationsbesprechung nach der Visite machen sollte, als die Tür aufgerissen wurde und sein Kollege Beck hereinstürzte. Sein Gesicht war verzogen und hatte einen ganz merkwürdigen Ausdruck.

"Markus", brachte er heiser hervor, räusperte sich und begann noch einmal: "Markus, komm bitte mal!"

Überrascht musterte Markus ihn, Beck war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Er arbeitete in der Unfallambulanz und war bekannt für seine überlegene und kaltblütige Art, in der er sofort die richtigen Entscheidungen und Anweisungen traf, um den Opfern die nötige Hilfe zukommen zu lassen. Jetzt zeigte sein Gesicht eine Gefühlsregung, die Markus nicht gleich einordnen konnte; fast glaubte er Ängstlichkeit darin zu erkennen.

"Komm mit nach draußen", drängte ihn Beck, nahm ihn kräftig am Ellbogen und schob ihn zur Tür.

"Du, es ist...ich muss dir etwas sagen, es ist etwas mit Sabine. Also", er holte tief Luft: "Sie hatte einen Unfall, einen schweren, sie ist tot, der diensthabende Kollege hat sie noch am Unfallort und während der Fahrt hierher reanimiert, erfolglos,“ sagte er leise.

Markus starrte ihn an." Sie fährt doch gar nicht mit dem Auto, sie läuft zur Arbeit, ich verstehe nicht"

"Ein Wagen hat sie überfahren, Fahrerflucht, die Polizei ist unten".

"Das glaube ich nicht. Ich will sie sofort sehen!"

Markus steuerte entschlossen den Fahrstuhl an. Als er nicht gleich kam, rannte er zur Treppe, Beck hinter ihm her und das war gut so, er nahm mehrere Stufen auf einmal und wäre gestürzt, wenn Beck ihn nicht gehalten hätte.

Ihr Gesicht war weiß und ausdruckslos, sie war bis zum Hals mit einem Laken zugedeckt. Die Augen wären offen gewesen, wenn sie nicht jemand zugedrückt hätte. Die Lippen waren verkrustet von Blut. Sie war es und sie war es doch nicht. Eine Fremdheit und Unnahbarkeit ging von ihr aus, die ihn zurückweichen ließ. Er zögerte, trat wieder näher, wollte ihr das Laken wegziehen und tat es nicht. Ein Schwindel hatte ihn erfasst und er fühlte bedrohlich den schwarz-weiß gefliesten Boden näher kommen, da schoben sie ihm schnell einen Stuhl unter. Beck hielt ihm ein Glas Wasser an den Mund und nötigte ihn ein paar Schlucke zu trinken. Er verschluckte sich und musste husten, tränenblind beugte er sich vor, um die plötzliche Übelkeit zu bekämpfen, da fiel sein Blick auf einen Hocker. Ihre große, braune Umhängetasche lag dort, in der sie alles mögliche untergebracht hatte. Manchmal, wenn sie ihn gefragt hatte, ob er ihr etwas daraus holen könnte, hatte es ihm Spaß gemacht, darin zu kramen und die unterschiedlichsten Dinge herauszuholen, vom Schminktäschchen, Zahnbürstenetui bis zum Taschenbuch war sie vollgestopft. Jetzt lag etwas rot glänzendes halb über der Tasche und er fragte sich, was es wohl sei, bis er ihre Seidenbluse identifizierte. Er schluchzte trocken auf.

Ein Polizist in Uniform trat zu ihm und bat ihn um einige Angaben. Benommen und automatisch gab er die Antworten.

*

Sie war nicht darauf vorbereitet. Mit ihrem aufrechten, stolzen Gang und ohne überhaupt auf ihre Umgebung zu achten, schritt sie rasch aus, den Kopf hoch erhoben. Sie wirkte elegant wie immer, von einer kühlen, pfefferminzartigen Frische, die auf ihre unmittelbare Umgebung diesen Zauber ausübte, um den sie so viele beneideten. Lediglich die Anderen, die selbst vom Schicksal Begünstigten, die Sonntagskinder dieser Erde, mochten sie leiden, ja, befreundeten sich mit ihr. Es war nicht nur ihr Äußeres, ihre hübsche Fratze, der vollendet geformte Körper, was ich an ihr hasste. Noch stärker hasste ich ihre lässige Art, wie sie sich über alles so leicht hinwegsetzte, die Fragen anderer nicht beantwortete, nicht, weil sie jemanden kränken wollte, nein, das lag ihr fern; sie hörte sie nicht, sie nahm andere Menschen nur wahr als kreisende Planeten in ihrer Umlaufbahn, die verblassten, weil sie als strahlende Sonne der Mittelpunkt war. Oh, sie konnte charmant und liebenswürdig sein, wenn sie etwas wollte. Beschämt konnte man sich geschmeichelter Gefühle nicht erwehren, wenn man ihr einen Gefallen erweisen durfte, nur um dann wieder wie Luft behandelt zu werden. Ich kann gar nicht sagen, wie ich sie dafür hasste! Mein Hass steigerte sich zu einem derartigen Ausmaß, dass ich ihn kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Sie in ihrem Glück zu sehen mit dem selbstgefälligen Lächeln in ihrem Gesicht hat mich fast umgebracht.

Ich konnte nicht mehr schlafen, ich konnte kaum noch essen. Ich überlegte hin und her, wie ich es tun sollte. Ein Unfall schien mir eine gute Lösung. Tagelang hatte ich sie beobachtet, ihre Gewohnheiten ausgekundschaftet. Dann war ich soweit, ich war bereit, hatte den Motor schon angelassen, da trat ein Mann aus dem Haus gegenüber und ich musste es verschieben. Ich stülpte schnell mit einer Hand Mütze und Sonnenbrille wieder auf. Ja, dieses Risiko bin ich eingegangen, dass mich andere sehen; ich wollte von ihr erkannt werden, sie sollte mir in ihrer letzten Sekunde in die Augen sehen, sie sollte den Triumph und die Erlösung in meinem Blick sehen. Und genauso ist es heute abgelaufen. Völlig überrascht sah sie mich an, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie mich richtig an, dann das Entsetzen der Erkenntnis, als ich hoch beschleunigte und über sie hinwegraste. Natürlich, sicher konnte ich nicht sein, ob sie tot war, wenn sie es dennoch überlebte, würde ich einen anderen Weg finden. Sie ist aber tot, vorhin habe ich es erfahren. Welche Wohltat, heute Nacht werde ich endlich wieder schlafen können, tief und fest. Ich bin befreit.

Nelli Franke stöhnte auf, als der nervende Ton des Weckers sie aus tiefem Schlaf holte. Unter der Bettdecke kroch ihre rechte Hand hervor und tastete nach dem Rädchen zum Abstellen, dabei stieß sie ihr Glas Wasser vom Nachttisch.

"Ach, Scheiße!" Wie ein Maulwurf wühlte sie sich aus dem tröstlichen Nest, bestehend aus Decke, Laken und Kissen, heraus. Benommen saß sie auf der Bettkante und angelte mit dem linken Fuß nach ihren uralten Pantoffeln, sofort zog sie erschrocken die Füße zurück vor der kalten Nässe.

Seufzend hob sie das Glas auf, welches früher Senf enthielt und heil geblieben war, und tappte mit bloßen Füßen in ihre winzige Küche. Sie setzte die Kaffeemaschine in Betrieb und schob zwei dünne Weißbrotscheiben in den Toaster. Mit einem Putzlappen beseitigte sie das verschüttete Wasser und legte die durchweichten Pantoffeln auf den Heizkörper. Glasigen Blickes starrte sie auf ihr Bett und dachte daran, wie schön es wäre, wieder in die tröstliche Höhle zurückkriechen zu können. Welch ein Kampf jeden Morgen, besonders an einem Montag nach einem freien Wochenende. Niemand konnte sich eine Vorstellung davon machen, welchen Widerstand sie täglich überwinden musste, welche inneren Abwehrmechanismen sie in Gang zu setzen hatte, um den Arbeitstag beginnen zu können. Den ganzen Morgen über während des Duschens, des Anziehens und des einsamen Frühstücks an dem heruntergeklappten Tischbrett in ihrer Miniküche malte sie sich aus, nicht arbeiten gehen zu müssen, nie mehr zur Arbeit zu müssen, sondern den Tag mit Hausarbeit, Einkaufen, Kochen und, das wäre am schönsten, mit der Betreuung ihrer eigenen Kinder zu verbringen. So hatte sie sich ihr Leben schon als Jugendliche in der Schule vorgestellt; während die anderen Mädchen stöhnten und sich voller Ekel abwandten, wenn ihre Mütter von ihnen verlangten, endlich einmal ihr Zimmer aufzuräumen, weil einem alles entgegenfiel beim Öffnen der Tür, hielt Nelli ihr kleines Zimmer in mustergültiger Ordnung. Jeden Tag räumte sie auf, so dass gar nicht erst Unordnung entstehen konnte, zwei Mal in der Woche putzte sie und freitags bezog sie ihr Bett frisch. Schon als zehnjähriges Kind wusch sie abends ihre Strumpfhose allein aus und hängte sie zum Trocknen über die Badewanne. Zur Verwunderung ihrer Freundinnen tat sie alles, was mit Hausarbeit zusammenhing, ausgesprochen gern, auch Fensterputzen, Abwaschen und so abscheuliche Dinge wie etwa Mülleimer auswaschen. Es machte ihr Freude, die Dinge und Gegenstände um sich herum sauber und blank zu machen. Bei den anderen stürzte sie sich freudig in das Chaos ihrer Zimmer und hatte im Handumdrehen einen gemütlichen Raum geschaffen. Kochen und Backen betrachtete sie als Hobby und sie war äußerst beliebt bei ihren Freundinnen, wenn sie ihnen selbstgebackene Kekse, komplizierte Souffles oder leckere Süßspeisen vorsetzte. Sie war von rundlicher Gestalt und musste fast ständig gegen drohendes Übergewicht kämpfen, wenn eine gewisse Grenze erreicht war und es fiel ihr sehr schwer, sich beim Essen einzuschränken, denn sie verabscheute Sport und mochte nicht einmal laufen, alles erledigte sie mit dem Auto. Es dauerte dann auch immer ziemlich lange, bis sie ihr Wunschgewicht erreicht hatte, aber lange konnte sie es nicht halten, denn sie aß einfach zu gern, was sie selbst gekocht hatte. Mit ihren großen, braunen, ganz leicht hervorstehenden Augen im runden Gesicht und, je nach Ansicht, dunkelblondem oder hellbraunem Haar, das schulterlang und meistens zu einem Pferdeschwanz hinten zusammengebunden war, wirkte sie zwar nicht umwerfend attraktiv, dennoch war sie in ihrer gesunden Frische und liebenswürdigen Ausstrahlung so anziehend, dass fast alle, die mit ihr zu tun hatten, ihr sofort Sympathie entgegenbrachten. In ihrem Beruf war das positiv und es erleichterte ihre Arbeit ungemein als eine ausgeglichene und in sich ruhende Person zu gelten. Das Missverhältnis zu ihrem Wesen, das sich etwas ganz anderes wünschte als ihr gelebtes Leben, konnte nur erkennen, wer sich die Mühe machte, sie näher kennen zu lernen und bisher waren es nicht allzu viele, die es versucht hatten.

Bei aller oberflächlichen Betrachtung von außen, hatte sie durchaus keinen hausbackenen Verstand, sondern dachte klar und logisch, organisierte und plante effektiv, was ihr oft zum Vorteil gereichte, wenn sie in ihrer Arbeit unterschätzt wurde. Sie wusste das und setzte es bewusst ein und konnte sich so von dem, was allgemein Chuzpe genannt wird, nicht freisprechen. Auf der Grundlage dieser Eigenschaften zu beachtlichen beruflichen, eigentlich gar nicht angestrebten Erfolgen gelangt, genoss sie es dennoch, den heißen Wunsch nach einer eigenen Familie und dem ausschließlichen Leben als Ehefrau und Mutter einstweilen mit dem Status einer Kriminalhauptkommissarin zu kompensieren.

Manchmal staunte sie immer noch, in welchem Beruf sie da gelandet war. In dem altmodischen Traum befangen, so bald wie möglich den Mann fürs Leben zu finden, hatte sie sich keine rechten Vorstellungen gemacht, was sie nach dem Abitur anstellen sollte und war kurzentschlossen dem Beispiel ihrer besten Freundin gefolgt sich an der Polizeifachhochschule zu bewerben. Auch spielte die stille Hoffnung für sie mit, in diesem immer noch überwiegend von Männern besetzten Bereich den passenden Partner zu finden.

Es ergab sich aber, dass Lilli, ihre Freundin, die ehrgeizig eine berufliche Karriere anstrebte, nach eineinhalb Jahren der Ausbildung schwanger wurde und sich auf massiven Druck ihres Freundes für Ehe und Familie entschied mit dem fernen Ziel, dort weiterzumachen, wo sie einst aufgehört hatte. Als sie aber nach drei Jahren dann noch Zwillinge bekam und mit drei Kleinkindern völlig überlastet war, gab sie resigniert die Hoffnung auf.

Sie nahm heißen Anteil an Nellis Fortkommen, hatte brennendes Interesse an ihren Fällen und reagierte stets leicht verschnupft, wenn die korrekte Freundin sie darauf hinwies, sie dürfe keine Einzelheiten preisgeben. Von Nelli glühend um ihr Leben beneidet, projizierte sie ihre unerfüllten Wünsche und Träume derart auf sie, dass kaum ein Tag verging, ohne dass sie miteinander telefonierten. "Hör auf," stöhnte sie, wenn Lilli sich inmitten Kindergeschreis, dem Rattern der fast ständig laufenden Waschmaschine und dem Chaos der überall herumliegenden Spielsachen einige freie Minuten erkämpfte, um sie anzurufen und sie auszufragen versuchte.

"Du weißt, ich würde sofort mit dir tauschen," sagte sie und versetzte sich sehnsüchtig in die Lage der Freundin. Die Sache sah jedoch nicht mehr so gut aus, wenn sie an Lillis Mann dachte, den sie nicht besonders mochte. Er war Immobilienmakler, bemühte sich so wenig wie möglich zu Hause zu sein und zeigte in seiner raren Anwesenheit seine schlechtesten Seiten. Er schimpfte mit den Kindern, ließ sich von Lilli bedienen und es gab viel Streit zwischen den beiden. Nein, ihren Lebenspartner stellte sich Nelli anders vor. Es hatte durchaus schon einige Beziehungen gegeben, bei denen sie sich sicher war, aber womöglich hatte sie die Männer mit ihren, wie Lilli meinte, spießigen Lebensvorstellungen verschreckt und nun würde sie in einigen Tagen 36 werden und sie spürte eine leichte Panik.

Im Büro saß Rötter schon auf seinem Platz und hatte die Kaffeemaschine in Gang gesetzt. Er hatte das Fenster weit geöffnet und die Morgenluft trug Frühlingsgerüche herein. Ihr Zimmer lag nicht zur Straße, sondern ging auf einen großen, stillen Hof hinaus, und eine riesige, alte Kastanie stand direkt vor ihrem Fenster und trug auf ihren Zweigen weiße Blütenkronen. Nelli liebte den Baum und sie wäre gern allein im Raum geblieben, um verträumt in die schattenspendenden Äste mit dem frischen Grün und den in dieser Woche aufgegangenen Blüten zu schauen und ihren Gedanken nachzuhängen. Obwohl Kommissar Rötter ein eigenes, kleines Büro hätte haben können, hatte er darauf bestanden, seinen Schreibtisch in ihr Zimmer zu quetschen, um in ihrer Nähe zu sein. Er wolle von ihr lernen, an ihren Überlegungen teilhaben und ihr stets zur Seite springen können, hatte er ihr erklärt. Er war ein Schleimer und sie mochte ihn nicht, aber sie wusste nicht, wie sie ihn daran hindern sollte, seine klebrigen Schmeicheleien abzulassen und so war sie oft schroff zu ihm, was eigentlich nicht ihre Art war. Sie war sich darüber im Klaren, dass er hinter ihrem Rücken intrigierte und von krankhaftem Ehrgeiz zerfressen war. Von allen Mitarbeitern, die sie in der Abteilung für „Delikte am Menschen“ hatte, war er bei weitem der Unangenehmste. Mit anderen Untergebenen duzte sie sich ganz selbstverständlich, bei Rötter konnte sie sich nicht überwinden.

"Ich heiße Michael, darf ich Eleonore sagen?"

Vor seinen gravitätischen Worten war sie zurückgeschreckt wie vor einem Alien. Mit ihrem pathetischen Namen geschlagen, den sie auf Wunsch der Großmutter erhalten hatte, wurde sie von den Eltern zärtlich Nelli gerufen und sie hatte es so verinnerlicht, dass sie das pompöse Eleonore oft vergaß, aber natürlich musste sie auf Dokumenten ihren Taufnamen eintragen. In ihrer Kindheit war sie ein überwiegend artiges kleines Mädchen gewesen und nur bei den eher seltenen Gelegenheiten sie rügen zu müssen, wurde sie von den Eltern Eleonore gerufen.

"Um Himmels willen, nein!" entfuhr es ihr, "wir bleiben lieber bei Herrn Rötter und Frau Franke und", fügte sie begütigend hinzu, denn ihre offene Unfreundlichkeit tat ihr etwas Leid, "wenn Sie einmal eine sehr hohe Position erreicht haben werden, wäre es Ihnen doch sicher unangenehm, von Ihren Untergebenen geduzt zu werden."

Sie musste sich umdrehen, damit er ihr Grinsen nicht sah. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie sarkastisch war.

Nun, von diesem Schnösel würde sie sich nicht verdrängen, nicht von der Karriereleiter schubsen lassen, sollte sie denn dazu verurteilt sein, noch jahrelang weiter als Single leben zu müssen.

"Guten Morgen, gut geschlafen? Der Kaffee ist gleich fertig." Er schnellte hoch und holte ihren blauen Becher von dem kleinen Bord über der Kaffeemaschine. Natürlich wusste er, wie sie ihren Kaffee trank, mit etwas Milch und reichlich Zucker. Lächelnd stellte er die Tasse vor sie hin, versuchte ihren Blick einzufangen und sagte eindringlich: "Gut sehen Sie heute wieder aus, richtig gut!"

Nelli stöhnte innerlich. Er konnte es nicht lassen mit ihr zu flirten, um sie gnädig zu stimmen. Sie wusste genauso gut wie er, dass sie nicht sein Typ war, so wenig wie er der ihre. Sie schätzte ihn durchaus als intelligent mit guten kriminalistischen Fähigkeiten ein, deshalb wunderte sie sich immer, warum er nicht kapierte, dass er sich mit seinen plumpen Komplimenten bei ihr nicht beliebter machen konnte. Zuweilen spielte sie mit dem Gedanken zum Schein auf seine Avancen einzugehen, nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Dazu war er ihr aber zu unsympathisch. Vielleicht könnte sie ihn einmal auf einer Betriebsfeier, wenn sie genug getrunken hatte, hochnehmen. Das könnte amüsant werden. Sie hatte schon mitbekommen, dass er auch bei den Kollegen nicht beliebt war.

Vorsichtig schlürfte sie den Kaffee, den er fürsorglich umgerührt hatte.

"Gibt`s irgend was?"

"Heute früh tödlicher Verkehrsunfall mit Fahrerflucht", er blätterte in einigen Papieren auf seinem Schreibtisch, "nicht weit von hier, in der Gartenstraße".

"Hat bei uns doch nichts zu suchen", brummte sie.

"Vielleicht doch", sagte er. Aalglatt glitt er neben ihren Stuhl, ein Blatt in seinen manikürten Händen. Sie konnte sein After shave riechen.

"Die Streifenbeamten haben in der Nachbarschaft gefragt, ob einer etwas gesehen hat und eine alte Frau will tatsächlich beobachtet haben, wie ein Auto sehr schnell auf das Unfallopfer, eine junge Frau, planmäßig zufuhr, sie meint, sie ist absichtlich überfahren worden."

Nelli sah skeptisch aus. "Eine alte Frau, die aus lauter Langeweile ständig am Fenster hängt und neugierig alles registriert, was auf der Straße vorgeht, na, ich weiß nicht."

"Hab ich ja auch gedacht, aber der Beamte, der mit ihr gesprochen hat, meint, sie wäre eine pfiffige Person, die sehr gut beieinander ist. Er hat ihr geglaubt und war eben bei mir."

"Miss Marple, hm?", meinte Nelli. "Gibt es schon einen Bericht? Nee, ist noch zu früh, oder?"

Sie las die wenigen Stichpunkte auf dem Papier.

"Eine junge Ärztin, 29 Jahre alt, arbeitet im Marienkrankenhaus auf der ..was soll das heißen.. ach so, Hals-Nasen-Ohren-Station, ist noch am Unfallort verstorben. Haben wir schon was von der Spurensicherung?"

"Noch nicht, ist ja erst vor etwas über einer Stunde passiert." Er schob den Ärmel seines grauen Anzugjacketts hoch und schaute auf seine allzu elegante Uhr. "Um genau zu sein, um 8:04, sie war etwas spät dran."

"Spät wofür?"

"Na, der Dienst der Ärzte beginnt um 8 Uhr."

"Vergessen Sie die akademische Viertelstunde nicht, Rötter.

Also gut, wir fahren hin, sehen uns den Tatort an, sofern es einer ist und sprechen mit Miss Marple."

Sie schnappte sich schnell ihre verknautschte, von ihr heißgeliebte Lederjacke vom Stuhl, bevor Rötter ihr hineinhelfen konnte.

"Ich fahre, haben Sie die Adresse?"

Sie fuhr einen waghalsigen Stil und er wäre lieber selbst gefahren, traute sich aber nicht, etwas zu erwidern.