Italiener-Wochenende - Kathi Albrecht - E-Book

Italiener-Wochenende E-Book

Kathi Albrecht

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Beschreibung

Humorvoller München-Krimi zur Wiesnzeit: Das Oktoberfest hat gerade begonnen, und die Münchner Kripo ist einem Drogenring auf der Spur. Und Neu-Münchnerin Jule, die eigentlich nur feiern und ihre Vergangenheit hinter sich lassen will, gerät in echte Schwierigkeiten. Nicht nur, weil sie nicht weiß, wem sie trauen kann. Warum torkelt der attraktive Lorenzo zugedröhnt durch den Nachbargarten, als Jule ihre Tante besucht? Wie ist er an Drogen gekommen? Und warum taucht ihr Verflossener gerade im falschen Moment im Wiesnzelt auf? Max, genau ihr Typ, scheint auch ein Geheimnis zu haben, denn er benimmt sich so abweisend. Jule will das alles genauer wissen - und gerät selbst in Verdacht …

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Seitenzahl: 391

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kathi Albrecht

Italiener-Wochenende

Oktoberfest-Krimi

© 2020 Kathi Albrecht

Umschlagabbildung: pst, Düsseldorf

Lektorat & Korrektorat: Christina Seitz

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,

22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-14467-5

e-Book:

978-3-347-14469-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

MAX

Er hasste die Wiesn. Abgrundtief und aus vollem Herzen. Und das als Münchner. Als Kind war er so gern aufs Oktoberfest gegangen, hatte die Tage gezählt, bis es losging, sich von Omas und Tanten Karussellgeld erbettelt. Er hatte sich jedes Mal einen Zuckerrausch geholt und war auf den Fahrgeschäften gefahren, bis ihm schwindelig wurde. Als Jugendlicher hatte er Hunde Gassi geführt, Einkäufe für alte Nachbarn erledigt, ringsum Rasen gemäht – um sich auf der Wiesn an allen drei Wochenenden ein paar Bier leisten zu können. Noch immer hatte er eine Lederhose im Schrank, mehrere karierte Hemden, passende Schuhe und die von der Oma handgestrickten Trachtenstrümpfen. Aber Rausch, Schwindel und Oktoberfest waren heute nur noch Synonyme für Arbeit, eine Menge zusätzlicher Arbeit.

Auch dieses Jahr würde er mitten zwischen grölenden Italienern, Schweden und Engländern stehen und nicht weiter auffallen mit seinen Lederhosen, Wadlwärmern und Haferlschuhen. Er würde singen, schunkeln und flirten – mit den Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls in Tracht herumliefen und ebenfalls alkoholfreies Bier tranken. Wenigstens zahlte das jemand anderer, nämlich sein Arbeitgeber.

Zum Oktoberfest reisten Menschen aus der ganzen Welt an, mit Bus und Bahn, per Flugzeug oder Wohnmobil. Leider wurden an Grenzübergängen und Wiesneingängen nicht alle immer gründlich kontrolliert. Da kam es immer mal wieder vor, dass sich mitten im überfüllten Bierzelt oder auch in der Warteschlange zum Riesenrad bayrisch verkleidete Menschen trafen und illegale Geschäfte abwickelten. Man konnte auf dem Oktoberfest prima im Getümmel untertauchen.

Aber wenn die Wiesn vorbei war, würde er, Kommissar Max Neuhauser, sowas von in den Urlaub fahren! Adria, Kroatien, wohin auch immer, Hauptsache, das Surfbrett war dabei. Mehr dauerhafte Gesellschaft würde er erstmal nicht brauchen.

1

Jule schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. So ein schöner Septembersonntag. Nichts deutete mehr auf den Regen am Vortag hin, als die Oktoberfesteröffnung so derart ins Wasser gefallen war wie wohl noch nie. Und niemand sah ihr den Stress der letzten Wochen an, als sie beinahe fluchtartig ihre Heimatstadt verlassen hatte, um in München neu anzufangen. Sie trug ein Dirndlkleid wie alle anderen und fiel gar nicht weiter auf. Gut so. Denn das war der Plan. Sie holte tief Luft und lächelte zufrieden.

Eigentlich war sie ja nicht sonderlich risikofreudig, aber sie brauchte dringend einen Neustart. Hier in München hatte sie immerhin einen neuen Job und eine neue Wohnung. Ohne den Job hätte sie keine Umzugskiste gepackt, einfach auf gut Glück hätte sie sich nicht getraut. Wie auch? Sie hatte sich in letzter Zeit ein paar fatale Fehlgriffe geleistet. Leider nicht bloß bei Klamotten, die man problemlos umtauschen oder zurückschicken konnte. Und als neue beste Freundin hatte sie immerhin ihre Cousine Veronika. Mehr Leute würde sie noch kennenlernen, vielleicht im Job oder beim Sport. Hier in München waren auch genug Menschen unterwegs. Egal wer, Hauptsache nicht er. Er, dessen Namen sie im Moment nicht einmal denken wollte. Und hier konnte sie sicher sein, ihn nicht zu treffen.

„Mei, die Wiesn ist doch schönste Zeit im Jahr!“

Mit dieser Feststellung ließ sich ihre Cousine Veronika auf die Bierbank ihr gegenüber sinken, unmittelbar danach standen zwei Radler auf ihrem Tisch. Vero trug normalerweise sehr modische Kleidung, aber heute? Als waschechte Münchnerin trug sie ein schickes Dirndlkleid und eine aufwendige Flechtfrisur. Es passte perfekt. Davon war Jule noch ein bisschen entfernt.

Vero sah sie kritisch an. „Madl, des ist koa Dirndl, was du anhast, des ist a Faschingskostüm!“

Jule nickte. Wegen des Umzugs hatte die Zeit zwar nicht gereicht, ein echtes Trachtenkleid zu kaufen, aber sie hatte ja noch dieses Dirndl im Schrank gehabt, das sie vor einigen Jahren (neun, um genau zu sein), als Karnevalskostüm gekauft und getragen hatte. Es passte sogar noch. Einigermaßen jedenfalls. „Stimmt. Sieht man das so deutlich?“

„Es hat einen Reißverschluss.“

Jule schaute ihr Kleid an und hob erstaunt die Arme. Nun ja, die meisten ihrer Kleider hatten Reißverschlüsse, abgesehen vielleicht von dünnen Strandkleidchen.

Vero hob die Augenbrauen und sah Jule verzweifelt an. „Des kannst nimmer anziehn!“

„Wieso? Ist das wichtig, was ich anhabe?“

„Willst du Leute kennenlernen oder dir von Betrunkenen die Klamotten vom Leib reißen lassen?“

Es gab offenbar mehr Parallelen zwischen dem Oktoberfest und rheinischem Karneval, als sie gedacht hatte.

„Also“, fuhr Vero fort, „Reißverschluss heißt: kriegt ein besoffener Australier auch nach fünf Maß Bier noch auf. Wenn du ein richtiges Dirndl, also ein Trachtenkleid wie meins hier anziehst und wo das Aufmachen schon ein bisschen Übung braucht und Mühe macht, besteht zumindest theoretisch noch die Möglichkeit, dass sich jemand vorher mit dir unterhält. Vielleicht sogar in einer Sprache, die du verstehst …“

„So schlimm?“

„Je nachdem, in welches Zelt und um welche Uhrzeit du hingehst, noch schlimmer … Nein, Schmarrn! Aber es reicht ja, wenn du am Italiener-Wochenende anständig angezogen bist!“

„Italiener-Wochenende? Soll das ein Witz sein?“

„Nein. Ich meine, jeder weiß doch, dass das Oktoberfest einzig und allein zur Völkerverständigung erfunden wurde und eigentlich die größte Flirtbörse der Welt ist. Außerdem sind wir doch genau deswegen hier, oder?“

„Also dein Vater hat mir was erzählt von Trachtenumzug und Landwirtschaftsausstellung. So historisch gesehen …“

„Alles Gerüchte, alles Folklore“, entgegnete Vero und winkte rigoros ab. „Erstens ist es dafür da, damit euch Rheinländern die Zeit zwischen Sommerferien und Karneval nicht zu lang wird, und zweitens, um den Italienern den kürzesten Weg zur schwedischen Sünde zu ermöglichen. Notfalls auch zur holländischen, australischen oder bayrischen …“

„Deswegen Italiener-Wochenende, ja?“

„Ganz genau.“ Vero nickte fröhlich. „Meine Schulfreundin aus dem Nachbarhaus früher – du erinnerst dich? Die mit dem italienischen Vater?“

„Klar, Carlotta. Aber die muss ja nicht anreisen, die ist doch schon da!“

„Aber ihre Cousins! Da kommen zwei aus Italien. Ja, und weil es sich dieses Jahr nicht anders ausging, als dass sie ausgerechnet zur Wiesn-Zeit in die Ferien fährt, da kümmern wir uns um die Italiener. Hab ich ihr versprochen.“

„NEIN!!!“

Jule wurde rot. Die Antwort war lauter und heftiger ausgefallen als geplant. „Ach, also, ich meine …“

Oh. Na super. Jule biss sich auf die Zunge. Auf einen dieser Counsins konnte sie verzichten. Von ihm hatte sie vor fünfzehn Jahren schon eine Überdosis genossen.

Mit seinen Dreadlocks, seinem bizarren Musikgeschmack und dieser Hyperaktivität war Lorenzo eigentlich komplett indiskutabel gewesen. Irgendwie, Jule konnte sich da auch nicht mehr genau erinnern, war dann aber kurz vor ihrer Abreise ein veritabler Ferienflirt daraus geworden, der dann nach dieser Party (bei wem eigentlich?), auf Tante Christines Gartenliege geendet hatte. Nachdem Jule zurück in Düsseldorf für ihr Abi lernte und Lorenzo in Italien im Militärdienst schwitzen musste, waren noch ein paar Wochen lang Mails und Postkarten geschrieben worden, dann war die Sache versandet. Und Jule hatte auch ihn unter „Jugendsünden“ abgeheftet und die Peinlichkeit, bei der Tante im Garten wild herumgeknutscht zu haben, versucht zu verdrängen. Immerhin war es damals sehr dunkel gewesen, und bis eben war ihr das auch ganz gut gelungen. Aber jetzt bitte ein Themenwechsel!

„Sag mal, Vero, wie geht’s denn deinen Eltern? Alles okay bei meiner Tante und meinem Onkel?“

„Äh, ja, wieso?“ Vero runzelte die Stirn. „Obwohl … Mei, die Mama ist ein bisschen fertig, weil – ja, das könnte dich interessieren! Der Mayer Kilian, der war in der Grundschule in einer Klasse mit meiner Schwester gewesen und heut früh hatte der einen Herzinfarkt. Mit sechsunddreißig!“

„Oh, nicht gut. Ist ja eigentlich ein bisschen jung dafür, oder? Ich meine, es sei denn, der war fettleibig …“ Vielleicht so wie Vanessa, Veros ältere Schwester, die zwar als ausgewiesenes IT-Genie an irgendeinem wichtigen Institut in Berlin arbeitete, dessen Name Jule regelmäßig entfiel – aber sie hatte von Geburt an gefühlt doppelt so viel gewogen, wie gut für sie war.

„Ach, nein! Der ist so ein Supersportler, der Kili! Eisklettern in Norwegen und Paragliding in Südamerika und Bungee in Neuseeland und sowas. Super Job bei einer Bank, Eigentumswohnung mitten in Schwabing mit Dachterrasse!“

„Na ja, dann kann der sich ja auch jetzt eine Chefarztbehandlung leisten, oder? “

„Juli, der ist tot!“

Okay, das war nicht ganz so schön. Und es tat ihr leid, obwohl sie diesen Kilian ja nun wirklich nicht kannte. Aber mit sechsunddreißig an einem Herzinfarkt zu sterben, fand selbst sie ungewöhnlich.

„Aber“, fuhr Vero fort, „der hat auch so pflanzliche Aufputschmittel genommen. War wohl nicht ganz ungefährlich. – Diese Naturheilsachen, das ist doch genau deins, oder?“

Das stimmte jetzt nicht ganz, denn für Naturheilkunde interessierte Jule sich höchstens dann, wenn die Apothekerin ihres Vertrauens ihr eine homöopathische Alternative zur Chemiekeule gegen Erkältungen vorschlug. Was Vero aber tatsächlich meinte, war Jules neuer Job bei einem Münchner Verlag. Sie sollte sich um die Werbung kümmern, allerdings im Bereich Naturheilkunde und Ratgeber. Ausgerechnet sie! Kochbücher wären ihr lieber gewesen, das wäre eigentlich ihr Traumjob gewesen. Aber sie hatte beschlossen, nicht damit zu hadern, sondern das Positive zu sehen. Es war bestimmt ganz gut, an etwas zu arbeiten, woran ihr Herz nicht hing. Fürs Erste war sie damit beschäftigt, sich zurechtzufinden und mit dem für Verlagsleute normalen Herbststress aus Frankfurter Buchmesse, Vertretertagung und Weihnachtsgeschäft klarzukommen. Damit sie nicht die Nächste war, die umkippte.

2

Jule parkte ihren Mini vor der Haustür von Tante Christine und Onkel Wolfgang.

„Komisch, die sind gar nicht da“, murmelte Vero, als auf ihr Klingeln niemand öffnete und zog den Schlüssel aus der Tasche. Es war Freitagnachmittag und eigentlich wollten sie nachsehen, ob in Christines Dindl-Sammlung noch etwas Passendes für Jule war. Christine war schließlich nicht immer so dick gewesen. In der Küche lag auf dem Tisch ein Zettel mit dem Hinweis, die Dirndlkleider hätte Christine in „Vronis Kinderzimmer“ aufgehängt, weil sie jetzt mit der Rosi nochmal zum Bestatter musste. Bestatter? Ach ja, der Herzinfarkt in der Nachbarschaft.

„Schau mal, Juli, das Zimmer von der Nessi ist jetzt Gästezimmer. Und in meinem alten Zimmer wohnt jetzt das Bügelbrett, da hat es wenigstens einen schönen Blick in den Garten. Und die Dirndl hängen auch hier! Ich geh mal gerade …“ Sie deutete auf eine offene Zimmertür, an der ein sehr verblasster Pferdeaufkleber pappte und verschwand im Badezimmer gegenüber. Jule wollte schon mal die Dirndl-Ausstellung besuchen und in den Garten schauen. Jeder Mieter in den Einfamilienreihenhäusern hatte seine Terrasse individuell mit Sichtschutz, Hecken, Büschen oder Gartenhäuschen ausgestattet, dahinter öffnete sich aber eine große Gemeinschaftswiese mit alten Bäumen. Jule hatte das immer besonders schön gefunden.

„Vero??? Hier ist ein Mann im Garten!“

„Aha! Schaut der gut aus? Das Wochenende fängt gut an!“, rief es vom Klo.

„Nee du! Find ich nicht!“

„Im Nachbargarten?“

„Welchen Nachbargarten meinst du?“

„Juliiiii! Das hier ist ein Eckhaus. Hier gibt’s nur einen einzigen Nachbarn!“

„Ja, eben. Und hier ist auch nur ein Typ und der ist gar nicht lecker, aber der ist hier vor dem Haus!!!

„Was macht der und wie sieht er aus?“

„Och, so ein kleines Männlein, höchstens eins fünfzig, trägt bei diesem warmen Wetter einen dicken Wollpulli und kriecht unter den Büschen und Sträuchern herum … “

„Haarfarbe?“, brüllte Vero, um die Klospülung zu übertönen.

„Kann ich nicht genau sehen, sehr grau, glaube ich – oder weiß. Was will der hier? Ist das ein Einbrecher?“

Vero stürzte ins Zimmer und kam zum Fenster. „Hab ich’s mir gedacht: Das ist der Nachbar. Und er hat keinen Pulli an, das ist sein Brusthaar!“

„Auf dem Rücken?“

„Ja, da auch. Das ist Enzo, Carlottas Vater. Ach, du kennst den doch! Keine Ahnung, was er da jetzt genau macht. Hoffentlich keinen Blödsinn … “ Vero reckte sich. „Komm, wir gehen runter und sagen Guten Tag. Wie ich meine Mutter kenne, hat sie ihm erzählt, wo sie ist und dass wir kommen. Und wenn wir jetzt nicht rübergehen, steht der nachher hier im Flur, um zu gucken, ob wir auch da waren. Der hat nämlich einen Schlüssel. Und wahrscheinlich kommt er genau dann, wenn wir uns umziehen und im halbgeschnürten Dirndl hier rumstehen.“

***

„Grüß dich, Enzo! Wie geht es?“ Vero fiel dem alten Italiener um den Hals.

„Verrrroo-nica! Ciao!“

„Enzo, das hier ist meine Cousine Jule. Erinnerst du dich noch an sie?“

„Ah! Giulia! Ciao, ragazza! Schön, dass du biste wiedere hier. Bene. Iste viele Jahre her.“

Er war alt und grau geworden. Und er nannte sie wieder Giulia. Das hatte er damals erfunden, als sie den Sommer hier verbracht hatte.

Enzo beklagte sich lautstark über sein Schicksal. Er alleine hatte die Verantwortung für drei Gärten. Es gab ja immer ein paar Oktoberfestflüchtlinge in der Nachbarschaft. Tante Christine und Onkel Wolfgang waren spontan mit der Nachbarin unterwegs, deren Sohn vergangene Woche gestorben war. Da mussten Dinge organisiert und eine Gaststätte für die Beerdigung gesucht werden. Und ihn hatte sie mit all der Arbeit hier alleine gelassen! Eine gewaltige Unordnung in seinem Garten, alles war durcheinandergebracht worden und ein Beet zerwühlt. Christine tippte auf einen Waschbären, er aber schimpfte, das könnte kein Bär gewesen sein, sondern ein Idiot. Nun ja. Außerdem war sein Auto in der Werkstatt. Und dann war noch sein Neffe aus Italien für ein paar Tage nach München gekommen! Um den musste er sich jetzt auch noch kümmern. Und die Nachbarn drei Häuser weiter waren im Urlaub und hatten auch so viele Blumen. Enzo tat sich selbst ziemlich leid, freute sich aber Jule und Vero wieder zu sehen, und holte irgendwann doch wieder seine Gießkanne.

„Jule, ich glaub, wir machen erstmal ein Päuschen hier auf der Terrasse. Es ist so schön friedlich hier und sogar noch ein bisschen hell. Komm, wir rücken diese Liegestühle mal ein bisschen rüber. Lass uns etwas ausruhen, dann probieren wir Mamas Dirndl-Sammlung aus und köpfen den Prosecco, den ich mitgebracht habe – hab ich den eigentlich in den Kühlschrank gestellt? Ach ja, richtig.“

„Den ersten Italiener haben wir schon mal an deinem berüchtigten Italiener-Wochenende“, kicherte Jule.

„Ich will mal hoffen, dass das nicht der letzte war!“

„Ach, Enzo hat doch gesagt, sein Neffe wäre für ein paar Tage hier…“

„Den treffen wir bestimmt auch noch, das werden wir wahrscheinlich gar nicht verhindern können. Lassen wir uns überraschen!“

Ja, diese Überraschung stand Jule noch bevor. Enzo hatte nur von einem Neffen gesprochen, aber soweit sie sich erinnerte, hatte Enzo eine unübersichtlich große Zahl von Nichten und Neffen. Mit ein bisschen Glück war es nicht Lorenzo.

Vero steckte sich die Kopfhörer ins Ohr und beschallte sich mit Musik und Jule beschloss, ein paar Minuten lang ihre Ruhe zu genießen. Schön, hier in der Münchner Septembersonne zu liegen, alles war ganz ruhig, nur Enzo scharrte im Nachbargarten mit seinem Unkraut herum. Obwohl sie sich ganz etwas anderes vorgenommen hatte, wanderten ihre Gedanken doch wieder zu Christines Erzählungen und Erklärungen.

Tante Christine war immer noch ziemlich aufgelöst gewesen, als Jule unter der Woche nochmal mit ihr telefoniert hatte, vor allem, weil es ja nicht nur die Neunzigjährigen traf, sondern auch junge Menschen. Der dritte unter 50 im letzten halben Jahr! Alle drei Männer, denen ihr stressiger Job einen tödlichen Herzinfarkt beschert hatte. Zwei davon etwa in Jules Alter, eine gruselige Vorstellung … Aber wie war das mit den Naturheilmitteln gewesen? Nein, Aufputschmittel. Nicht alles Natürliche war offenbar harmlos.

***

Da war eine Stimme. Sie kam näher, dann entfernte sie sich wieder. Sie sprach unverständliche Worte. Was für ein komischer Traum. War sie etwa eingeschlafen? Träumte sie überhaupt noch?

Die Stimme war jetzt wieder da. Und irgendwie hysterisch, obwohl eindeutig männlich. Wer brüllte denn da so herum? Richtig ja, die vielen Leute auf dem Oktoberfest. War sie schon da? Jule riskierte einen Blick aus einem halbgeöffneten Auge. Langsam kam ihr Gehirn wieder in Schwung. Nein, sie waren gar nicht im Bierzelt, sondern im Garten bei Tante Christine. Und Vero saß mit geschlossenen Augen neben ihr und wippte zu irgendeiner unhörbaren Melodie mit den Füßen. Das Geschrei kam aber nicht von ihr.

Jule setzte sich auf. Da war er wieder, der Nachbar Enzo. Er stand nebenan auf seiner Terrasse und rief etwas. Auch er war nicht derjenige, der da so hektisch herumschrie, denn er winkte und gestikulierte woanders hin. Dann lief er los, rief wieder, lief schneller. Auf einen anderen Mann zu weiter hinten im Garten, der aufgeregt hin und her lief und ebenfalls laut redete. Italienisch vermutlich, denn Jule verstand kein Wort.

Der fremde Mann wütete durch den Garten, lief hierhin und dorthin, sprach mit den Bäumen, schimpfte zu Tante Christines Blumenbeet hin, schüttelte Enzo ab, der ihn immer wieder versuchte festzuhalten. Aber Enzo selbst wurde immer aufgeregter, er bekam den Kerl einfach nicht in den Griff. Inzwischen war das Getöse so laut geworden, dass selbst Veronika nun den Kopfhörer beiseitegelegt hatte und Enzos Kampf mit dem Fremden beobachtete.

„Was ist denn mit dem los?“ überlegte Jule laut. Wer war das, was wollte er und vor allem, warum machte er so einen Lärm? War etwas passiert? Unfall? Erdbeben? Hausfriedensbruch? Ob man vielleicht eingreifen und Enzo zu Hilfe kommen müsste? Die Polizei rufen? Der Mann redete unaufhörlich und unverständlich weiter. Inzwischen hatten in den umliegenden Häusern bereits interessierte Rentner an ihren Fenstern Platz genommen.

Der Mann benahm sich nicht normal, so viel war klar. Betrunken vielleicht, er torkelte ein bisschen, nichts Ungewöhnliches zur Oktoberfestzeit. Oder ein Junkie, der versucht hatte einzubrechen und irgendetwas zu klauen. Aber dann wäre er weggerannt und würde nicht Enzos Bäume anschreien. Außerdem sah er nicht unbedingt so aus, als würde er in Bahnhofsnähe campieren, er war zwar barfuß, trug aber eine Anzughose und ein Businesshemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Irgendwie, überlegte Jule, sah er sogar ziemlich gut aus! Schlank, braune Haare, dunkle Augen … Allerdings mit irrem Blick und definitiv nicht klaren Geistes.

Jetzt endlich schien er auf Enzo zu hören, denn er blieb stehen. Doch er starrte Enzo mit stierem Blick an und übergab sich dann keine fünf Meter neben Jule in ein Blumenbeet.

„Vielleicht ein paar Bier zu viel gehabt?“ orakelte Vero, die nun auch die Augen offen hatte.

„Schade, er sah eigentlich ganz nett aus.“

„Was macht der hier? Sag mal, das wird doch nicht etwa Enzos …“ Vero stand blitzartig auf. „Du, er hat jetzt Schaum vor dem Mund, das ist aber nicht mehr lustig. Da müssen wir was machen! Der hat was!“

„Wieso? Ist er nicht bloß besoffen? Müssen wir was tun?“

„Rede du mit Enzo und ich rufe den Rettungswagen. Der Giftnotruf hilft uns jetzt auch nicht mehr weiter …“

Da hatte Vero offenbar doch von der inzwischen beendeten Beziehung zu einem gewissen Konstantin profitiert, der während seiner sieben Jahre Wartezeit auf einen Medizin-Studienplatz als Rettungssanitäter gearbeitet hatte. „Wenn du mich fragst, ist das hier entweder eine Vergiftung oder der steht kurz vor einem allergischen Schock. Vielleicht auch beides.“

Während Vero das Heft in die Hand genommen hatte und nun telefonierte, stand Jule, nachdem sie mit Enzo ein paar Worte gewechselt hatte, ein wenig unschlüssig im Garten herum. Um wenigstens irgendetwas halbwegs Sinnvolles zu tun, räumte sie schon mal die Liegestühle vor das Haus, so waren sie vor weiteren Ausbrüchen geschützt.

Vero dagegen war in ihrem Element, wie immer, wenn es irgendetwas zu organisieren gab. Dankenswerterweise hatte der Mann sich beruhigt und sich kurz hingesetzt. Vero sah ihn forschend an und sprach mit Enzo, der vollkommen aufgelöst schien.

Der Typ kam Jule bekannt vor. Auch sie musste sich mal kurz hinsetzen, als Enzo erklärte: „Iste Lorenzo, meine Neffe. Hatte gehabte eine paar Termine hier in München wegene Arbeit, dann komme Freund und wolle zur Wiesn zusamme …“

Jule starrte erst Enzo an, dann den Neffen. Lorenzo. Tatsache. So hatte sie sich ihre Begegnung nicht vorstellt. Er sah ganz anders aus als vor fünfzehn Jahren. Keine Dreadlocks mehr, sondern kurze dunkelbraune Locken und statt Mountainbike-Shorts und bunten T-Shirts trug er jetzt schicke Businesskleidung. Er sah wirklich gut aus. Und sie hatte sich selbst ja auch schon eingestanden, dass sie ihn bereits damals attraktiv gefunden hatte. Einen Moment lang wurde Jules Kreislauf ein wenig in Wallung gebracht, als sie an die Sommerferien damals dachte.

Aber sie konnte wohl davon ausgehen, dass dieser heute wirklich attraktive Lorenzo immer noch alle denkbar schlechten Charaktereigenschaften in sich vereinte. Sehr wahrscheinlich war er eitel, arrogant, egozentrisch und darüber hinaus mit Sicherheit ebenso verheiratet wie untreu.

Und er erkannte sie offenbar auch. Aber er war irgendwie nicht imstande, verständlich oder auch nur Deutsch zu sprechen. Er sah sie an und schien zu schimpfen, wollte irgendetwas von ihr wegzerren, aber Vero drückte ihn wieder in seinen Stuhl, woraufhin er Enzo mit einem Schwall italienischer Tiraden überschüttete. Das war gespenstisch, Lorenzo schien geistig ganz woanders zu sein. Jedenfalls benahm er sich nicht so, als ob er an einem sonnigen Herbstnachmittag bei seinem Onkel im Garten säße und eine alte Bekannte, eine … nun ja, eine Art Ex-Freundin wiederträfe. Sondern ziemlich genau so, wie Jule es mal vor Jahren in einem Club erlebt hatte, als ein paar Leute zu viele Pillen eingeworfen hatten.

Als der Notarztwagen eintraf, hatte Lorenzo wieder Schaum vor dem Mund und veranstaltete erneut ein wildes Getöse.

„War, eh, normale vorher, il ragazzo“, beeilte sich Enzo immer wieder den Sanitätern zu versichern und berichtete, sein Neffe sei beruflich in der Stadt gewesen, habe dann hier etwas gegessen, als er dann in den Garten kam, war er nicht mehr zu bändigen gewesen, habe geschrien und sei durch den Garten gerannt. Die Sanitäter aber waren mehr an Veros Schilderungen interessiert. Interessant, dass es gleich nach einer ernstzunehmenden medizinischen Diagnose klang, wenn man nicht von wildem Rumrennen und irrem Geschrei redete, sondern sich ausdrückte wie sie: Erweiterte Pupillen, Desorientiertheit, Hautreaktionen, optische Halluzinationen und unklare Ursache.

Man verfrachtete Lorenzo in den Krankenwagen und fuhr ihn mit Blaulicht und Martinshorn ins Krankenhaus. Enzo wurde nicht mitgenommen, die Sanitäter hatten ihm aufgetragen, sich etwas überzuziehen und dann mit Lorenzos Ausweispapieren ins Krankenhaus nachzukommen.

Enzo war erstmal vollkommen fertig und sackte förmlich in sich zusammen. Vero stürmte ins Haus, suchte und fand als erste Hilfe eine Flasche Obstler von ihrem Vater. Damit kam sie wieder in den Garten und schütte Enzo ein kleines Glas voll. Nur Bruchteile von Sekunden späterer hielt ihr das leere Glas hin. Vero war recht großzügig und tatsächlich erholte sich der Nachbar sichtlich. So gut, dass er nach einem dritten Pinnchen Jules Auto ausborgen und zu Lorenzo ins Krankenhaus fahren wollte. Dafür erntete er ein müdes Lächeln von Vero, die ihn erst einmal ins Haus schickte, damit er endlich den Ausweis seines Neffen holte.

Für Vero war es vollkommen klar, dass sie Enzo zu seinem Neffen fahren würden. Jule war das nicht ganz so klar gewesen, sie hätte ihm eine Fahrt im Taxi durchaus alleine zugetraut. Und eigentlich hatten sie ja auch etwas vor, wobei die Planungen für den heutigen Abend eigentlich nicht einschlossen, einen alten Italiener ins Krankenhaus zu begleiten, damit dieser seinen Neffen besuchen konnte.

Was mochte Lorenzo angestellt haben? Wahrscheinlich hatte er sich nur äußerlich verändert und war derselbe Kindskopf geblieben wie mit achtzehn. Da hatte er auch allen möglichen Blödsinn gemacht. Womöglich hatte er irgendetwas gegessen, was diesen allergischen Schock ausgelöst hatte, wie Vero vermutete.

Ihre Cousine damit alleine zu lassen, war aber auch keine Option. Es würde ja wohl nicht ewig dauern, Enzo mal eben zum Krankenhaus zu fahren. Und wenn sie schon einmal unterwegs waren, würden sie wahrscheinlich auch irgendwo eine Pizza auftreiben können, für den Biergarten war es dann nämlich zu kalt.

3

Während der Autofahrt haderte Enzo aber noch einmal mit seinem Schicksal: Nachbarn nicht da, Auto nicht da, überall Blumen gießen bei diesem heißen Wetter und dann noch der Neffe mit Blaulicht im Krankenwagen. Unmittelbar vor der Abfahrt hatte er noch einen vierten Obstler gekippt, Aber immerhin war es Jule gelungen, ihn davon zu überzeugen, sich ein Hemd überzuziehen, sodass sie doch noch mit einiger Würde im Krankenhaus ankamen.

„Wo lotst du mich hin, Vero? Das Krankenhaus ist da!“ Jule zeigte auf die andere Straßenseite.

„Ja. Aber da ist der Parkplatz!“

„Ach, und ich dachte wir fahren vor und sind gleich wieder weg. Wir hatten doch noch was vor…“ Jule hatte gehofft, Enzo einfach vor dem Krankenhausportal aussetzen zu können.

„Nein Enzo, keine Sorge, wir begleiten dich hinein. Ich will ja auch wissen, ob ich mit meiner Diagnose richtig gelegen habe.“ Auf Jules Einwand ging Vero überhaupt nicht ein. Vielen Dank auch.

Enzo packte Vero, küsste sie schmatzend auf die Stirn und schob ab.

„Das wäre jetzt nun nicht nötig gewesen …“ Vero wischte sich über die Stirn und zog die Mundwinkel nach unten. „Bäh, der Kerl hat eine Fahne!“ Sie grinste Jule an. „So und jetzt will ich wissen, was Lorenzo gefressen hat!“ Und stürmte los.

Jule ergab sich in ihr Schicksal und trabte hinterher. Ob Lorenzo sie wirklich erkannt hatte? Ob er sich noch erinnerte? Unwahrscheinlich. Hoffentlich.

Enzo war bereits am Tresen der Notaufnahme angekommen und redete auf eine Krankenschwester ein. Die runzelte die Stirn und fragte: „Sind Sie der Vater? Können Sie sich ausweisen?“

„Nein, Onkel.“ Enzo kramte umständlich seinen Ausweis aus der Tasche und verkündete laut und voller Stolz. „Sogar Patenonkel.“ Die Information war offenbar nur mäßig wichtig. Nach einem Blick auf Enzos Namen ratterte die Krankenschwester auf Italienisch los.

Man schien sich tatsächlich auf das Italiener-Wochenende eingerichtet zu haben. Jule riss erstaunt die Augen auf, zuckte resigniert mit den Schultern und suchte sich seufzend einen Sitzplatz im wunderbar ungemütlichen Wartebereich der Notaufnahme, durch den gerade eine Reinigungskraft mit einer Mischung aus Golfauto und Kehrmaschine tuckerte und eine nasse Spur sowie einen Geruchsschweif aus Desinfektionsmittel hinter sich her zog. Ein leichter Grundton aus abgestandenem Alkohol und Schweiß ließ sich damit aber nicht vertreiben, sondern behauptete sich hartnäckig, kaum dass die Maschine zehn Meter entfernt war.

Vero aber wollte die Krankenschwester aber nicht einfach so davonkommen lassen. Hinsetzen und Abwarten war nicht ihr Stil. Sie stellte ein paar Fragen, die in Jules Ohren wirklich kompetent klangen, von Anaphylaxie war die Rede, von halluzinatorischem Irgendwas, dann von Dosierungen und Diagnosen. Doch die Krankenschwester bellte nur. „Habe ich Ihrem Vater schon gesagt!“

„Das ist nicht mein Vater und ich spreche, Entschuldigung, kein Italienisch. Können Sie das bitte für mich noch einmal wiederholen?“

„Wer sind Sie überhaupt, wenn Sie nicht dazugehören?“

„Ich bin die Nachbarin, ich habe die Sanitäter gerufen und über den Schock in Kenntnis gesetzt. Und dann habe ich den Onkel des Patienten mit den Ausweisen hierhergebracht.“ Vero holte mit gehobener Augenbraue tief Luft. „Und jetzt sagen Sie mir bitte, was los ist.“

Ihre Ruhe war nur äußerlich, soviel war Jule klar.

„Warten Sie. Arzt kommt.“

„Wann etwa???“

„Warten!“

Vero schloss die Augen, dreht auf dem Absatz um und setzte sich zu Jule. Ja, es gab sicherlich schönere Arbeitsplätze als die Notaufnahme zur Oktoberfestzeit, aber in Sachen Dienstleistung und Kundenfreundlichkeit konnte dieses Krankenhaus wohl noch eine Menge dazulernen.

Enzo zuckte erschrocken zusammen, als das Handy, das Jule vom Gartentisch genommen und ihm die Hand gedrückt hatte, aufleuchtete, vibrierte und klingelte. Noch ein Klingeln. Enzo hielt es von sich weg. „Iste nichte meine telefonino! Gehörte Lorenzo.“ Und wieder klingelte es.

„Wer ist Stefano?“

Enzo sah Veronika verwirrt an. „Lorenzos Freund, iste hier mit ihm. Wieso?“

Auch Jule deutete jetzt auf das Display des aufgeregten Handys. „Der will was. Vielleicht gehst du mal ran … “

Die Krankenschwester sah bereits wenig erfreut zu ihnen hinüber.

„Pronto.“

Vom Gespräch verstanden Vero und Jule kaum ein Wort. Hin und wieder fielen Namen, dann das Wort Ospedale, ansonsten redete Enzo ebenso gestenreich als ob er diesem Stefano gegenüberstehen würde. Dann beendete er das Gespräch und ließ das Handy sinken. „Die habe gewartet auf Lorenzo, jetzt sie gehe ins Bierzelt ohne ihn.“ Das war ganz sinnvoll, denn so bald würde Lorenzo wohl nicht dazu stoßen können. „Sagte, eh, Stefano, keine Netz für telefonino auf die Wiesn. Iste gegange in pizzeria jetzt. Kann telefoniere da.“

„Da fällt mir ein: Enzo, ist der Lorenzo eigentlich verheiratet?“

„Wie kommst du denn jetzt darauf? – Und wieso willst du das wissen …?“ Jule hob die Augenbrauen und sah ihre Cousine streng an.

„Herrgott, Jule! Ich meine, ob wir irgendwen anrufen müssen! Um seine Familie zu benachrichtigen, dass er im Krankenhaus ist.“

„No, nicht verheiratet iste. Alle dachte, dann nichte, große Streit. Ah, povero! Iste gekomme wieder nach Bolzano zu mámma, zu nonna, nach Unfall mit Bruder und jetzte immer so viele Arbeite mit neue Job, dann daheim alleine.“ Er seufzte tief. „Aber Schwester hat trattoria bei Bahnhof, kann er essen da.“ Enzo nickte still. „Iste gut, das.“

Trattoria am Bahnhof klang zwar nicht sehr nahrhaft, aber tröstlich. In jeder Hinsicht, fand Jule.

„Oddio! Meine Bruder, meine Schwägerin! Oh, sie werde sein erschrocke, werde verfluche Enzo. Ah!“ Er war ein einziger Seufzer und versank augenblicklich in stiller Melancholie.

„Haben sie in dieser Familie so ein schlechtes Verhältnis zueinander?“, flüsterte Jule.

„Also eigentlich nicht – soviel ich weiß. Aber ich weiß, dass Enzo ein bisschen zur Dramatik neigt …“

Enzo blickte treuherzig zu ihnen hinüber. „Rufe an, später. Von daheim … “

Vero grinste. „Enzo, du willst dich drücken.“

„Nein! Habe Nummer nichte auswendig.“ Er deutete auf das Kartentelefon am Ende des Gangs. Er lächelte ein wenig stolz auf seinen Einfall, mit dem er sich drücken konnte.

„Enzo, du hast ein Handy in der Hand. Und das gehört Lorenzo. Da ist die Nummer von seinen Eltern gespeichert. Hundertprozentig.“

„Oddio! No! Wenn ich rufe an mit, eh, telefonino von Lorenzo – und iste nicht er, nur bin ich – was soll ich sage? Sie denke, iste schrecklich wieder!“

„Ja, ja“, meinte Veronika. „Meine Mutter würde auch einen Nervenzusammenbruch kriegen, wenn irgendwer mit meinem Handy aus dem Krankenhaus anrufen würde …“

„Hat er vielleicht eine Freundin? Dann können wir die anrufen.“

„Sara.“

„Sollen wir die anrufen? Ich schau mal nach der Nummer.“ Veronika griff sich das Handy. „Geburtstag?“

Enzo sah sie verwirrt an.

„Enzo, wir müssen das Handy entsperren. Die meisten Leute nehmen ihren Geburtstag als Pin. Also, Enzo: Wann hat Lorenzo Geburtstag?“

„Siebte Dezember.“

Stimmt, das hätte Jule auch noch gewusst. Seltsam, an was man sich erinnerte nach so vielen Jahren.

„Hmmm, nullsiebenzwölf oder zwölfnullsieben?“, murmelte Veronika und tippte. Und strahlte.

Jule sah ihr über die Schulter. „Oh, in den Kontakten sind drei Saras!“ rief sie. „Enzo, weißt du, wie die mit Nachnamen heißt?“

Er schüttelte bedauernd den Kopf, war sich offenbar immer noch nicht sicher, ob das so richtig war, was sie da machten.

„Wir gucken uns diese Saras jetzt mal an, dann kannst du uns sagen, wer es ist.“

Sara Vascotto war der klassische Italo-Vamp mit langen schwarzen Haaren, wissendem Blick und Ferrariroten Lippen. Ein echter Hingucker. So aus männlicher Perspektive … Absolut möglich, dass das die Freundin war.

Aber erstmal weiter. Sara Taschler hatte als Profilbild einen Buddha-Kopf mit qualmenden Räucherstäbchen. Nun ja. Aber andererseits: Keine Ahnung worauf Lorenzo so stand.

Die dritte Sara hatte keinen Nachnamen. Und sie war sehr, sehr süß. Sah zwar nicht viel älter aus als zwanzig, aber sie hielt einen Kussmund in die Kamera und sah ziemlich glücklich aus. Also sehr wahrscheinlich Lorenzos Freundin.

„Enzo, ist das die hier?“

„No!“ Er saß plötzlich wieder ganz gerade. „Non e la ragazza! No!“

Ach Gott, warum war er jetzt so aufgeregt?

„Nein, Giulia! Iste kleine Tochter von meine Bruder Piero!“

Jule überlegte kurz. „Also Lorenzos Cousine. Deswegen kein Nachname.“

„Certo!“

Na gut, die schied schon mal aus. „Welche von den anderen beiden?“

Achselzucken. „Habe nie gesehe …“

Jule rollte mit den Augen und Vero schlug vor: „Vielleicht rufst du dann mal besser doch mal Lorenzos Eltern an und die kann dann ja der Freundin Bescheid geben.“

„Weißt du was, Enzo“, beschloss Vero. „Nimm einfach mein Handy. Und die Nummer holen wir aus Lorenzos Telefonbuch.“ Sie schaltete es an und reichte es ihm hinüber.

„Dürfe das?“

„Enzo, das ist ein Notfall! Sieh nach unter M wie Mámma.“

Enzo tippte. „Fantástico! Da iste Nummer …“

„Wählen!“

Enzo erzählte einem gewissen Sergio, vermutlich seinem Bruder, wortreich, was passiert war, zuckte immer wieder mit den Achseln.

Vero ging vor lauter Langeweile und Bewegungsdrang ein paar Mal hin und her, blieb dann aber plötzlich wie angewurzelt stehen und blickte auf. Es öffnete sich wie von Zauberhand die Tür zu den Untersuchungsräumen. Heraus trat ein Arzt. Nicht etwa ganz in weiß, sondern in OP-blau. Er hielt in der linken Hand die OP-Mütze, die rechte hatte er lässig in die Hosentasche gesteckt, der Dreitagebart nur unwesentlich kürzer als die Haare. Plötzlich grinste der Arzt amüsiert und schlenderte auf Enzo zu. Ein Lichtblick: Dieses Krankenhaus beschäftigte nicht nur schlechtgelaunte Menschen!

Enzo steckte das Handy in die Tasche und fiel dem Arzt um den Hals, wurde aber sehr bald ein wenig auf Abstand gehalten, prüfend angesehen und dann zugetextet. Natürlich Italienisch. War ja auch nicht anders zu erwarten gewesen, dachte Jule. Hatte sie bis vorhin noch daran gezweifelt, ob sie vor lauter Lederhosen hier an diesem sagenumwobenen Italiener-Wochenende überhaupt irgendeinen Italiener zu Gesicht bekommen würden, so hatte sie nun mehr davon um sich herum als ihr im Moment lieb war.

Als der Arzt nun herüberschaute, nachdem Enzo mehrmals achselzuckend Unwissen gestikuliert und dann zu ihnen gezeigt hatte, besann sich auch Vero ihrer guten Erziehung und streckte die Hand zur Begrüßung aus.

„Buona sera.“ Soweit reichte ihr Pizzeria-Italienisch noch.

„Grüß Gott. Ich bin Dr. Russo. Mit mir müssen Sie nicht Italienisch sprechen, ich bin Münchner.“ Eine überflüssige Information. Schon nach wenigen Worten konnte man hören, wo er aufgewachsen war, die bayrische Herkunft konnte er nicht verleugnen. „Mein Vater und Herr Bertolini waren Arbeitskollegen, daher kennen wir uns“ erklärte er. „Und Lorenzo kenne ich auch schon lange. Gut, dass Sie ihn sofort hergebracht haben. Ich glaube, ein bisschen mehr von dem, das er gegessen hat, und der wär’ jetzt nicht mehr!“

„Oh! Der Arme, mein Gott, wie schrecklich!“ Jule war beeindruckt. Sie schlug die Hände vor den Mund und starrte den Arzt mit großen blauen Augen an. „Ach so, ich bin Juliane Baumann, guten Tag.“

Vero war schon wieder einen Schritt weiter. „Was also hm, was hat äh … Lorenzo denn hm … Giftiges gegessen? “

„Ja, das! Wenn wir’s genau wüssten! Obwohl: Es war wohl doch keine Lebensmittelvergiftung.“

„Ach nein?“, unterbrach Veronika. Auf seinen irritierten Blick hin ergänzte sie: „Ich kenne mich ein bisschen aus. Wissen Sie, ich habe mal ehrenamtlich als Tripsitter beim Roten Kreuz gearbeitet.“

Russo lächelte. „Ah, sehr gut.“ Schon waren sie Kollegen. „Also, wir haben ein Drogenscreening gemacht. Ja, und das war positiv. Das entspricht auch dem, was Sie beide den Sanitätern an Symptomen berichtet haben, also erweiterte Pupillen, erhöhte Herzfrequenz, Speichelbildung, Übelkeit und Erbrechen. Aber was er genau konsumiert hat, wissen wir noch nicht. Also nichts, was man so alle Tage findet. Deswegen soll er auch über Nacht hierbleiben.“

„Nimmt der regelmäßig was? Hat der früher mal Drogen genommen?“

Der Arzt hob unwissend die Schultern. „Soweit ich weiß nicht, aber … Enzo: Tu sai?“

„Madonna! No!“ Enzo war verzweifelt, rang die Hände, ging auf und ab.

„Äh, ja und jetzt?“, wollte Jule wissen. Im Grunde wollte sie, dass der Arzt sie wegschickte, denn der Krankenhausbesuch war ja nicht das Freitagabendprogramm, das sie sich vorgestellt hatte.

„Wir haben ihn zum Ausnüchtern in ein leeres Zimmer gebracht. Ist ja nicht lebensbedrohlich bei ihm. Gut, dass die Dosis nicht höher war und dass er ansonsten fit und gesund ist.“

„Wie nur irgendwo abgelegt? Mehr nicht?“ Jule war jetzt doch ein bisschen entrüstet. Gut, dass sie hier waren. Musste man denen eigentlich auch noch sagen, was zu tun war? „Ich meine, vielleicht hätten sie ihm mal den Magen auspumpen sollen oder sowas!“

„Nein, der hat doch schon …“ Dr. Russo sah auf das Krankenblatt.

„…gekotzt“ ergänzte Vero. „Da ist nichts mehr zu holen.“

Der Arzt lachte laut und nickte dann aber. „Also ich hätt’ das vielleicht a bisserl anders formuliert, aber in der Sache stimmt das.“

Jule blieb skeptisch, aber Dr. Russo war weiterhin sehr gelassen.

„Ich bin Internist und hier in der Klinik Ansprechpartner für das Drogendezernat der Münchner Polizei. Sie können mir da schon vertrauen.“

„Oh. Tschuldigung …“, murmelte Jule.

„Können wir zu ihm?“ fragte Vero eifrig.

„Vero!!! Du wirst doch wohl nicht …“ Jule funkelte ihre Cousine an. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.

„Ach, keine Sorge, Juli. Ich würde nur mal gerne ganz kurz … “

Dr. Russo amüsierte sich köstlich. „Ja, ja, ich führe sie da kurz hin, dann können Sie alle sehen, dass es ihm ganz gut geht. Der hat ja keinen Horrortrip. Und eine Krankenschwester ist auch in der Nähe.“

„Andiamo sopra.“ Dr. Russo legte Enzo eine Hand auf die Schulter und ging mit ihm voran.

Vero sah Jule an, riss die Augen auf und flüsterte: „Oooh, der ist aber süß, der Onkel Doktor!“

„Unsere Omi in Wuppertal würde jetzt sagen: Määdsche, wat enne Plüschauge!“

„Na und? Plüsch kann etwas sehr schön Kuscheliges sein … “

Nun, er sah nicht schlecht aus, aber Jules Typ war er definitiv nicht. Offenbar allerdings Veros.

Während Enzo schon hineinlugte, blieb Dr. Russo vor einem Krankenzimmer stehen. „Egal, wie das jetzt da aussieht, es ist okay. Ich habe ihm meinen iPod gegeben und eine entspannte Playlist aufgerufen. Der hört Musik und randaliert hoffentlich nicht herum. Die Polizei wird später noch von ihm wissen wollen, wo er das Zeug gekauft hat. Morgen darf er nach Hause und dann kann er auch schon wieder fast alles essen. Mit dem Autofahren wäre ich bis Sonntag ein bisschen vorsichtig, weil: solange wir die Substanz nicht genau kennen, wissen wir auch nicht wie lange das Zeug wirkt. Aber Enzo kann ihn ja abholen.“

„Mit der S-Bahn, ja.“

Dr. Russo guckte skeptisch. „Wieso?“

„Enzos Auto ist in der Werkstatt.“

„Seine Kinder?“

„Alle nicht in München im Moment.“

Kaum hatte Vero geantwortet, schwante Jule Übles. Nein, nein, nein. Nicht auch noch morgen früh hierher!

„Also ich habe Dienst bis sechs, aber ich weiß nicht, was an diesem Wochenende alles auf uns zukommt. Wenn da eine Not-OP ist, dann dauert das länger. Könnten Sie wohl …“

Ja, wir könnten wohl. Ein Taxi rufen, nämlich!

Aber ein intensiver Blick aus dunklen Augen und Vero nickte willenlos. Und Jule köchelte.

„Gut, dann wollen wir mal sehen.“ Er öffnete die Tür weiter und ließ sie eintreten.

Enzo saß auf einem Stuhl direkt neben der Tür, mit Tränen in den Augen. „Arme Junge! Was ich habe gemachte! Ich musste aufpasse besser! Ah!“ Und dann ein Schwall auf Italienisch, vermutlich das gleiche noch mal mit anderen Worten. Jule folgte seinem Blick.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr.

Dr. Russo rollte die Augen und kommentierte trocken: „Ja super, Lorenzo. Ganze Arbeit …“

Lorenzo lag nämlich nicht brav im Bett wie Jule angenommen hatte, sondern er hatte sich bis auf Boxershorts und Kopfhörer ausgezogen, seine Kleider im Raum verteilt wie ein Teenager, dazu Kissen und Decke vom Bett geräumt. Er saß nun im Schneidersitz auf dem am Boden ausgebreiteten Bettlaken und wippte im Takt irgendeiner Musik wild mit dem Kopf.

„Sieht aus wie ein Yogi in Trance“, befand Veronika.

„Oder wie auf einem fliegenden Teppich …“, schlug Jule kopfschüttelnd vor.

„Kommt dem wohl auch ziemlich nahe, wenn es das ist, was ich denke“, orakelte Dr. Russo.

„Magic-mushroom-Symptom, oder?“, fragte Vero.

Der Arzt wiegte den Kopf hin und her. Er schien mehr zu wissen als er sagen wollte. „Möglich. Sowas in der Art jedenfalls … Wir haben Blut abgenommen und die Kollegin im Labor schaut sich das gerade genauer an.“

„Mal ganz ehrlich“, murmelte Jule. „Dieses hyperaktive Gehampel und das Gerenne vorhin, das ist doch typisch Lorenzo. Dafür braucht der doch keine Drogen …“

Sie bemerkte ein amüsiertes Zucken um Dr. Russos Mund. Er war sichtlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen und studierte eingehend das Krankenblatt, das er selbst mitgebracht hatte. Dann richtete er sich auf, legte Jule die Hand auf den Arm und sagte lächelnd: „Keine Sorge, er wird ja wieder! Morgen in der Früh, wenn Sie ihn abholen, ist er wieder ganz der Alte und“, er grinste, „dann sind die Pupillen immer noch so schön groß und schwarz …“

Jule war verwirrt. Was sollte das jetzt?

„Juli, das ist die Wirkung von dem Zeugs, das der geschluckt hat. Pupillenerweiterung, das hält sich ein bisschen. Kann übrigens ziemlich attraktiv aussehen!“

Immer noch lächelnd wandte sie sich wieder Dr. Plüschauge zu: „So ein Wochenenddienst zur Wiesn-Zeit ist ja nicht besonders lustig. Hat man da noch Lust, selbst hinzugehen und ein Bier zu trinken?“.

„Ach, das macht mir nichts aus, ich war schon auf der Wiesn dieses Jahr und wenn ich jetzt noch zwei Nächte Dienst mache, muss ich an Weihnachten nicht ran.“

„Oh, morgen auch noch mal! Sie Ärmster!“ Vero zerfloss ja förmlich!

Und Jule ergänzte im Geiste: Ich Ärmste, ich arme Veronika kann Sie morgen früh gar nicht wiedersehen … Was machen wir denn da?

4

„Wann bist du eigentlich aufgestanden?“ Jule war noch nicht einmal richtig wach, da stand Vero schon bei ihr in der Küche, war dabei die Kaffeemaschine anzuwerfen – und hatte sogar frische Brötchen mitgebracht! Sensationell. Nur die Aussicht auf Kaffee hatte dafür gesorgt, dass sie nicht direkt wieder ins Bett gestiegen war, nachdem sie ihrer Cousine die Tür geöffnet hatte, sondern sich ohne großen Umweg über das Badezimmer gleich an den Tisch setzte.

Vero starrte sie an. „Willst du damit etwa sagen, dass du nicht wach geworden bist, als dein Telefon geklingelt hat?“

„Welches Telefon?“ Jule fingerte nach ihrem Handy.

„Lautlos?“ Vero zeigt auf den Apparat. „War meine Mutter, deine Tante. Sie hat dann auch noch bei mir angerufen … Schöne Grüße und wir haben die Dirndl-Kleider hängen lassen.“

„Oh, Mann! Hab ich total vergessen in der Aufregung gestern … “

„Hab ich ihr auch erzählt, und die Geschichte mit Lorenzo kannte sie noch gar nicht. Sie war einigermaßen verwirrt, hat panisch aufgelegt und wollte erstmal rüber zu Enzo.“

„Kann dein Vater uns nicht vielleicht die Kleider bringen? Der steht doch immer so früh auf! Wenn wir da erst … Och nee!“

„Juli, das war ja der Plan, aber der Papa hat die Tasche mit den Dirndln stehen lassen und dafür das Altpapier ins Auto geladen und ist zum Einkaufen gefahren und dann weiter zum Andi. So: Weil ich aber schon mal wach war, bin ich aufgestanden und zum Bäcker gegangen.“

„Oh, das ist aber lieb.“ Jule setzte sich noch im Schlafanzug an den Tisch und goss Kaffee ein. Sie knabberte gerade genüsslich an einer dick mit Nutella bestrichenen Brötchenhälfte, als das Handy schon wieder klingelte. Wieder Tante Christine. Inzwischen hatte sie mit der halben Nachbarschaft telefoniert und war auf dem neuesten Stand. Das gesamte neu erworbene Wissen gab sie gleich an Jule weiter. Irgendwer hatte übrigens dann auch noch behauptet, ein gewisser Hubert, der im Mai einen Herzinfarkt erlitten hatte und daran gestorben war, der hätte vorher auch so einen Tanz aufgeführt wie Lorenzo gestern. Aber natürlich wollte sich da mal wieder jemand wichtigmachen, fand Christine, und Hubert sei ja schließlich Kettenraucher gewesen und war schon 78 gewesen und überhaupt.

„Wie geht es Lorenzo eigentlich?“, unterbrach Jule ihre Tante.

„Ach, Schatz, so genau weiß ich das gar nicht. Ganz gut, glaube ich. Mit Enzo habe ich nur kurz gesprochen. Aber soll ich euch nochmal Danke sagen und er will Lorenzo gerne abholen, aber Wolfgang ist doch jetzt mit dem Auto unterwegs zum Andi, weil unsere kleine Franzi doch … “

„Enzo hat jetzt also ein Transportproblem?“ fragte sie – nur leicht genervt.

„Ja,“ gestand Tante Christine. „Ist ihm sehr peinlich, aber könnt ihr noch einmal zum Krankenhaus fahren, mit ihm? Ich meine, wenn ihr sowieso hier vorbeikommt wegen der Kleider und dann zur Veronika …“

„Ja, dann liegt das Krankenhaus fast auf dem Weg.“ Jule nickte ergeben.

Mit Enzo auf dem Rücksitz und daneben Christines Trachtenkollektion der letzten fünf Jahrzehnte machten sie sich noch einmal auf in Richtung Krankenhaus. Enzo war schrecklich aufgedreht und redete ununterbrochen. Auch nüchtern war er anstrengend. Er hoffte, alles richtig zu machen und war glücklich, dass sein Neffe den Besuch in München zumindest überlebt hatte. Er würde sich keine Vorwürfe machen müssen, sein Bruder in Italien war auch recht zuversichtlich, seine Schwägerin – übrigens Lorenzos Mutter – hatte ihm per SMS mindestens 200 wertvolle Tipps zur Nachbehandlung übermittelt, und Enzo betete sie alle noch einmal herunter. Vermutlich war er einfach nur froh, jemanden zum Reden zu haben.

Jule schaltete auf Durchzug, schließlich musste sie sich aufs Fahren konzentrieren und hoffte inständig, dass sie Enzo wenigstens an diesem Morgen einfach an der Krankenhauspforte abgeben konnten. Italiener-Wochenende hin oder her, Enzo und Lorenzo gingen ihr schon ein wenig auf die Nerven, sie war doch kein Taxi! Damit nämlich, hatte Enzo ihnen versprochen, würde er mit seinem Schützling wieder heimfahren.

Und noch einmal hatte sie die Rechnung ohne ihre Cousine gemacht. Das wurde langsam zur Gewohnheit. Vero nämlich versprach Enzo gerade, ihn zu seinem Neffen zu begleiten, um ihn persönlich zu begrüßen und um herauszufinden, ob man vielleicht einen Laborbefund des Patienten hatte. Ob sie es heute wohl zur Wiesn schaffen würden?

***

Vor Lorenzos Zimmertür erwartete sie dann noch eine weitere Überraschung. Von der anderen Seite des Gangs kam ihnen Dr. Russo entgegen. Enzo stürzte gleich auf ihn zu, nahm sein Gesicht in beide Hände und überschüttete ihn mit einem Wortschwall. Ein Messias konnte nicht überschwänglicher begrüßt werden. Als Dr. Russo endlich dazu kam, zu antworten, ließ Enzo dankenswerterweise von ihm ab, stoppte seinen Redefluss aber nicht. Den Arzt schien das nicht zu stören, er hörte einfach nicht mehr hin, sondern begrüßte Vero und Jule mit Handschlag sowie einem müden Blick.

„Mein Gott, sind Sie schon wieder hier?!“, rutschte es Vero heraus.

„Nicht schon wieder, sondern immer noch …“, grinste Dr. Russo mühsam.

„Ach, Sie Ärmster!“

Er lächelte und winkte ab. „Danke, danke. So schlimm war es aber nicht, ich habe ja nicht durchgearbeitet. Ich hatte noch einen Notfall bis dreiviertel vier, danach habe ich mich hingelegt und die Kollegen haben mich netterweise bis sechs schlafen lassen. Jetzt wollte ich nach Lorenzo schauen und fahre dann heim. Wenn Sie nicht drauf bestehen, kann ich die beiden auch heimfahren. Passt das?“

„Oh, ja! Passt sehr gut. Wir wollen noch Dirndlkleider probieren und müssen ein paar Dinge erledigen. Das käme uns also ganz gelegen …“, erklärte Jule schnell, bevor Vero noch irgendetwas einfiel.

„Ah ja, hm. Enzo! Andiamo! Lorenzo ist nämlich soweit fertig. Sie können Guten Tag sagen, wenn Sie wollen.“ Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

„Ja super!“ rief Vero. „Aber sagen Sie, gibt es inzwischen einen Laborbefund?“

Dr. Russo-Plüschauge drehte sich in der Tür um. „Also, wir wissen ziemlich genau, welche Substanzen er im Körper hatte, aber nicht, wie er das genau zu sich genommen hat. Es gibt da mehrere Möglichkeiten.“ Entweder war er schwer gestresst und nicht besonders ausgeschlafen oder er hatte keine Lust, detaillierte Auskunft zu geben. Dachte er etwa, sie wüssten mehr?

Vero zuckte nicht ganz überzeugt mit den Schultern und fragte: „Ist das wirklich okay, wenn Sie ihn mitnehmen?“