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Belgrad 1990. Die Serbokroatin Iva verliebt sich in einen serbischen Nationalisten. Die beiden werden ein Paar. Doch ihre Liebe zerbricht, als 1991 der Krieg beginnt. Warum nur geriet Jugoslawien aus den Fugen? Iva diskutiert mit ihren Freunden darüber. Auch über die Macht der Kriegspropaganda, die fatale Rolle des Westens und die verhängnisvollen Sanktionen der UNO wir gesprochen. Eine Chronik des Jugoslawienkriegs in Form eines Romans und ein Plädoyer für den Frieden. Aber auch eine Reflexion über Hass und Rache.
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
Auftakt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Ausklang
Nachwort
Wie nur konnte in Europa nach 1945 wieder Krieg entstehen? Das fragen wir uns angesichts des Ukrainekriegs. Dasselbe fragten sich viele auch in den 1990er Jahren angesichts des Jugoslawienkriegs. Schuldzuweisungen sind schnell gemacht: In der Ukraine sind die Russen schuld, in Jugoslawien waren es die Serben. Aber die Wirklichkeit passt schlecht in dieses Schwarz-Weiß-Raster. Sie weist Facetten auf.
Nicht immer verursachen Machtgelüste eines Übeltäters allein den Krieg; manchmal treibt auch Angst den Angreifer an, Angst vor der Vernichtung des eigenen Volkes namentlich. Hat sich die Angst erst einmal festgesetzt, folgt ihr der Hass auf den Fersen. Und es rückt die Überzeugung näher, Angriff sei die beste Verteidigung. 1991, beim Ausbruch des Jugoslawienkriegs, spielte der Argwohn vieler Serben eine entscheidende Rolle, vom unabhängig werdenden Kroatien drohe ihnen Gefahr. Auch zu Beginn des Ukrainekriegs 2022 führte Russland eine angeblich von der Ukraine ausgehende Bedrohung als Kriegsgrund an.
Angst und Hass lassen sich schüren durch Propaganda. Im Vorkriegs-Jugoslawien prasselten Hasskampagnen übelster Art auf die Menschen nieder, sowohl auf die Kroaten als auch auf die Serben. Die tief verwurzelte Feindschaft zwischen ihnen aus dem Zweiten Weltkrieg bot den Nährboden für die Hass-Saat.
In solchen Zeiten zeigt sich, wer Kriegstreiberei zu durchschauen vermag. Es scheiden sich die Standhaften von den Mitläufern. Wer zu den einen und wer zu den anderen gehört, hängt weder von den politischen Ansichten noch von der Religion ab, sondern vom Charakter, von der grundsätzlichen Einstellung zum Leben. Es trennt sich die Spreu vom Weizen der Menschheit. Die Mehrheit von uns scheint leider zur Spreu zu gehören und lässt sich manipulieren.
Die Macht von Hasspropaganda ist immens. Als ich einmal – während meiner Zeit als Schweizer Diplomatin in Belgrad von 1990 bis 1994 – einem serbischen Bekannten gegenüber mein Erstaunen über die Wirksamkeit der Propaganda-Lügen ausdrückte, gab er mir eine Antwort, die mich bis heute, dreißig Jahre danach, beschäftigt: «Überlass mir die Massenmedien in eurer wunderbar demokratischen und föderalen Schweiz, und ich garantiere dir: Innert eines Jahres wiegle ich euch so gegeneinander auf, dass es zu einem Bürgerkrieg zwischen Deutschschweizern und Romands kommt.»
Ich glaube noch heute, dass er irrt. Aber wer weiß? Die Schwelle von Toleranz zu Hass und von Frieden zu Krieg überschreitet sich erstaunlich leicht. Und das Erschreckende ist, dass dabei nicht irgendwelche unzivilisierten Monster agieren, sondern normale Zeitgenossen.
Die folgende Geschichte spielt hauptsächlich in Belgrad. Iva, die Romanheldin, gehört zu jenen Bewohnern der Stadt, die der Propaganda widerstehen und Nationalismus und Krieg ablehnen. Als sie sich aber in einen serbischen Nationalisten verliebt, wird sie konfrontiert mit Brutalität, Leid und – schließlich auch ihrem eigenen – Hass. Wir begleiten sie durch das letzte Jahr vor Kriegsausbruch und die ersten Kriegsjahre.
In Belgrad selbst fand damals noch kein Krieg statt. Und doch erlebten Stadt und Bewohner schwere Zeiten.
Die Autorin
Da, wo die von Zagreb sanft daherströmende Sava auf die von Norden nahende Donau trifft, da liegt Belgrad, die weiße Stadt. Im Verlauf der Jahrhunderte siedelten hier nacheinander Kelten, Römer, Ostgoten und Slawen, herrschten Ostrom und Byzanz, später die Osmanen. Diese regierten von der Festung Kalemegdan aus mit harter Hand über Belgrad und sein Hinterland und blieben bis fast zum Ende des 19. Jahrhunderts. Nach ihrer Vertreibung machte Serbien Belgrad zu seiner Hauptstadt, und als am Ende des Ersten Weltkriegs aus Serbien und den balkanischen Splittern Österreich-Ungarns Jugoslawien entstand, wurde es auch zu dessen Kapitale.
Die Festung Kalemegdan liegt auf einem hohen Felsen, genau über dem Zusammenfluss von Save und Donau. Seit dem Abzug der Türken dient der ehemalige Festungsplatz als Park. Dort flanieren die Belgrader, ruhen sich aus oder treffen Bekannte zu einem Schwatz. Trotzdem: Irgendwie spürt man noch immer die martialische Vergangenheit des Ortes. Denn da, wo man heute unter Bäumen spaziert, folterten die Türken damals Serben und richteten sie qualvoll hin. An der dem Save-Ufer zugewandten Seite des Parks befindet sich das an die Vertreibung der Türken erinnernde Siegesdenkmal. Von hier aus hat man einen weiten Blick. Man sieht die bewaldete Insel in der Donau, die Kriegsinsel heißt, und auch das jenseits der Save gelegene Stadtviertel Novi-Beograd mit seinen hohen Gebäuden und seinen Plattenbauten. Es grenzt an das von Bürgerhäusern geprägte, sich ans Donau-Ufer schmiegende Städtchen Zemun. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Zemun österreichisch; von dort aus konnte man damals die auf dem Kalemegdan eingeigelten Türken beobachten. Da, wo heute das Siegesdenkmal steht, berührten sich lange Zeit Orient und Okzident.
Seit es den Kalemegdan-Park gibt, treffen sich dort Belgrader Schachspieler. Auf Parkbänken hockend, zwischen ihnen das Schachbrett, spielen sie meisterlich. Nach der Partie fachsimpeln sie miteinander, und manchmal reden sie über die jüngsten Geschehnisse im Land.
So auch an diesem Sommertag im Jahr 1990. In Belgrad herrschte eine angespannte Stimmung, hervorgerufen durch die Nachricht über ein schlimmes Verbrechen: Nahe der Stadt Sisak in Kroatien war eine serbische Familie entführt worden. Nun hatte man die Leichen von Vater und Sohn gefunden, mit Folterspuren; nicht weit davon kauerten wimmernd die Mutter und die vergewaltigte Tochter. Als Täter stünden, so hieß es, kroatische Extremisten fest, deren Ziel in der Einschüchterung aller Serben bestehe. In Windeseile verbreitete sich in Belgrad die Ahnung, dass nun wohl Gewalt mit Gewalt vergolten und so eine unheilvolle Spirale in Gang gesetzt werde.
«Diese Aufwiegelei der Serben gegen die Kroaten scheint mir höchst gefährlich für unser Jugoslawien», kommentierte einer der Schachspieler die Nachricht.
«Es sind die Kroaten, die aufwiegeln, wir Serben sind die Angegriffenen, wie immer in der Geschichte», sagte ein zweiter.
Ein dritter, ein bleichgesichtiger Professor im Ruhestand, meinte: «Seit Titos Tod verraten beide Seiten unsere jugoslawischen Werte. In Zagreb schüren sie den Hass zwischen den Volksgruppen genauso wie hier in Belgrad. Dunkle Zeiten kommen auf uns zu.»
«Welche Nationalität habt ihr denn?», fragte der erste.
«Ich bin Serbe!», bekannte sich der zweite mit sichtlichem Stolz.
«Ich bin Kroate!», rief der erste mit nicht geringerem Stolz.
«Und ich bin Jugoslawe», sagte der Professor.
«Das gilt nicht, das ist nur die Staatsangehörigkeit. Sag uns, welchem Volk du angehörst», meinten die beiden anderen.
«Dann bin ich Pinguin.»
So redeten sie in Belgrad, als sich die Hassgeister anschickten, aus der Pandorabüchse zu entweichen.
******
An einem angenehm warmen Samstagnachmittag im Juli 1990 hielt laut quietschend eine Tram beim Platz der Republik in der Belgrader Innenstadt. Zu den aussteigenden Fahrgästen gehörte eine elegante, etwa dreißigjährige, dunkelhaarige Frau in einem azurblauen Sommerkleid. Ihr graziöser, geschmeidiger Gang ließ erahnen, dass sie gerne tanzte. Und die wachen braunen Augen, die aus ihrem schmalen, feingeschnittenen Gesicht leuchteten, verrieten neugierige Lebensfreude. Aber ebenso vorsichtige Zurückhaltung.
Iva, so hieß sie, war um halb vier Uhr mit ihrer Freundin zu einem Spaziergang im Kalemegdan-Park veabredet. Bis zum Rendezvous blieb noch Zeit. So schlenderte sie gemächlich durch die Mihailova-Straße, die Belgrader Flanier- und Einkaufsmeile. Von ihr gelangte man geradewegs zum Park.
Da und dort blieb sie vor einem Schaufenster stehen und betrachtete die ausgestellten Kleider. Damenmode interessierte sie seit jeher. Die Begeisterung dafür war ihr in die Wiege gelegt worden. Sowohl ihre verstorbene Mutter als auch ihre Großmutter hatten als Schneiderin gearbeitet. Bei ihrer Oma lebte sie nun schon seit fast zwanzig Jahren, seit dem Unfalltod ihrer Eltern. Die Oma war längst pensioniert, aber für besondere Kunden fertigte sie zu Hause noch immer Kleider an. Manchmal sah Iva ihr dabei zu. Es faszinierte sie mitzuerleben, wie aus Stoffen Röcke, Blusen und Jacken entstanden.
Eigentlich hatte auch sie Schneiderin werden wollen. Dann besann sie sich anders und studierte Recht, weil sie meinte, das verspreche ihr eine bessere Karriere. Jetzt arbeitete sie als Juristin im Kulturministerium. Ihr Job langweilte sie und bot ihr, ganz entgegen ihren Hoffnungen, kaum Aufstiegschancen. Immerhin strengte er sie nicht allzu sehr an und ließ ihr viel freie Zeit. So war sie insgesamt recht zufrieden damit. Wie viele Jugoslawen damals träumte sie jedoch von mehr Wohlstand. Was sie sonst noch vom Leben erwartete, wusste sie nicht so genau. Sie vertraute darauf, dass sich nach und nach alles von selbst ergebe. Heiraten gehörte nicht zu ihren Zielen. Ihre bisherigen Geliebten hatte sie jeweils bald schon uninteressant gefunden. Von Mirko, ihrem letzten Freund, hatte sie sich vor einem Monat getrennt; jetzt genoss sie das Alleinsein. Ich heirate nur jemanden, den ich auch wirklich liebe, lautete ihr Vorsatz. Vor allem darf ein Ehemann mich nicht langweilen; er muss treu sein, ehrlich, anständig, Humor haben, immer zu mir stehen, Tiere gernhaben, gut Schach spielen und tanzen. Sie wusste um die geringen Chancen, einen so perfekten Mann zu finden. Macht nichts, sagte sie sich, dann bleibe ich halt allein; jedenfalls will ich niemals etwas mit einem Nationalisten zu tun haben, mit einem von denen, die in Jugoslawien Misstrauen und Hass zwischen den Volksgruppen säen.
Pünktlich traf sie beim Eingang zum Kalemegdan ein. Ihre Freundin Branka verspätete sich. Während sie wartete, hockte sie sich auf eine Mauer und ließ die Beine baumeln. Vom Park her roch es nach Sommer. Sie verspürte eine zufriedene Ruhe. Die eben gesehenen Kleider passierten Revue vor ihrem inneren Auge. Deren trendige Schnitte gefielen ihr besser als die klassischen ihrer Oma, und gerne hätte sie eine der schicken Jacken gekauft, die dunkelgrüne mit den hübschen Stickereien als Verzierung. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Wer in Belgrad hat genug Geld für solch teure Sachen, grübelte sie. Seit Titos Tod verarmte Jugoslawien, und die meisten Leute kamen nur knapp über die Runden. Luxus blieb wenigen Belgradern vorbehalten, eigentlich nur den Regimegünstlingen. Der bekannteste von ihnen war Arkan, der in Wirklichkeit Ražnatović hieß, aber meist seinen Aka-Namen benutzte. Von den serbischen Medien ließ er sich zu einem nationalistischen, die Sache der Serben verteidigenden Star emporjubeln, er, der im Ausland als Dieb und Mörder gesucht wurde. Was er wohl im Schilde führte? Zwietracht säen zwischen Serben und Kroaten, oder gar Krieg entfachen? Iva wusste nicht einmal, zu welcher Kriegspartei sie dann gehören würde, war sie doch mütterlicherseits Kroatin und väterlicherseits Serbin. Nein, Krieg durfte es nicht geben.
Sie erblickte die herbeieilende Branka und stoppte ihre Grübelei.
Branka war kleiner und rundlicher als Iva, hatte ein fröhliches, sympathisches Gesicht und kurzes dunkelblondes Haar. Wie meistens trug sie farbenfrohe Kleider. An diesem Tag erschien sie in Gelb und Blau. Schon oft hatte Iva ihr zu ruhigeren Farbkombinationen geraten, doch Branka war eine Anhängerin von extravaganter Farbigkeit.
«Du meinst es gut, Iva», sagte sie jeweils. «Du möchtest, dass die Kleider mich schlanker machen. Mir ist es aber wichtiger, dass sie meine Lebenslust ausdrücken.»
Branka neckte die anderen gerne. So rief sie beim Näherkommen, noch etwas außer Atem: «Hallo, Iva. Sind wir beide wieder einmal verspätet, nicht wahr? Wir haben einfach zu viel um die Ohren.»
Iva lachte, dann hänselte auch sie ihre Freundin: «Als Lehrerin solltest du eigentlich genügend Zeit haben.»
Sie kannten sich seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. Beide hatten sie bei der Tito-jugoslawischen Jugendorganisation mitgemacht. Aber während die forsche Branka sich als eifrige «kleine Pionierin» hervortat, zeigte Iva deutlich geringeren Enthusiasmus für die indoktrinierend und fast militärisch geführten Freizeitaktivitäten. Später gingen sie unterschiedliche berufliche Wege, Branka als Lehrerin und Iva als Juristin. Stets jedoch blieben sie Freundinnen.
Dieses Jahr wollten sie ihre Ferien gemeinsam an der Adria verbringen. Durch den Park spazierend besprachen sie die Reise. Brankas Onkel Marko erlaubte ihnen, sein nur wenige Kilometer von Split entferntes Ferienhaus zu benutzen. Iva bat Branka, Onkel Marko dafür zu danken, dass auch sie dort wohnen durfte, obwohl sie ja nicht zur Familie gehörte. Branka wandte sofort ein, dass Iva für sie wie eine Schwester sei und dass auch Onkel Marko gesagt habe, er betrachte sie praktisch als Familienmitglied. Sie war gerührt über die Quasi-Aufnahme in Brankas Familie, umso mehr als sie außer ihrer Großmutter und entfernten Verwandten in Kroatien keine eigenen Angehörigen mehr hatte. Ohnehin sprach sie Marko seit jeher als Onkel an, einfach deshalb, weil Branka ihn so nannte.
«Brüderchen Andrej kommt vielleicht mit in die Ferien», kündigte Branka an. Sie nannte Andrej immer Brüderchen, weil er fast zehn Jahre jünger war als sie. «Am besten besuchen wir ihn und reden auch mit ihm.»
Also machten sie sich auf den Weg ins Belgrader Künstlerviertel Skadarlija. Dort wohnte das Brüderchen zur Untermiete bei Boro, einem Maler. Sie trafen Boro in seiner kleinen, einige Stufen unter dem Straßenniveau gelegenen Galerie an. Hinter der Galerie, die «Boros Wahl» hieß, befand sich das Maleratelier. Die meisten von Boros Bildern stellten serbische Klöster oder Landschaften dar. Sie verkauften sich gut. Zumindest war das bis vor etwa einem Jahr so gewesen. In letzter Zeit machten sich die Kunden rar; angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs fehlte ihnen das Geld für Kunst. Auch deswegen zählte Boro zu den Kritikern des jugoslawischen Regimes und des serbischen Präsidenten Milošević.
Boro war Künstler mit Herz und Seele, nicht nur als Maler, sondern auch als Schauspieler in einem der Belgrader Kleintheater. Er bezeichnete sich selbst als Bohemien, freigeistig, jeden Tag genießend. Mit seinen bald sechzig Jahren, seinem durchfurchten Gesicht und seinen weißen Haaren schien er vielleicht etwas alt für diesen Lebensstil, aber er praktizierte ihn mit Inbrunst. Er stammte aus Niš, einer Stadt im sonnigen Südosten Serbiens. 1980 war er nach Belgrad gekommen, weil er sich hier bessere Chancen erhoffte, als Maler zu reüssieren, und weil ihn die damals noch rege und weltoffene Belgrader Kunstszene anzog. Seine Frau, eine Kinderärztin, blieb in Niš. Manchmal besuchte sie ihn in der Skadarlija, und ab und zu unternahm Boro die fast dreistündige Fahrt auf der Autobahn nach Niš. Trotz ihrer Ehe auf Distanz liebten die beiden sich innig.
Einsamkeit verspürte Boro keine, schließlich hatte er in der Skadarlija seine Freunde. Als er vor einem Jahr einen Untermieter suchte, tat er das nicht, um Gesellschaft zu haben, sondern weil er Geld brauchte. Als dann Andrej ins Studio im Obergeschoss einzog, merkte er, dass ihm die Diskussionen mit dem jungen Mann gefielen, und er begann, ihn ins Herz zu schließen. Nach und nach wurde Andrej für ihn so etwas wie ein Ersatzsohn, blieb seine Ehe doch kinderlos. Für Andrej, der an der Uni studierte, erwies sich die Untermiete bei Boro als Glücksfall. Er wohnte komfortabel, konnte tun und lassen, was er wollte, und in Boro fand er einen väterlichen Freund, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stand. Manchmal führten Boro und Andrej im nahen Bistro bei einem Bier bis spät in die Nacht hitzige Streitgespräche über Politik, Gott und die Welt.
Als Branka und Iva die Galerie betraten, blickte Boro erfreut auf. «Andrej ist oben. Iva, wann darf ich dich malen?»
Das fragte er sie jedes Mal, wenn er sie sah. Er fand, sie habe ein an römische Frauenbildnisse erinnerndes, klassisch schönes Gesicht, das eine unergründliche Mischung aus Zurückhaltung und Neugier ausstrahle. So jemand darf nicht unporträtiert bleiben, war er überzeugt.
Sie gab ihm dieselbe Antwort wie immer: «Wenn ich genug Geld habe, um das Bild zu kaufen. Ich will nicht an jemand anders verkauft werden, auch nicht als Bild.»
Boro lachte. Auch Iva lachte, aber Boros Frage machte sie stets ein wenig verlegen. Sie wusste, dass ihre vorsichtige, zurückhaltende Art manchmal etwas geheimnisvoll wirkte. Doch sie spürte keinerlei Lust, ihren Seelenzustand anderen Menschen preiszugeben, schon gar nicht einem Maler. Ihre Ausstrahlung spiegelte ihr Leben und ihre Weise wider, damit umzugehen. Das ging nur sie selbst etwas an, fand sie. Ihre Zurückhaltung wurzelte in ihrer Kindheit, im Verlust ihrer Eltern und in der Erziehung durch ihre Großmutter. Sie selbst sah darin nichts Geheimnisvolles oder Besonderes, das einen Maler faszinieren könnte, sondern ein Gegengewicht zu ihrer angeborenen Spontaneität und Begeisterungsfähigkeit, die sie manchmal zu unüberlegtem Handeln drängten. Nicht immer fiel ihr das Balancieren zwischen ihren Wesenszügen leicht.
Boro hörte auf zu lachen und sah die beiden Frauen ernst an. «So, ihr wollt also in die Ferien nach Split, und du nimmst deinen Bruder mit, Branka. Habt ihr denn keine Angst? Habt ihr gehört, was in Sisak passiert ist? Kroatische Extremisten gibt es nicht nur dort, sondern auch in Dalmatien. Seid ihr sicher, dass ihr fahren wollt?»
Die beiden Frauen warfen sich erschrockene Blicke zu.
Branka antwortete: «Klar habe ich die Neuigkeit von Sisak gehört; in den Nachrichten kommt ja nichts anderes. Aber wir verzichten doch nicht wegen einiger Verbrecher auf unsere Ferien.»
Iva, leicht entrüstet über Boros Einmischung in ihre Planung, doppelte nach: «Wir sind schließlich alle Jugoslawen. Wieso sollten denn jetzt plötzlich Kroaten auf Serben losprügeln oder umgekehrt? Wir haben immer zusammen gelebt. Ich selbst bin Serbokroatin, mit einer kroatischen Mutter und einem serbischen Vater. Meine Nationalität kümmert mich nicht, und allen, die ich kenne, ist sie egal.»
Boro verzog sein Gesicht. Als Kind hatte er noch den Hass zwischen Kroaten und Serben im Zweiten Weltkrieg miterlebt. Das mit Hitler-Deutschland verbündete faschistische Ustaša-Kroatien folterte und massakrierte damals Hunderttausende Serben; es schuf Konzentrationslager, die sogar in den Augen deutscher Nazis zu brutal agierten. Deshalb war sich Boro nicht so sicher wie die beiden jungen Frauen, dass sich die Jugoslawen als ein einig Volk fühlten.
Andrej trat ein. «Seid gegrüßt, große Schwestern. Wie geht es euch? Wir fürchten uns vor nichts und fahren trotz alledem in die Ferien, nicht wahr? Aber Boro weiß ein wenig mehr als wir. Wir sollten auf ihn hören. Ich jedenfalls verzichte auf die Reise.»
Da hakte Boro wieder ein: «Ich habe ein ungutes Gefühl, und zwar schon seit dem Fußballmatch vom Mai in Zagreb zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad. Das war kein Spiel, sondern eine Schlacht der Kroaten gegen die Serben. Die Regierung in Zagreb ermuntert die Kroaten zur Gewalt gegen uns. Darum ist jetzt auch das in Sisak passiert. Nehmt euch in Acht.»
Den Abend verbrachte Iva zu Hause bei Zorica, ihrer Großmutter, die sie Baba nannte. Gemeinsam bewohnten sie mit ihrem dicken Hauskater Medo drei Zimmer in einem Plattenbau in Novi-Beograd. Dass sie zusammenwohnten, brachte beiden Frauen Vorteile, und Iva hatte eigentlich nie Lust verspürt wegzuziehen. Sie verstanden sich gut, auch wenn eine innige Familiarität zwischen ihnen fehlte. Von Anfang an, seit sie nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer Baba zog, hatte sich eine Kühle in ihr Verhältnis eingeschlichen. Woran das lag, wusste keine von ihnen. Es hatte sich einfach so ergeben. Vielleicht wegen der unglücklichen Umstände, die für ihr Zusammenleben verantwortlich waren? Iva trauerte intensiv und lange um ihre Eltern. Während vieler Jahre ließ sie niemanden mehr gefühlsmäßig an sich heran, auch ihre Baba nicht. Diese bedauerte das zutiefst, vermochte es aber nicht zu ändern. Nach außen hin war die Distanz zwischen ihnen nicht erkennbar. Wenn sie gemeinsam jemanden besuchten oder an einer Veranstaltung teilnahmen, deutete alles auf eine innige Beziehung zwischen ihnen hin, das aufmunternde Lächeln, das sie einander von Zeit zu Zeit zuwarfen, kleine Gesten, mit denen sie sich wortlos verständigten. Aber sie selbst wussten sehr wohl um ihre mangelnde Nähe. Stets gingen sie jedoch respektvoll und freundlich miteinander um. Streit hatte es in all den Jahren kaum je gegeben.
Großmutter und Enkelin aßen am Tisch im Wohnzimmer und schauten dazu fern. Kater Medo lag auf dem Fensterbrett und beobachtete sie. Wie so oft in letzter Zeit lief ein Dokumentarfilm aus dem Zweiten Weltkrieg.
Iva fragte: «Baba, was denkst du, warum zeigen sie uns so viele Filme über Hitler, die Konzentrationslager und die Bombardierungen? Ich finde das wenig unterhaltsam. In den Nachrichten sehen wir das Verbrechen von Sisak, und danach die Abscheulichkeiten aus dem Weltkrieg. Ich bin schon ganz bedrückt.»
«Das ist die beabsichtigte Wirkung. Wir sollen bedrückt reagieren, uns davor fürchten, dass der Faschismus nach Kroatien zurückkehrt. Die Führung in Serbien will uns gegen die Kroaten aufwiegeln.»
Eine Weile schwiegen sie. Dann begann Iva, vom nachmittäglichen Gespräch in der Skadarlija zu erzählen, von Boros Warnung, Andrejs Angst und von ihrer eigenen Reaktion, der Weigerung, an die plötzliche Feindschaft zwischen kroatischen und serbischen Jugoslawen zu glauben, und von ihrem Entschluss, mit Branka doch nach Split zu fahren.
«Klar denkst du so, Iva. Du hast die von den kroatischen Ustaša-Faschisten im Weltkrieg verübten Gräuel nicht erlebt, und Tito sorgte dafür, dass man sie totschwieg. Hass lässt sich leider leicht wiederbeleben, und unsere jetzigen, nationalistischen Führer geben sich große Mühe, uns aufzuhetzen. Ob die Nachrichten über den Vorfall in Sisak wirklich stimmen? Vielleicht geht es in Wahrheit um ein gewöhnliches Verbrechen ohne antiserbisches Motiv. Vielleicht sogar begingen nicht Kroaten die Tat, sondern Serben, um die Schuld den Kroaten in die Schuhe zu schieben. Warum wiederholen Fernsehen und Radio die Neuigkeit unablässig? Das fühlt sich an wie Gehirnwäsche. Auch wenn seit dem Mauerfall in Berlin alle von Demokratie und Meinungsfreiheit reden, bei uns ist immer noch die kommunistische Nomenklatura am Ruder. Und die weiß, wie man uns linientreu macht.» Nach einer Weile fügte sie bei: «Aber deswegen nicht ans Meer zu fahren, schiene mir falsch. Geh nur, du hast Ferien verdient.»
Später am Abend jedoch beschlichen Zorica Zweifel. War es richtig, dass sie ihre Enkelin zur Reise nach Split ermunterte? Jetzt, allein im Halbdunkeln, war sie sich nicht mehr so sicher. Auf dem Weg nach Split durchquerte man das mehrheitlich von Serben bewohnte Grenzgebiet Kroatiens zu Bosnien-Herzegowina, die Krajina, mit den dortigen serbischen Nationalisten. In Split dagegen befand sich die Hochburg der kroatischen Nationalisten. Aber, so dachte Zorica, Iva war durchaus fähig, heikle Situationen zu meistern. Schließlich hatte sie ihr beigebracht, alles vorsichtig anzugehen und stets die Konsequenzen abzuwägen von dem, was sie tat und was sie sagte. Sie ließ Iva in einem kritischen Geist aufwachsen, im Bewusstsein, dass vieles zwei Seiten hat und dass man nicht alles für bare Münze nehmen darf, auch nicht die Aussagen der Mächtigen. Schon Ivas Vater hatte sie in diesem Geist großgezogen. Wohl deswegen setzte er sich später für einen Freund ein, der ohne Beweise wegen nationalistischer Aufwiegelung vor Gericht stand. Einige Wochen danach verunglückten Ivas Eltern tödlich, als ihnen in einer Kurve auf der Straße von Niš nach Pirot ein Lastwagen entgegenkam, dessen Anhänger ausschwenkte und ihr Auto zerschmetterte. Seither nagten Zweifel an Zorica. War das ein Unfall oder eine Strafaktion des Regimes? Sie warf sich vor, ihren Sohn zu wenig zur Vorsicht in seinem Verhalten gemahnt zu haben. Bei Iva strengte sie sich an, es besser zu machen. Iva sollte kritisch denken, aber nicht so sprechen. Jedenfalls nicht außerhalb des engen Freundeskreises.
Zorica hatte Titos diktatorischen Kurs von Anfang an abgelehnt. Noch stärker missbilligte sie den Nationalismus des jetzigen Parteichefs, des serbischen Präsidenten Milošević. An die große Glocke hängte sie ihre Kritik allerdings nicht. Und nie hatte es jemand gewagt, sie wegen ihrer Haltung zur Rede zu stellen; zu hoch war ihr Ansehen als ehemalige Tito-Partisanin. 1942 war Zorica «in den Wald» gegangen, nachdem die Ustaša ihre Eltern massakriert und ihren Ehemann im Konzentrationslager Jasenovac abgeschlachtet hatten, dem knapp hundert Kilometer östlich von Zagreb am Save-Ufer gelegenen «Auschwitz des Balkans». Zwar teilte sie die kommunistische Ideologie der Tito-Partisanen nicht, aber da sie sich als Einzige den Ustaša entgegenstellten, schloss sie sich ihnen an. Bei einigen Aktionen tat sie sich besonders hervor. Im Winter 1943, als deutsche Panzer die Partisanen nach einer Schlacht ans Ufer der Neretva zurückdrängten und der einzige Ausweg über eine behelfsmäßig reparierte Brücke auf die andere Flussseite führte, wo jedoch die mit Deutschland verbündeten Četniks lauerten, meldete Zorica sich freiwillig für ein todesmutiges Vorauskommando. Es schlug die Četniks in die Flucht. Sie überlebte als eine der wenigen. Die heldenhafte Aktion machte den Weg frei für den Rückzug der Partisanen mitsamt ihrem Kommandanten Tito. Daran erinnerte Zorica sich jetzt, nach dem Gespräch mit Iva. Es kann doch nicht sein, dachte sie, dass meine Enkelin Angst haben muss, durch das von uns damals befreite Land zu fahren. Wofür haben wir denn unser Leben riskiert? Man darf sich nicht ängstigen lassen. Das Unbehagen über Ivas bevorstehende Reise begleitete sie jedoch bis in den Schlaf.
Trotz Boros Warnung und Andrejs Rückzieher fuhren Iva und Branka in die Ferien. Zwei Wochen später kehrten sie braungebrannt nach Belgrad zurück. Nichts Böses war ihnen passiert. Außer dass sie auf der Hinreise vor dem Krajina-Städtchen Knin an einer Straßensperre halten mussten. Der Wachtmann fragte sie nach ihrer Nationalität. Strahlend und sichtlich stolz antwortete Branka, sie seien Serbinnen. Sie durften weiterfahren. An einigen Gebäuden am Stadtrand sahen sie die aufgemalten Worte «ovo je Srbija» (»das ist Serbien»), und die vier zyrillischen C, ein Symbol für die serbische Einheit. Als sie an ihrem Zielort ankamen und den Zastava vor Onkel Markos Ferienhaus parkten, näherte sich ein kroatischer Polizist. Auf das Belgrader Kennzeichen des Autos deutend fragte er, ob sie Serbinnen seien; gegenwärtig sehe man in Dalmatien Serben nicht so gerne. Iva antwortete, ihre Familie stamme aus Kroatien, und ihre verstorbene Mutter sei Kroatin gewesen. Der Polizist wünschte ihnen schöne Ferien.
Die folgenden Tage verbrachten sie meist am Strand. Abends besuchten sie einige Male die Kaffee-Bar im Dorf. Alle verhielten sich freundlich. Einmal tanzten Iva und Branka sogar zusammen mit Einheimischen einen Kolo-Reigen, und alle applaudierten.
Die Nähe zur Hochburg des kroatischen Nationalismus in Split ließ sich nur daran erkennen, dass auf einigen Hauswänden ein aufgespraytes kroatisches Schachbrett-Wappen prangte. Und eines Abends, als sie vom Strand zurückkehrten, zierte das Wappen auch die Mauer vor Onkel Markos Haus.
Einen ziemlichen Schrecken erlebten sie auf der Rückreise nach Belgrad, auf einem Rastplatz bei Bojanzi, da, wo die Autostraße von der weiten, offenen Ebene in den damals wunderschönen, dichten Wald überging. Es war Mittag und brütend heiß. Sie gönnten sich eine Pause, parkten im Schatten eines Baumes, öffneten die Türen, lehnten die Sitze zurück und dösten.
«Hoffentlich ist es hier nicht gefährlich, das ist doch Ostslawonien», murmelte Iva.
Schläfrig winkte Branka ab: «Alle machen Siesta.»
Als ob sie etwas ahnte, blickte Iva zum Waldrand, wo ein einzelnes Gehöft stand. Für einen Moment erstarrte sie, rüttelte dann Branka wach und zeigte auf die Ursache ihres Entsetzens: Drei Männer mit Gewehren näherten sich ihnen, ohne Eile, aber zielgerichtet und im Gleichschritt.
Endlich, als die Männer nur noch knapp fünfzig Meter entfernt waren, gelang es der verschlafenen Branka, den Zastava zu starten. Sie kehrten zurück auf den Autoput und fuhren in Richtung Belgrad in den Wald hinein, noch immer gepackt vom Schreck. Mit ihren breit ausladenden Ästen formten die Bäume ein schützendes Dach über der Straße.
Nach einer Weile sagte Branka: «Vielleicht wollten die uns gar nichts tun, sondern nur fragen, ob wir Hilfe benötigen. Waren es wohl Serben oder Kroaten?»
Iva war das egal. Sie hatte das Gefühl, dem Tod knapp entronnen zu sein.
Einige Wochen später, an einem Sonntagnachmittag Ende August, gaben Onkel Marko und seine Frau Ana in ihrem Haus in Senjak ihre traditionelle Spätsommer-Gartenparty. Das Belgrader Villenviertel Senjak liegt idyllisch am Hang ob der Save. Manche der dortigen Gebäude zeugten mit ihren Türmchen und ihrem palastartigen Bau von vergangener Glorie, wirkten jedoch ziemlich heruntergekommen. Die Gärten immerhin waren schön anzusehen, ganz besonders Markos Garten, weil Ana ihn hegte und pflegte.
Sie hatten Freunde, Verwandte und Klienten von Markos Anwaltskanzlei eingeladen. Die Gäste, darunter auch Iva und Branka, saßen im Schatten eines riesigen Nussbaums und unterhielten sich angeregt. Von Zeit zu Zeit standen sie auf, spazierten im Garten und diskutierten miteinander oder sahen sich Anas Blumen und Gemüsebeete an. Aus einem Kassettenrekorder erklang Volksmusik.
Marko erzählte von seinen Ferien. Zwei Wochen nach Iva und Branka verbrachten auch Ana und er eine Woche im Ferienhaus nahe bei Split. Die Stimmung dort hatte sich inzwischen radikalisiert. Obwohl Ana und Marko schon seit einer Ewigkeit jedes Jahr mindestens einmal nach Split reisten und die Nachbarn kannten, fanden sie keine freundliche Aufnahme mehr. Der bloße Umstand, dass sie Serben waren, machte sie zu unerwünschten Personen. Als dann Marko auch noch versuchte, das auf seiner Mauer aufgesprayte kroatische Wappen wegzuputzen, erhielten sie Besuch von einer Gruppe bedrohlich aussehender junger Männer.
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Ferienhaus bald wiedersehe», schloss Marko mit Entrüstung in der Stimme. «Was unser Tito am meisten vermeiden wollte, war die Rückkehr der Hassdämonen aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch genau das geschieht jetzt leider, und Jugoslawien droht aus den Fugen zu geraten.»
Marko war ein begeisterter Anhänger Titos gewesen und hatte dem Regime als Spezialist für die betriebliche Selbstverwaltung gedient. Darum erhielt er damals die Villa in Senjak und das Ferienhaus nahe Split. Aber seit Titos Tod gehörte Marko zur Opposition. Er kritisierte vehement, dass Titos Nachfolger dem Volksgruppen-Nationalismus frönten, anstatt dem nach 1945 eingeschlagenen Weg zur Versöhnung der jugoslawischen Völker zu folgen.
Neben Iva und Branka lauschte auch Svetlana Markos Worten, eine junge Journalistin vom Studentenradio B92, dem einzigen Belgrader Radio, das Regimegegnern das Wort gab. Es brauchte einige Courage, dort zu arbeiten. Die hatte Svetlana.
Auch jetzt sprach sie Klartext: «Es sind die Lügen der Regierung, welche die Stimmung aufheizen. Im Juli tischten sie uns das Märchen von der Sisaker Gräueltat auf. Zuvor, im Mai, informierten sie uns einseitig über die Zagreber Fußballschlacht zwischen Dinamo und Roter Stern; die serbischen Fans waren nämlich nicht unschuldige Opfer, wie man uns glauben machen wollte, sondern sie provozierten die Kroaten gezielt, angefeuert vom großserbischen Haudegen Arkan, der wahrscheinlich im Einverständnis mit Milošević’ Geheimdienst agiert. Schade um unser schönes Jugoslawien.» Svetlana sprach laut und aufgebracht.
Das hörte ein anderer Gast, Mladen, ein Anwalt in Onkel Markos Kanzlei. Er konterte: «Sei nicht so pessimistisch! Jugoslawien braucht Reformen, mehr Autonomie für die Republiken und Garantien für die Minderheiten. Das ist machbar. Dann entspannen sich die Beziehungen zwischen Serben und Kroaten.»
Svetlana blickte Mladen an, als käme er vom Mars, und sagte mit einem Seufzer: «Lieber Mladen, du hörst doch auch Nachrichten. Dann hast du sicher bemerkt, dass unsere Staatsführer das Gegenteil von dem tun, was du gerne möchtest. Anstatt an einem Strang zu ziehen, und zwar in dieselbe Richtung, ziehen die Vertreter der Serben nach dahin und jene der Kroaten und der Slowenen nach dorthin.»
Mladen insistierte: «Bald schon sehen die Dinge anders aus. Zum ersten Mal wählen wir heuer unsere Führer frei. Wahrscheinlich wechselt dann die Regierung. Jenen, die einen Krieg zwischen Serben und Kroaten prophezeien, mag ich nicht glauben. Seit 1945 gab es in Europa keinen Krieg mehr, und es gibt auch jetzt keinen. Falls doch, greifen die USA ein.»
Marko schüttelte bedauernd den Kopf. «Die Welt blickt auf die zerfallende Sowjetunion. Das zerfallende Jugoslawien interessiert sie nicht. Und die USA haben mit dem Golfkrieg alle Hände voll zu tun. Niemand hilft uns.»
Iva teilte Svetlanas Meinung. Aber das brauchte sie ja nicht zu sagen, fand sie. Vor allem nicht, wenn unter Markos Gästen vielleicht jemand war, der dem Regime nahestand und der lauschte.
Marko, Branka und Svetlana gingen zum mit Speis und Trank beladenen Buffet. Iva und Mladen blieben allein. Die beiden kannten sich seit ihrem Studium. Sie hatten häufig gemeinsam in der Uni-Bibliothek gearbeitet, auch die Pausen miteinander verbracht, dabei viel diskutiert und gelacht. Für Iva war Mladen aber stets nur ein guter Kumpel gewesen, und sie empfand es als angenehm, dass er ihr gegenüber nie einen anderen als einen kollegialen Ton anschlug. – In Wirklichkeit jedoch himmelte Mladen sie seit jeher an. Heimlich aber nur. Nie hatte er es gewagt, sie auf seine Gefühle ihr gegenüber anzusprechen. Aus Angst, sie lasse ihn abblitzen. Nun aber hatte er sich vorgenommen, sein Glück endlich zu wagen.
«Komm, lass uns im Garten spazieren», sagte er zum Auftakt.
Sie spazierten. Als sie beim Gehege von Anas Hühnern ankamen, blieben sie stehen.
Iva sah den Tieren interessiert zu. «Schau, mit welch heiligem Eifer die Hühner scharren. Mit dieser Ernsthaftigkeit sollten auch die Menschen durchs Leben gehen.»
Mladen wusste, dass Iva Tiere liebte und der Ansicht war, dass Tiere einen besseren Charakter hätten als manche Menschen. Es reizte ihn, an dieser Ansicht zu rütteln: «Hast du schon einmal gesehen, was Hühner machen, wenn eines von ihnen krank oder irgendwie anders ist? Sie picken es immer wieder auf den Kopf, bis sie es nach ein paar Wochen totgehauen haben, eine langsame Steinigung sozusagen. Hühner sind auch nicht besser als Menschen.»
«Nicht alle Hühner machen das. Und es ist nicht Bosheit wie bei den Menschen, es kommt vom Instinkt. Sie können nicht anders», erwiderte Iva.
Worauf Mladen meinte: «Auch manche Menschen können nicht anders als hassen und hauen.»
Dann fragte er, ob sie in der folgenden Woche einmal miteinander ausgehen könnten.
«Warum nicht?», antwortete Iva heiter. «Lass uns ins Kleintheater gehen, in dem Boro spielt.»
Mladen strahlte. Die erste Etappe seines Vorhabens schien ihm gelungen.
Die Stimmung unter Markos und Anas Gästen war exzellent. Eine zufriedene Ruhe verbreitete sich. Ana stoppte die Musik. Es war früher Abend, und die spätsommerliche Herrlichkeit von Senjak zeigte sich in ihrer ganzen Pracht. Eine sanfte Brise wehte, als wollte sie alles streicheln. Der Himmel, der über Belgrad höher und weiter scheint als anderswo, wölbte sich wie eine riesige Kirchenkuppel über die kleine Gesellschaft. Die Blätter der Bäume rauschten, die Vögel zwitscherten und das Heu auf der nahegelegenen Wiese duftete.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, brauste ein vieltausendstimmiges Gebrüll auf. Alle zuckten zusammen. Marko fasste sich als Erster und erklärte, im nahen Fußballstadion von Roter Stern fieberten die Fans heute besonders lautstark mit ihrer Mannschaft mit. Übrigens werde einer der Fans, sein Neffe Nenko aus Lapovo, in der Halbzeit auf der Party vorbeischauen. Vielleicht erführen sie dann die Ursache des Getöses. Die Gäste wandten sich wieder ihren Gesprächen zu. Der auf und ab wogende, ohrenbetäubende Lärm zerstörte jedoch die Stimmung. Svetlana fand, das Gebrüll töne wie das Schlachtgeheul einer barbarischen Armee vor dem Angriff. Die meisten verließen die Party.
Branka und Iva blieben, weil sie Brankas Cousin Nenko treffen wollten. Und weil Iva blieb, blieb auch Mladen.
Am Ende der ersten Matchhalbzeit verstummte der Lärm. Die plötzliche Stille wirkte fast unheimlich. Ana setzte den Musikrekorder wieder in Gang, und sie, Iva und Branka begannen einen Kolo-Reigen. Marko und Mladen tanzten mit, etwas weniger elegant als die Frauen.
Eine Autohupe ertönte, und ein Lada fuhr schwungvoll vor. Tanzend begab sich die kleine Gesellschaft zur Begrüßung zum Gartentor. Dem Lada entstiegen Nenko und ein zweiter Mann. Dieser war hochgewachsen, von athletischer Figur, ganz in Schwarz gekleidet. Er hatte kurze braune Haare, dunkle leuchtende Augen und schöne, maskuline Gesichtszüge. Gebannt starrte Iva ihn einen Moment lang an. Sie verspürte eine von ihm ausgehende Magie, die sie wie mit einem Zauberstab berührte.
Nenko verbeugte sich leicht vor Marko, gab Ana ungeschickt einen Handkuss und schüttelte Iva und Branka die Hand. Mit Hochachtung signalisierender Stimme stellte er seinen Begleiter vor: «Das ist Bogdan, mein Mentor im Fanclub von Roter Stern, einer von Arkans Beratern.»
Höflich lächelnd sagte Bogdan, er freue sich, Verwandte und Freunde von Nenko kennenzulernen. Leider könne er nur einige Minuten bleiben, aber er lade alle ein, der zweiten Halbzeit des Matches beizuwohnen. Ana und Marko gaben an, keine Zeit zu haben. Mladen winkte ab und fragte, wieso denn die Zuschauer des Matches so laut schrien, so etwas habe er noch nie gehört; vielleicht habe es seinerzeit im römischen Kolosseum so getönt, wenn die ausgehungerten Löwen einen Gladiator auffraßen und der blutrünstige Plebs in Ekstase geriet.
Bogdan sah Mladen herablassend an und meinte, bei Roter Stern sei der Zusammenhalt unter den Fans in der Tat außergewöhnlich, ebenso ihr Anfeuern der Mannschaft. Das sei ein Erfolg von Arkan, dem neuen Club-Obmann.
Branka beschloss, mit ihrem Cousin Nenko mitzugehen. Iva, den schönen Bogdan vor Augen, schloss sich ihr an.
Mladen fand das entsetzlich, nahm Iva zur Seite und sagte unwirsch zu ihr: «Iva, du bist doch sonst immer vorsichtig, wieso willst du nun ausgerechnet dorthin, wo die radikalsten Serben den Ton angeben? Hast du nicht gehört, wie sie brüllen? Weißt du nicht, wer Arkan ist? Wenn jemand als Kriegsflüsterer agiert, dann er.»
«Ja, ich weiß, welch gefährlicher Mensch Arkan ist. Aber ich begleite nur Branka und Nenko. Arkan spielt dabei keine Rolle.»
Sie verspürte Unmut. Wieso wagte es Mladen, ihr vorzuschreiben, mit wem und wohin sie gehen solle und mit wem nicht? Gleichzeitig warnte sie eine innere Stimme: Mladen hat recht; was er sagt, ist vernünftig. In ihr kämpften ihre vorsichtige Zurückhaltung und ihre neugierige Lebensfreude einen erbitterten Kampf. Ich habe zugesagt mitzugehen, also mache ich es, beschloss sie schließlich. Hastig verabschiedete sie sich von Ana und Marko.
Nenko und Bogdan warteten schon beim Auto. Branka und Iva setzten sich auf den Rücksitz. Sie brausten davon. Mladen schaute dem Auto entgeistert nach. Die sonst so vorsichtige Iva, die er seit vielen Jahren kannte und zu verstehen glaubte, verhielt sich plötzlich unerwartet leichtsinnig. Nenko gefiel ihm nicht, und noch weniger gefiel ihm Bogdan.
Obwohl die Fahrt in Bogdans schnellem Wagen nur wenige Minuten dauerte, kamen sie erst nach Beginn der zweiten Halbzeit beim Stadion an. Die Zuschauer waren von ihren Sitzen aufgestanden und schrien so laut, dass sich Iva unwillkürlich duckte. Bogdan und Nenko gingen zu ihren Plätzen. Bogdan sagte einem der Fans etwas ins Ohr, und sofort machten alle den beiden Frauen respektvoll Platz.