Italia! Die Italiener und ihre Leidenschaft für das Essen - Elena Kostioukovitch - E-Book

Italia! Die Italiener und ihre Leidenschaft für das Essen E-Book

Elena Kostioukovitch

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Beschreibung

Die Regionen, die Feste, die Spezialitäten – ganz Italien in einem Buch. Ein Fest für jeden Italienliebhaber! Die leidenschaftliche Beziehung der Italiener zu ihrer Küche ist legendär. Gespräche über das Aroma eines »ragù« und den passenden Rotwein haben den gleichen Stellenwert wie das Debattieren über Sport oder Politik. Dieses Phänomen hat die Historikerin Elena Kostioukovitch, die seit über 20 Jahren in Italien lebt, nicht mehr losgelassen. Sie nimmt uns mit auf eine Reise durch die Geschichte, Kultur und Traditionen der Küche Italiens. Kenntnisreich und unterhaltsam berichtet sie von den regionalen Spezialitäten und Eigenheiten, vom bergigen Friaul bis hin zu den Olivenhainen Siziliens. Sie erzählt von altüberlieferten Zubereitungsmethoden, von Slow Food und Volksfesten und macht so die einzigartige Vielfalt und den Reichtum der italienischen Kultur, die Leidenschaft und Lebensfreude Italiens auf unnachahmliche Weise erfahrbar. Mit zahlreichen s/w Fotos. »Eine wunderbare Sammlung prägender Gerichte, die die Vielfältigkeit der italienischen Küche widerspiegeln. Die Darstellung von Küche, Kultur und den Menschen der verschiedenen Regionen gleicht einem Gemälde.« Annie Proulx

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Elena Kostioukovitch

Italia! Die Italiener und ihre Leidenschaft für das Essen

Eine Reise von den Alpen bis Sizilien Mit einem Vorwort von Umberto Eco

Aus dem Italienischen von Rita Seuß, Maja Pflug, Friederike Hausmann und Burkhart Kroeber

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Vorwort von Umberto EcoEinleitung[Motto]Friaul-Julisch VenetienTypische GerichteTypische ProdukteDie SagraVenedig und das VenetoTypische GerichteTypische ProdukteOlivenölTrentino-SüdtirolTypische GerichteTypische ProduktePilgerLombardeiTypische GerichteTypische ProdukteSlow FoodAostatalTypische GerichteTypische ProdukteJudenPiemontTypische GerichteTypische ProdukteRisottoLigurienTypische GerichteTypische ProdukteDie alten Geschenke AmerikasEmilia-RomagnaTypische GerichteTypische ProdukteKalenderToskanaTypische GerichteTypische ProduktePastaUmbrienTypische GerichteTypische ProdukteArbeitsschritteMarkenTypische GerichteTypische ProdukteDie neuen Geschenke AmerikasLatium und RomTypische GerichteTypische ProdukteMediterrane ErnährungAbruzzen und MoliseTypische GerichteTypische ProdukteDemokratieKampanien und NeapelTypische GerichteTypische ProdukteGrundnahrungsmittelApulienTypische GerichteTypische ProdukteErosBasilikataTypische GerichteTypische ProdukteRestaurantsKalabrienTypische GerichteTypische ProduktePizzaSizilienTypische GerichteTypische ProdukteTotalitarismusSardinienTypische GerichteTypische ProdukteGlücksgefühlZubereitungsarten für Fleisch, Fisch, Eier und GemüseNudelsaucenWelche Nudelsorten passen zu welchem Sugo?BibliographieBildnachweisDanksagungRegister

Für Carla Tanzi

Vorwort von Umberto Eco

Warum sollte ich das Vorwort zu einem Buch über Kochkultur schreiben? So fragte ich mich, als die Autorin dieses Buches mich darum bat, und mir kam der Verdacht, dass ich nur deshalb sofort zugesagt hatte, weil Elena Kostioukovitch meine russische Übersetzerin ist und ich sie nicht nur wegen der Liebe und der Geduld bewundere, mit denen sie sich meiner Bücher angenommen hat, sondern auch wegen ihrer Intelligenz und umfassenden Bildung. Aber genügt das als Grund, fragte ich mich, denn ich bin schließlich kein Gourmet?

Verstehen wir uns recht, ein Gourmet ist nicht, wer sich freut und glücklich schätzt, wenn er einen exzellenten Canard à l’orange oder eine üppige Portion Beluga-Kaviar mit Blini vorgesetzt bekommt. So jemand ist nur ein normaler Mensch, dessen Geschmack noch nicht durch die heute üblichen Fastfood-Ketten verdorben ist. Nein, ein Gourmet, ein Feinschmecker, ein leidenschaftlicher Liebhaber guter Küche ist, wer es fertigbringt, Hunderte von Kilometern zu fahren, um ein bestimmtes Restaurant zu besuchen, in dem es den besten Canard à l’orange der Welt gibt. Und ich bin keiner von dieser Sorte, denn gewöhnlich, wenn ich die Wahl habe zwischen einer Pizza an der Ecke und einer stundenlangen Fahrt über Land oder auch bloß einer kurzen Taxifahrt in der Stadt, wähle ich die Pizza.

Aber stimmt das wirklich so? Ich muss zugeben, ich bin viele Kilometer durch die Langhe gefahren (in deren Nähe ich geboren bin und über die Elena im Piemont-Kapitel spricht), um einen französischen Freund (der tatsächlich ein großer Gourmet ist) mit den legendären Alba-Trüffeln bekannt zu machen, und weitere Kilometer bin ich gefahren, um am Festmahl der bagna caòda in Nizza Monferrato teilzunehmen, wo man sich mittags zu Tisch setzt und erst nachmittags um fünf wieder aufsteht und alles außer dem abschließenden Espresso mit Knoblauch gewürzt ist. Und einmal bin ich in die entlegenste Peripherie von Brüssel gefahren, um jenes belgische Bier zu kosten, das sie gueuse nennen und das man nur dort trinken kann, weil es den Transport nicht verträgt (nebenbei gesagt: es lohnt die Fahrt nicht, lieber ein gutes englisches Ale).

Also was nun? Bin ich an guter Küche interessiert oder nicht? Sehen wir uns noch einmal die drei Beispiele an, die ich genannt habe. Das eine Mal bin ich so weit gefahren, um herauszufinden, welche Art Bier die Belgier mögen, das andere Mal, um einem Ausländer die piemontesische Kultur nahezubringen, und das dritte Mal, um den Geschmack eines Rituals wie dem der bagna caòda wiederzufinden, der mich an magische Augenblicke meiner Kindheit erinnert … In all diesen Fällen ging ich auf die Suche nach gutem Essen nicht wegen des Gaumens, sondern wegen der Kultur, soll heißen, nicht (oder nicht nur) um einen guten Geschmack im Mund zu verspüren, sondern um eine Erkenntnis zu gewinnen oder mir eine Erinnerung wachzurufen oder eine Tradition, ja eine Zivilisation zu verstehen und verständlich zu machen.

Und ich muss ebenfalls zugeben, dass ich zwar, wenn ich allein bin, mich mit der Pizza an der Ecke begnüge und nicht auf kulinarische Entdeckungsreisen gehe, aber sobald ich in ein anderes Land komme, mache ich, noch bevor ich die Museen oder Kirchen besuche, zweierlei: Erst gehe ich durch die Straßen, versuche mich ziellos und ohne Eile treiben zu lassen, um die Leute, die Schaufenster, die Farben der Häuser zu betrachten und die Gerüche wahrzunehmen; und dann mache ich mich auf die Suche nach lokalen Gerichten, denn ohne die Erfahrung des Essens würde ich den Ort, an dem ich bin, und die Denkart seiner Bewohner nicht verstehen.

Und ich muss auch zugeben, in allen meinen Romanen – vielleicht etwas weniger in Das Foucaultsche Pendel, wo sich die Protagonisten (und die Leser) sozusagen zu Hause bewegen, zwischen Mailand und Paris, aber sicherlich in Baudolino, in Die Insel des vorigen Tages und in meinem bisher letzten, Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana – lasse ich meine Personen oft zu Tisch sitzen, so wie auch mindestens einmal die Mönche in Der Name der Rose, und beschreibe ausgiebig, was sie dort essen. Denn wenn man sich auf den Inseln der Südsee oder im byzantinischen Orient herumtreibt oder in einer seit Jahrhunderten oder Jahrzehnten verschwundenen Welt, muss man den Leser die Speisen kosten lassen, damit er verstehen lernt, wie die Personen denken.

Ich habe also sehr gute Gründe, ein Vorwort für Elenas Buch zu schreiben. Denn Elena, die sich hier auch als exzellente Kennerin der italienischen Küche mit allen ihren Nuancen und Geheimnissen erweist, führt uns an der Hand (und sagen wir ruhig auch am Gaumen und an der Nase) auf eine kulinarische Reise, um uns nicht nur die Speisen Italiens nahezubringen, sondern auch das Land Italien und all seine Teile, die sie ein Leben lang erkundet hat. Das Buch, das sie geschrieben hat, ist ein Buch über Küche, aber auch ein Buch über ein Land und eine Kultur, genauer: über viele Kulturen.

Es ist ja immer irgendwie heikel, von »italienischer Kultur« zu sprechen, ähnlich wie von »italienischer Landschaft«. Wenn man im Auto durch die USA fährt, kann es einem passieren, dass man tagelang endlose Horizonte sieht (und wenn man irgendwo anhält, bekommt man den gleichen Hamburger wie beim letzten Halt). Wenn man den Norden Europas bereist, kann man nicht selten vor ebenso weiten Horizonten lange Strecken auf Autobahnen fahren und nichts als prächtige Kornfelder sehen – und ich spreche hier nicht von der Erfahrung einer Reise durch die Steppen Zentralasiens, durch die Sahara oder die Wüste Gobi oder die australische Wüste, in deren Mitte sich der große Felsen von Ayers Rock erhebt. Diese Erfahrung eines Kontakts mit der Unendlichkeit der Natur hat die Idee des Erhabenen hervorgebracht, von Erhabenheit reden wir angesichts stürmischer Meere und Himmel, gigantischer Schluchten und Bergspitzen, schroffer Felswände, endloser Eisflächen und grenzenloser Weiten.

Gut, nach Italien kommt man nicht, um den Taumel angesichts gotischer Kathedralen, hoch aufragender Pyramiden oder tosender Niagarafälle zu genießen. Hat man einmal die Alpen überwunden (wo es sicher auch erhabene Anblicke gab, aber die hätte man auch in Frankreich, in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich haben können), macht man eine andere Erfahrung. Der Horizont erweitert sich nie zu titanischer Größe, da er stets begrenzt wird von einem Hügel zur Rechten, einer sanften Bergeshöhe zur Linken, und die Fahrt wird ständig unterbrochen durch kleine Ortschaften, mindestens alle fünf Kilometer. Und nach jedem Stück Straße (außer in einem bestimmten Abschnitt der Poebene) kommt eine Kurve, ein Richtungswechsel, und die Landschaft ändert sich, so dass man nicht nur von Region zu Region, sondern auch innerhalb einer Region immer andere Länder entdeckt, mit unendlichen Abstufungen vom Gebirge zum Meer, durch immer neue Hügelformationen. Es gibt wenige Analogien zwischen den piemontesischen Hügeln und denen der Toskana oder der Marken, manchmal genügt es, von Osten nach Westen oder umgekehrt durch den Apennin zu fahren, der den ganzen Stiefel wie eine Wirbelsäule durchzieht, um den Eindruck zu gewinnen, man komme in ein ganz anderes Land. Sogar die Meere sind verschieden, an der tyrrhenischen Küste bieten sie andere Panoramen, Ufer und Strände als an der adriatischen Küste, zu schweigen von den Meeren der Inseln.

Diese Vielfalt ist nicht nur kennzeichnend für die Landschaft, sondern auch für ihre Bewohner. Italien hat verschiedene Dialekte, die von Region zu Region so stark wechseln, dass ein Sizilianer, wenn er einen Piemontesen aus dem Nordwesten reden hört, so gut wie nichts versteht. Aber nur wenige Nichtitaliener können sich vorstellen, dass die Dialekte sogar von Stadt zu Stadt wechseln, innerhalb ein und derselben Region und manchmal, wenn auch selten, sogar von Dorf zu Dorf.

Das liegt daran, dass auf dem Stiefel die Nachkommen vieler verschiedener Stämme leben: die der Kelten oder Ligurer, die den Norden bewohnten, bevor die Römer kamen, die der Illyrer im Osten, der Etrusker und der diversen mittelitalischen Stämme, die der Griechen im Süden und dann die der vielen Ethnien, die sich im Laufe der Zeit über die autochthonen Bevölkerungen schoben, der Goten, der Langobarden, der Araber und der Normannen (um nicht von den Franzosen, Spaniern und Österreichern zu reden – aber erwähnt sei auch, dass an der nordwestlichen Grenze etwas gesprochen wird, was dem Französischen sehr ähnelt, und in den Bergen des Nordens eine deutsche Mundart und in einigen Dörfern des Südens eine albanische).

Dieselbe Vielfalt wie die der Landschaften, Sprachen und ethnischen Gruppen kennzeichnet auch und vor allem die Küche. Nicht die italienische Küche, die man im Ausland genießt und die, so gut sie auch sein mag, wie die chinesische Küche außerhalb Chinas ist, eine Art Koiné, eine Gesamtküche, die sich an verschiedenen Regionen inspiriert und zwangsläufig Konzessionen an den lokalen Geschmack und die Erwartungen des »mittleren« Kunden macht, der ein »mittleres« Bild von Italien sucht.

Wer der italienischen Küche in ihrer ganzen Vielfalt begegnen will, muss die enormen Unterschiede erkennen, die nicht nur in der Sprache, sondern auch in den Vorlieben, Mentalitäten, Launen, Humorvorstellungen, Haltungen gegenüber Schmerz und Tod, Gesprächigkeit oder Schweigsamkeit einen Sizilianer von einem Piemontesen trennen oder einen Venezianer von einem Sarden. Vielleicht gilt für Italien mehr als für andere Länder (auch wenn das Gesetz für alle gilt): Die Küche entdecken heißt die Seele der Bewohner entdecken. Man probiere einmal die piemontesische Bagna caòda, dann die lombardische Cassoela, dann die Tagliatelle alla bolognese, dann das Abbacchio alla romana und schließlich die Cassata alla siciliana, und man hat das Gefühl, von China nach Peru und von Peru nach Timbuktu versetzt worden zu sein.

Nutzen wir Italiener noch die Begegnung mit den vielen Küchen unseres eigenen Landes, um uns gegenseitig kennenzulernen? Ich weiß nicht. Ich weiß jedoch, wenn ein Ausländer (oder eine Ausländerin), bewegt von großer Liebe zu diesem Land, aber mit dem distanzierten Blick dessen, der von außen kommt, sich daranmacht, uns Italien durch seine Küche zu beschreiben, dann entdecken selbst wir Italiener ein Land, das wir (vielleicht) zu großen Teilen vergessen hatten.

Dafür müssen wir Elena Kostioukovitch dankbar sein.

Einleitung

Wer als Ausländer nach Italien zieht und eine Weile dort lebt, bemerkt bald, dass in diesem Land viel über Essen gesprochen wird. Viel mehr als anderswo in der Welt. Diese besondere Art, das Alltagsleben und vieles in der Kultur und den menschlichen Beziehungen zu sehen und zu beschreiben, ist so verbreitet, der Gebrauch von Metaphern des Essens ist in Italien so selbstverständlich, dass man als neu Hinzugekommener früher oder später im Freundeskreis fragt: Wie kommt es, dass ihr und eure Bekannten, eure Schriftsteller, die Journalisten und die Politiker, alle immer so gerne vom Essen redet? Was hat die Zichorie mit dem Klassenkampf zu tun? Warum hat das faschistische Regime während seiner zwanzigjährigen Herrschaft versucht, die Pastasciutta abzuschaffen? Was hat der Dichter Tonino Guerra im Sinn, wenn er in einem Rundfunkinterview den caffè sospeso erwähnt, einen »aufgehobenen« Kaffee, den ein wohlhabender Gast im Voraus für einen künftigen nicht so wohlhabenden bezahlt? Und schmeckte Dante Alighieri zufolge das Brot der Fremde salzig wegen der Tränen, die der Dichter darüber vergossen hatte, wie alle Übersetzer glauben, oder aus einem anderen, weniger romantischen Grund?

Wenn man die italienische Kultur studiert, sieht man rasch, dass ihre poetischen und narrativen Werke voller Verweise sind, die zwar von Küche und Essen handeln, aber in Wirklichkeit etwas viel Tieferes sagen wollen. Die Sprache selbst, die Redensarten und stehenden Wendungen sind voller Metaphern des Essens (andare a fagiolo, »in die Bohnen gehen« für »Gefallen finden«, venire come il cacio sui maccheroni, »wie der Käse auf den Makkaroni kommen« für »wie gerufen kommen«, buono come il pane, »gut wie das Brot« für »gutherzig«, rendere pan per focaccia, »Brot gegen Fladen tauschen« für »Gleiches mit Gleichem vergelten«, mettere troppa carne sul fuoco, »zu viel Fleisch aufs Feuer stellen« für »zu viel auf einmal unternehmen« usw.). Die kollektive Phantasie besteht aus kulturellen Zeichen, die sich durch eine Vielzahl von Zeichen des Essens ausdrücken.

Dies haben schon viele bemerkt, so schreibt zum Beispiel der Philosoph Andrea Tagliapietra in seinem Artikel »Der Gaumen des Philosophen. Essen als Metapher für denken«:

Wir haben »Appetit« auf Erkenntnis, »Durst« nach Wissen oder »Hunger« nach Informationen. Wir »verschlingen« ein Buch, wir »stopfen uns voll« mit Daten, bis wir es »satt« haben, wir können nie »genug kriegen« von Geschichten, wir »kauen« an schwierigen Fragen herum, wir »wiederkäuen« gewisse Projekte, wir »verdauen« einige Begriffe nur schwer, während wir uns manche Ideen besser als andere »einverleiben«. Geschichten »saugen wir auf«, besonders wenn sie uns mit »süßen« Worten erzählt und nicht mit »bitteren« Überlegungen, »scharfen« oder »geschmacklosen« oder gar »schalen« Ausdrücken gewürzt werden. Nicht zufällig sind die »appetitlichsten« Geschichten die mit »gepfefferten« Anekdoten und »pikanten« Details oder auch »köstlichen« Vergleichen gespickten.[1]

Für die Sprecher anderer, eher nördlicher, eher nüchterner Kultursprachen mutet diese Seite der Italianità einigermaßen exotisch an. Während englische, deutsche oder russische Intellektuelle oft meinen, übertriebene Aufmerksamkeit für das Essen würde das Niveau des Tischgesprächs senken, weshalb sie sich mit einem kurzen Lob begnügen und dann das Thema wechseln, ergehen sich die Italiener lust- und liebevoll in allen Einzelheiten. Warum? Die Redewendung parla come mangi, »sprich, wie du isst«, hat in Italien umfassende Geltung. Was evozieren die Gesprächspartner im Gedächtnis oder in der Phantasie, wenn sie von vergangenen Gastmählern erzählen oder Menüs zusammenstellen, sich über die Qualitäten der Produkte und Ingredienzen verbreiten und dabei womöglich (wie es oft vorkommt) nicht einmal das eigene Vergnügen daran erwähnen, sondern ganz abgehoben über das Essen diskutieren?

Die Antwort auf die Frage, warum die Italiener so gern über das Essen reden, kann nur diese sein: In der italienischen Kultur heißt ein Rezept für die Zubereitung eines Gerichts mitzuteilen, auf die Gegend zu verweisen, aus der das betreffende Gericht stammt, und nicht selten auch, die eigene Zugehörigkeit zu dieser Gegend zu betonen. Die italienische Geschichte hat sich so dezentral entwickelt, dass jedes Dorf oder Städtchen sich selbst genug ist; keine Stadt herrscht über die andere, auch nicht die Hauptstadt über die Provinz oder das nationale Zentrum über die Peripherie. Besucher aus aller Welt kamen als fromme Pilger hierher oder als Bildungsreisende auf der Grand Tour, um die Kunstgeschichte und ihre Werke kennenzulernen. Italienische Kleinstädte fühlten sich nicht als verlassene Orte, sondern als Mittelpunkte. Wie sollte es auch hinterwäldlerische Orte geben, wo ununterbrochene Ströme von Menschen flossen! Und wie Minderwertigkeitskomplexe in Städten und Städtchen, in denen prächtige Kathedralen, Klosterschulen und Bibliotheken stehen? »Dies hier ist Stadt und Land in einem«, schrieb der russische Schriftsteller Nikolaj Gogol,[2] der Italien zu seiner Wahlheimat erkoren hatte und hier seine besten Werke verfasste. »In Italien gibt es keine Provinz«, schrieb ein anderer berühmter russischer Exilant, Alexander Herzen, denn »jede Stadt hat ihre eigene Physiognomie«.[3]

Ebendies hat den Anstoß zu der Idee gegeben, die Geschichten der symbolischen Speisen jeder italienischen Region und ihre »ideologischen« Bedeutungen in einem Buch zu versammeln. Wer nimmt Parmesan, um die Pastasciutta zu würzen? Wer zieht den Pecorino vor? Warum muss die Pizza dünn und trocken sein, nicht fetttriefend, wie in den meisten Fastfood-Lokalen überall auf der Welt? Warum ist der lombardische Panettone reicher und opulenter als der venezianische Pandoro? Welche verstörenden dichterischen Legenden ranken sich um die sizilianische Cassata?

Je besser man Italien kennenlernt, desto selbstverständlicher kommt es einem vor, dass jede Stadt oder Gegend ihr »essbares Wappen« hat, das heißt ein Gericht oder ein Produkt, das gerade dort zur Perfektion gebracht worden ist: die Bistecca alla fiorentina, den Risotto alla milanese, den Radicchio trevisano, die Insalata caprese. Auf diese Spezialitäten sind die Einwohner der Stadt oder Gegend stolz. Ihre Nuancen sind jedoch so vielfältig, dass man eine Vielzahl konkreter Begriffe braucht, um eine so komplexe Realität zu entziffern.

Dieses Buch ist wie eine imaginäre Reise angelegt, die vom Norden Italiens durch die ganze Apenninenhalbinsel bis in den tiefen Süden und auf die Inseln führt. Dabei wird jeweils erklärt, was die Italiener sagen wollen, wenn sie von den Speisen der verschiedenen Regionen sprechen, und was sich in ihrer kollektiven Phantasie unmittelbar damit verbindet.

Für jede Region werden auch kurz die typischen Gerichte und Produkte angegeben, als Ausgangspunkt für weitere Darlegungen, ebenso hin und wieder typische Getränke oder Getränkearten, wobei hier die Auswahl jedoch eher willkürlich und ganz persönlich ist, je nachdem, was ich spontan mit einer bestimmten Gegend assoziiere (ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben). Natürlich wird auch die Beschreibung der Speisen keinerlei Vollständigkeit erreichen, aber in jedem Fall ist dies ein Buch über Speisen, nicht über Weine … Sonst hätte es mindestens doppelt so viele Seiten haben müssen!

 

Außer den »essbaren Wappen« der diversen Landesteile gibt es jedoch auch einen kulinarischen Code des gesamten Landes. Er ist eine Sprache, die nicht nur von Ausländern, sondern auch von den Italienern selbst erlernt und gründlich studiert werden muss, um die vielen Nuancen zu erkennen. Das Italienische benennt eine Zutat nicht einfach mit einem Namen, es zelebriert einen Ritus. Es spricht eine magische Formel aus. Es rezitiert die Liste der zum Einsalzen geeigneten Fische oder der Frühlingskräuter, die das Bouquet des ligurischen preboggion ergeben, wie ein Gebet. Es ist, als koste der Sprecher alle Gewürze und Zutaten, die mit der benannten Speise vereinbar sind. Indem er die Namen der diversen Gerichte ausspricht, genießt ein Kenner der italienischen Küche im Geist eine ganze Restaurant-Speisekarte von der ersten bis zur letzten Zeile. Und diese Speisekarte ist dann wie ein Rosenkranz oder der Katalog Leporellos in Don Giovanni. Der kulinarische Code erklärt und organisiert die Gesamtheit der Informationen, die sich auf die Geschichte, die Geographie, die Landwirtschaft, die Zoologie, die Ethnographie, das Design, die Semiotik des Alltagslebens und die angewandte Ökonomie beziehen.

 

Hierin liegt das Geheimnis des Glücksgefühls der Italiener beim Gespräch über gastronomische Themen. Ein solches Gespräch erlaubt ihnen (und uns), die Reichtümer des Gedächtnisses zu entdecken, die Kuriositäten der Sprache zu genießen, sich an der eigenen Eloquenz und der anderer zu berauschen, die in der Freizeit gewonnenen Einsichten mit den Freunden zu teilen. Da der kulinarische Code eine Art Enzyklopädie ist, können die gastronomischen Kenntnisse wie in einem Katalog aufgezählt werden (siehe die Kapitel PASTA, PIZZA, OLIVENÖL, RESTAURANTS). Zugleich ergibt sich dadurch auch die Gelegenheit, übergreifende Themen zu berühren, die mit der Geschichte, der Soziologie, der Demokratie und dem Totalitarismus zu tun haben (siehe die Kapitel DEMOKRATIE und TOTALITARISMUS). Eigenheiten der italienischen Geschichte werden behandelt (siehe PILGER und KALENDER) und in ihre vielfältigen Beziehungen zur Geschichte anderer Länder gestellt (siehe DIE ALTEN GESCHENKE AMERIKAS und DIE NEUEN GESCHENKE AMERIKAS). Eine besondere Rolle bei der Herausbildung des kulinarischen Codes spielen einzelne Kulturen, die sich auf der Apenninenhalbinsel entwickelt haben (siehe JUDEN).

Das Thema Kochen bietet auch Ansatzpunkte für die romanhafte Essayistik (siehe RISOTTO) und für die Philosophie des richtigen und gesunden Lebens (siehe MEDITERRANE ERNÄHRUNG). Für das Selbstwertgefühl der Gesprächsteilnehmer ist es wichtig zu zeigen, wie gut sie die Eigenschaften der Ausgangsprodukte kennen (siehe GRUNDNAHRUNGSMITTEL) und mit welcher Gewandtheit sie überraschende Gesten beim Kochen vollführen können (siehe ARBEITSSCHRITTE). Der kulinarische Code verbindet uns mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft (siehe SLOW FOOD, SAGRA). Und manchmal sogar mit der ganzen möglichen Leidenschaftlichkeit (siehe EROS).

 

Im Übrigen ist nicht zu vernachlässigen, dass für jeden, der die Kultur erforschen will, dies ihre erfreulichste Seite ist. Denn wenn man zu Tisch sitzt, ob zu Hause oder im Restaurant oder im Verlauf einer wissenschaftlichen Tagung, bildet sich beim Gespräch über das Essen eine allen verständliche Sprache, die für alle begeisternd, demokratisch und positiv ist. Tatsächlich können Leute, die sich über das Essen unterhalten, zu den verschiedensten sozialen Schichten gehören, und doch finden sie unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Einkommen mühelos zu einer gemeinsamen Sprache, auch wenn diese in jeder Gegend anders ist, so wie die Vokabeln des lokalen Idioms immer andere sind. Carlo Petrini, der Gründer der Slow-Food-Bewegung, die sich die Verteidigung der traditionellen kultivierten Küche auf ihre Fahnen geschrieben hat, beschreibt die Merkmale dieser Sprache so:

Sie hat Vokabeln (die Produkte, die Zutaten), die organisiert sind nach Regeln der Grammatik (den Rezepten), der Syntax (den Menüs) und der Rhetorik (den Tischsitten). Wie die Sprache enthält und artikuliert die Küche die Kultur derer, die sie praktizieren, sie ist die Bewahrerin der Traditionen und der Identität einer Gruppe. Sie repräsentiert sich selbst und kommuniziert in einer sogar noch stärkeren Weise als die Sprache, denn das Essen kann umstandslos von unserem Organismus aufgenommen und verarbeitet werden: Anderer Leute Speise zu essen ist leichter und unmittelbarer, als ihre Sprache zu erlernen. (Petrini, Buono, pulito e giusto, S. 75, vgl. die dt. Ausgabe S. 95)

So bildet die Sprache der Kultur sich heraus, resistent gegen die konsumistische Ansteckung. Der Konsumismus und sein Vehikel, die Werbung, sind besessen vom Heute und vom Ephemeren, sie zielen beharrlich darauf ab, das Altbekannte zu entwerten und die neueste Neuheit anzupreisen, während die Sprache der Kultur sich an der Geschichte orientiert und modische Mätzchen als simplen Kitsch abtut. Der kulinarische Code der italienischen Küche ist voller Würde, Zivilisiertheit und Bildung.

Kinder, wenn ich ein bisschen Platz hätte, wie gern würde ich euch jetzt Nudeln kochen!

 

Signora Ph(i)Nk0 vor dem Urknall in Italo Calvino, Cosmicomics

Friaul-Julisch Venetien

Die gens Iulia verbirgt sich im Namen dieser Region gleich zweimal, denn Friaul – italienisch Friuli – leitet sich von forum Iulii ab. Stolz auf diese so weit entfernte Eroberung, trachtete Rom danach, seine Herrschaft über diese Provinz für alle Zeiten zu bekräftigen: durch Bauwerke ebenso wie durch Gesetze und die Namensgebung. Dennoch liegt der Reiz dieser Randregion darin, dass sie gerade nicht römisch, sondern – aufgrund ihrer Nähe zum Balkan – slawisch geprägt ist. Ladenschilder, Ortsangaben, Namen an Haustüren haben, obwohl in lateinischen Buchstaben geschrieben, oft einen slawischen Klang. Brot, das Grundnahrungsmittel aller slawischen Völker, bildet manchmal den Mittelpunkt der Tafel, vielfach ist es aber vom Speisezettel ganz verschwunden. Auf einigen Bauernmärkten wird Weizen, auf anderen Mais verkauft; in dem einen Dorf isst man Brot, im Nachbardorf Polenta.

In römischer Zeit und im Mittelalter wurde Friaul-Julisch Venetien von Aquileia beherrscht, einer großen Stadt, reich an Mosaiken und reich an Gold. 181 v. Chr. gegründet, war sie Drehscheibe des gesamten Seehandels zwischen Italien, dem Orient und Nordeuropa. Hier verliefen die konsularischen Straßen in Richtung Balkan, und über den Hafen der Stadt wurde Bernstein in die römische Welt importiert. Bernstein bereicherte aber auch die ohnehin große Vielfalt kunsthandwerklicher Erzeugnisse dieser Gegend. In einigen Städten des Friaul (in Spilimbergo zum Beispiel, der »Stadt des Mosaiks« und bis heute Sitz der weltbekannten Scuola Mosaicisti del Friuli) blühte die Intarsien- und Mosaikkunst, ein Erbe der byzantinischen und römischen Tradition, die mit der Herstellung von kleinen Schmuckobjekten, vor allem aber von Boden- und Wandmosaiken bis heute gepflegt wird. Das Ausgangsmaterial für die Mosaiken war hier zu finden, direkt unter den Füßen der Bewohner: der gelbe Flusskiesel des Meduna, der schwarze, grüne und rote des Tagliamento und der weiße des Wildbachs Cosa. Mit diesen Steinen gestaltet man in Friaul-Julisch Venetien wunderschöne Plätze und Fußböden, aber man verwendet auch importiertes Material: die blauen Kieselsteine Irlands, die schwarzen Belgiens und die roten der Pyrenäen. Der Ruf der friulanischen Mosaikleger geht bis in römische Zeit zurück, doch in den 1600 Jahren, die seit den Fußbodenmosaiken von Braida Murada aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. vergangen sind, hat sich kaum etwas geändert. Ende des 17. Jahrhunderts wurden Steinmetze und Fußbodenleger aus Spilimbergo auf die Baustellen italienischer und europäischer Städte geholt, und im 20. Jahrhundert schufen sie bekannte Mosaiken in Europa (in der Pariser Opéra zum Beispiel), aber auch jenseits des Atlantiks (in der New Yorker St. Patrick’s Cathedral).

Die Regionalhauptstadt ist zwar Triest, aber diese seit alters her »freie Stadt« mit ihrem Freihafen lässt sich mit dem Rest der Region nur schwer in Einklang bringen. Triest hat eine eigene Psychologie und eigene Gebräuche, die vor allem mit seiner Rolle als mitteleuropäische Kulturhauptstadt zur Zeit der Habsburgermonarchie verbunden sind.

Symbolischer Ausdruck dieser Region und ihres Charakters ist also weniger Triest als vielmehr das Phantom Aquileia. Der an den flachen Ufern der Lagune von Grado gelegene Ort war einst die Hauptstadt der römischen Provinz Venetia et Histria, doch das ist Vergangenheit. Nach dem Untergang des Römischen Reiches wurde Aquileia zu einer Hochburg der ersten christlichen Gemeinschaften und zu einer wichtigen Durchgangsstation für die Pilger, die zu Fuß nach Rom unterwegs waren. Die Lagune bot Schutz vor Banditen und religiöser Verfolgung, und zur Zeit der ersten Hunneneinfälle versteckten sich die Bewohner Aquileias in den umliegenden Sümpfen, auf den Inseln, wo sie sich von Aalen und Krebsen, Fröschen, Sumpfvögeln und Seeteufel ernähren konnten. Die Sümpfe boten oft monate- und jahrelang Unterschlupf. Man lebte von Fisch, benutzte Fischöl als Licht- und Wärmequelle und bespannte die Boote mit Fischhaut. Auf diese Weise verknüpfte sich der Fisch als Symbol für das Christentum mit dem Fisch als Nahrungsquelle, um Not- und Hungerzeiten zu überstehen.

In seiner Bedeutung als Zentrum des frühen europäischen Christentums ist Aquileia durchaus mit Ravenna oder Mailand vergleichbar. Im Jahr 381 fand hier das Konzil statt, auf dem der aus Mailand angereiste Bischof Ambrosius den Arianismus als Irrlehre verurteilte. In der Folge nahm die Diözese Aquileia den Beinamen »venezianisch« an, und im 5. Jahrhundert, fast gleichzeitig mit dem Exarchat von Ravenna, entzog sie sich der Herrschaft Roms und wurde byzantinisches Territorium. 590 jedoch beschloss Papst Gregor der Große einzugreifen und schickte reguläre Truppen gegen die abtrünnige Stadt. Damals strömten Schismatiker in die Region, die die Möglichkeiten des Landstrichs nutzten, um zwischen den kleinen Inseln der Lagune Versteck zu spielen.

Zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert, zur Zeit der großen Pilgerströme und der Heiligen Jahre, gingen Pilger aus ganz Osteuropa in Aquileia an Land, bevor sie zu Fuß nach Rom weiterzogen. Die Stadt bot ihnen Unterkunft und Verpflegung, organisierte theoretische und praktische Fortbildung und koordinierte die Logistik. Der Patriarch von Aquileia, Oberhaupt der Diözese Venedig, war zeitweilig nicht weniger einflussreich als der Papst in Rom.

Im 18. Jahrhundert war Friaul-Julisch Venetien Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, und man sucht unwillkürlich nach den Spuren der vergangenen Größe der Habsburger. Doch der Charakter dieser Region ist sehr viel stärker von der langen Epoche zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert geprägt, in der das nahe gelegene Venedig hier die Herrschaft ausübte.

Venedig, Königin der Meere und stets bestrebt, sich neue Inseln und Kolonien zu erobern, kümmerte sich nicht allzu sehr um das Wohl der Bewohner des Hinterlands, die sich leicht und schnell hatten unterjochen lassen. Auf dem Festland beschränkte sich die Serenissima darauf, in Gebieten, die wenig Perspektiven boten, neue militärische Befestigungen zu bauen. Ein Beispiel ist Palmanova, ein einzigartiger architektonischer Komplex, der 1593 von den besten venezianischen Strategen, Ingenieuren und Festungsbaumeistern angelegt wurde. Entworfen nach den stadtplanerischen Prinzipien der Renaissance, hat Palmanova bis heute die Form eines regelmäßigen neunzackigen Sterns mit drei Mauerringen: Zwei wurden von den Venezianern errichtet, der dritte kam in napoleonischer Zeit hinzu.

Für Venedig waren die Friulaner vor allem als Arbeitskräfte interessant, die beim Bau der Hauptstadt und als Soldaten im Kampf gegen die Osmanen eingesetzt werden konnten.

Die Folgen für die Landstriche rings um Venedig waren verheerend. Ohne irgendeine Form von Verwaltung und Organisation waren Niedergang, Hunger und Armut unausbleibliche Folgen. Die Felder blieben unbebaut, die Bevölkerung schrumpfte und wäre wohl ganz ausgestorben, hätte sie nicht der Mais gerettet (siehe das Kapitel DIE ALTEN GESCHENKE AMERIKAS). Aus der Neuen Welt importiert, leicht anzubauen und nahrhaft, verbreitete sich der Mais im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts überall in Friaul-Julisch Venetien.

Dieselbe Rolle sollte später ein anderes altes Geschenk Amerikas spielen, die Kartoffel, die ein anderes von Hungersnöten heimgesuchtes Land rettete: das Russland des 18. Jahrhunderts.

In Görz, Udine und Cortina d’Ampezzo ist Polenta bis heute Teil der täglichen Ernährung. Trotz allem – denn vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, als die Bevölkerung Norditaliens sich fast ausschließlich von Maisbrei ernährte und viele an Pellagra erkrankten, genoss die Polenta keinen guten Ruf. Goethe, der zwischen 1786 und 1788 Italien bereiste, erkannte mit scharfem diagnostischen Blick die Ursache für den schlechten Gesundheitszustand der Bauern:

Ich glaube die Ursache dieses krankhaften Zustandes in dem häufigen Gebrauch des türkischen und Heidekorns zu finden. Jenes, das sie auch gelbe Blende nennen, und dieses, schwarze Blende genannt, werden gemahlen, das Mehl in Wasser zu einem dicken Brei gekocht und so gegessen. Die jenseitigen Deutschen rupfen den Teig wieder auseinander und braten ihn in Butter auf. Der welsche Tiroler hingegen ißt ihn so weg, manchmal Käse darauf gerieben, und das ganze Jahr kein Fleisch. Notwendig muß das die ersten Wege verleimen und verstopfen, besonders bei den Kindern und Frauen, und die kachektische Farbe deutet auf solches Verderben. (Italienische Reise, 14. September 1786)

Heute wird Polenta sehr viel bedachtsamer gegessen, fast den Empfehlungen Goethes folgend: Nach dem Kochen wird sie geröstet und mit Würsten, Käse, Fisch und Fleisch serviert; auf diese Weise ist die Gefahr des Vitaminmangels und damit der Pellagra gebannt.

Das frico (frischer, in Butter gebratener Montasio-Käse mit Kartoffeln und Zwiebeln) ist eine regionale Spezialität, die man in ganz Italien kennt. Bevor die Frauen morgens das Vieh auf die Weide führten, ließen sie die vom Abendessen übriggebliebenen Käsekrusten und Kartoffeln auf einer über dem warmen Herd befindlichen Ablage stehen, und so wurde aus den Resten des Vortags ein wohlschmeckendes Mittagessen. Die Feuerstellen in den friulanischen Bauernhäusern sind eine Besonderheit. Sie stehen mitten im Raum und sind ringsherum von zwei Kupferblechen umgeben, das eine höher als das andere. Die Bleche werden vom Herdfeuer erwärmt, allerdings nur so viel, dass das Essen auf der unteren Ablage nicht kalt wird und das auf der oberen langsam gart, stunden-, manchmal tagelang.

Das frico wird schon im Libro de arte coquinaria erwähnt, einem Kochbuch aus dem Jahr 1450 von Martino da Como, dem Küchenchef von Lodovico Trevisan, der als Patriarch von Aquileia (1439–1465) und als Camerlengo mehrerer Päpste zwei hohe Kirchenämter innehatte. Das frico ist ein symbolträchtiges Gericht. Um ins Guinnessbuch der Rekorde zu kommen, fabrizierte die Gruppe Amici della Nostra Famiglia aus Sterpo bei Udine einen Topf mit einem Durchmesser von 253,5 cm mit fest angeschraubtem Deckel. Das in diesem Topf gebratene frico girato, das größte der Welt, wog mehr als 150 Kilo.

Die klimatischen Besonderheiten haben selbstverständlich auch hier den Charakter und die Aktivitäten der Bewohner geprägt. Friaul-Julisch Venetien hat die längsten und schneereichsten Winter ganz Italiens. Als Beschäftigung für die langen Wintermonate nutzten die Bewohner den Rohstoff Holz und zimmerten Stühle. Fast alle aus Italien in die ganze Welt exportierten Stühle werden im Gebiet zwischen Mariano und Manzano im Friaul hergestellt. Der Sarkophag des Langobardenkönigs Ratchis (8. Jh.) in der Kathedrale von Cividale del Friuli zeigt Handwerker, die einen Stuhl zimmern. Weitere Dokumente im Archiv des Dogenpalastes in Venedig belegen, dass zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert friulanische Schreiner in die Serenissima geholt wurden, um für die Empfangs- und Versammlungsräume Stühle und Sessel herzustellen. Heute gibt es im Friaul rund zweihundert Stuhlfabriken, die dem Konsortium Gruppo Esportatori Sedie del Friuli (GESSEF) angehören und sich seit 1977 auf der Fachmesse Salone Internazionale della Sedia präsentieren. Am Ortseingang von Manzano unweit von Udine steht ein zehn Meter hoher Stuhl: Willkommen in der Hauptstadt des Stuhls! Wirtschaftlich weniger bedeutsam, aber gleichermaßen typisch ist ein anderes kunsthandwerkliches Erzeugnis aus friulanischem Holz, das angesichts des Reichtums der Gegend an Haselnüssen ausgesprochen nützlich ist: der Nussknacker, der in schön geschnitzten Formen zum Verkauf angeboten wird.

 

Zur Bereicherung ihres recht eintönigen Speiseplans hielten sich die friulanischen Bauernfamilien in den ärmeren Waldgebieten, vor allem in den hügeligen Landschaften, wo Eicheln, Kastanien und Haselnüsse wachsen, jedes Jahr ein Schwein. Es lebte in Freiheit und ernährte sich von Eicheln und Kastanien. Die friulanischen Schweine, deren Fleisch höchsten Qualitätsansprüchen genügt, werden heute mit Molke (einem Restprodukt der lokalen Käseherstellung) und Trester (einem Restprodukt der lokalen Weinindustrie) und natürlich auch mit Maiskolben gefüttert.

Das Schlachtfest hat auf dem Land nach wie vor einen hohen Stellenwert. Es ist das wichtigste Ereignis im Jahreskreislauf der Familie und der Nachbarschaft. Manchmal schwänzen die Kinder extra die Schule, die Erwachsenen nehmen sich einen Tag Urlaub, und dann warten Familie und Freunde auf den großen Augenblick: die Ankunft des purcitar, des fahrenden Metzgers. Dem Schwein wird mit chirurgischer Präzision die Kehle durchgeschnitten, dann wird es zum Ausbluten auf ein Brett gelegt, während ringsherum die Aufregung wächst. Fast als wolle das geschlachtete Schwein die Worte von Vincenzo Tanara bestätigen, der in seinem Traktat L’economia del cittadino in villa (1644) schrieb:

Das Schwein gleicht den Virtuosen, die zu Lebzeiten schlecht behandelt, nach ihrem Tode aber geliebt und geehrt werden.

Das Fleisch wird sofort zerteilt, Därme und Blut werden noch am selben Tag verarbeitet. Die Bauern braten schmackhafte Blutwürste und backen süßes Brot mit Blut und Grieben (pan de frizze dolce).

In San Daniele del Friuli reift einer der berühmtesten rohen Schinken Italiens, der San Daniele, den man mit Feigen oder Honigmelone isst. Eine romantische Erklärung seiner unnachahmlichen Qualität liefert Giacomo Miotto, Inhaber der Firma Daniel, die San-Daniele-Schinken produziert, im Interview mit Cesare Marchi, einem profunden Kenner der italienischen Kultur und gastronomischen Sitten. Miotto erklärt den Unterschied zwischen dem San Daniele und seinem berühmten Rivalen, dem Parmaschinken, der von rosigerer Farbe und süßer ist:

Beide sind vorzüglich, aber unserer reift unter anderen Umweltbedingungen. Das Glück für unseren Schinken sind die Gewitter: Bei der elektrischen Entladung entsteht das aus drei Sauerstoffatomen bestehende Ozon, das die Reifung begünstigt. Auf die häufigen Gewitter folgen Tage mit strahlendem Sonnenschein und Schwankungen der Luftfeuchtigkeit zwischen maximal neunzig und mindestens fünfzig Prozent. Dieser schnelle Wechsel zwischen feucht und trocken hat einen günstigen Einfluss auf das Fleisch; es ist, als würde jede Faser und jede Zelle langsam und intensiv massiert. (Marchi, Quando siamo a tavola, S. 112)

In den Karnischen Alpen im äußersten Norden des Friaul werden Speck und der Montasio-Käse hergestellt. Den Kuhmilchkäse, der mindestens zwei Jahre reift, erfanden im 12. Jahrhundert Benediktinermönche für die Pilger, die auf ihrem Weg nach Rom entlang der Straße von Aquileia einen nicht leicht verderblichen Proviant benötigten (siehe das Kapitel PILGER).

Als Begleiter zu Schweinswürsten eignen sich besonders der Collio, der Grave del Friuli und der Colli Orientali, die zu den besten Weißweinen Italiens zählen. Um ihr Renommee zu wahren, begrenzt der Staat per Gesetz die Hektarfläche der Weinberge. Wein ist in Friaul-Julisch Venetien ein unverzichtbares Attribut der Geselligkeit und Grundelement des tajut-Rituals. Um nach einem langen Arbeitstag seine verdiente Ruhe zu genießen, setzt sich der Friulaner vor eine Bar und lädt vorübergehende Freunde und Bekannte ein, ein Gläschen mit ihm zu trinken – ein besonderer Aspekt des Reichtums und der Qualität des sozialen Lebens. Die Gläschen sind winzig, die zwischenmenschlichen Beziehungen dagegen äußerst vielgestaltig. Zum Wein isst man gewöhnlich pinza (einen Kuchen aus süßem Hefeteig) oder presnitz (eine Art Früchtebrot mit Walnüssen, Rosinen und kandierten Früchten).

Weltberühmt ist der im Friaul gebrannte Grappa. Die Herstellung von Tresterbrand – in Konkurrenz mit dem Piemont – hat hier auch eine ästhetische Komponente: In der Region selbst, aber auch in den Werkstätten von Murano werden wunderschöne mundgeblasene Flaschen und Gläser hergestellt. Eine funkelnde Grappa-Flasche in einem Holzkistchen, ausgestellt im Fenster einer angesagten Bar in Rom oder Mailand, kann bis zu 500 oder sogar 1000 Euro kosten, so viel, wie die Phantasie erlaubt und der Anstand nicht verbietet.

Typische Gerichte

Die friulanische und julische Küche verwendet viele Gewürze und Aromen und neben Butter und Käse auch Obst, mostarda (pikant eingelegte Senffrüchte), Senf und Zucker. Häufig mischt man süß mit salzig und sauer. In dieser Hinsicht ist die Küche des Friaul wie auch Südtirols für Italien eher ungewöhnlich. Zudem unterscheidet sich die Triestiner Küche und generell die der Küste stark von den Essgewohnheiten im Landesinnern. In den Karnischen Alpen bevorzugt man einfache Zutaten wie Kartoffeln, Mais und Pilze.

 

Primi piatti:Bisna: gelbe Polenta mit Bohnenkernen und Sauerkraut, gewürzt mit weißem Speck (lardo) und gerösteten Zwiebeln. Brodetto gradese, eine Suppe mit Fischen aus den lokalen Flüssen. Polenta mit Tomatensauce. Kürbissuppe (cavucin). Seeteufel. Kaulbarsch in Olivenöl mit Knoblauch und Essig. Pflaumen-Gnocchi. Suppe (iota) mit Bohnenkernen, Milch, Kohlrüben und Maismehl oder – eine Variante – mit Kartoffeln, Sauerkraut und geräuchertem Schweinefleisch. Eine bekannte Spezialität ist pistum (Gnocchi aus Semmelbrösel, Zucker, Ei, aromatischen Kräutern und Rosinen, in Fleischbrühe gegart).

 

Secondi piatti:Brovada (mit Weintrester vergorene Kohlrüben, gerieben und in weißem Speck und Wein geschmort). Cevapcici (gegrillte Schweine- und Rindfleischklößchen). Smolz (Bohnenkerne mit Olivenöl, weißem Speck und Zwiebeln). Granseola alla triestina (Seespinnenfleisch, in Öl gegart, mit Knoblauch und Petersilie). Testina alla carnaiola (Kalbskopf in Scheiben geschnitten und mit einer Sauce aus gekochtem Hirn und Meerrettich). Als Spezialitäten der Region Friaul-Julisch Venetien können durchaus auch Gulasch und Kaninchen nach Zigeunerart betrachtet werden (lepre alla zingara oder à la bohémienne, in Weißweinessig) sowie weitere mitteleuropäische Gerichte – ein Erbe der Österreicher, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier die Herrschaft ausübten. Polenta. Frico (frischer Montasio-Käse, in Scheiben geschnitten und in Butter gebraten, oft mit Kartoffeln oder Zwiebeln).

Typische Produkte

Käse: Montasio und Tabor, Liptauer (pikante Käsecreme mit Kräutern und Gewürzen, Kapern und Sardellen, die in den Triestiner Pizziccherien als Brotaufstrich serviert wird).

Fleisch: Schweinefleisch dominiert die friulanische Küche, angefangen mit dem San-Daniele-Schinken und dem Sauris-Schinken (aus umbrischen Schweinekeulen, die über aromatischem Buchenholz geräuchert werden) bis zum prosciutto carsolino (»Karst-Schinken«), Spezialitäten, die in der ganzen Welt bekannt sind. Daneben gibt es Gerichte mit Innereien. Würste aus gekuttertem Fleisch: pitina (mit wildem Rosmarin), petuccia (mit wildem Fenchel) und peta (mit Wacholderbeeren); alle drei sind Spezialitäten aus der Provinz Pordenone. Marcundela (eine kleine geräucherte Wurst). Gekochte Zunge aus den Karnischen Alpen. Musetto, eine typisch friulanische Kochwurst aus magerem Fleisch, die mit Pfeffer, Weißwein, Koriander und Zimt gewürzt ist. Friulanische Gans (im unteren Friaul).

Gemüse und Obst: Knoblauch aus Resia. Radìc di mont oder radìc dal glaz, Alpen-Milchlattich oder Milchdistel, eine Unterfamilie der Zichorien, den man im Mai auf den Almweiden der Karnischen Alpen findet und dessen Sprossen als Füllung für salzige Torten verwendet werden. Barbatelle: junge Reben einer Rebsorte für Tafeltrauben.

Dolci:Gubana (Hefenapfkuchen, gefüllt mit Nüssen, Rosinen und Pinienkernen). Presnitz (eine Rum-Nuss-Rolle) und natürlich Wiener Spezialitäten wie die Sacher- und die Dobostorte. Die Triestiner putizza ist der gubana verwandt: eine gefüllte Hefeteigrolle, spiralförmig in einer Kuchenform gebacken.

Getränke: Grappa.

Die Sagra

Sagra kommt vom lateinischen sacrum, und ihre primäre Bedeutung ist die eines Volks festes zu Ehren des Schutzpatrons eines Dorfes oder einer Stadt. Sagra kann aber auch ein Festival sein, um ein bestimmtes Gericht oder Produkt, ein Gemüse oder eine Frucht, einen Wein, eine bestimmte Art der Zubereitung oder sogar ein ganz bestimmtes Fleischstück vom Rind oder Schaf zu feiern – eine Spezialität, für die der Ort berühmt ist. Das können geröstete Kastanien sein, Erdbeeren oder auch in Teig getauchte und frittierte Froschschenkel.

Weithin bekannt ist die Sagra von Ariccia, bei der sich alles um die porchetta dreht; der Schweinerollbraten geht bis in vorrömische Zeit zurück. Das Städtchen Ariccia in den Albanerbergen südlich von Rom wurde im 17. Jahrhundert von Gian Lorenzo Bernini im Auftrag der Familie Chigi völlig neu gestaltet, und in dieser prachtvollen Kulisse wird alljährlich im Juli die Zerteilung eines Spanferkels zelebriert, das fachkundig entbeint und dann mit Leber, Herz und Lungen gefüllt wird – alles kleingeschnitten und mit Pfeffer, Knoblauch, Salz, wildem Fenchel und anderen aromatischen Kräutern gewürzt (die genaue Mischung kennen nur die Köche von Ariccia). Das Fleisch wird im Holzofen langsam gegart und dann werden die ganzen siebzig und mehr Kilos von den Dorfbewohnern und Touristen verzehrt. In Ribera (Provinz Agrigento) findet im April die turbulente Sagra delle arance statt, eine Orangenschlacht wie beim Karneval von Ivrea. Die Teilnehmer bewerfen sich munter mit Orangen, trampeln auf den Früchten herum, rutschen aus, stürzen und tun sich manchmal sogar weh. Eine Sagra zu Ehren der Gnocchi findet alljährlich im Juni in Castel del Rio bei Bologna statt. Im Juli feiert Tropea die Sagra del pesce azzurro (Makrelen, Sardellen, Sardinen, also preiswerte, kleinere Fische im Unterschied zum Edelfisch) und der roten Zwiebel, im selben Monat folgt in Castelfiumanese die Sagra der Aprikosen. Im August werden in Norcia die berühmten Linsen von Castelluccio gefeiert und in Eboli der Mozzarella. Im Dorf Albanella in der Provinz Salerno feiert man im August die Pizza, in Sardinien im August die Tomate (Zeddiani, Provinz Oristano) und den Vernaccia-Wein (in Nurachi, gleichfalls Provinz Oristano). Viele Teilnehmer kommen in traditionellen Kostümen. All dies sind fröhliche, ausgelassene Feste mit Musik und Tanz. Die Sagra del bollito in San Damiano D’Asti findet im September statt, das Kastanien-Fest in Marradi bei Florenz im Herbst. Im November dreht sich in Cremona und im Dezember in Faenza alles um das Torrone, den weißen Nougat; in Treviso ist im Dezember das Radicchio-Fest das Hauptereignis.

Jeweils am letzten Aprilwochenende findet im Palazzo Ducale von Mantua die Landesausstellung der »vini da meditazione« (»Meditationsweine«) statt und am zweiten Aprilwochenende in Zerbolo bei Pavia das »Festival der verlorenen Aromen«.

Die italienische Sagra ist heidnischen Ursprungs. Diese Feste der römischen Antike rund ums Essen wurden von Ovid und von dem Enzyklopädisten Ambrosius Theodosius Macrobius beschrieben (er lebte im 5. Jh. n. Chr. am Hof des Kaisers Honorius), der sie zu den »Dingen aus längst vergangenen Tagen« zählte. Auch nach dem Siegeszug des Christentums herrschte bei den Sagre eine ausgelassene Fröhlichkeit, nur dass man jetzt unter den Insignien der Heiligen, Seligen und Märtyrer tafelte. In Force, einem Dorf in den Marken, wird die cacciannanza gefeiert, ein im Holzofen gebackener Teigfladen. Am selben Tag findet das Fest der seligen Maria Assunta Pallotta statt. Doch diese Feste haben mit Frömmigkeit so wenig zu tun, dass strenggläubige Katholiken sich oft empören und den Feierlichkeiten fernbleiben. Die Sagre werden denn auch zumeist von nichtreligiösen Gruppen wie Anglervereinen, Umweltschutzverbänden oder heimatverbundenen Geschichtsbegeisterten organisiert.

In nicht allzu ferner Vergangenheit wurden solche Feste manchmal zur Arena des ideologischen Protestes, und dann wurden die Heiligenstatuen auf den Tischen, an denen man speiste, durch die Porträts der Gründerväter politischer Bewegungen ersetzt. Ein Beispiel dafür sind die kommunistischen Feste dell’Unità (veranstaltet von der KPI-Zeitung Unità), die nach dem Vorbild der seit 1930 alljährlich im Sommer gefeierten französischen Fêtes de l’Humanité entstanden. Bei der ersten Festa dell’Unità, die im September 1945 im lombardischen Mariano Comense von dem Partisanenkommandanten Willi Schiapparelli organisiert wurde, ging es nicht darum, eine bestimmte kulinarische Spezialität zu würdigen – was in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit beim besten Willen nicht machbar gewesen wäre. Doch die Teilnehmer an diesem ersten Festival der KPI suchten sich ein Gericht aus, das der revolutionären kommunistischen Gesinnung der dort Versammelten entsprach: Polenta, das Hauptnahrungsmittel der Tagelöhner, und dazu ein Glas Rotwein – selbstverständlich einen Roten, denn aus der Kulinarik des militanten Proletariats war die Farbe Rot nicht wegzudenken (obwohl sie genau besehen in keinem italienischen Gericht fehlt).

Doch der wachsende Wohlstand Italiens schlug sich bald auch im Speiseangebot der kommunistischen Festivals nieder. In der Zeit des Wirtschaftswunders der sechziger Jahre kamen »kommunistische« Grillfeste in Mode. In Stadtparks und auf Sportplätzen wurden Steaks und Würste gegrillt, unter reger Teilnahme der Bevölkerung und getragen von einer allgemeinen Begeisterung.

In jedem Fall sind die Sagre weltliche, offene, unbeschwerte und demokratische Feste.

Landauf, landab, in jeder Talschlucht, auf jeder Piazza und jedem Hügel wird gefeiert. Hier noch ein paar weitere Festivals, zufällig herausgegriffen: Zelebriert werden das Schwarzbrot (Champorcher, Aostatal), die zuppa di Valpelline (Wirsing-Käse-Suppe, Aostatal), Kastanien (Châtillon, Aostatal), Glühwein (Étroubles, Aostatal), Pfirsiche (Canale, Piemont), Haselnüsse (Cortemilia, Piemont), der weiße Alba-Trüffel (Alba, Piemont), Honig (Arese, Lombardei), Frösche (Bornasco, Lombardei), Kaninchen (Brembio, Lombardei), Spargel (Cantello, Lombardei), Risotto (Villimpenta, Lombardei), Kirschen (Bareggio, Lombardei), Milch (Truccazzano, Lombardei), Gänse (Mortara, Lombardei), Steinpilze (Motta Visconti, Lombardei), Heidelbeeren (Piazzatorre, Lombardei), Äpfel (Caldonazzo, Trentino), Oliven (Pove del Grappa, Veneto), Spargel (Bassano del Grappa, Veneto), Mais (Marano Vicentino, Veneto), Zichorie (Crepadoro, Veneto), Erdbeeren (Faedis, Friaul), Scampi (Remanzacco, Friaul), Olivenöl (Moneglia, Ligurien), Sardellen (Deiva Marina, Ligurien), Focaccia (Recco, Ligurien), Fleisch vom Holzkohlengrill (Terzorio, Ligurien), Schnecken (Borgio Verezzi, Ligurien), Focaccia mit Rosmarin (Lavagna, Ligurien), Fladen aus Kichererbsenmehl (Maissana, Ligurien) und aus Kastanienmehl (Rossiglione, Ligurien), Porchetta und Tortellini (Lavezzola, Emilia-Romagna), cotechino (Val Tidone, Emilia-Romagna), Bruschetta (Predappio Alta, Emilia-Romagna), Wurzelzichorien (Soncino, Lombardei) …

Im Laufe der Zeit verschmolzen die religiösen Patronatsfeste und die ideologischen Feste im Namen der proletarischen Revolution mit den alten heidnischen Sagre. Eine zentrale Rolle jedoch spielt nach wie vor die lokaltypische kulinarische Spezialität. Wie in alten Zeiten auf den Kirch- und Marktplätzen versammeln sich heute die Familien unter den Zeltplanen der Unità-Feste auf Sportplätzen, in Gärten und Parks, wo gegrillt, gegessen und getrunken und am Ende gemeinsam aufgeräumt wird.

Nichts verbindet mehr als gemeinsames Essen. Und so wie die Einheit auf der Ebene der großen Politik zerbricht, so gehen die Trennlinien manchmal gleichsam durch den Magen. Als sich in den neunziger Jahren die italienische Kommunistische Partei in die Demokratische Partei der Linken (PDS) und die kommunistische Neugründung Rifondazione comunista spaltete, zog Massimo D’Alema, damals Vorsitzender des PDS, eine Bilanz der Ereignisse, indem er auf den »kulinarischen Code« zurückgriff, wie er für italienische Redner, Journalisten und Politiker typisch ist. An die Adresse all jener gerichtet, die die Absicht hatten, seine Partei zu verlassen und eine neue zu gründen, sagte er: »Mit euch … werden all jene gehen, die auf den Unità-Festen die Steaks gegrillt haben.«[4]

Aber damit war die Sache keineswegs erledigt. Die Divergenzen wurden auch innerhalb der linksdemokratischen Partei Democratici di sinistra (DS) ausgetragen, die aus der PDS hervorging, und im Februar 1998, am Ende des Parteitags in Florenz, zielte D’Alema auf etwas, das bis dahin niemand gewagt hatte, in Frage zu stellen: die Tortellini, kulinarisches Herzstück aller Sagre in der »roten« Emilia-Romagna. Die Tortellini waren eine Ikone der Partisanenbewegung, ein Symbol der Demokratie und das Banner des revolutionären Kampfes.

Der Römer D’Alema hatte sich vermutlich verschätzt, als er vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im Mitte-Links-Wahlbündnis L’Ulivo unvermittelt sagte, den linken Militanten, »die nichts anderes können, als Flugblätter zu verteilen, Plakate zu kleben und Tortellini zu kochen«, weine er keine Träne nach. Diese Fähigkeiten, so D’Alema, reichten nicht aus, »um das Land zu regieren«.

Man darf annehmen, dass es diese Äußerung war, die dann ihn daran hinderte, das Land zu regieren.

Die Regierung D’Alema war schneller am Ende, als man erwartet hatte (sie dauerte vom 27. Oktober 1998 bis zum 18. Dezember 1999), und ein Grund für ihren Sturz war die fehlende Unterstützung durch den harten Kern der Basis in der Emilia-Romagna, der aus ehemaligen Partisanen und deren Unterstützern bestand. Die Wähler in den mittelitalienischen »Tortellini«-Regionen, die ohnehin nicht viel für D’Alema übrighatten, wandten sich nach diesen Äußerungen endgültig von ihm ab. Sie waren schwer gekränkt. Der kommunistische Bürgermeister von Bologna, Guido Fanti, schleuderte ihm denn auch stolz entgegen: »Wenn wir keine Tortellini gemacht hätten, wärest du jetzt nicht hier«.

Indro Montanelli ging im Corriere della Sera auf den Fauxpas des Führers der Linken ein und schrieb, D’Alema habe mit seinem Angriff auf die emilianischen Tortellini an etwas Heiligem gerüttelt (Montanelli, »La cosa due e i tortellini«). Doch D’Alema setzte nach: »Es gibt einen Unterschied zwischen einem Tortellino in der Regierung und einem Tortellino im Kampf« (»D’Alema e Montanelli, tortellini di lotta o di governo«, in Corriere della Sera).

Wenige Monate nach diesen blasphemischen Äußerungen über die emilianischen Tortellini erlitt die Linke eine schwere Niederlage, und auch Bologna, das vierzig Jahre lang eine rote Hochburg gewesen war, wurde mit in den Abgrund gerissen. Giorgio Guazzaloca, dem neuen antikommunistischen Bürgermeister von Bologna (dem ersten nach dem Krieg), einem gelernten Metzger, Wurstmacher und Kotelettklopfer, wurde der kluge Rat erteilt, den Tortellini öffentlich seine Reverenz zu erweisen (»La prevalenza del tortellino, Guazzaloca si annette il simbolo dell’identità bolognese«, in La Stampa).

Tortellini forever, solange Italien besteht! Als anlässlich der OSZE-Konferenz in Bologna Ende 2000 Globalisierungsgegner vor amerikanischen Fastfood-Restaurants Protestkundgebungen organisierten (siehe das Kapitel DIE NEUEN GESCHENKE AMERIKAS), verteilten sie kostenlos Tortellini. Diese Geste war Ausdruck eines klassenkämpferischen Bewusstseins, eines revolutionären Geistes und eines lokalpatriotischen Stolzes. Die Kriegstrompete wurde geblasen, und der von D’Alema verschmähte »Tortellino im Kampf« nahm seinen rechtmäßigen Platz wieder ein.

Die lokalen Sagre zu Ehren von Schutzpatronen und mit ihnen die Unità-Feste, aber auch die verschiedenen kulturellen Initiativen, die stets mit einem Empfang enden, besitzen als Geste der sozialen Versöhnung einen hohen symbolischen Wert. Psychologen, Soziologen, Philosophen und Schriftsteller (wie Elias Canetti) beschreiben den Zustand der versöhnten Masse, in welcher der tief ins Kollektiv eingeprägte Antagonismus verschwindet und die latente Aggressivität sich nicht entwickelt. Die gemeinsame Feier religiöser Rituale und – an zweiter Stelle – das gemeinsame Essen und Trinken können eine solche Wirkung auf die Masse haben. Die Masse jubelt, sie bildet einen gewaltigen Rabelais’schen kollektiven Körper. Die Masse versöhnt sich durch den Verzehr eines gigantischen gemeinsamen Mahls: ein gebratenes Wildschwein, ein riesiger gebratener Fisch, ein gewaltiges Omelett, eine Unmenge Polenta, ein zyklopischer Berg Pastasciutta. Die Sagra ist in vielen Fällen eine gemeinsame religiöse Feier (zu Ehren eines lokalen Heiligen), manchmal aber auch die gemeinsame Verherrlichung politischer Ideen (die Unità-Feste, die Tortellini der Globalisierungsgegner); immer jedoch gipfeln solche Zusammenkünfte im Verzehr eines Riesenbergs guten Essens, und deshalb besitzen die Sagre eine große läuternde und versöhnende Kraft.

Jeder Gedenktag braucht ein passendes Gericht. Für alles gibt es einen Grund, aber der ist nicht immer im gemeinsamen kulturellen Erbe zu suchen. In vielen Teilen Italiens besteht das typische Neujahrsgericht aus fave, Favabohnen, Saubohnen oder dicke Bohnen, die ihren hohen Stellenwert in erster Linie der Antike verdanken. Horaz zufolge betrachtete Pythagoras diese Bohnen als »Mitglieder der eigenen Familie« und nahm sogar den Tod in Kauf, um nicht ein Bohnenfeld betreten zu müssen. Die Christen setzten jahrhundertelang Favabohnen (und weiße Bohnen) mit der Unsterblichkeit gleich, weil getrocknete Bohnen in Wasser eingeweicht ihre Frische zurückgewinnen, sie werden gleichsam wiedergeboren. Es ist also kein Zufall, dass seit 1200 in Castiglione D’Asti immer an Neujahr die Sagra della fagiolata, das Fest des Bohneneintopfs, gefeiert wird.

Der 6. Januar, Dreikönig, ist der letzte Tag des Weihnachtsmarkts auf der Piazza Navona, wo zuvor fast zwei Monate lang Krippenfiguren verkauft wurden. Es ist der Tag der Anbetung des neugeborenen Christus durch die Heiligen Drei Könige und der Überreichung ihrer Geschenke. In Trentino-Südtirol (Fassatal, Palù, Mittelberg) ziehen die Heiligen Drei Könige von Haus zu Haus und verteilen Polenta mit Buchweizenmehl (polenta taragna), goldgelb wie orientalische Münzen. Doch in der volkstümlichen Überlieferung wurde l’Epifania (Epiphanie, der Dreikönigstag) zu La Befana uminterpretiert, das heißt zu einer guten Hexe, die das christliche Geheimnis personifiziert. An diesem Tag bekommen in vielen Gegenden Italiens die Kinder Süßigkeiten, aber wenn sie nicht brav gewesen sind, finden sie in ihren Strümpfen schwarzen Zucker, carbone. In Landstrichen, die einst in Kontakt mit der griechisch-orthodoxen Religion gekommen waren, ist der 6. Januar mit dem orthodoxen Fest der Taufe Christi am 7. Januar verknüpft. In den »albanischen« Dörfern Siziliens tragen die Frauen traditionelle Trachten im griechischen Stil, schwarz und mit weißen Tüchern, und es werden Orangen gesegnet, die dann an alle im Dorf verteilt werden. Auch in einigen Dörfern Friauls (in der Gegend um Cividale), wo die Anwesenheit slawischer Bevölkerungsgruppen schon seit Jahrhunderten eine kuriose Mischung aus kulinarischen Traditionen, Sitten und Gebräuchen hat entstehen lassen, haben die Feste Bezüge zur Taufe Christi.

Doch rund um den 6. Januar gibt es noch weitere religiöse und historische Bezüge. Faenza zum Beispiel feiert an diesem Tag den legendenhaft verklärten Sieg über die Sarazenen, die durch eine riesige Puppe namens Hannibal verkörpert werden – eine Verschmelzung ganz unterschiedlicher historischer Reminiszenzen, die bis zu den Punischen Kriegen Roms zurückreichen. Das Fest in Faenza heißt Nott de Bisò und bildet den Abschluss des aufregenden Palio del Niballo, der alljährlich am vierten Sonntag im Juni stattfindet. Niballo (Hannibal), der sarazenische Krieger und Inbegriff allen Unheils, wird auf einem riesigen Scheiterhaufen auf der Piazza verbrannt, und man trinkt bisò (den ortstypischen Glühwein) aus den eleganten Tonschälchen (gotti) der Keramikstadt Faenza.

Die volkstümliche Phantasie hat viele barocke und humorvolle Geschichten und Erklärungen für lokale Bräuche rund ums Essen erfunden. Am 13. Januar wird in Parma das Fest des heiligen Hilarius gefeiert; aus diesem Anlass wird süßes Gebäck in Form jenes Schuhs gebacken, den der Heilige verloren haben soll, als er sich beeilte – um dieses Fest nicht zu verpassen. Am 17. Januar wird zum Gedenken an den heiligen Antonius den Einsiedler in Cremona die torta dura gebacken, ein Kuchen aus Weizen- und Maismehl, so hart wie das Brot, von dem sich der Heilige ernährte. Und in Villastrada (Lombardei) isst man einen Teller lardo (weißen Speck) mit Knoblauch und Zwiebeln, die maialata, angeblich ein Heilmittel gegen das »Antoniusfeuer« (Ergotismus, Mutterkornvergiftung, in Italien wird auch die Gürtelrose so genannt), an dem der Eremit nach Jahren einseitiger Ernährung von trockenem Brot erkrankt sein soll.

Dies sind nur zwei zufällig herausgegriffene Feiertage, die in einigen Ortschaften im Januar begangen werden. Ein umfassendes Bild dieser reichen Traditionen vermittelt der 1990 erschienene Band von Carol Field mit dem Titel Celebrating Italy. The Tastes and Traditions of Italy as Revealed Through Its Feasts, Festivals, and Sumptuous Foods (Morrow, New York, 1990).

Venedig und das Veneto

So wie die Friulaner gegen vier oder fünf Uhr nachmittags ihr tajut-Ritual feiern und in einer Bar oder an einem Tischchen im Freien gemeinsam ein Gläschen Wein trinken, so beginnen die Venezianer bereits um elf Uhr vormittags damit, »in den Schatten zu gehen«, andar per ombre. Dieses andar(e) ist ein gemächlicher Spaziergang von einer Bar zur nächsten, um in jeder ein Gläschen eiskalten Prosecco zu trinken. Angeblich stammt die Redewendung von den ambulanten Weinverkäufern, die einst unermüdlich ihre Karren schoben, um dem Schatten des Campanile auf dem Markusplatz zu folgen und der glühenden Sonne zu entfliehen.

Müßiggang, Raffinement und Trübsinn. Diese legendären Wesenszüge der Venezianer, die in der englischen, amerikanischen und russischen Dichtung besungen werden, spiegeln sich auch in der Küche dieser Stadt. In Venedig wurde der furchterregende risotto al nero di seppia erfunden, Risotto mit Tintenfisch in seiner eigenen Tinte, die Tintenfische (seppie), aber auch Calamari[5] zur Abwehr der Fischer versprühen. Wenn man die Tintenfische putzt und ihnen das Rückgrat herauszieht, muss man darauf achten, nicht die Tintenbeutel zu zerstören, die herausgenommen und beiseitegelegt werden. Die Tintenfische werden in Streifen geschnitten und mit Knoblauch, Olivenöl, Zitrone und Weißwein mariniert. Der Risotto wird unter Zugabe der Sepiatinte zubereitet.

Die Venezianer bereiten getrockneten Kabeljau (merluzzo) zu, den sie baccalà nennen (oder im Dialekt bertagnin). Sie nennen ihn wegen des melodischen Klanges so und nehmen damit ganz bewusst eine terminologische Unkorrektheit in Kauf, denn überall sonst in Italien wird zwischen gesalzenem und gewässertem Kabeljau (baccalà) und gesalzenem und getrocknetem Kabeljau (stoccafisso, Stockfisch) unterschieden. Folglich müsste der in der venezianischen Küche dominierende Fisch korrekt stoccafisso heißen. Aber die Venezianer bleiben stur: Sie sagen baccalà und basta.

Die Frage der Bezeichnung für getrockneten Kabeljau mag belanglos erscheinen, doch ein unsichtbarer Faden verbindet sie mit den fundamentalen und sogar emblematischen Sphären der italienischen Mentalität: mit der sprachlichen und der ethnographisch-kulinarischen. Denn zuerst auf sprachlicher und dann auf kulinarischer Ebene entschied sich im Prozess der nationalen Einigung Italiens die schwierige Frage, wie eine nationale Identität geschaffen werden könne.

Zu denen, die an dieser bedeutenden Aufgabe mitwirkten, zählte Pellegrino Artusi (1820–1911), ein Bankier, Amateurschriftsteller und Liebhaber guten Essens. Geboren in Forlimpopoli in der Romagna, aber ein glühender Verfechter der Einheit Italiens, veröffentlichte er 1891La Scienza in cucina e l’arte di mangiar bene (Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens) mit 790 Rezepten aus unterschiedlichen Regionen Norditaliens. In jenen Jahren, als sich die toskanische Mundart als Schriftsprache der neu geeinten Nation durchgesetzt hatte, schrieb der Romagneser Artusi in lupenreinem Toskanisch. Um die Hochsprache zu erlernen, war er 1851 in die Toskana gegangen, ähnlich wie 1827 der Lombarde Alessandro Manzoni, der ein paar Wochen in Florenz verbrachte, um »die Wäsche im Arno zu spülen«, bevor er 1840 die sprachlich überarbeitete Neuausgabe seines Romans Die Brautleute herausbrachte. Es bildete sich eine gemeinsame Sprache Italiens heraus, und folglich musste es auch eine Sammlung von Rezepten der gemeinsamen nationalen Küche geben. In seiner Einleitung zu Artusis Kochbuch schrieb Piero Camporesi:

Die Wissenschaft des Kochens ist nicht nur eine wunderbare Rezeptsammlung, die jeder zumindest dem Namen nach kennt, ein Fixpunkt der kulinarischen Tradition Italiens und ein perfektes Handbuch der schmackhaften und zugleich ausgewogenen Ernährung. Das Werk erfüllt darüber hinaus sehr diskret, beiläufig und unmerklich die vornehme Aufgabe, zuerst in der Küche und dann auch im kollektiven Unbewussten, den unergründlichen Tiefen des Volksbewusstseins, das Sammelsurium von Menschen, die sich nur formell als italienisch bezeichnen, zu einen und miteinander zu verschmelzen. (Piero Camporesi, Vorwort zu Pellegrino Artusi, La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene, S. XII)

Und so beharrt der große Artusi in seinen gelehrten Erläuterungen zum getrockneten Kabeljau auf der Unterscheidung zwischen baccalà (gewässertem Kabeljau) und stoccafisso (getrocknetem Kabeljau, Stockfisch). Vom baccalà, schreibt Artusi, seien zwei Arten im Handel, Gaspy und Labrador. »Der erste stammt von der Halbinsel Gaspé an den Uferbänken von Terra Nova«, also Amerika – eine Kabeljau-Art, die vor der Entdeckung der Neuen Welt in Europa unbekannt war. Die Unterart Labrador dagegen stammt aus Europa, aus Island, wohin der Kabeljau aus der Labradorsee gelangt. Der Geschmack dieses Fisches ist den Italienern vertrauter. Ihn meinten die Verfasser der ältesten Kochbücher, wenn sie die Zubereitung von baccalà beschrieben. Auf den in der Labradorsee gefangenen und getrockneten Kabeljau beziehen sich auch die Veröffentlichungen der ligurischen Accademia dello stoccafisso e del baccalà.[6]

Wie immer man den Kabeljau nun bezeichnet, er wird bereits sonnengetrocknet nach Venedig importiert. Dann folgt ein komplizierter Prozess: Vor dem Kochen wird er weichgeklopft (el bacalà xe come la dona, più la se bastona più la diventa bona; »der Baccalà ist wie eine Frau, je mehr du sie schlägst, desto besser wird sie«, lautet ein venezianischer Spruch), und danach wird er zwei, drei Tage gewässert. Der dabei entstehende Gestank ist unerträglich. Nach den Gesetzen des mittelalterlichen Venedig war es nicht gestattet, öfter als einmal am Tag das Einweichwasser zu wechseln und wegzuschütten, weil sonst aus allen Häusern ununterbrochene Wassergüsse und Gestank gekommen wären. Die städtischen Behörden erlaubten es nur nachts, das Wasser in die Abwasserkanäle zu gießen, um den Geruchssinn und die Psyche der empfindlicheren Passanten zu schonen.

 

Zwischen Venedig und dem restlichen Veneto gibt es große Unterschiede. In der Lagunenstadt ist das Auge gefesselt von bröckelnden Häusermauern, von der aristokratischen Atmosphäre der Dekadenz und den vornehmen Salons mit ihren palladianischen, über die Jahrhunderte hinweg ausgetretenen Fußböden. Im Veneto dagegen liegen saubere und ordentliche Städtchen zwischen bewachsenen Hügeln, und im Grün der Landschaft leuchten prächtige klassizistische Villen, die im 16. Jahrhundert von Palladio erbaut wurden. Eine idyllische Landschaft, die schon Goethe begeisterte: