Italienische Stunden - Marina Stepnowa - E-Book

Italienische Stunden E-Book

Marina Stepnowa

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Iwan Ogarjow, 42, ist Arzt in Moskau. Diese Rolle fühlte sich vom ersten Studientag an fremd an. Er steckt im falschen Leben. Und das falsche Leben steckt in ihm. Die Erwartungen seiner Eltern, der Tod seiner Mutter, der er nicht helfen konnte, seine Ehe, alles ist zutiefst mit seiner Entscheidung für die Medizin verwoben. Erst als er Malja trifft, die er vom ersten Augenblick an über alles liebt, wagt er den Schritt, die Medizin aufzugeben. Mit Malja bricht er nach Italien auf und wagt das Unvorstellbare. Alles zu verlieren, um eines zu gewinnen - die Freiheit, sein eigenes Leben zu führen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 394

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Ogarjow Iwan Sergejewitsch, 42, ist Arzt in Moskau. Diese Rolle fühlte sich vom ersten Studientag an fremd an. Er steckt im falschen Leben. Und das falsche Leben steckt in ihm. Die Erwartungen seiner Eltern, der Tod seiner Mutter, der er nicht helfen konnte, seine Ehe, alles ist zutiefst mit seiner Entscheidung für die Medizin verwoben. Erst als er Malja trifft, die er vom ersten Augenblick an über alles liebt, wagt er den Schritt, die Medizin aufzugeben. Mit Malja bricht er nach Italien auf und wagt das Unvorstellbare. Alles zu verlieren, um eines zu gewinnen – die Freiheit, sein eigenes Leben zu führen.

Zur Autorin

MARINA STEPNOWA wurde 1971 in Jefremow, einer kleinen Stadt in der Region Tula, geboren. Sie wuchs in Moskau auf, wo sie heute noch lebt, und studierte dort am Gorki-Literaturinstitut sowie am Institut für Weltliteratur. Heute arbeitet sie als Chefredakteurin, als Übersetzerin und schreibt Romane und Erzählungen. Für »Die Frauen des Lazarus« (btb 71461) erhielt sie den Preis »Das große Buch« und war im selben Jahr in der engeren Wahl für den »Nationalen Bestsellerpreis« und den russischen »Booker-Preis«.

MARINA STEPNOWA

Italienische Stunden

Roman

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Безбожныйпереулок« bei Elena Shubina Publishers.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe August 2019

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright der Originalausgabe Безбожныйпереулок© Marina Stepnova 2014

Originally published in 2014 by AST Elena Shubina Publishers, Moscow

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Ilias Katsouras jr

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-17520-7V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

1

Von Malja ist nur das Bakleva geblieben.

Niemand wusste, was das war. Aber es schmeckte köstlich.

Hundert Walnüsse (die sind natürlich teuer, aber was soll’s, Feiertag ist Feiertag) durch den Fleischwolf drehen. Der ist aus Eisen, schwer, der Hocker hat schon eine verräterische Delle, die Kurbel dreht sich mit wildem Knirschen, das zieht sich hoch bis zur Schulter. Wenn man Fleisch durchtreibt, muss man ihn zwischendurch mindestens dreimal zerlegen. Die Sehnen wickeln sich um die Foltermesser. Doch mit den Nüssen geht es gut. Schnell.

Zweieinhalb Milchbrötchen zu neun Kopeken.

Gebräunt, fast quadratisch kleben sie an den dicken Seiten zusammen. Die Oberseite glänzt tiefbraun. Für zehn Kopeken bekommt man sie mit Rosinen. Die überschüssige Hälfte in den Mund, aber nicht auf einmal, sondern genüsslich, mit kleinen Bissen. Einige mögen sie auch mit Butter, aber das ist wirklich zu viel. Für die Blutgefäße ist das der Tod. Die Katze mit ihren seltsamen Gelüsten kommt in die Küche (grüne Erbsen, Kamillentee, einmal trank sie heimlich ein Gläschen Portwein, am nächsten Morgen hat sie schrecklich gelitten). Als sie die Rosinen wittert, schreit sie fordernd wie ein Demonstrant auf dem Bolotnaja-Platz. Da heißt es teilen, aber das macht nichts, ohne Rosinen sind die Brötchen sogar noch besser. Heute gibt es solche nicht mehr, schade. Und die Katze ist schon längst tot.

Die Brötchen muss man mit den Händen zerreiben, deshalb ist es wichtig, dass sie von gestern sind, schon etwas trocken. Noch wichtiger ist es, daran zu denken, sie nicht am Morgen zum Tee zu verputzen. Also weit nach hinten in den Brotkasten mit ihnen, um nicht zu sündigen. Völlerei, Wollust, Habgier, Zorn, Trübsinn, Trägheit des Herzens, Ruhmsucht, Hochmut. Der Heilige Hierarch Ignatius Brjantschaninow. Das klirrende Schild und Schwert der Heiligkeit. Vergib mir, Herr, ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Gleichfalls. Die Protestanten ersetzen die Trägheit des Herzens durch die Faulheit – das erklärt vieles. Sehr vieles. Denn ein Christ, dem es verboten ist zu verzagen, ist einem Christen, dem es verboten ist zu faulenzen, kein Bruder. Und die Erstochenen, Gequälten, Erschlagenen in diesem Namen sind Legion.

Amen.

Die Brötchen sind natürlich keine Bedingung. Sie sind eine nachträgliche Erfindung. Ein fremdes Krickelkrakel auf einem strengen kanonischen Text. Marginalien. Ursprünglich gab es nur Honig, Walnüsse, Anis. Muskatnuss. Die Brötchen kamen zufällig in der Verbannung dazu, eigentlich nicht Brötchen, sondern Brot. Ewige Armut. Die gewachsene Angst vor dem Hunger inzwischen in der DNA. Die Supermärkte im Mittelmeerraum sind bis heute gefüllt mit verschiedensten Sorten Zwieback für jeden Geschmack. Die umsichtigen Bauern. Wir essen alles auf und wischen noch die kleinsten Krümel in die harten Hände. Wie sollte es da erst bei Flüchtlingen sein, ohne die kleinste Hoffnung auf Almosen? Wo sollten sie Brötchen hernehmen? In die Füllung kamen alle Essensreste, die sie erbetteln oder finden konnten. Sie freuten sich auf das bevorstehende Fest. Bereiteten sich vor. Waren aufgeregt.

Waren die Brötchen Mamas Einfall? Vielleicht der von Mamas Mama? Hat sie es erzählt? Weißt du das noch?

Der Blick abgewandt. Keine Antwort. Wieder einmal.

Na schön. Dann zur Rosenkonfitüre.

Früher war sie nicht zu bekommen. Dazu musste man sich schon eine südländische Verwandtschaft zulegen, sich Blut und Nerven zerstören mit mühseligen Lügengeschichten, endlosen ohrenbetäubenden Streitereien, triumphierenden Schreien, unerwarteten Besuchen der ganzen Sippe oder des ganzen Auls (am Montag, ohne Vorwarnung, morgens um halb sieben). Unsere Schuschunotschka hat geheiratet, du erinnerst dich doch an sie? Ich erinnere mich nicht, und es interessiert mich auch nicht! Aber da wird unter freundlichem Geplapper aus dem mitgebrachten ­Krempel, aus den berstenden Koffern das heiß ersehnte Glas hervorgeholt. Zerriebene Rosenblütenblätter mit Zucker. Eine glatte, durchdringende Herbheit. Der Geschmack und der Duft einer Frau. Aber hätte man das nicht einfach mit der Post schicken können, GottimHimmel?!

Von der Rosenkonfitüre benötigt man einen Esslöffel, nicht mehr, denn …

Mist! Telefon.

Ja, guten Tag! Nein, das haben Sie vollkommen falsch verstanden. In Ihrem Fall sind drei Millionen Einheiten angebrachter, nicht anderthalb. Die haben Sie nicht? Dann nehmen Sie eben zweimal anderthalb. Wohin, wissen Sie. Tut mir leid.

Ja. Auf Wiederhören.

Also, die Rosen. Ich muss gleich gestehen, dass ich weder südländisches Blut noch eine südländische Verwandtschaft habe. Ich bin so russisch, dass es wehtut. Reinster ­Alkohol, zu nichts zu gebrauchen. Nicht einmal zum Desinfizieren. Zum Saufen oder zur Wunddesinfektion muss man das ­Lebenswasser verdünnen. Sonst verbrennt man alles, Teufel noch mal. In seiner sechsundneunzigprozentigen Form taugt Alkohol bloß zum Sterilisieren. Es ist nicht angenehm, sich seiner Sterilität bewusst zu sein. Es ist überhaupt nicht angenehm, sich seiner selbst bewusst zu sein. Ein einziger Tropfen eines fremden Blutes würde meinem Leben einen anderen Sinn verleihen. Aber es soll nicht sein.

Darf ich mich vorstellen – Ogarjow Iwan Sergejewitsch.

Nein, kein Verwandter von diesem oder Freund von jenem.

Iwan Sergejewitsch ist auch nur eine leere Reminiszenz.

Ich bin Arzt.

Einfach nur Arzt.

*

Außerdem gibt man noch Kirschen in das Bakleva. Eigentlich Kirschkonfitüre, und zwar nicht irgendeine, sondern ganze Kirschen ohne Kerne und ohne Saft, fast trockene, dunkle, glatte Früchte, die ein Literglas füllen. Eine neben der anderen. Mit einer Haarnadel entkernt. Erinnern Sie sich an diese Haarnadeln? Ein u-förmig gebogener Draht, leicht gewellt mit winzigen Kügelchen an den spitzen Enden, damit man sich nicht die zarte Haut verletzt. Mit erhobenen Ellbogen formen die blinden Finger im Nacken flink einen Knoten, der Kopf gebeugt wie der eines Vogels. Zopf. Scheitel. Löckchen in der niedrigen zarten Stirn und hinten am Hals. Eine schnelle genuschelte Frage durch die spöttisch zwischen den Zähnen steckenden Haarnadeln. Herrlicher als eine Frau, die ihr Haar zurechtmacht, ist nur eine Frau, in die man verliebt ist. Wie schade, dass sie sich heute alle die Haare abschneiden lassen, die dummen Gänse.

Maljas Haar war lang. Malja selbst – war.

Das Entkernen dauert lange, es ist eine mühsame Arbeit, die man besser zu zweit oder sogar zu dritt verrichtet – und trotzdem bekleckerst du dich von oben bis unten, der Saft geht nie mehr raus, geh weg, treib dich nicht immer bei den Frauen herum, du bist doch ein Junge, wie meinst du das, geht nie mehr raus, meine Liebe? Das ist doch kein Problem. Du nimmst einfach einen halben Teelöffel Zitronensaft …

Ich schlendere weg, blicke immer wieder zurück und lasse absichtlich die Füße nachschleifen, ziehe die Sandalen durch den Sand, durch die trockenen Nadeln, durch die schleimigen verborgenen Geister der zukünftigen Butterpilze – eine fremde Datscha bei Moskau, die brüchigen hölzernen Dachbalken einer vergangenen Kindheit.

Ich bin ein Junge. Man schickt mich fort. Man weist mich ab.

Ich verstehe bereits, dass das eine Tragödie ist, aber noch ahne ich nicht, dass sie nicht enden wird.

Die entkernten Kirschen werden in einen Topf gegeben – in einen großen, kupfernen, mit Holzgriff – und nach einer für Agafja Michailowna neuen Methode gekocht, ohne Zusatz von Wasser. Sie kennen die Stelle in Anna Karenina? Aber nein, woher denn … Eine weibliche Gesellschaft auf der Terrasse, das Nähen von Wickelhemdchen und Häkeln von Windelbändern. Die schwangere Kitty. Der berühmte Anke-Kuchen. Zitronen, Butter, Hass – direkt aus dem Keller, schön kalt. Ob der arme Nikolai Bogdanowitsch Anke, der liebenswerte Arzt, Professor an der Moskauer Universität, Lehrstuhl für Pharmakologie, Allgemeinmedizin und Toxikologie, Geheimrat, geb. am 6. Dezember 1803 in einer Kaufmannsfamilie in Moskau, gest. daselbst am 17. Dezember 1872, ob er wusste, dass der Kuchen nach seinem Rezept eine solch schreckliche Unsterblichkeit erlangen würde? ­Ljubow Alexandrowna, ledige – o Musik der unehelichen Leidenschaft! – Islawina, verheiratete – o kaltherzige Prosa des Ehelebens! – Behrs. Die werte und ständig schwangere Gattin von Andrej Jewstafjewitsch Behrs, auch ein Arzt.

Kollegen. Giftige Bruderschaft.

Ihr Standpunkt hält keiner Kritik stand, verehrter Herr Kollege. Ihre Praxis ist ein Splitter in meinem Hintern. Ihr Erfolg ist das Resultat der bedauerlichen Dummheit der Patienten, die das Wertvollste, das sie besitzen – die eigene Gesundheit –, einem ignoranten Scharlatan anvertrauen. Sie sind ein miserabler Diagnostiker. Aber wenn Sie an der Reihe sind zu sterben und mit kleinen Schlucken (vor, nach und anstelle der Mahlzeiten) Ihre Dosis irdischen Leidens einzunehmen, dann finden wir uns alle an Ihrem Siechbett ein, alle, bis auf den Letzten, rücken die kahlen Stirnen und verschlissenen Flügel zusammen und behandeln Sie, hingebungsvoll, inbrünstig, ohne jede Hoffnung, und trotzdem betend, ohne Geld anzunehmen, nein, nein, von unsereinem nehmen wir keinen Lohn, für unsereinen knien wir gratis, denn wir sind ohnehin zu wenige, verschwindend wenige, echte, auserwählte Priester des wahren Gottes. Ärzte.

Dreißig Minuten. Fünfunddreißig.

Pumpen Sie, Herr Kollege, ich kann nicht mehr.

Die Rippen gebrochen um des entgleitenden Lebens willen. Herzstillstand. Schwarze Ringe. Eiskalter Schweiß am Rücken. Verzweiflungstherapie. Keinerlei Lebensfunktionen. Das Gehirn war schon tot, bevor wir angefangen haben.

Pumpen Sie trotzdem weiter!

Zu spät. Er ist tot.

Am Spieß gebraten für eine falsche Diagnose, erschlagen von einer barbarischen Horde, vergiftet von auf ex getrunkenen Choleravibrionen, angesteckt von Patienten, ganz und gar ausgebrannt, vollgestopft mit Cholesterinablagerungen, in Fetzen geschnitten, zerrieben von der unerträglichen Verantwortung.

Tat seinen Dienst wie ein Kupferkessel – bis er nicht mehr ganz dicht war.

Weg mit dem Heiligenschein, Kollegen! Wieder ein Arzt weniger.

Mist, wohin bin ich jetzt wieder abgeschweift? Verzeihen Sie.

Also, Nikolai Bogdanowitsch Anke. Anke-Kuchen. Er diktierte das Rezept Ljubow Alexandrowna Behrs, der Schwiegermutter von Tolstoi (Lew Nikolajewitsch, versteht sich, die zwei anderen zählen nicht). Sie schrieb es auf und streckte dabei eifrig die schwarze Zunge heraus. Was ist mit Ihrer Zunge, Ljubotschka? Kohle. Birkenkohle. Sie nahm sie mit einer Silberzange aus einer eigenen Schatulle und würgte sie hinunter – ein Knirschen zwischen den Zähnen, Anthrazitkrümel, der Kohlenstoffkreislauf der Natur, schwarze leidende Augen, Magerkeit. Irgendwann werden wir wieder alle zu Diamanten. In einer Million oder mehr Jahren. Und warum gerade Kohle, was sind das für seltsame Vorlieben? Acht Kinder. Der alte liebestolle Ehemann. Toxikose. Eine endlose Toxikose. Kohle ist schließlich nur eine schwache Variante der Abnormität, andere Hochschwangere verdrücken feuchten Putz, brüchige Bleistiftminen, sogar Lehm. Die Mutter hat gebeichtet, dass sie, als sie mit mir schwanger war, Seife aß, Glyzerinseife, halb durchsichtig, flaschengrün. Ein einziges Stück, fast rund, glatt wie ein Kieselstein. Ein Geschenk. Importware. Die Ära des allgegenwärtigen Mangels. Sie teilte es sich so ein, dass es für die ganze Schwangerschaft reichte. Schabte mit den Vorderzähnen unter sachtem Druck Stückchen ab. Nagte daran wie eine Maus. Verknüpfte etwas in ihrem Inneren, baute, erzeugte etwas. Es wäre interessant, wofür diese Seife verwendet wurde, welcher Teil von ihr wurde zu mir? Die Blutströme? Das Knochengerüst? Die Seele, seifig, treulos, brackig im Geschmack?

O wüsstet ihr, aus welchem Unrat.

Die Konfitüre für das Bakleva – die aus Anna Karenina, ohne Wasser – wird auch nach Ankes Rezept zubereitet.

Sie mögen Tolstoi nicht?

Sie sind nicht normal.

*

Mama kochte eine ganz andere Konfitüre, aber auch mit Sauerkirschen aus der Umgebung von Moskau. Aus Wladimir, um genau zu sein, sechs Rubel der Eimer. Der rote zuckersüße Saft mit wenigen Früchten wurde in Liter- und Halb­litergläser gefüllt. Die sind für den Winter, rühr sie nicht an! Mir stand nur der Schaum zu. Rosa, mit vielen Poren, wie ein rasch erstarrter weicher Bimsstein. Erinnern Sie sich? Wie würde der zum Tee schmecken! Der Vater befahl, bis zum Abendessen zu warten, nicht gierig zu sein – was bist du nur für ein Ferkel? Geh und wasch dir die Hände, du Faulpelz! Aus dir wird nie etwas Ordentliches. Er war aus der ­Arbeit gekommen, saß lange mit bis zu den Knöcheln heruntergelassener Hose im Schlafzimmer, starrte die Wand an, litt an irgendeinem erwachsenen, unbekannten, geheimnisvollen Unglück. Dann ging er in die Küche und aß Buchweizengrütze, grob, rotbraun, und anstelle von Brot dazu die runde rosa »Doktorwurst«. Ich bekam so etwas nicht. Das heißt, ich bekam sie schon, nur durfte ich die Wurst nicht wie Brot essen. Und anstelle von Brot auch nicht. Nur zusammen. Abgezählte Spielsachen, abgegriffene Bücher, Hosen, aus denen ich schneller rauswuchs, als die nächste Lohntüte im geheiligten Kassenschalter der väterlichen Fabrik einging.

Das asketische, geeichte Instrumentarium der sowjetischen Kindheit.

Hast du die Schulaufgaben gemacht?

Noch nicht.

Was bist du für ein Nichtsnutz? Von wem hast du das bloß? Hast du Brot gekauft?

Ich stand stocksteif da und wartete auf Kleingeld, das Einkaufsnetz in der Faust zusammengeknüllt, die aufgeschürften Knie, die ausgelatschten erdbraunen Sandalen aus dem Kaufhaus »Kinderwelt«. Zu klein und jämmerlich, um zu protestieren.

Worauf wartest du? Auf Geld? Mit Geld schafft es jeder Dummkopf. Du kannst ohne Geld einkaufen. Heulsuse.

Warum tat er das? Um mir Charakter anzuerziehen? Um Schicksal zu spielen?

Es ist schrecklich zu sagen, wie sehr ich ihn hasste.

Aber das macht nichts. Nichts hat sich bis zum heutigen Tag daran geändert.

*

Die Nüsse werden mit den zerriebenen Brötchen vermengt. Dann zwei Becher Zucker und einen halben Becher Öl dazugeben. Es müsste natürlich Olivenöl sein, doch wer kannte das damals schon? Deshalb Sonnenblumenöl. Das wurde in Glasflaschen verkauft. Die kosteten fünf Rubel. Nein, keine vier Komma neunundneunzig wie vielleicht bei Ihnen. Bei uns an der Ecke im Lebensmittelgeschäft waren das fünf Rubel. Die kühlen Gipsgewölbe, die monumentalen Marmorbüsten der Verkäuferinnen. Zu erhaben, um zu streiten. Matronen. Zuerst zur Theke, dann zur Kasse, sich durchdrängen, dann wieder zur Theke. Hin und her wie ein Weberschiffchen. Einen halben Laib schwarzes und ein weißes. Landbutter, zweihundert Gramm. Das Wechselgeld zweimal nachzählen, ohne von der Kasse wegzugehen. Das Geld wurde, als ich gerade mit der Schule anfing, plötzlich knapp, die Löhne und Vorschüsse der Eltern stimmten so wenig mit den realen Bedürfnissen überein wie das Geburtshoroskop eines betrügerischen Astrologieanfängers. Sogar die ­sowjetischen Kopekenpreise bewahrten die Mutter nicht vor endlosen, erniedrigenden Rechnereien. Ich kam hervor­ragend mit den schweren Taschen voller Kopeken zurecht – Zehner, Zweier, selten ein gewichtiger Fünfziger. Selig sind die, die nicht rechnen können, denn sie leben in irdischem Reichtum und denken nicht an das Himmelreich. Kriecht doch selber durch euer Nadelöhr. Uns geht’s auch hier nicht schlecht.

Das Kleingeld wurde zunächst lange in einer braunen indischen Kaffeedose mit einer vollbusigen traurigen Huri auf dem Blech gesammelt. Teuer. Einst von jemandem geschenkt. Der Kaffee wurde an großen Festtagen mit etwas Kondensmilch getrunken. Dann gab es keine Festtage mehr, doch die Dose blieb – wie ein Symbol, wie eine Mahnung wurde sie zum vorübergehenden Refugium für kleine Münzen. Wie könnte man eine solche Kostbarkeit wegwerfen? Die Mutter wusch sogar die Zellophantüten in Seifenwasser und trocknete lange, lange die öligen, mit schweren Tropfen behangenen Folien. In anständigen Häusern sparte man die Zehn-Kopeken-Münzen, warf sie klingend in eine sowjetische Sektflasche und beobachtete durch das dicke grüne Glas, wie das Niveau des Wohlstands und der Selbstachtung stieg.

Bei den geduldigsten wuchs es bis zum Flaschenhals – hundert Rubel.

Wir konnten davon nicht einmal träumen.

Die Kaffeedose füllte sich nie auch nur bis zur Hälfte. Die Mutter langte immer wieder hinein und schüttelte schuldbewusst den Kopf. Na schön. Keine Butter, Kind. Wir kommen ohne aus. Nur Kefir. Der Vater war über den Haushalt immer erhaben. Er war überhaupt erhaben über ihre Armut, die so unerklärlich, seltsam, wie ein Fluch war. Dabei war er doch anscheinend etwas Wichtiges in seiner Fabrik – Ingenieur, dann (allerdings nicht lange) sogar leitender Ingenieur. Er müsste doch anständig verdienen.

Wir lebten also trotz des allgemeinen Überflusses in Armut. Nein, falsch, wir lebten in Armut und schlecht. Mama schwieg. Der Vater war verärgert. Ich wuchs. Kuchen gab es auch nicht bei uns zu Hause, es gab lediglich Schmalzgebäck mit Fruchtmus aus der Kantine. Zu vier Kopeken das Stück. Gummiartiger Teig. Hingespuckte bräunliche Fülle. Fettiges Papier, durch das man lesen konnte wie durch unbekannten, nie gesehenen Glimmer. Eine Methode, die sogar den sinnlosesten Text in eine wahre Kostbarkeit verwandelt.

Also, die Nüsse, zwei Becher Zucker, die zerriebenen Brötchen, ein halber Becher Pflanzenöl, ein Ei. Sorgfältig vermengen. Die Kirschen und die Rosenkonfitüre dazugeben. Noch einmal vermengen, erst mit dem Löffel, dann mit den Händen, die ihr Glück nicht fassen können. Eine lockere süße Masse. Etwas klebrig an den Fingern. Man kann sich einfach nicht zurückhalten und sie nicht ablecken. Früher, ich hab es anscheinend schon erwähnt, gab man anstelle der Kirschen getrocknete Orangenschalen dazu und anstelle der Rosenkonfitüre Anis und Muskatnuss. Die gesprächige helläugige Frau lachte, während sie kleine Stückchen ablöste und sie verstohlen in die Münder der verschmierten, ewig hungrigen Kinder steckte – ihrer eigenen und fremden durcheinander. Und die Sonne, die sich durch das Durch­einander der engen Dächer zwängte, streichelte allen ebenso wahllos über die erhitzten Köpfchen.

Was bleibt noch? Der Teig. Das braucht man gar nicht aufzuschreiben. Das Einfachste überhaupt. Ein Ei, etwas Mehl, glattes grünes Öl in die zu einer Mulde geformte Handfläche. Weißwein aus einer schweren Flasche, der sich den ganzen Tag erwärmt hat. Eine Prise Backsoda in die noch süßen ungeschickten Finger. Zu einer dünnen Schicht ausrollen, eine Rolle formen, nah zum Herzen bringen, dorthin, wo es die gleichmäßigste Hitze gibt, den stärksten Schmerz, die dunkelste Reife. Festhalten, bis sie braun wird.

Wissen, dass man niemals loslassen wird. Dass es niemals vorbeigeht. Dass es niemals hart wird, nur von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr langsam trockener, ohne auch nur ein Molekül an Süße oder ein Gran an Leid zu verlieren. Und dann erscheinen wieder die helläugige Frau und die gebräunten Kinder. Und die Sonne, der nirgends auf der Erde jemand mehr ebenbürtig ist, zerzaust mit der Tatze dein Haar.

Das geht nie vorbei, Malja.

Das weißt du doch. Das hast du immer gewusst. Das ist für immer.

Sie denken, ich könnte kochen? Nein, kann ich nicht.

Nichts außer diesem Bakleva.

2

Bereits als kleinen Jungen nannte man ihn Iwan. Niemals anders. Iwan-Diwan, zeichne mir ’nen Schwan, sag mir noch das Zauberwort und scher dich fort! Scheußlich. Man erzog einen wahren Menschen. Genauer gesagt erzog ihn der Vater, stopfte ihn wie eine Weihnachtsgans damit voll, was er selbst für vernünftig und genießbar hielt. Die Mutter schwieg immer mehr. Sie war ein Niemand, dünn, fahl. Und die Wohnung um sie herum wuchs still mit dünnem, fahlem Staub zu. Die Mutter fuhr mit dem Finger durch und hinterließ einen hellbraunen Streifen auf der Politur, der flüssig, ja fast lebendig wirkte. Dann fiel die Hand wie erschöpft herab, und auf der Anrichte blieb ein unfertiger Buchstabe oder ein geheimnisvolles Zeichen zurück.

Alles umsonst.

Es war wirklich alles umsonst – aufräumen, sich bewegen, leben.

Die Wohnung (mit drei Zimmern, robust und hell wie der Vater) starrte mit der Hälfte ihrer Fenster auf ein Bahngleis. Manchmal nachts, manchmal tagsüber, aber immer unerwartet kreischten vorbeifahrende Züge so verzweifelt auf, als wären sie verletzt. Die Mutter zuckte zusammen, als würde sie kurz aufwachen, um dann wieder verständnislos zu verstummen, äußerlich wie innerlich. Eines der Zimmer, das größte, gehörte ganz allein dem Vater. Sein Arbeitszimmer. Lächerlich. Wenn der Vater arbeitete (woran? warum?), herrschte in der Wohnung eine vorsichtige Stille, zerbrechlich und unbeständig wie eine Christbaumfigur. Die Mutter ging geduckt auf Zehenspitzen umher und zischte den Sohn, den Zug und sogar die Teekanne an, die unvorsichtig auf dem Herd vor sich hin brodelte. Einen Tee, Serjoschenka? Die Zimmertür schwieg. Seufzend trug die Mutter das Tablett in die Küche zurück und stellte es möglichst leise auf den Tisch. Tasse und Untertasse waren aus Knochenporzellan, wie das wohl ins Haus geraten war? Nur für den Vater. Alle anderen tranken aus Steingut. Eine Zuckerdose. Eine Schale mit ebenjener Kirschkonfitüre, die wie eine langsam verkrustende Wunde aussah. Auf einer Untertasse waren Jubiläumskekse wie Karten aufgefächert. Die Mutter nannte sie Plätzchen. Möchtest du ein Plätzchen, Kind? Sie schnappte den kleinen ungeschickten Ogarjow an der Hand und drückte ihn an sich. Sch-sch! Mach bitte keinen Lärm. Papa arbeitet.

Weiß der Teufel, was er da drin tat. Er war ein ganz gewöhnlicher Betriebsingenieur.

Leiden? Nachdenken? Erfinden?

Neben dem Vater wohnten ebenso geheimnisvolle und leblose Gegenstände im Arbeitszimmer. In einer Ecke Hanteln, in der anderen ein völlig leerer Schreibtisch. Über dem Tisch hing ein Foto, schwarz-weiß und gewellt, das mit gewöhnlichen Reißzwecken direkt an die Tapete geheftet war. Eine davon hatte einen Rostfleck. Das Foto zeigte die Steppe. Nur die nackte, trostlose Steppe, durch deren Mitte eine ebenso nackte, trostlose Straße führte, die den Blick hinter den unsichtbaren Horizont lenkte. Eine Übung zur Perspektive. Er musste es stundenlang betrachtet haben. Nachgedacht haben. Sich erinnert haben. Was war das für eine Steppe? Warum hielt er sie sich vor Augen? Papa, was ist das? Er schob ihn im Gehen zur Seite, achtlos wie einen lästigen Zweig. Ging weiter. Im Arbeitszimmer hatte sich außerdem eine in die Jahre gekommene hässliche Liege eingenistet, die verschämt eine flauschige schwarz-weiß karierte Decke an sich zu ziehen versuchte. Vielleicht schlief der Vater hier einfach? Horchte, wie man beim Militär sagt, an der Matratze.

Niemand wusste es. Fragen hatte keinen Zweck.

Ogarjow war es strengstens verboten, das Zimmer zu betreten. Die väterlichen Verbote durchschnitten die Welt aus den verschiedensten, mitunter unvorstellbaren Winkeln, wie rote Laserfäden eines fantastischen Überwachungssystems. Sobald man sich bewegte, berührte man ein unsichtbares scharfes Fädchen, und sofort heulte es aus allen Richtungen los, es wurde geschrien, und mit der offenen Handfläche wurde einem kurz und schmerzhaft eins übergezogen. Es war üblich, Kinder zu schlagen. Es ist immer noch üblich, zur Bestrafung, um es den Urahnen recht zu machen, um die Nachkommen zu belehren. Mit den Mädchen übte man Nachsicht, das erste geschlechtliche Privileg, eines von vielen. Sie wurden nicht geschlagen, entweder weil man sie tatsächlich bemitleidete oder weil man dieses Recht dem zukünftigen Ehemann überlassen wollte, als Sahnehäubchen für später. Ogarjow war ein Junge. Nur wenige hundert Jahre zuvor hätte der Vater ihn überhaupt umbringen dürfen. Er hätte jedes Recht dazu gehabt. Ein Übel ausmerzen. Die ­Tugend verbreiten.

Wen würde es nicht schaudern bei dem Gedanken, die eigene Kindheit noch einmal durchleben zu müssen, und wer würde nicht lieber sterben?

Heiliger Augustinus.

Man kann also sagen, dass Ogarjow Glück hatte.

Nach einer Ohrfeige beugte sich der Vater zu ihm herab mit seinen kräftigen Wangenknochen, den dunklen, gestrichelten Bartstoppeln, der geraden Nase, den mädchenhaft buschigen Brauen. Wie bei einem Zobel. Schön wie auf einem Plakat. Er fragte, weißt du wofür? Es war einfacher zu nicken, zuzustimmen, mit fest geschlossenen Augen durch den nächsten brennenden Reifen zu springen. Sonst folgte der Ohrfeige noch die Moralpredigt. Der Vater nahm ihn zwischen die Knie, zapple nicht herum, keinen Mucks, schau mich an, hab ich gesagt! In die Augen! Und mit knappen Worten ließ er sich vierzig Minuten lang über Verantwortung, Pflichten, Rechte und Aufgaben jedes Einzelnen aus, du wirst noch in der Gosse enden, als ich so alt war wie du. Ogarjow schwieg mit finsterem Gesicht und wartete, bis es endlich vorbei war. Er ertrug es. Beide ertrugen es. Der Vater glaubte nicht an positive Bestärkung. Ein Kind loben heißt, es zu verziehen. Hast du verstanden, was ich gesagt habe? Dann geh. Wenn du erwachsen bist, dankst du mir dafür. Ogarjow wand sich aus dem eisernen Knie­gefängnis, resigniert, aber nicht bezwungen. Erwachsen sein! Ja, das wollte er unbedingt. Allerdings nicht, um sich zu bedanken.

Die Mutter bestrafte ihn nie, aber wie der Vater lobte sie ihn auch nie. Sie war still, fleischlos, zart. Sie reflektierte das Licht des Vaters wie der Mond. Serjoschenka, bist du nicht müde? Serjoschenka, kommst du heute wieder spät nach Hause? Serjoschenka, möchtest du jetzt zu Abend essen? Ogarjow versuchte, sich eifersüchtig dazwischenzudrängen, stieß seinen Scheitel in die Hand der Mutter wie eine ausgehungerte Katze – und ich, und für mich! –, sie streichelte ihn gedankenlos, zerstreut, achtlos. Schob die zerfledderte Ausgabe von Doktor Aibolit und die entgegengestreckten Bausteine zur Seite.

Geduld, Kind. Wir wollen Papa doch nicht stören.

Sie arbeitete auf der Post. Dort saß sie tagsüber und versteckte sich hinter einer Trennwand aus Holz, sodass die Besucher, auch wenn sie sich vorlehnten, nur ihren Scheitel und ihr helles lockiges langes Haar sahen. Schillernd und jung wie bei einer Schauspielerin vom Theater oder aus dem Kino. Was für eine wunderbare Farbe! Färben Sie selbst, ­AnnaWanna? Oder beim Friseur?

Die Mutter hob das lange Gesicht, blass wie aus Talg. Die farblosen Augen, der matte Mund, die weichen Bulldoggenwangen, alles strebte unerbittlich nach unten, glitt hinab. Bereits in dem Alter, in dem alle Mamas ihren Kindern noch märchenhafte Prinzessinnen sind, wusste Ogarjow, dass seine Mama hässlich war. Ein hartes Wort. Sehr hart. Die Mutter beugte sich wieder über die Belege, und die unpassende Frage über die Haarfarbe blieb in der Luft hängen. Sie unternahm nicht den geringsten Versuch, sich auch nur irgendwie attraktiver zu machen, dabei weiß doch jedes noch so unansehnliche Ding, dass oft sogar die jämmerlichsten Anstrengungen ausreichen, um, wenn schon nicht Gott, dann zumindest die Menschen gnädig zu stimmen. Zumindest die Menschen.

Aber nein, weder Lippenstift noch Puder noch Selbstmitleid.

Nichts Weibliches.

Lidschatten sah Ogarjow zum ersten Mal aus der Nähe, als Malja auftauchte. Ein glattes Kästchen wie aus Hartgummi. Ein leises Klicken. Ein Spiegel. Zarte Pinselchen. Runde bunte Vertiefungen. Wie Malfarben. Erinnern Sie sich an die Marke »Newa«? Wie das heiß begehrte »Leningrad«. Nur besser. Wenn man die Farben vorsichtig mit dem Finger berührte, blieb auf der Kuppe ein feiner Perlmuttstaub zurück. Als hätte man einen Schmetterling gestreichelt. Einen Trauermantel. Ein Pfauenauge. Einen Kohlweißling. Einen Admiral. Was für ein Admiral? Ach, so einen schwarz-braun-orangen? Nein, zu dem haben wir nicht Admiral gesagt, sondern kleiner Zar. Malja riss sich für eine Sekunde vom Spiegel los und klatschte freudig in die Hände. Ach, da ist ja meine Schminkpalette! Die hab ich schon überall gesucht. Wo hast du sie gefunden? Er zeigte schweigend auf den Schminktisch, der große Ähnlichkeit mit einem nach außen gestülpten Zirkuswagen hatte. Döschen, Flakons, ­Tuben, Bändchen. Abgerissene Spitze. Ein ­rotes Kätzchen aus Plüsch, das von unzähligen Halsketten fast erwürgt wurde. Ein Reich der zärtlichen Verkleinerungsformen. Ein fröhliches Kuddelmuddel. Wenn man bei einem der Kästchen den Deckel aufklappte, stimmte es verschämt »Lambada« an. Malja lachte, griff mitten hinein in den abgedroschenen Hit und bekam einen abgängigen Ohrring zu fassen – hier bist du also! Hastig steckte sie ihn sich ins heiße Ohrläppchen und drehte den Kopf hin und her. Schön, nicht? Ach nein, wirf ihn zurück. Wohin du willst. Ich habe den zweiten sowieso verschlampt.

So heißt das also, Schminkpalette.

Bei der Mutter gab es so etwas nicht. Sie lachte nicht, schminkte sich nicht, duftete nicht einmal. Sie trug keinen Ring, keine Ohrringe, keinerlei Schmuck. Nichts. Allerdings schenkte der Vater ihr auch nichts. Malja hingegen stieß begeisterte Laute aus – ach, du meine Güte! – und konnte sich stundenlang nicht von den Schaufenstern losreißen. Spottbillige Plastikohrclips. Schwarze Perlen auf Weißgold. Hausbackene Holzwaren Marke Eigenbau. Alles, was sie berührte, wurde schön. Lebendig. Und die Mutter ging mit dreißig her und schnitt sich die Haare ab. Kurz, sogar kürzer als bei einem Jungen. Es war, als würde ihr ohnehin lebloses Gesicht zuklappen, wie bei den abscheulichen Heiligen auf Wegkreuzen, die früher alle Kreuzungen Europas beschützt hatten. Der Vater bemerkte es erst nach ein paar Tagen. Er sah genauer hin, verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Sagte nichts. Er war ein Bild von einem Mann, mit breiten Schultern, hochgewachsen, mit Politheldenfrisur, die ihm wie bei Pawka Kortschagin aus dem Film Wie der Stahl gehärtet wurde als braune Welle in die breite helle Stirn fiel. Überhaupt sah er dem jungen Schauspieler Konkin, der Kortschagin spielte, ähnlich. Dasselbe ebenmäßige ehrliche Gesicht eines guten Burschen. Ein wahrer Held. Und ein wahrer Scheißkerl.

Morgens vor dem Frühstück stemmte er im Arbeitszimmer mit nacktem Oberkörper die runden Hanteln, ließ die Muskeln spielen und grunzte dabei laut.

Ein glattes Wildschwein.

Jedes Mal, wenn eine Hantel auf den Boden krachte, fuhr die Mutter zusammen, und Ogarjow stellte sich vor, wie der 16 Kilogramm schwere Metalltropfen den Bodenbelag durchschlagen und nach unten zu den Nachbarn fliegen würde, Möbel, Kronleuchter und schwer zu beschaffendes Kristall zerschmetterte, die Nachbarn würden die Miliz rufen, und der Vater würde eingesperrt, nicht lange, vielleicht zehn Jahre, das würde ausreichen, um erwachsen zu werden, um verschnaufen zu können. Doch unten gab es keine Nachbarn, zwischen den Fußbodenbalken voller Staub und Spinnweben huschten nur Ratten lautlos herum. Die Wohnung war im Erdgeschoss. Den Vater, ein Kommunist, Dampfer, Bestarbeiter, würde niemand jemals einsperren. Er würde für immer da sein.

Völlige Hoffnungslosigkeit. Absoluter Tiefpunkt.

Der Vater kam in die Küche, ein Handtuch um den Hals, schweißnasse Zotteln unter den Achseln, eine ausgeleierte Trainingshose auf dem mächtigen prallen Arsch. Seine Brusthaare glichen einem kräftigen Filzadler. Er warf einen schnellen verächtlichen Blick auf seinen Sohn – keine Nachsicht, kein Mitleid, sie rivalisierten wie Erwachsene. Immer. Na, was starrst du denn so, du Waschlappen? Drückst du dich schon wieder vor der Morgengymnastik? Die Mutter nahm hektisch das Rührei vom Herd und kratzte mit der Gabel über das Gusseisen, als sie es auf die Teller verteilte. Ausgelatschte Pantoffeln, ein flauschiger Morgenrock mit Taschen, in die sie im Vorübergehen wie in einen Abfall­eimer alles Mögliche einsteckte – vom Boden aufgesammelte Zettel, Apfelreste, den traurigen gemeinschaftlichen Unrat. Sie war fünf Jahre älter als der Vater, aber es schienen zwanzig zu sein.

Es ist vollkommen unvorstellbar, wie sie es fertiggebracht hatten zu heiraten. Wo, wann, warum? Malja hätte es natürlich gleich herausgefunden. Aber Ogarjow kam es gar nicht in den Sinn zu fragen. Mama, erzähl mir, wie du und Papa euch kennengelernt habt. Eine ganz normale Kinderfrage, kuschelig, am Abend, die Decke auf allen Seiten fest hineingestopft – ich bin im Haus! Doch die Mutter kam abends nur für einen Augenblick herein, setzte sich nicht zu ihm, sondern beugte sich nur herab und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dann eilte sie ins Nachbarzimmer zum Vater.

Schritte, das Klacken des Lichtschalters – und der lebendige gelbe Streifen unter der geschlossenen Tür verschwand.

Morgens schrien vor den Fenstern die Spatzen.

Noch in den Fünfzigern hatten nicht einmal die Außen­bezirke hierhergereicht. Es gab nur ein paar verschlafene Dörfer, die von einer verwilderten Landstraße wie von einer Nabelschnur umwunden waren, ein Wäldchen, eine Biegung der Moskwa, Flussauen, ruhige Datschas. Doch dann kam plötzlich Moskau, drängte von allen Seiten heran wie ein kräftiger Teig, der aus dem Topf hervorquillt, die Dörfer wurden nicht umgesiedelt, sondern pulverisiert, einfach von der Karte geblasen, und an ihrer Stelle entstand zunächst eine wichtige Fabrik mit vier Gebäudeblöcken, und dann drängten sich rundherum in konzentrischen Kreisen wie bei einer mittelalterlichen Zitadelle, übrigens denselben allgemeingültigen Menschheitsgesetzen gehorchend, zuerst laute Baracken und dann mächtige Chruschtschowka-Plattenbauten heran. Hinterdrein, angezogen von den Menschen aus Fleisch und Blut, entstand scheinbar wie von selbst die Infrastruktur, und hinter diesem knirschenden fremden Wort verbarg sich dieselbe uralte menschliche Lebensordnung. Nur dass Verkaufsbuden, Essensstände und Scharlatane durch Geschäfte, Kindergärten und Polikliniken ersetzt wurden. Alles war funkelnagelneu und schneeweiß und roch außen wie innen herrlich nach kühlem feuchtem Verputz.

Handwerksleute, die etwas auf sich hielten, schritten weit ausholend über die neuen Bürgersteige, bogen allerdings hin und wieder ab, um einen bequemen Pfad quer durch den jungen Rasen zu trampeln, der direkt zur Bushaltestelle oder zum Schnapsladen führte. Vorherrschaft der Vernunft über die Ästhetik. Klawk, gehst du am Abend ins Kulturhaus? Was sonst!

Der Bezirk, der auf einen Schlag erbaut wurde, wurde auch auf einen Schlag besiedelt, hauptsächlich von Arbeitern mit befristeter Wohngenehmigung, die sich der Partei und dem Fleische gehorchend bald in Paare aufteilten, sich erst die festgesetzten Nachkommen zulegten und dann die hart erkämpften, im direkten Wortsinn verdienten Quadratmeter, in den Fabrikhallen standen Altersgenossen Seite an Seite, Altersgenossinnen drängelten in Warteschlangen, sie feierten Hochzeiten, ließen sich im Streit scheiden, mit jeder Stunde, mit jedem Schritt rieben sie sich ab, hobelten sich glatt, lebten sich in der Hauptstadt ein. Brachten waschechte Moskauer zur Welt. Ja. Sie hatten es geschafft.

1969, als Ogarjow an der Reihe war, auf die Welt zu kommen, hatte sich der Bezirk bereits die Hörner abgestoßen, war erwachsen geworden und hatte sogar eine zarte Fettschicht in Form einer eigenen Intelligenzija angesetzt. Moskau, das dieses Fleckchen Erde verschlungen und verdaut hatte, kroch mit dumpfem Knurren weiter in Richtung ­Leningrad. Es stellte sich heraus, dass es nur fünf U-Bahnstationen bis ins Zentrum waren. Bequem. Nahe. Ob dir nach GUM oder Kreml ist. Und gleichzeitig sind es bis zum nächsten Kindergarten nur fünf Minuten zu Fuß, und die Schule ist gleich da um die Ecke.

Ogarjow wurde weder in die Schule noch in den Kindergarten begleitet, es wurde überhaupt niemand begleitet. Das war die beste Zeit des Tages, vollkommen frei, besonders im Frühling. Zum ersten Mal in diesem Jahr trug er eine kurze Hose, die Kälte biss in die noch bleichen, winterlichen Knie, Wadenstrümpfe, Schulmappe, die klebrigen Schalen der Pappelknospen. Die Schuhsohlen klapperten frisch und fröhlich über den Bürgersteig, auch ein sehr frühlingshafter Laut. Die besten Erinnerungen an die Kindheit. Völlige Einsamkeit.

Ogarjow bemerkte nicht gleich, wie alles zu verfallen, sich mit einem zuerst unsichtbaren Netz an Rissen zu überziehen begann, doch dann bröckelten plötzlich riesige helle Schichten ab. Als Erstes verschwanden Mamas lustige junge Freundinnen, die immer zum Tee kamen. In Wirklichkeit gönnten sie sich still und heimlich in der Küche einen Wodka, nippten so lange, bis sich die Wangen röteten, und dann sangen sie mit traurigen herrlichen Stimmen von Donkosaken, die am Flussufer spazierten, am Flussufer spazierten. Statt Donkosaken verstand Ogarjow Schonkosaken in einem nuschelnden georgischen Akzent. Die Georgier handelten auf dem Chitrow-Markt mit rot- und schwarzglänzenden Kirschen zu acht Rubel das Kilogramm. Der kleine Ogarjow stand lange fasziniert am Verkaufstisch – wie konnte man so etwas Schönes essen? Im Winter froren die Georgier, bibberten über den Glaskästen, die wie Aquarien aussahen. In den Aquarien waren die Kirschen von Mandarinen abgelöst worden, deren orange warmen Seiten verschwommen durch das beschlagene Glas schimmerten. Genauso warm leuchtete in jedem Kasten eine Kerze, die eine kleine feierliche, ganz menschliche Wärme ausstrahlte. Die Georgier versteckten traurig die Nasen in den agentenmäßig hochgeklappten Kragen ihrer Lammfellmäntel, beklagten sich nur mit den riesigen tränenden Augen über die fremde, unmögliche Kälte, doch beim Anblick jedes Mädchens fuhren sie hoch, ließen einen großzügigen gutturalen Wortschwall vom Stapel und schnalzten begeistert mit der Zunge. Schonkosaken!

Die Freundinnen kamen einfach nicht mehr, und damit hatte es sich. Zu Hause sang nur manchmal noch der nüchterne, langweilige Radioempfänger, der wie zum Hohn ebenfalls in der Küche beheimatet war. Dann stieg der Vater auf einen Hocker – die Zimmerdecken waren selbst für ihn zu hoch – und schaltete ihn für immer und ewig aus. Und es wurde sogleich still. Für sehr, sehr lange Zeit.

Dann hörten die Fahrten im Sommer zur Datscha auf. Früher hatten sie ein halbes Haus in einem Dorf gemietet, er war mit der Mutter und den Sachen in einem gemieteten Kleinlaster weggefahren, glücklich, frei, träge. Oder kam es ihm nur so vor? Ogarjow saß im riesigen Fahrerhaus und verfolgte mit offenem Mund jede Drehung des mit Isolierband umwickelten Lenkrads. Dieses Lenkrad hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. An alles andere – den elastischen Wasserstrahl aus der Wasserzapfsäule, das hölzerne Häuschen mit dem Plumpsklo und den vielen Ritzen, die saftigen Kletten, die Sauerkirschen, die wie von Zauberhand über Nacht reif wurden – erinnerte er sich immer seltener und mühevoller, als wären es ganz märchenhafte kindische Erfindungen. Der Vater kam einmal im Monat auf die Datscha. Übers Wochenende. Machte sich mit nacktem Oberkörper im fremden Gemüsegarten zu schaffen und stieß mühelos den spitzen Spaten in die karge Erde des Moskauer Umlands. Die umgestochenen feuchten Erdschichten waren gleichermaßen von Würmern und Wurzeln durchzogen, die gleichermaßen schwach, bleich und leblos waren. Sie ließen an den Tod denken. Ogarjow beobachtete den Vater heimlich vom Himbeergebüsch aus, das ebenfalls bleich, schütter und aus dem Moskauer Umland war. Die Beeren hingen über seinem Kopf, jede von ihnen setzte sich aufwendig aus säuerlichen durchscheinenden Glasperlen zusammen. Man konnte sie mit den Lippen fassen, zerdrücken, schlucken. Sich zu eigen machen.

Der Vater grub immer weiter, unermüdlich, unbeugsam, und nur sein breiter junger Rücken glänzte wie bei einem Pferd vor Schweiß. Die Mutter trat auf die Haustreppe heraus und sah ebenfalls lange zu, sodass Ogarjow physisch spürte, wie ihre Blicke sich auf einen Punkt zwischen den Schulterblättern des Vaters konzentrierten und drohten, ein winziges unerträgliches Loch hineinzubrennen. Aber es passierte nichts, der Vater drehte sich nicht einmal um. Erst als die Mutter schließlich leise rief, Serjoschenka, das Essen ist fertig, stieß der Vater den Spaten in das unnütze Beet. Augenblicklich setzte sich eine facettenreiche, edle, schwirrende Libelle auf seinen polierten bernsteinartigen Griff, als würde sie einen Schlusspunkt hinter die getane Arbeit setzen.

Im Haus stand bereits ein Teller mit dampfenden dunkelgelben, wie aus Butter geformten Kartoffeln auf dem Tisch. Der Vater roch an einer Brotkante und steckte einen Bund Schnittlauch ins schwere kristallene Salzfass, das an ein in Silber gefasstes Wodkaglas erinnerte. Das Salzfass brachten sie ebenfalls immer mit. Bis sie damit aufhörten.

Auf die Datscha zu fahren.

Gäste zu empfangen.

Silvester zu feiern.

Das frühere Leben verblasste leise und langsam wie Sommerbräune, klang ab und verschwand endgültig, als Ogarjow bei den Oktoberkindern aufgenommen wurde. Ein festlicher Appell, ein ungeordnetes Karree in weißen Hemden, eine ganze Handvoll stacheliger Sterne mit Lenin darauf. Der kleine Lenin. Mit Lockenkopf. Ogarjow stand mit glühenden Ohren in der Reihe und verspürte – zum ersten und letzten Mal in seinem Leben – ein Gefühl der Zugehörigkeit zu seinem Staat, ein sehr warmes, einfaches und grobes Gefühlschaos. Später gelang es ihm nicht mehr, mit seinem Vaterland eins zu sein. Das war natürlich schade. Aber da kann man nichts machen. Wertschätzung kann es nur beidseitig geben.

Der Vater ließ ihn plötzlich in Ruhe und dressierte ihn nicht mehr länger. Er schien sogar erleichtert, dass er die Verantwortung der Schule übergeben konnte. Ich habe getan, was ich konnte, jetzt sollen sie sich mit ihm herumschlagen. Eine gewisse Zeitlang quälte er den Sohn aus Gewohnheit noch mit erwachsenen, höhnischen, treffsicheren Schikanen. Rechnete mit ihm auf geheimnisvolle, schreckliche Art ab. Da wären Schläge, wie früher, besser gewesen.

Dann hörte er überhaupt auf, ihn wahrzunehmen. Ganz und gar. Sowohl ihn als auch die Mutter.

Die Mutter verblasste noch mehr, verstummte, duckte sich wie ein auf die Handfläche gefallener Käfer. Und gemeinsam mit ihr verblasste die früher helle, große Wohnung. Wenn die Mutter von der Arbeit kam, ließ sie sich erschöpft vor dem schwarz-weiß flimmernden Fernseher nieder, starrte hin, ohne etwas zu sehen, wie um sich den Kopf mit fremdem, unverständlichem Geplapper füllen zu lassen. Ogarjow mochte nicht fernsehen. Das war lang­weilig.

Er schlenderte von Zimmer zu Zimmer, klein, mager, griesgrämig, wie er war. Man konnte natürlich in den Hof hinuntergehen, mit den anderen Kindern herumflitzen, doch irgendetwas fühlte sich auch dort nicht mehr richtig an. Es war, als hätte der Vater ihn und die Mutter verwünscht. Das war ein seltsames und schreckliches Wort – verwünscht. Er hatte es aufgeschnappt, als die Mutter leise einer Nach­barin ihr Leid klagte. Ogarjow hörte beim Türpfosten, wie sie die Tränen hinunterschluckte, laut, unbeholfen, wie abgekühlten Tee. Sie murmelte etwas Undeutliches, Klagendes, es klang sogar wie Winseln, und die Nachbarin stellte plötzlich laut mit voluminöser, schwerer Stimme fest – er hat Sie verwünscht, das ist klar. Sie müssen in die Kirche und beten.

Was dieses »verwünscht« bedeuten sollte, erfuhr Ogarjow nicht. Die Mutter runzelte auf seine Frage hin nur die Stirn, winkte ab, ging gedankenversunken in die Küche und hielt sich dabei wie eine Blinde an den Wänden fest. Das Mitleid von Kindern ist ein sehr kurzes Gefühl. Ein augenblick­liches. Sie brauchen zu viel Kraft, um selbst groß zu werden. Wenn sich die Mutter wehgetan hätte, dann hätte Ogarjow mit ihr, an ihrer Stelle geweint, hätte einem bockigen Stuhl oder einer Ecke eins übergezogen – heile, heile Segen, sieben Tage Regen, sieben Tage Sonnenschein, wird alles wieder heile sein, eine leise, wahre Beschwörungsformel, etwas Wegerich auf die Wunde gestrichen, ein Kuss, und wie durch ein Wunder wurde das nicht tödliche venöse Blut gestillt. Doch was konnte er mit seinen acht Jahren bei wahrhaftiger erwachsener Verzweiflung ausrichten? Er konnte sie nur augenblicklich vergessen, verdrängen, nichts verstehen. Die Mutter war noch nicht in der Küche angelangt, als sich ­Ogarjow schon an seinen Lieblingsplatz begab, zwischen der Wand und dem Sofa, unter ihm der Boden, über ihm der rettende Schatten der Fensterbank. Er kramte am Sofa­rücken herum, in der engen gefährlichen Ritze, die fast ganz durchging, und zog ein Buch hervor.

Wie immer streichelte er es. Kniff kurz die Augen zusammen, bevor er es öffnete.

Schwarze große Buchstaben auf einem beschichteten weißen Umschlag.

Tizian.

Weiß Gott, wie sich dieser dicke Bildband mit dem rutschigen Schutzumschlag ins Haus verirrt hatte. Wahrscheinlich war der Vater in der Fabrik damit für irgendeine verbesserte Kardanwelle belohnt worden. Hätten sie mal lieber einen echten 25-Rubel-Schein mit Lenins Rübe in tastbaren violetten Schattierungen rausgerückt. Ogarjow war nicht dieser Meinung. Ihm gefiel Tizian. Tizian war ein gestohlenes, heimliches Fest. Die Danae, die Zigeunermadonna, das Porträt einer jungen Frau. Die liebreizende Salome, die eine Schüssel mit einem toten abscheulichen Haupt emporreckt. Weiche, geschmackvolle Nacktheit. Dunkle traurige Augen, winzige Münder, zarte Hälse, Kleiderfalten, die in der Dunkelheit zerfließen, die eine unverständliche, aber deutliche Süße verheißt. Grübchen auf den Wangen und Ellbogen. Eine ausgetrocknete Kehle. Italien, Florenz, Renaissance, Santa Maria del Fiore, Santa Croce, Santissima Annunziata – herrliche Wörter ohne Bedeutung. Sie enthalten keinerlei Sinn, enthalten überhaupt nichts, außer Licht.

Der Vater, der zum falschen Zeitpunkt zurückgekommen war, ging einfach her und warf einen Schatten auf dieses Licht, im direkten und indirekten Sinne. Er beugte sich herab, riss es ihm aus der Hand und blätterte es mit lautem Rascheln durch. Er sah Ogarjow an, als wäre er hingefallen und hätte mit der Hand in fremde noch warme Kotze gefasst.

Bist du nicht zu jung für nackte Weiber?

Damit hatte es sich. Nun gab es keinen Tizian mehr.

Wahrscheinlich hatte er ihn einfach weggeworfen. Ihn jemandem zu schenken wäre ihm sicher nicht eingefallen. Schenken, das sah dem Vater überhaupt nicht ähnlich. Ja, und wem denn? Wer konnte Tizian brauchen, wer konnte ihn überhaupt begreifen? Schätzen?

Ogarjow lag in der Badewanne, war den Tränen nahe und bedauerte sich selbst. Das war normal. Schwach sein. Bedauernswert. Bleiche, runzlige Fingerkuppen, aus dem Wasser ragende eckige Knie. Warmes Wasser, warmes Salz auf den Lippen, wirre, weiche Gedanken. Aber früher oder später kühlte das Wasser ab. Früher oder später klopfte jemand an die Tür. Die Mutter, weil sie die Wäsche einweichen wollte. Der Vater, weil er das Recht dazu hatte. Man musste herausklettern, sich mit dem Handtuch abreiben, fest, bis man ganz rot war. Ogarjow rieb sich ab und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Der Vater versperrte ihm die ganze Welt. Es war grundsätzlich unmöglich, ihm zu gefallen, es ihm recht zu machen, auch wenn man sich noch so anstrengte. Früher hatte es Ogarjow versucht. Oft. Sehr lange war Ogarjow davon überzeugt gewesen, dass das Problem bei ihm selbst lag, dass er ein nichtsnutziger Tollpatsch war, schlecht zeichnete, mit dem Fahrrad stürzte, den Löffel nicht richtig hielt. Der Vater konnte ihm mit einem Blick bedeuten: nein, falsch, du Tölpel. Ogarjow änderte seinen Griff – nein, so auch nicht. Wieder falsch. Du bist einfach ein Tölpel.

Wie es richtig gewesen wäre, sagte ihm der Vater nie. Das wusste er wahrscheinlich selbst nicht. Er stand auf, schob den Teller von sich und ging weg. Kein Danke. Kein Auf Wiedersehen. Ogarjow konnte sich kaum erinnern, dass der Vater ihn jemals liebkost, geküsst oder nur über den Kopf gestreichelt hätte. Die grauen, unnützen, ständig unzufriedenen Katzen im Hof kraulte er. Wenn er ihn wenigstens wie die Katzen berühren würde. Nein. Wieder nicht. Ogarjow spürte körperlich, wie verfilzt, schmierig, unförmig er war. So einen rührt man nicht an. Zu widerlich. Räudig. Selbst an allem schuld. Das sagte der Vater. Du bist selbst an allem schuld. Immer.

Es ist schrecklich, welche Schuld Kinder auf sich nehmen, freiwillig, schweigend, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Mama ist gestorben, weil ich mit Zündhölzern gespielt habe. Papa ist fortgegangen, weil ich hässlich bin und schlecht in der Schule. Streit zwischen den Eltern, das zur Neige gehende Erdöl, die Sonne, die auf der falschen Seite aufgeht, der Hamster, der sich als eiskalter struppiger Klumpen auf dem Boden des Dreiliterglases zusammengerollt hat – es gibt kein Unglück, das ein Kind nicht auf sich nehmen würde. Einfach weil es ein Kind ist. Ogarjow wusste nicht, dass man daraus einfach nur herauswachsen musste. Durchhalten, und alles würde vergehen, in Vergessenheit geraten, wie Rachitis, Windpocken, Milchzähne, pralle Pickel, die sogar den Rücken übersäen. Die Welt wird klar und erwachsen. Die Eltern schrumpfen und klettern vom Podest. Selbst die Besten belegen erst den fünfundzwanzigsten Platz und dann den hundertsiebenundzwanzigsten, stellen sich als schwach, lästig, unnütz, klein heraus.

Als die, die sie sind.

Einfach Menschen.

Wenn irgendjemand Ogarjow davon erzählt hätte, dann wäre es leichter gewesen. Doch niemand erzählte ihm etwas. Er brauchte Jahre, um eine einfache und von Anfang an offensichtliche Sache zu begreifen. Der Vater liebte ihn nicht. Liebte ihn einfach nicht, und damit hatte es sich. Gott sei Dank hatte Ogarjow bis zu diesem Zeitpunkt bereits gelernt, den Vater zu hassen.

Das war ein schwieriges Gefühl. Ein erwachsenes. Einem Kind fast unzumutbar.

Bis zum Abend wurde Ogarjow des Hasses immer so müde, dass er lange nicht einschlafen konnte. Er lag einfach da und lauschte mit aller Kraft auf quietschende Sprungfedern, auf irgendeinen Laut vom nächtlichen Leben der Eltern. Anfangs, als er noch klein und schwach war, wusste er selbst nicht, warum, als er größer wurde, lauschte er entsetzt und später hoffnungsvoll. Es schien ihm, dass der Vater dort hinter der Tür der Mutter etwas zuleide tat, es zumindest irgendwann tun würde. Das war offensichtlich, unbestreitbar. So, dass man Rache üben musste. Die erst kindlichen, jämmerlichen Fäuste wurden steinhart, füllten sich mit Hass und Kraft, über die Arme krochen hervortretende, schwere, erwachsene Adern, ihm gellten die Ohren. Wenn sie dort hinter der Tür auch nur einen Laut von sich geben. Aber es gab keinen Laut.

Ogarjow wuchs unter dieser Decke heran und lauschte in die Stille. Er wurde zum Mann. Vergebens, der Vater bemerkte es nicht einmal. Erkannte ihn nie als Ebenbürtigen an. Als den Seinen.