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Im Besitz eines mächtigen Artefakts steht der Marionettenspieler kurz vor der Vollendung seines blutigen Rituals inmitten des schneeumwehten New York. Wer verbirgt sich hinter dem roten Kapuzenumhang und der grinsenden Opernmaske? Lassen sich seine Pläne noch vereiteln oder wird er die amerikanische Ostküste in eine apokalyptische Finsternis stürzen? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Doch was hat Jack diesem übermenschlichen Feind entgegenzusetzen, wo er doch selbst von Blackouts geplagt wird. Dann ist da noch diese Kreatur, die in fremden Stimmen zu ihm spricht und droht, den Verstand zu rauben? Jack setzt alle Hoffnung in einen zwielichtigen Lehrmeister. Wird es ihm gelingen, mithilfe der hohen Kunst der Runenkonjunktion die Auferstehung des Gottes der Finsternis zu verhindern und was ist er bereit zu opfern?
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Seitenzahl: 788
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für meine Liebste, Sandra, du bist der Quell meiner Inspiration
Für Sylvia und Simone, eure Hingabe ist beispiellos
Was bisher geschah …
1. Kapitel Von Lehrern und Schülern
2. Kapitel In der Höhle des Löwen
3. Kapitel Lebensretter
4. Kapitel Das Astrarium
5. Kapitel Die andere Seite
6. Kapitel Eskalation
7. Kapitel Richard McCloud jagt Jack the Ripper
8. Kapitel Vorhang auf für den letzten Akt
Epilog Der Vorhang fällt
Danksagung
In den Worten der Rhokar 2. Eintrag
Was bisher geschah …
Das Journalistenduo Jack Morane und Heather Miles verschlug es ein Jahr nach der Versiegelung des Tores zum Abyss in Deyers Creek in das winterliche New York. Dort ermittelten die beiden im Auftrag von Jacks Onkel Charles Brown in einer Mordserie. Okkulte Runen verwandelten harmlose Menschen in mordende Marionetten, die sich nach vollendeter Tat selbst das Leben nahmen. Begleitet wurden diese Grausamkeiten von der traurigen Musik eines mysteriösen Geigers. Ihre Nachforschungen konfrontierten sie mit den Schatten ihrer Vergangenheit und auch vor folgenschweren Schicksalsschlägen blieben die beiden nicht verschont. Heather trainierte den Umgang mit dem Abyss Mundi, einem antiken Armreif, der seinem Träger die Seele entzog. Jack hingegen verschlug es nach verschiedenen Nahtoderfahrungen in eine albtraumhafte Version von New York, in der er als gesuchter Serienkiller vor der Polizei flüchtete. Im Zuge der Ermittlungen trafen Jack und Heather auf ihren alten Freund Vincent Rouge, ein gut betuchter Gentleman, der die beiden in das Prometheus Theater einlud, um ihnen die Weltklasseviolinistin Emilia Harding vorzustellen. Nach und nach fand Jack heraus, wer hinter den Serienselbstmorden steckte und welche Ziele er verfolgte. Es handelte sich um einen Mann, den alle nur den Professor nannten. Er verfolgte den Plan, in New York ein Tor zum Abyss zu öffnen, um den finsteren Gott Erebos zu befreien. Für die Verwirklichung seiner Machenschaften benötigte er eine alt babylonische Schicksalstafel, die im Metropolitan Museum of Art ausgestellt werden sollte. Jack und seine Freunde Robert Dunningham vom FBI, Raven, ein Schamane aus Deyers Creek und Kellen, sein gefiederter Begleiter versuchten den Professor aufzuhalten. Jack lieferte sich mit ihm einen unerbittlichen Zweikampf, aus dem der Professor als Sieger hervorging und Jack in eine endlose Schwärze stürzte.
Von Lehrern und Schülern
1
Ein schrilles Piepen dröhnte Jack in den Ohren. Etwas Schleimiges lag ihm auf der Zunge. Unfreiwillig schluckte er es herunter. Es schmeckte eisern. Ohne jeden Zweifel Blut.
Jack würgte. Sein Magen krampfte zusammen, als das klumpige Blut sich einen Weg über die Speiseröhre in die Freiheit bahnte. Der muffige Geruch eines feuchten Kellers stieg ihm in die Nase.
Er stöhnte gequält und hob die schweren Lider. Grelles Licht blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und verengte sie zu schmalen Schlitzen. Verschwommen nahm er den finsteren Umriss einer groß-gewachsenen Gestalt wahr, die von der elektrisch surrenden Deckenleuchte angestrahlt wurde. In den Händen hielt sie etwas Längliches. Etwas, das im künstlichen Licht gefährlich aufblitzte.
Jack blinzelte mehrmals, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten und er wieder normal sehen konnte. Auch das Piepen verklang allmählich. Die Hutkrempe seines Gegenübers verhüllte das Gesicht mit einem dunklen Schatten. Doch der markante schwarze Mantel und die Statur des Mannes reichten aus, um ihn als den Professor zu identifizieren.
»Ein äußerst bemerkenswertes Messer hast du da, Jack. Kein Wunder, dass du meine Druckwelle damit abwenden konntest. Obwohl ich zugeben muss, dass diese Tatsache nicht weniger außergewöhnlich ist.« Die Stimme des Professors klang tief und rau wie die eines strengen alten Mannes. Zu seiner Verwunderung kam sie ihm erschreckend vertraut vor.
Jack zerrte an den Fesseln und spuckte den letzten Rest Blut aus, um besser sprechen zu können. »Was haben Sie mit meinen Freunden gemacht?«
»Was ich mit deinen Freunden gemacht habe? Die Frage sollte eher lauten: Was haben du und deine Freunde mit eurem unüberlegten Handeln angerichtet?«
Jack grinste dreckig. »Wenn Sie so fragen, ist es Ihnen wohl nicht gelungen, die Schicksalstafel an sich zu reißen. Dann muss wohl Ihr Kumpel Erebos noch eine Weile in seinem dunklen Loch versauern.«
»Ganz im Gegenteil. Dank euch befinden wir uns auf direktem Weg in eine Welt der absoluten Finsternis.«
Jack hob eine Braue. »Das müsste doch eigentlich in Ihrem Interesse liegen.«
»Du hast scheinbar eine völlig falsche Vorstellung davon, wer ich überhaupt bin.« Der Professor nahm den Hut ab und lüftete den Schleier der Finsternis. Zum Vorschein kam ein schmales Gesicht mit scharf gezeichneten Zügen und streng zurückgekämmtem grauem Haar. Die kleinen Fältchen rings um seinen gepflegten Bart wiesen auf ein gehobenes Lebensalter jenseits der sechzig hin.
Jacks Augen weiteten sich. »Pro… Professor Lawrence?«
Der alte Mann hob überrascht eine Braue. »Nach all den Jahren erinnerst du dich noch an mich?«
»Sarah hat Sie vergöttert. Bei Ihnen Ägyptologie und Mythologie zu studieren war ihr größter Traum. Wie konnten Sie nur so tief sinken und sich mit den Erben des Erebos einlassen?«
Lawrence stieß ein finsteres Lachen aus. »Ich soll mit den Erben des Erebos im Bunde stehen?«
»Sie tun so aufrichtig überrascht.«
»Mein lieber Junge, die Erben sind mein größter Feind. Wie du bin ich auf der Jagd nach demjenigen, der hinter den Opfermorden steckt.«
Jack schüttelte den Kopf und lachte schmutzig. »Für wie dämlich halten Sie mich, dass ich Ihnen diese Story abkaufe?«
Das Gesicht des Akademikers verfinsterte sich. »Für dumm genug, die Schicksalstafel dem Feind zu überlassen. Während du und deine Freunde damit beschäftigt waren, einen offenen Feldzug gegen mich zu initialisieren, gelang es den Schergen des Marionettenspielers, die Tafel zu stehlen. Das bringt uns der Unterwerfung durch den finsteren Gott einen erheblichen Schritt näher. Und das nur dank euch.«
»Wenn Sie wirklich auf unserer Seite stehen, warum haben Sie mich in dem leerstehenden Haus und später im Museum angegriffen?«
Der Gesichtsausdruck des Professors nahm ernste Züge an. »Ich musste unter realen Bedingungen ermitteln, ob deine Fähigkeiten für den bevorstehenden Kampf ausreichend sind. Aus diesem Grund habe ich dich seit deiner Ankunft in New York für keine Sekunde aus den Augen gelassen. Und was unsere Auseinandersetzung im Metropolitan angeht, muss ich dich wohl nicht daran erinnern, wer zuerst angegriffen hat.«
Jack hob skeptisch eine Braue. »Sie haben versucht, mich mit einer Druckwelle in die Luft zu jagen.«
»Ich habe die willenlosen Hüllen des Marionettenspielers daran gehindert, dich zu töten.«
»Und was ist mit Sally?«
»Obdachlosennetzwerk. Die beste Informationsquelle in jeder Großstadt.«
Jack verzog das Gesicht. »Nennen Sie mir nur einen Grund, warum ich Ihnen auch nur ein Wort glauben soll.«
»Du bist noch am Leben. Ist das nicht Grund genug?«
Jack stieß die Luft spöttisch durch die Nase aus. »Das beweist gar nichts.«
»Vielleicht kann ich dich hiermit überzeugen.« Der Professor krempelte den Ärmel seines Mantels hoch und legte damit die Sicht auf eine Tätowierung frei. Zwei Adlerköpfe blickten in entgegengesetzte Richtungen, während zwischen ihnen ein Schwert prangte.
All dies befand sich innerhalb eines Rings aus mythischen Runen.
Jack begegnete diesem Anblick mit Verwunderung, die er mit einer gekünstelten Gelassenheit überspielte. »Was soll das schon beweisen?«
»Es beweist …«, begann der Professor, als Jack ihm ins Wort fiel.
»… dass Sie irgendwann mal ein Mitglied des Ordens gewesen sind. Na und?«
Lawrence seufzte schwer. »Nun gut. Da du offensichtlich unempfänglich für meine Argumentationen bist, lässt du mir keine andere Wahl.«
Der Professor trat mit dem Jagdmesser in der Hand auf seinen Gefangenen zu.
Jack zerrte wie wild an den Fesseln, doch sie gaben kein Stück nach. Er bewegte den Kopf ruckartig von links nach rechts, als Lawrence hinter ihm verschwand. Der kalte Stahl des Jagdmessers berührte Jacks Handgelenke. Er spürte, wie die scharfe Klinge durch die vor Anspannung vibrierenden Fasern glitt und unter einem peitschenden Aufschrei zerrissen. Reflexartig riss Jack die Hände nach vorne, während der Professor die verbleibenden Fesseln durchtrennte. Lawrence ließ das Messer zwischen den Fingern rotieren und hielt Jack den Griff entgegen. Reflexartig nahm er es an sich. Dabei fiel ihm auf, dass er nach wie vor den Runenhandschuh seines Ahnen Richard McCloud an der rechten Hand trug.
Der Professor breitete die Arme aus. »Du hast jetzt alle Trümpfe auf der Hand. Es liegt in deinem Ermessen, ob du mich tötest oder mir deine geneigte Aufmerksamkeit schenkst.«
»Na schön …«, sagte Jack, wobei er das Jagdmesser bereithielt, um allen Eventualitäten vorzubeugen, »… aber bevor ich mit Ihnen über den Untergang der Welt diskutiere, will ich wissen, wie es meinen Freunden geht.«
Die Finger des Journalisten schwitzten, hielten jedoch das Messer seines Vaters fest umklammert.
»Deine Freunde erfreuen sich bester Gesundheit. Ruf sie an, wenn du mir nicht glaubst.«
Jacks Augen ruhten auf dem Professor, als er in der Hosentasche tatsächlich die glatte Oberfläche seines Smartphones ertastete. Er tippte auf den Eintrag mit Roberts Nummer und nahm das Telefon ans Ohr.
Der Professor blieb währenddessen ganz ruhig. »Eines noch, Jack.« Das Tuten des Freizeichens ertönte. »Es wäre ratsam, ihnen zunächst vorzuenthalten, in wessen Gesellschaft du dich befindest.« Der Journalist öffnete den Mund, als am anderen Ende der Leitung die Stimme des FBI-Agenten erklang. »Jack? Wo zum Henker steckst du?«
»Geht es euch gut?«, fragte Jack, ohne auf die Frage des Bundesagenten zu reagieren.
Robert sprach mit gedämpfter Stimme, beinah so, als wolle er vermeiden, belauscht zu werden. »Man fand Raven und mich heute Morgen in der Grand Central Station auf einer Bank direkt am Bahnsteig.«
Jack hob erstaunt die Brauen. »Wie seid ihr dorthin gekommen?«
»Tja, was das angeht …«, druckste Robert herum, »… sind wir uns auch nicht ganz sicher. Wir wissen nur noch, dass uns der Professor nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen hat. Was haben wir verpasst?«
Jack presste die Lippen zusammen und festigte den Griff um sein Smartphone. »Die Tafel ist weg.«
Der FBI-Agent schlug einen rauen Ton an. »Was soll das heißen, die Tafel ist weg?«
»Ich muss sie während des Kampfes im Park verloren haben.«
»Verdammt.« Eine kurze Pause folgte. »Aber vielleicht haben wir Glück und sie ist noch dort.«
Jack schaute den Professor an, der mit ernster Miene vor ihm stand. »Darauf würde ich nicht zählen.«
»Ich werde trotzdem meine Männer das Areal absuchen lassen.«
»Tu, was du nicht lassen kannst.«
Robert senkte die Stimme zu einem besorgten Flüstern. »Du klingst ein bisschen angespannt. Ist der Professor bei dir?«
Jack schaute in die stahlgrauen Augen des Akademikers und traf eine Entscheidung. »Nein. Ich bin eben erst zu mir gekommen und bin ein wenig neben der Spur.«
»Sag mir, wo du bist, und ich schicke einen Streifenwagen vorbei.«
Jack schüttelte den Kopf. »Nein. Du musst alle Ressourcen aufwenden, um die Tafel zu finden. Das hat allerhöchste Priorität. Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Jack, ich …« Bevor Robert den Satz vollenden konnte, legte Jack auf. Er zog die Brauen zusammen und spannte die Gesichtsmuskeln an. »Ich erwarte ein paar Antworten von Ihnen.«
»Gewiss.« Die Miene des Akademikers verfinsterte sich. »Doch sei gewarnt. Denn das Wissen, nach dem du verlangst, wird deine Welt, wie du sie kennst, in ihren Grundfesten erschüttern und nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.«
Jack lachte spöttisch. »Sie wären überrascht, was ich schon alles erlebt habe.«
Professor Lawrence hob abschätzig eine Augenbraue. »Damit meinst du doch hoffentlich nicht deine Begegnung mit dem Sohn dieses Provinzsheriffs.«
Jack verzog das Gesicht. »Sie sind ziemlich gut informiert. Woher wissen Sie davon?«
»Als guter Journalist solltest du wissen, wie wichtig es ist, die Identität einer Quelle mit Diskretion zu behandeln.«
»Na gut. Aber gestatten Sie mir eine Frage.«
»Nur zu.«
»Wann haben Sie von dem Vorfall in Deyers Creek erfahren? Bevor oder nachdem dort alles vor die Hunde ging und die Menschen anfingen, sich in Besessene zu verwandeln?«
In den stahlgrauen Augen des Professors loderte ein eisiges und todbringendes Funkeln, das Jack einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Der Orden kämpft seit Menschengedenken gegen die Erben des Erebos, dem hehren Ziel verpflichtet, die Welt vor einer Ära der Finsternis zu bewahren. Und genau das geschieht gerade da draußen. Unser Feind bringt seine Figuren in Stellung und es liegt an uns, ihn matt zu setzen, bevor er seine Ziele realisieren kann.«
»Unser Feind? Von wem sprechen Sie?«
Lawrence räusperte sich. »Wir sollten dieses Gespräch an einem angenehmeren Ort fortsetzen.«
2
Im flackernden Schein einer Neonröhre führte der Professor Jack durch einen kargen Korridor, der in ein Treppenhaus mündete. Sie stiegen die knarrenden Holzstufen in eines der höheren Stockwerke hinauf und betraten eine Fabrikhalle. Ihren Weg flankierten Reihen von Arbeitstischen, auf denen verstaubte Nähmaschinen ihr einsames Dasein fristeten. Seidene Spinnennetze hingen zwischen ihnen und gesichtslosen Ankleidepuppen.
Jacks Blick schweifte über die verlassene Arbeitsstätte. »Was ist das für ein Ort?«
»Wir befinden uns in einer stillgelegten Textilfabrik in der South Bronx. Sie gehörte im späten neunzehnten Jahrhundert einem Erben des Erebos und diente ihm als Versteck.«
Jack legte die Stirn in Falten. »Ist es dann eine gute Idee, wenn Sie hier Ihr Lager aufschlagen?«
»Halte deine Freunde nah und deine Feinde noch viel näher. Dieser Ort wurde von den Erben vor langer Zeit aufgegeben. Hier würden sie niemals einen Außenposten des Ordens erwarten.«
Vor einer Tür mit Milchglasfenster blieben die beiden stehen. Auf der flaschenbodenähnlichen Oberfläche des gewellten Glases stand in verblichenen und teils unleserlichen Lettern ein Name geschrieben: Direktor Shoemaker. Jack versuchte, durch die Fenster zu beiden Seiten der Tür einen Blick in den Raum zu erhaschen, doch die Sicht wurde durch Jalousien versperrt. Lawrence kramte ein Schlüsselbund hervor und gewährte ihm Einlass in ein geräumiges Büro. An der mit grüner Seidentapete bedeckten Wand zu Jacks Linken hingen gerahmte Ölgemälde ehemaliger Fabrikbesitzer.
Sie posierten vor einem roten Vorhang und trugen allesamt eine Kombination aus einem schwarzen Anzug und einem weißen Hemd. Auf der gegenüberliegenden Seite nahm ein prall gefüllter Bücherschrank die gesamte Ostseite ein.
Das geschundene Parkett knarrte unter jedem ihrer Schritte, bis sie den runden, von Motten zerfressenen Teppich in der Mitte des Raumes betraten. Lawrence umrundete einen überdimensionalen Schreibtisch, zu dem drei Stühle und ein Ledersessel gehörten und entzündete die Holzscheite des gemauerten Kamins in der rückwärtigen Wand zwischen zwei Fenstern.
Jack wärmte sich die Hände am Feuer. Dabei entdeckte er neben dem Kamin einen Schlafsack und einen Campinggrill mit Gasflasche. »Hier wohnen Sie also?«
»Es mag diesen Räumlichkeiten an gewissen Annehmlichkeiten mangeln, ihre unscheinbare Fassade jedoch bietet uns für den Moment ebenjene Anonymität, die wir benötigen, um aus dem Verborgenen heraus operieren zu können. Nichtsdestotrotz müssen wir wachsam bleiben. Unser Feind hat seine Augen überall.«
»Wo Sie es gerade ansprechen. Wie gefährlich ist der Marionettenspieler? Und wie können wir ihn aufhalten?«
Lawrence schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. »In deinem jetzigen Zustand bist du mir keine Hilfe. Eric Banson war nur ein Initiant. Einem vollwertigen Erben wärst du nicht gewachsen, das kann ich dir versichern.«
»Und der Marionettenspieler ist ein vollwertiger Erbe?«
Lawrence senkte das Haupt, wodurch ihm die züngelnden Flammen des Kaminfeuers finstere Schatten ins Gesicht zeichneten. »Keiner, der dem Orden bekannt wäre, aber seine Fähigkeiten sprechen eindeutig dafür. Wie der junge Banson vor ihm versucht auch er die Ankerpunkte, die das Portal zum Abyss versiegelt halten, zu brechen.« Lawrence holte aus der obersten Schublade des Sekretärs einen Stadtplan von Manhattan hervor und breitete ihn auf der verstaubten Arbeitsfläche aus. Über die ganze Insel verteilt entdeckte Jack kleine rote Kreuze. »Das sind die Orte, an denen er bereits zugeschlagen hat. Fällt dir da etwas auf?«
Jack umkreiste mit dem Zeigefinger einen ganz bestimmten Punkt auf der Karte. »Wir gehen davon aus, dass die Morde mit dem Prometheus Theater in Verbindung stehen, da sie sich alle in dessen unmittelbaren Umgebung ereignet haben.«
Der Professor wirkte enttäuscht. »Ist das alles?«
»Wenn Sie schon so fragen, stehen die Orte bestimmt in irgendeiner Verbindung zueinander, aber in welcher?«
Lawrence seufzte. »Lass mich dir behilflich sein.«
Er zückte einen roten Filzstift und verband die Markierungen miteinander, bis sie am Ende ein Muster ergaben.
Jack stockte der Atem. »Das … das ist eine Rune.«
»Bei jeder Markierung handelt es sich um einen Ankerpunkt der Weltenrune. Wird an einem dieser Punkte das Blut eines Menschen vergossen, speist dessen Astralkraft die Weltenrune mit negativer Energie. Negativ deswegen, weil die Astralkraft mit Gewalt genommen wurde. Erreicht das Energieniveau ein kritisches Maß, bricht die Weltenrune und die Öffnung des Tores steht kurz bevor. Wie du siehst, fehlen ihm noch drei Ankerpunkte zur Vervollständigung seines Werks.«
»Seine Opfer …«, begann Jack mit belegter Stimme, »… nach welchen Kriterien wählt er sie aus?«
Lawrence schüttelte bedächtig den Kopf. »Das entzieht sich leider meiner Kenntnis.«
»Dann müssen wir jeden dieser Punkte überwachen.«
Das Gesicht des Akademikers nahm grimmige Züge an. »Denkst du, das hätte ich nicht bereits versucht? Mithilfe seiner Fremdkontrolle käme praktisch jeder Einwohner New Yorks als potenzieller Täter infrage. Die Ankerpunkte werden fallen. Das ist unausweichlich.«
Jack zog die Brauen spitz zusammen. »Soll das heißen, Sie geben einfach auf?«
Der stechende Ausdruck von Professor Lawrence’ stahlgrauen Augen ließ Jack innerlich zusammenzucken. »Mitnichten. Aber ich weiß, wann ich eine Schlacht verloren habe.«
Jack überwand seine Furcht und sah ihn ungläubig an. »Wenn das Tor erscheint, haben wir nicht nur die Schlacht, sondern auch den Krieg verloren.«
»Das Tor allein bringt ihm nicht den Sieg. Er muss auch in der Lage sein, es öffnen zu können.«
»Die babylonische Schicksalstafel sollte ihm dabei behilflich sein.«
Lawrence lächelte anerkennend. Angesichts der Situation wirkte es deplatziert.» Du scheinst deine Hausaufgaben gemacht zu haben. Für die Durchführung seines Beschwörungsrituals benötigt er ein machtvolles Medium, das mit der Schicksalstafel konvergiert. Anders als mit einem Abyss Mundi dauert dieser Prozess länger, da die Tafel eigentlich nicht für diesen Gebrauch vorgesehen ist. Zudem besteht die Chance, dass die Tafel allein dieser Belastung nicht standhält. Allerdings wissen wir auch nicht, welche Trümpfe unser Gegner noch in der Rückhand hält. Nichtsdestotrotz verschafft es uns die Zeit, ihn rechtzeitig lokalisieren zu können, bevor er das Ende der uns bekannten Welt einläuten kann.«
»Nicht so schnell, Professor. In Deyers Creek brauchten die Erben die Nachfahren ebenjener Männer, die das Tor einst versiegelt haben. Wie kann es sein, dass für dieses Tor andere Regeln gelten?«
»Richard McCloud und seine Männer verursachten bei dem Tor in Deyers Creek eine Fehlfunktion, die zu einer Anomalie führte.«
»Und das Medium?«, fragte Jack, den bereits eine finstere Vorahnung ereilte. »Was kann ich mir darunter vorstellen?«
»Lass das Medium meine Sorge sein. Du solltest deinen Fokus auf den Ausbau deiner fast nicht vorhandenen Fähigkeiten setzen.«
Jack funkelte ihn verärgert an. »Wie bitte?«
»Es ist nicht deine Schuld. Es liegt an der Erziehung deines Onkels, die dich hat verweichlichen lassen.«
»Ich mag vielleicht vieles sein, aber verweichlicht bin ich ganz sicher nicht. Mein Onkel war Soldat und hat mich in diesem Bewusstsein aufgezogen.« Das sanftmütige Lächeln des Professors machte Jack wütend, dennoch riss er sich zusammen und ließ ihn sprechen.
»Das mag dir vielleicht so vorgekommen sein, doch im Prinzip wollte er dich nur beschützen. Hat dich in einer Traumwelt leben lassen, anstatt dich auf das vorzubereiten, was dich da draußen erwartet. Aus meiner Sicht hat er auf ganzer Linie versagt.«
Jacks ganzer Körper begann vor Wut zu beben. Seine Knie wurden weich und eine Hitze wallte in ihm auf, die es ihm erschwerte, die Kontrolle zu behalten. »Was wissen Sie schon über meinen Onkel?«
»Ich kenne Charles Brown besser als jeder andere Mensch auf der Welt und weiß daher, was für ein Narr er ist. Ansonsten hätte er es nicht versäumt, dich in den Lehren der hohen Kunst der Runenkonjunktion zu unterweisen. Wäre er seiner Pflicht nachgekommen, hätte sich die Tragödie in Deyers Creek verhindern lassen.«
Jack wollte dem Professor widersprechen, konnte es aber nicht, weil er recht hatte. Wer weiß, wie viele Menschenleben Jack hätte retten können, wenn er im Umgang mit den Runen geschult gewesen wäre. Seine Züge entspannten sich. »Unterrichten Sie mich.«
»Das habe ich vor und genau deswegen bist du hier. Aber ich muss dich warnen. Das Studium der Runenkonjunktion ist ein enormer Kraftakt für Körper und Geist. Bist du dir sicher, dass du diesen Weg gehen willst?«
Jack dachte an Heather und seine Freunde. Er dachte an die Opfer des Marionettenspielers und die Konsequenzen, die seine Bluttaten noch in Zukunft nach sich ziehen würden.
Er ballte die rechte Faust und presste die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen. »Ich bin mir sogar todsicher.«
Ein zufriedenes Grinsen erschien im Gesicht des Professors. »Dann sollten wir gleich beginnen.«
3
Die beiden schoben zwei Stühle an das prasselnde Kaminfeuer und unterhielten sich. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien.
Lawrence starrte in die lodernden Flammen. »Zunächst musst du mir eine Frage beantworten. Wie weit reicht dein Wissen in Bezug auf die Runensteine.«
»Na ja …« Jack betrachtete nachdenklich den Runenhandschuh seines Ahnen Richard McCloud, »… sie werden in einen Handschuh wie diesen eingesetzt …«, fuhr er fort und ließ den Blick über die karoförmigen Einfassungen wandern, die sich auf der körperzugewandten Seite des Handschuhs befanden, »… womit sie zu einer tödlichen Waffe werden.«
Lawrence seufzte schwermütig. »Lass dir eines gesagt sein, Jack. Runensteine sind keine Waffen. Es kommt ganz auf den Nutzer an, der sich ihrer bemächtigt. Sie können in gewisser Weise Leben spenden und es auch leider wieder nehmen. Im Prinzip sind Runensteine Verstärker, in denen wir unsere Astralkraft kanalisieren und in der realen Welt materialisieren.«
»Schön und gut, aber wo kommen die Steine her?«
»Diesbezüglich sind unter den Gelehrten des Ordens viele Theorien im Umlauf, aber keine lässt sich auch nur im Ansatz verifizieren. Manche gehen davon aus, es handle sich um die Fragmente der zehn Gebote. Andere wiederum glauben, es seien Steine, die Jesus Christus aus einem Akt des Mitleids mit seinen Tränen benetzt hat, um der Menschheit zu vergeben und ihnen das wahre Potenzial ihrer Seele zur Verfügung zu stellen. Ich könnte ewig so weiter machen.«
»Mich würde vielmehr interessieren, was Sie darüber denken.«
»Ich vertrete den Ansatz der ersten Menschen«, erklärte Lawrence, während er mit dem gusseisernen Schürhaken die Flammen höher züngeln ließ. Verkohlte Kruste platzte von den rauen Holzscheiten und spie Funken aus.
Jack runzelte die Stirn. »Die ersten Menschen?«
»Sie sind die ersten und einzigen unserer Art, denen es jemals gelungen ist, den evolutionären Schritt auf eine höhere Existenzebene zu meistern. Um das volle Potenzial ihrer Astralkraft besser kontrollieren zu können, erschufen sie Runensteine als Katalysator. Doch genug von diesen Fachsimpeleien.«
Lawrence erhob sich aus seinem Stuhl und trat vor eines der Gemälde, das er zur Seite wegklappte. Jack staunte nicht schlecht, als dahinter ein großer Tresor zum Vorschein kam. Doch anstelle einer Kombination, legte der Professor die Hand auf den kalten Stahl der Klappe.
Ein lila glühendes Runenmuster leuchtete auf und verblasste sanft pulsierend.
Jack faszinierte der Anblick. »Beeindruckend. Aber hätte es eine normale Kombination nicht auch getan?«
»Kommt ganz auf den Inhalt an«, antwortete Professor Lawrence, während er aus dem Tresor einen Koffer hervorholte, den er auf dem verstaubten Schreibtisch abstellte. Die Tischlampe diente ihm dabei als Lichtquelle. Jack stand auf, um sich den Koffer genauer anzuschauen. Er wirkte alt und abgegriffen. Etliche Kratzer überzogen das raue Leder. Der Professor winkelte alle Finger bis auf Zeige- und Ringfinger an und glitt über die tiefen Furchen.
Nach und nach erschienen in den Ecken vier lila glühende Runen. Mit einer kreisenden Fingerbewegung wischte er sie übereinander und vermischte sie in der Mitte zu einem neuen Schriftzeichen, das Jack an einen Bannkreis aus einer seiner Lieblingsserien erinnerte. Abschließend streckte Lawrence alle Finger aus und legte sie auf den Bannkreis, als handele es sich dabei um ein Touchpad mit Handscanner. Lila flimmernde Impulse breiteten sich aus.
Die Verschlüsse an der Stirnseite des Koffers klackten, worauf er ihn öffnete. Das Innenleben war aufgebaut wie ein Werkzeugkasten und in verschiedene Fächer unterteilt. In einem rechteckigen, mit rotem Samt ausstaffierten Segment lagen zwei Runenhandschuhe. In einem anderen ruhte ein braunes Buch. Den Einband zierte das Emblem des Ordens. Gleich daneben lag in einem viereckigen Fach eine reich verzierte Schatulle aus Obsidian. Der Kofferdeckel hingegen diente mit seinen samtenen Sockeln als Unterbringungsort für etliche Runensteine. Sie besaßen zwar alle dieselbe Form, unterschieden sich allerdings in Färbung der Gravur als auch der Symbolik.
»Dieser Koffer enthält fast jede erdenkliche Art und Variation eines Runentyps. Die unterschiedliche Färbung der Gravur weist auf den jeweiligen Typus des Runensteins hin. Wir jedoch konzentrieren uns zunächst auf diese hier«, sagte der Professor und verwies auf Runensteine mit roter Gravur. »Bei diesen Exemplaren handelt es sich um die Gruppe der Protestenz. Sie symbolisieren die Lebenskraft und werden vorrangig für offensive Anwendungen eingesetzt. Genau das ist es, womit wir uns jetzt beschäftigen werden.«
Lawrence klappte den Koffer zu. »Zeit für deine erste Lektion.«
Jack nickte und holte den Runenhandschuh seines Ahnen hervor.
Der Professor hob eine Braue. »Den wirst du heute nicht brauchen.«
Jack runzelte die Stirn. »Wie soll ich ohne den Handschuh den Umgang mit den Runen lernen?«
»Trotz des engen Zeitfensters muss ich dich zur Geduld ermahnen. Du willst das Laufen lernen, noch bevor du das Gehen beherrschst. Erkennst du den Fehler in deiner Denkweise?«
Jack atmete tief durch. »Okay, was soll ich tun?«
»Folge mir.«
4
Gemeinsam ließen sie die behagliche Wärme des Büros hinter sich und traten hinaus in die klamme Kälte der Fabrikhalle. Das trübe Tageslicht fiel fahl durch die kachelförmig gerahmten Fenster und warf Schatten auf die gesichtslosen Ankleidepuppen.
Jack entdeckte auf einem der Arbeitstische direkt neben einer antiquierten Nähmaschine drei große Kerzen.
Er nahm eine von ihnen in die Hand. »Gehören die Ihnen?«
»Hör auf zu reden und hilf mir lieber«, erwiderte Lawrence, der sich an einer Reihe Regalböden zu schaffen machte, die an einer kargen Backsteinwand lehnten.
Jack stemmte einen der Böden beiseite und ermöglichte dem Professor, ein eingeklemmtes Flipchart aus der Reihe zu ziehen.
Lawrence positionierte es neben dem Arbeitstisch mit den Kerzen. »Was siehst du?«
Jack hob die Brauen. Sein Blick wanderte von Lawrence zu dem Flipchart und wieder zurück. »Professor, ich weiß nicht, wie uns das …«
Lawrence blieb beharrlich. »Was siehst du?«, wiederholte er geduldig.
Jack zuckte mit den Schultern. »Ein Flipchart.«
Der Professor schüttelte den Kopf. »Konzentriere dich, Jack. Was siehst du wirklich?«
»Ich …«
»Konzentriere dich«, ermahnte ihn Professor Lawrence.
Jack fokussierte sich auf das weiße Papier und blendete alles andere aus. Okay, es geht hier um die Erschaffung von Runen in der realen Welt. So weit, so gut. Aber in welcher Verbindung steht das Flipchart damit?
Jack dachte an seinen Kampf gegen Eric Banson, in dem er für eine kurze Zeit imstande war, Ashleys Astralrunen zu benutzen. In seiner Erinnerung war das alles so einfach. Er strich mit den Fingern über die Runensteine und zeichnete sie in der kühlen Nachtluft nach. Bei dem Stichwort Zeichnen ging ihm ein Licht auf.
Es ist eine Metapher.
»Die Runenanwendung …«
Der Professor räusperte sich. »Konjunktion.«
»Von mir aus auch das. Auf jeden Fall besteht sie aus zwei Schritten, wenn ich das richtig verstanden habe. Während der ersten Phase wählt der Anwender die Runensteine am Handschuh aus und berührt sie mit den Fingern. Anschließend zeichnet er sie in die Luft, um sie zu materialisieren. Demnach müsste das Flipchart stellvertretend für die Anwendung stehen.«
»Das ist zwar ziemlich vereinfacht dargestellt, aber in groben Zügen liegst du mit deiner Veranschaulichung richtig.« Der Professor strich mit einer bogenförmigen Handbewegung über das Papier. »Es ist von essenzieller Wichtigkeit, dass du die Linienführung bei der Runenkonjunktion bis ins kleinste Detail beherrschst. Die Auswirkungen bei einer fehlerhaft ausgeführten Runenkonjunktion könnten katastrophale Folgen nach sich ziehen.«
»Katastrophale Folgen?«, wiederholte Jack argwöhnisch, worauf Lawrence ihm auf die Schulter klopfte.
»Wer keine Fehler macht, braucht sich auch um dessen Folgen keine Gedanken machen.«
Der Professor kramte aus der Manteltasche ein Stück Papier hervor und spießte es an einem rostigen Nagel auf, der aus dem Betonpfeiler neben dem Flipchart ragte. Es erinnerte Jack an das keltische Zeichen für Kraft. »Präge dir diese Rune gut ein. Du musst sie blind aus dem Gedächtnis zeichnen können, erst dann bist du bereit für den nächsten Schritt.«
»Okay.« Jack tastete demonstrativ seine Taschen ab. »Haben Sie vielleicht einen Stift für mich?«
»Wozu hast du denn Ring- und Zeigefinger?«
Jack schaute den alten Mann verwirrt an. »Wie bitte?«
Die Hand des Professors verschwand abermals in der Seitentasche seines Wintermantels und tauchte mit einem Fässchen schwarzer Fingerfarbe wieder auf. Er stellte es auf dem Arbeitstisch mit den Kerzen ab.
Jack runzelte die Stirn. »Ist das Ihr Ernst? Fingerfarbe?«
»Das ist der beste Weg, es zu lernen.« Die stahlgrauen Augen des Professors nahmen einen kalten Ausdruck an. »Wenn du den Marionettenspieler daran hindern willst, die Welt in ein Zeitalter der Finsternis zu befördern, solltest du besser mit deiner ersten Lektion beginnen, statt dumme Fragen zu stellen. Ach ja, falls du noch Papier brauchst, in dem Schrank da drüben ist mehr als genug.«
Kaum hatte Lawrence zu Ende gesprochen, wandte er seinem neuen Schüler auch schon den Rücken zu.
Jack schaute ihm nach. »Wo wollen Sie hin?«
»Mehr über unseren Feind in Erfahrung bringen.«
»Warten Sie noch einen Augenblick.«
Der Professor blieb stehen, wandte sich jedoch nicht um.
Seine Stimme klang knurrig, fast schon aggressiv. »Was ist denn noch?«
»Wir sollten meine Freunde mit ins Boot holen. Wenn Sie ihnen das beibringen, was Sie mir beibringen wollen, würde das unsere Chancen gegen den Marionettenspieler massiv erhöhen.«
»Ausgeschlossen.«
»Und warum nicht?«
Lawrence drehte sich zu ihm um. Sein Blick jagte Jack einen kalten Schauder über den Rücken. Er spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken und seine Armhaare stellten sich auf. »Ich muss vor dir keine Rechenschaft ablegen. Und jetzt fang endlich an zu trainieren, bevor ich es mir nochmal anders überlege, dich als meinen Studenten aufzunehmen.«
Jack stand noch für einen Moment wie angewurzelt da. Er beobachtete, wie der Professor in der Finsternis der Fabrikhalle verschwand und seine Schritte in der bedrückenden Stille verhallten.
Diese kalten Augen. Ich bin mir sicher, dass er bereits getötet hat. Er mag vielleicht auf unserer Seite stehen, dennoch sollte ich sehr vorsichtig sein. Wer weiß, wie weit Lawrence geht, um den Marionettenspieler aufzuhalten?
Jack nahm das Fässchen mit Fingerfarbe in die Hand, stellte es allerdings wieder zurück und zückte stattdessen sein Smartphone, um Heather anzurufen. Es klingelte einige Male, bis sich ihre Mailbox meldete. »Hey Heather. Du hast dich bestimmt schon gefragt, wo ich abgeblieben bin. Ich wollte nur, dass du weißt, dass es mir gut geht. Ich melde mich wieder, sobald ich kann.«
Ein wenig enttäuscht, seine Partnerin nicht direkt erreicht zu haben, steckte Jack das Smartphone zurück in die Hosentasche und widmete sich der ersten von wahrscheinlich vielen Lektionen auf dem Weg zu einem vollwertigen Runenanwender. Das war jedenfalls die Bezeichnung, die Jack am passendsten vorkam. Er schraubte den Verschluss von dem Fässchen ab und blickte in das unergründliche Schwarz der Fingerfarbe. Er seufzte. »Worauf habe ich mich da bloß eingelassen?«
Er tauchte Ring- und Zeigefinger in die Farbe und begann zu zeichnen. An einigen Stellen bildeten sich Bläschen, die in schwarzen Rinnsalen über die Kante auf den nackten Betonboden tropften. Zudem war seine Linienführung stark verbesserungswürdig. Sie wirkte ungelenk und krumm. Nur entfernt erinnerte es an das keltische Zeichen für Kraft.
»Toll, das sieht so aus, als hätte das ein Fünfjähriger gemalt.« Jack atmete geräuschvoll aus. »Okay, nochmal von vorne.« Er riss den Papierbogen ab, um eine zweite und dritte Zeichnung anzufertigen.
Die Ergebnisse blieben vergleichbar schlecht und landeten ebenfalls im Dreck. Auf diese Weise bildete sich am Boden der Fabrikhalle eine durchgängige Papierschicht. Nach dem gefühlt hundertsten Versuch trat er einen Schritt zurück, wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete seine Arbeit. Die Bögen, die die Rune definierten, besaßen inzwischen kaum noch krumme Kanten. Auch bildeten sich keine Nasen oder Bläschen mehr, die die Zeichnung verunstalteten. Jack hob die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Puh, das ist doch schon mal ein Anfang. Aber das geht noch besser.«
Während des Zeichnens zog der Tag an ihm vorüber und übergab ihn in die Obhut eines finsteren Abends, sodass Jack im Schein der Kerzen weitermachen musste. Langsam aber sicher hatte er den Dreh raus. Die Temperaturen in der Fabrikhalle fielen in den Keller. Seine von der Farbe durchnässten Finger wurden allmählich steif vor Kälte. Er hielt sie über das wärmende Feuer der Kerzen, ballte sie mit aller Kraft mehrmals zur Faust und zeichnete weiter. Aufgeben kam für ihn nicht infrage. Der Farbvorrat in dem Fässchen neigte sich langsam dem Ende zu, als eine schrille Türklingel durch die finsteren Flure der Textilfabrik hallte. Jack, der sich mittlerweile an die Stille dieses verlassenen Ortes gewöhnt hatte, fuhr erschrocken zusammen. Er horchte eine Weile in die Finsternis um ihn herum. Nichts. Vermutlich hatte er es sich nur eingebildet, als es erneut klingelte.
Verdammt, wer ist das? Wer klingelt bei einer verlassenen Textilfabrik? Und warum funktioniert dieses Scheißteil noch? Verlassene Gebäude zahlen normalerweise keine Miete und erst recht keine Stromrechnung.
Kaum hatte Jack den Gedanken zu Ende gedacht, klingelte es erneut, noch dazu in einem Rhythmus, der dem seines Onkels nicht unähnlich war. Charlie? Jack schüttelte den Kopf. Das ist unmöglich. Er kann nicht wissen, wo ich bin. Aber wer ist das dann unten an der Tür?
Irgendetwas stimmt hier nicht.
Er wischte die verschmierten Finger an dem eingespannten Papier des Flipcharts ab und griff nach dem Jagdmesser in der Innentasche seiner gefütterten Lederjacke. Mit einer der Kerzen bewegte er sich vorsichtig durch die Fabrikhalle. Abseits des flackernden Lichts zeichneten sich die Konturen der gesichtslosen Ankleidepuppen ab. Über die Augenvertiefungen im Stoff zog ein dunkler Schatten, der ein Gefühl von Gefahr versprühte. Das rhythmische Klingeln seines Onkels oder wer auch immer sein Klingelzeichen benutzte, führte ihn von der Halle durch einen beklemmenden Flur. Über ein verschmutztes Treppenhaus erreichte Jack einen breiten Flur im Erdgeschoss. Erneut durchbrach das schrille Geräusch der Klingel die angespannte Stille.
Vermutlich war das hier mal der Eingangsbereich.
Neben dem verwitterten Holztor befand sich das Pförtnerbüro, das Ähnlichkeiten mit einem Aquarium aufwies. Ein jahrzehntealter Schmierfilm überzog die Glasscheiben, der einen genaueren Blick in den rechteckigen Raum verwehrte. Sein Augenmerk lag ohnehin auf der Durchgangstür im rechten Torflügel.
Jack stellte die Kerze auf dem schmalen Tresen des Pförtnerbüros ab und trat auf die Tür zu. Er legte eine Hand auf die bronzene Klinke, atmete tief durch, um sie dann unter einem quietschenden Aufschrei herunterzudrücken. Ein eisiger Wind heulte beim Öffnen durch den größer werdenden Türspalt und löschte die Kerze. Schnee wehte ihm ins Gesicht, der auf der Haut ein Gefühl von Nadelstichen verursachte. Schützend hob er den Unterarm, was nur bedingt gegen die hereindrängenden Schneemassen half.
»Guten Abend, Mr. Morane. Ich habe einen Brief für Sie«, sprach eine freundliche Frauenstimme zu ihm.
Jack senkte den Arm und kniff die Augen zusammen. Vor ihm stand eine junge Frau in blauer Postuniform. Um die Schulter trug sie eine schwere Posttasche, auf dem ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln prangte.
Jack musterte sie argwöhnisch. »Sie schon wieder? Woher kennen Sie das Klingelzeichen meines Onkels?«
Die junge Postbotin lächelte freundlich. »Hier bitte«, sagte sie und hielt ihm ein Taschentuch hin. »Für Ihre Finger«, schob sie als Antwort auf Jacks verwirrte Blicke nach.
Als er danach griff, berührten sich die Hände der beiden. Ihre Haut fühlte sich angenehm warm an, gleichzeitig aber auch seltsam auf eine Art, die er sich beim besten Willen nicht erklären konnte. Er ließ sich nichts anmerken, wischte mit dem Taschentuch die Farbreste von den Fingern und stopfte es anschließend in die Gesäßtasche.
»Prima. Jetzt, wo das geklärt wäre …«, während sie sprach, kramte sie aus ihrer Posttasche einen vergilbten Umschlag hervor, den sie Jack hinhielt, »… kann ich Ihnen mit bestem Gewissen den hier überreichen.«
Jack sparte sich den Blick auf den Poststempel, denn er wusste ohnehin, wer der Verfasser dieses Briefes war. Stattdessen richtete er das Wort erneut an die ominöse Postbotin. »Sie haben noch nicht auf meine Frage geantwortet. Woher kennen Sie das Klingelzeichen meines Onkels und wo wir schon dabei sind, wer sind Sie?«
»Sie sollten ihn besser lesen, es könnte um Leben und Tod gehen«, entgegnete sie auf eine Weise, die Jack das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Er zögerte. Vielleicht ging es in dem Schreiben um seine Freunde oder sogar um Heather.
Zähneknirschend nahm er der jungen Frau den Umschlag ab, die erneut ein freundliches Lächeln aufsetzte. »Vielen Dank. Damit gilt er als zugestellt. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend, Mr. Morane«, sagte sie zum Abschied, kehrte ihm den Rücken zu und verschwand im dichten Schneetreiben.
Jack wusste es besser, ansonsten hätte er die ominöse Postbotin für eine Sinnestäuschung gehalten. Doch sie war genauso real wie der Umschlag in seinen Händen. Er zog sich hinter die schützenden Mauern der Textilfabrik zurück und nahm im fahlen Licht seines Smartphones den Umschlag genauer unter die Lupe. Das Papier besaß eine pergamentartige Beschaffenheit. Unter dem Poststempel des International Postoffice in Deyers Creek fiel sofort die verhängnisvolle Schließfachnummer 926 auf. Bislang stand sie sinnbildlich für Leid und Tod. Gemessen an den Worten der Postbotin sollte sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Jacks Finger zitterten, als er den Umschlag aufriss, um die Nachricht zu entfalten.
07.09.1891
Unbarmherzige Winterwinde suchten die geplagten Mauern der New York Public Library heim. Unaussprechliches Grauen spielte sich innerhalb der altehrwürdigen Mauer ab. Ein Grauen, von dem das gemeine Volk keine Kenntnis besaß. Nur dem jungen Journalisten selbst war es vorbehalten, dem Hilferuf seiner engsten Vertrauten zu folgen. Ungeachtet der Gefahren durchforstete er die Hallen des Wissens. Auf der Suche nach der Frau, die seine Hilfe ersuchte, begegnete er den Gezeichneten; des freien Willens beraubte Seelen, die ihr Dasein unter dem Joch eines grausamen Gebieters fristeten. Seiner eigenen Furcht trotzend bahnte er sich einen Weg durch den fleischgewordenen Albtraum und drang immer tiefer in die Innereien des Gebäudes vor. Sein Ziel war bereits zum Greifen nah, als der Todesschrei einer Frau ihn bis ins Mark erschütterte.
R.M.C.
Blankes Entsetzen spiegelte sich in Jacks Augen wider, während er die letzten Zeilen von Richard McClouds Nachricht verinnerlichte. Sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht, während ihn ein Anflug von Schwindel überkam. Hastig stopfte er den Brief samt Umschlag in die Jackentasche, um im nächsten Moment Heather anzurufen. Es klingelte. Nervös wanderte er im Kreis. »Geh ran. Geh ran. Geh ran.«
»Das ist der Anschluss von Heather Miles …«
Jack knirschte mit den Zähnen. »Das ist doch jetzt nicht dein Ernst.« Mit dem Telefon am Ohr trat er vor die Tore der Textilfabrik und zog die Durchgangstür hinter sich zu. Am Ende der Ansage hinterließ er Heather eine Warnung, die New York City Public Library unter allen Umständen zu meiden. Er stellte den Kragen seiner Lederjacke auf, um sich zumindest ein wenig vor dem böigen Schneetreiben zu schützen.
5
Der Wind wehte an diesem Abend mit menschenverachtender Kälte. Die Straßen waren wie leergefegt. Eine überschaubare Menge an hartgesottenen Passanten wagte den Weg durch diese Winterhölle. Auch Taxis, die es hier sonst wie Sand am Meer gab, suchte Jack vergebens. Er ballte die Hand zur Faust. Verdammt. Was macht sie überhaupt in der Bibliothek? Hat sie mich belogen und trainiert weiter mit dem Abyss Mundi? Auf den Straßen hatte sich mittlerweile eine dichte Schneedecke gebildet, die langsam mit dem aufgeschütteten Schnee an den Straßenrändern verschmolz. Ein Räumfahrzeug tauchte mit blinkenden Lichtern im dichten Weiß auf, zog eine Schneise auf der schneebedeckten Fahrbahn und verschwand wieder in der eisigen Einöde. In Ermangelung eines Taxis überlegte Jack, den Bus zu nehmen. Eine Idee, die er wegen der schlechten Wetterverhältnisse sofort wieder verwarf. Seine letzte Hoffnung ruhte auf der New Yorker U-Bahn. Abermals wagte er sich vor in die bedrückende Finsternis unter der Stadt. Dort tauchte er ab in eine gesichtslose Menge, die dem rauen Wetter den Rücken kehrte. Ungeduldig tippte Jack mit dem Fuß auf dem Bahnsteig herum. Der Zug hatte Verspätung. Fünf Minuten nach der eigentlichen Ankunftszeit fuhr die Bahn in die Station ein. Unterwegs wählte er Heathers Nummer, ran ging wieder nur die Mailbox. »Verdammt nochmal, Nightlight.« Jack festigte den Griff um sein Smartphone. »Geh endlich an dein verfluchtes Telefon.«
Die Fahrt von der Textilfabrik in der Bronx bis zur Grand Central Station dauerte nicht mehr als zehn Minuten, doch für Jack fühlte sich jede Sekunde wie eine Ewigkeit an. Schließlich gab die blecherne Ansagestimme die Ankunft in seinen Zielbahnhof bekannt. Das Gedränge an den Türen stellte seine Geduld vor eine Zerreißprobe. Jack presste die Lippen zusammen, während ihm eine unangenehme Hitze zu Kopf stieg. Er atmete tief durch die Nase ein, doch es half nicht. Seine Sorge um Heather brachte ihn fast um den Verstand. Jack schob die anderen beiseite und trat hinaus auf den Bahnsteig. Von dort aus erklomm er die Treppe zur Haupthalle. Vor ihm erstreckten sich drei gewaltige bogenförmige Fenster mit Rautenmuster. Sie nahmen die gesamte Front ein. Direkt darunter befanden sich in Holzrahmen gefasste und mit goldenem Aufprallschutz versehene Glastüren, die zur Straße führten. Eine von ihnen stieß Jack schwungvoll auf und sah sich mit der vollen Härte des Winters konfrontiert. Okay, noch zwei Blocks. Er knirschte mit den Zähnen. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Jack rannte los. Dank der schlechten Wetterverhältnisse kam der Verkehr nur langsam voran. Das erleichterte den Sprint über die stark befahrene Straße. Einige hupten. Andere brüllten ihn durch das geöffnete Fenster an. Er fing an zu schwitzen. Seine Kleidung klebte an der Haut und sorgte für ein klammes Gefühl der Kälte. Außer Puste erreichte Jack die New York City Public Library. Mit seinen drei großen Torbögen und den detailliert gefertigten Statuen in der Fassade erweckte das Gebäude den Eindruck eines griechischen Pantheons. Die Treppe zum Haupteingang flankierten zwei steinerne Löwen. Während Jack die Stufen hinaufhastete, warf er einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. In einer knappen halben Stunde macht der Laden dicht. Vorausgesetzt, dass bis dahin noch jemand am Leben ist. In einigen Fenstern brannte Licht, vielleicht gab es noch Hoffnung. Jack stieß die Tür des Haupteingangs auf. Das knarrende Ächzen der Scharniere breitete sich in der großen Halle aus und hinterließ eine gespenstische Stille. Im Schein der Wand- und Deckenbeleuchtung zeichneten sich zahllose Spuren auf den Bodenfliesen ab. Zu viele, um feststellen zu können, ob die Puppen des Marionettenspielers hier bereits ihr Unwesen trieben. Vorsorglich umklammerte Jack den Griff des Jagdmessers in seiner Lederjacke. Er folgte dem Korridor tiefer in die öffentliche Bibliothek. An dem mit Holz vertäfelten Mauerwerk hingen Gemälde, die die Geschichte dieses Ortes erzählten. Jack schenkte ihnen jedoch keine Beachtung. Im Augenblick waren die angrenzenden Durchgänge von viel größerer Bedeutung. Jeder bot eine optimale Gelegenheit für einen Hinterhalt. Daher spannten sich seine Muskeln reflexartig an, wenn er sich einem von ihnen näherte. Nichts. Keine Menschenseele. Mit jedem Schritt, den Jack weiter in die Bibliothek vordrang, desto mehr wuchs die Nerven zehrende Anspannung. Er nahm ein Geräusch wahr. Zunächst ganz leise und unscheinbar, dann jedoch lauter und deutlicher. Es war der sanfte Klang einer Violine, der Jack das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ab jetzt zählte jede Sekunde. Jack zog die Klinge und beschleunigte die Schritte. Bei jeder Abzweigung rechnete er damit, in die ausdruckslosen Augen einer blutrünstigen Marionette zu starren. Wundersamerweise blieb ihm dieser Anblick erspart, sodass es nur noch die Treppe und die schwere Metalltür zum unterirdischen Kellerarchiv zu bewältigen galt.
Vor Jack erstreckte sich ein gigantisches Labyrinth aus Bücherregalen. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend durchstreifte er das Archiv bis zu einem beweglichen Regal samt hochmodernem Tastenfeld. Jack durchforstete seine Erinnerungen nach der Zahlenkombination, doch die angespannte Situation erschwerte ihm das Denken. Er tippte sie ein und das Display leuchtete rot surrend auf. Auch der zweite und dritte Versuch schlug fehl. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Komm schon. Du musst dich beruhigen. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Die Kombination. Wie war die Kombination? Denk nach. Denk nach. Moment, das könnte es sein, dachte Jack und nahm eine Eingabe vor. Das Regal rollte über die Schienen am Boden zur Seite und eröffnete ihm einen Durchgang. Er folgte ihm bis ans Ende, wo er einen verborgenen Schalter in der Wand ertastete. Innerhalb des Mauerwerks griffen Zahnräder ineinander. Staub rieselte vom Rahmen des sich öffnenden Geheimgangs. Alle paar Meter durchbrach das Licht einer von der Decke hängenden dreißig Watt Glühbirne die Dunkelheit. So auch der schrille Schrei einer Frau, der Jack bis ins Mark erschütterte. »Heather!«, entfuhr es ihm in heller Panik. Ohne auf die drohende Gefahr zu achten, rannte Jack durch den Tunnel und von dort in den Lesesaal.
6
Der Saal erstreckte sich über zwei Stockwerke mit Bücherregalen. Eine Konstruktion aus Stützpfeilern und Gitterböden definierte dabei die obere Ebene und verlieh ihr das Aussehen einer Galerie, die nur über Wendeltreppen zu erreichen war. Hier und da hingen Gaslaternen, die den Raum in ein schummriges Zwielicht tauchten. So auch den Lesebereich im Zentrum, wo Heather in sich zusammengesackt und keuchend auf den Schienbeinen saß. Jack fiel vor seiner Partnerin auf die Knie und legte den Arm um sie. Sie fühlte sich eiskalt an und war gezeichnet von einer leichenhaften Blässe.
Heather hob den Kopf. »Jack, was machst du denn hier?«
»Ein Brief aus 926. Die Marionetten sind auf dem Weg hierher.« Er entdeckte den Abyss Mundi an ihrem Handgelenk. Er verzog enttäuscht das Gesicht. »Was du hier machst, brauche ich dich wohl nicht fragen. Aber das verschieben wir auf später. Jetzt müssen wir erstmal von hier verschwinden. Kannst du laufen?«
»Wir befinden uns mitten im Training«, schritt der Kurator Sean Taylor von der Seite ein. »Sie kann jetzt nicht gehen.«
Jack schüttelte den Kopf. »Haben Sie eben nicht zugehört? Dieser Ort wird jeden Augenblick von willenlosen Monstern überrannt.«
Taylor kicherte herablassend. »Das möchte ich doch stark bezweifeln.« Er breitete die Arme aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Diese Institution des Wissens ist bestens gesichert gegen unerwünschte Eindringlinge.«
Jack runzelte die Stirn. »Deswegen ist es mir bereits zwei Mal gelungen, hier unbemerkt einzudringen.«
»Sie gehören auch nicht zu den Schergen des finsteren Gottes.«
Heather stemmte sich auf die Beine. »Was steht denn genau in dem Brief?«
»Dafür haben wir keine Zeit.«
Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Jack, zeig ihn mir bitte. Du hast ihn doch bestimmt dabei.«
Er atmete geräuschvoll aus und holte den Umschlag aus der Innentasche seiner Lederjacke hervor. Heather schnappte ihn sich direkt aus seiner Hand.
Der Kurator trat hinter sie und bewegte den Kopf von links nach rechts, um einen flüchtigen Eindruck des Dokuments zu erhaschen. Heather jedoch drehte sich einfach zur Seite weg und versperrte ihm die Sicht. Kurz darauf richtete sie wieder das Wort an ihren Freund. »Wenn das stimmt, was hier steht, müssten dir auf dem Weg hierher etliche Marionetten begegnet sein … und sorry, wenn ich das so sage, aber du siehst nicht gerade so aus, als hättest du dich durch Zombiehorden kämpfen müssen.«
Jack zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatte ich einfach nur Glück.«
»Du weißt, dass das so nicht funktioniert. So wie ich das sehe, bezieht sich der Brief auf einen anderen Tag und dank dieser Nachricht hier …«, sie wedelte mit dem Umschlag vor der Nase ihres Partners herum, »… bin ich bestens auf alles vorbereitet.«
Jack starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Du verarschst mich jetzt, oder? Du willst eine Konfrontation mit den Marionetten riskieren …«, er schaute auf den Abyss Mundi an ihrem Handgelenk, »… nur um dich weiter mit diesem Scheißteil zu beschäftigen?«
Heather strich sich eine Strähne aus dem schweißnassen Gesicht. »Ich trainiere mit dem Abyss Mundi nicht nur, weil ich es als meine Familienpflicht ansehe, ich tue es auch für dich.«
Jack sah sie verwirrt an. »Für mich?«
»Heather«, fuhr Sean Taylor seine Studentin an.
Sie schaute zu ihm herüber. »Es ist an der Zeit, es ihm zu sagen.«
Jacks Gesichtsausdruck nahm skeptische Züge an. »Mir was zu sagen?«
Heather drehte sich wieder zu ihm um. Jack wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte.
Diese merkwürdige Geheimniskrämerei oder ihre tieftraurigen und besorgten Züge. Jack spürte eine wachsende Unruhe aufsteigen. Ihm wurde warm und seine Atemzüge länger.
Heather knabberte nervös auf ihrer Unterlippe herum, als würde sie über den geeigneten Gesprächseinstieg nachdenken. Sie holte tief Luft und begann zu sprechen. »Das, was ich dir jetzt sage, brennt mir schon lange auf der Seele.«
Taylor verschärfte seinen Ton. »Heather, denk an die Konsequenzen.«
Die junge Journalistin hielt für einen Moment inne.
Jack erkannte ihren inneren Konflikt, was ihn zusehends beunruhigte.
Sie schaute hinüber zu dem Kurator und seufzte. »Tut mir leid, Sean.« Ihre Aufmerksamkeit wechselte zu Jack. »Wir haben ein wenig recherchiert, was es mit deinen Blackouts auf sich hat. Leider gaben die Bücher hier unten nicht viel her. Doch was wir herausgefunden haben, war besorgniserregend.«
Jack verschränkte die Arme vor der Brust. »Und das wäre?«
»Ravens Ritual versetzt dich in eine Trance, die es dir erlauben wird, deinen Erlebnissen im Albtraum New York auf den Grund zu gehen.«
»Das hätte ich dir auch sagen können.«
»Würdest du mich vielleicht mal ausreden lassen?«, fauchte Heather. »Du wirst eine Art Kompass brauchen, der dir den Weg weist. Genau da kommt der Abyss Mundi ins Spiel. Aber das ist noch nicht alles, was wir herausgefunden haben. Wir gehen davon aus, dass deine Albtraum New York Erfahrungen in direktem Zusammenhang mit dieser Brücke stehen, nach der du suchst. Kümmern wir uns um das eine, lösen wir ganz beiläufig auch das andere.«
»Komisch, Raven hat gar nichts davon erwähnt.«
Heather zuckte mit den Schultern. »Wie auch, wenn wir in einem alten Buch davon gelesen haben.«
»Wegen so einem Mist tust du dir das an?«, fragte Jack.
»Dieser Mist …«, sie setzte das vorangegangene Wort in Gänsefüßchen, »… wird dich früher oder später umbringen.«
Jack stieß abfällig die Luft durch die Nase aus. »Ach, und der Abyss Mundi wird dasselbe nicht auch mit dir anstellen?«
»Damals wurde ich gezwungen, ihn zu tragen, doch jetzt habe ich mich bewusst dazu entschieden.« Sie betrachtete den Abyss Mundi an ihrem Handgelenk. »Ich lerne ihn zu verstehen und mit ihm im Einklang zu sein.«
Jack stöhnte. »Wie oft wollen wir dieses Thema noch durchkauen?«
»So lange, bis du es endlich verstanden hast. Ich finde es süß, dass du mich beschützen willst, aber wir sind keine Kinder mehr. Ich bin eine erwachsene Frau und wenn ich zur Abwechslung mal dir den Arsch retten will, dann hast du das zu akzeptieren.«
Trotz ihrer Erschöpfung strahlte Heather eine Stärke aus, die fast schon einschüchternd auf Jack wirkte.
Egal, was er versuchen würde, Heather hatte ihre Entscheidung getroffen. Jack senkte den Blick, schloss für einen Moment die Augen und atmete geräuschvoll aus.
Seine nächsten Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. Jeder einzelne Buchstabe lag ihm bleiern auf der Zunge. »Du hast recht … Ich kann dich nicht zwingen, damit aufzuhören. Versprich mir wenigstens, vorsichtig zu sein. Ich will dich nicht verlieren.«
Heather lächelte warmherzig. Sie trat auf Jack zu und schloss ihn in die Arme. Ihre Lippen waren seinem Ohr so nahe, dass er ihren Atem spüren konnte. »Ich werde auf mich aufpassen. Versprochen«, flüsterte sie ihm zu und löste die Umarmung.
Ich weiß. Doch egal, wie vorsichtig du auch mit diesem Ding umgehst … Er musterte den Abyss Mundi. Die Adern in seinem direkten Umfeld schimmerten blau durch die blasse Haut. … es wird nicht reichen. Auf kurz oder lang wird dieses Relikt dich töten. Gott, wenn ich Ravens dämliches Ritual nur ernster genommen hätte, dann wäre dieser Albtraum längst vorbei. Das Ritual. Das ist die Lösung!
»Mehr kann ich nicht von dir verlangen. Trotzdem solltest du dich jetzt ein bisschen ausruhen. Dein ganzes Training bringt nichts, wenn du bei dem Ritual schlappmachst.«
»Noch ist es nicht so weit.«
Jack zeigte sich optimistisch. »Das kann schneller passieren, als du denkst.«
Heather wischte eine feuchte Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht. »Du verstehst mich nicht. Wenn ich dir sage, dass es noch nicht so weit ist, meine ich, dass ich noch nicht so weit bin.«
Jack nickte enttäuscht. »Okay. Halte mich bitte auf dem Laufenden.«
Heather hob ihre müden Mundwinkel. »Mache ich«, sagte sie und gab ihrem Freund den Brief aus Postfach 926 zurück.
Er verstaute ihn in der Innentasche seiner Lederjacke, warf dem Kurator Sean Taylor noch einen abschätzigen Blick zu und überließ Heather schweren Herzens ihrem Training.
7
Vor den Toren der New York Public Library nahm Jack einen tiefen Atemzug der kühlen Winterluft. Sie fühlte sich frisch und wohltuend an. Ganz anders als die des muffigen Lesesaals.
Er schaute hinauf zum dicht verhangenen Abendhimmel. Hoffentlich findet dieser Albtraum bald ein Ende, dachte Jack, als ihn jemand von der Seite ansprach.
Es war der Professor. »Kannst du mir erklären, was du hier machst?«
Jack wandte sich verwundert seinem Lehrmeister zu. »Pro… Professor, woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
Die stahlgrauen Augen des Akademikers besaßen einen zornigen Glanz. »Ich habe meine Methoden. Methoden, die auch du dir zu eigen machen könntest, würdest du deine Aufgabe ernster nehmen. Sag mir, wie gedenkst du dem Marionettenspieler die Stirn zu bieten, wenn es dir selbst am Grundlagenwissen auf dem Feld Runenkonjunktion mangelt?«
»Ich musste mich um eine wichtige Angelegenheit kümmern.«
Lawrence atmete geräuschvoll aus, während er das Haupt senkte. Mit Zeigefinger und Daumen massierte er seine Nasenflügel. »Herrgott, Jack …«, stöhnte der Professor und wies mit der ausgestreckten Hand in Richtung der New York Public Library, »… Heather hat ihren Weg gewählt und verfolgt ihn konsequent. Und ich würde dir empfehlen, genau das Gleiche zu tun.«
Eine brodelnde Hitze stieg Jack von der Körpermitte aus in den Kopf. Er holte tief Luft, um die Fassung nicht zu verlieren. »Sie wussten davon und haben es mir nicht gesagt?«
»Deine Freundin ist mit Sean Taylor als Lehrmeister gut beraten. Daher besteht kein Handlungsbedarf für dich. Also nenne mir nur einen vernünftigen Grund, warum ich dir davon hätte erzählen sollen?«
»Sean Taylor soll ein guter Lehrer sein? Er sieht untätig dabei zu, wie der Abyss Mundi Heather Stück für Stück die Lebenskraft entzieht.«
»Der Abyss Mundi tötet nur die Schwachen und jene, die nicht über die Fähigkeit verfügen, mit ihm umzugehen. Nichts von beidem trifft auf Heather zu.«
Jack kniff die Augen zusammen. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Sie ist die Nachfahrin von Jonathan Carnebie.«
Jack zuckte mit den Schultern. »Na und?«
»Die Carnebies brachten im Laufe der Zeit einige der begabtesten Wechselwirker hervor, die diese Welt je gesehen hat.«
Jack legte die Stirn in Falten. »Wechselwirker? Was soll das denn schon wieder sein?«
»Lass uns ein Stück gehen.« Jack nickte und folgte dem Akademiker die verschneite Straße hinunter. »Wechselwirker, so werden die Mitglieder eines Geheimbundes genannt, der in Fachkreisen unter dem Namen Wächter des Abyss bekannt ist. Die Wechselwirker besitzen die einzigartige Fähigkeit, sich die Macht des Abyss Mundi zunutze zu machen. Er befähigt sie, zwischen den Sphären zu wechseln. So kamen sie zu ihrem Namen.«
»Tz, schön und gut, aber Heather ist ganz bestimmt keine von ihnen. Sie ist leichenblass und wirkt müde.«
»Nichts Ungewöhnliches für einen Novizen, der sich der Erforschung des Abyss Mundi widmet.«
»Sagen Sie mir, Professor. Wie viele überleben diese Art der Ausbildung?«
Die stahlgrauen Augen des Akademikers schienen Jack zu durchbohren. »Wenn du deinem Studium so viel Aufmerksamkeit schenken würdest wie der Sorge um deine Freundin, wärst du vermutlich der mächtigste Runenanwender, den die Welt je gesehen hat. Heather ist sich ihrer Aufgabe bewusst, warum du nicht?«
Jack presste die Lippen zusammen. Er spürte, wie ihm langsam Tränen in die Augen stiegen. Doch bevor sie sich auf seiner Netzhaut bilden konnten, riss er sich zusammen. »Sie verstehen nicht, was sie mir bedeutet. Ich kann sie nicht einfach sterben lassen.«
»Sie wird auf jeden Fall sterben, wenn ihr beide nicht darauf vorbereitet seid, was uns noch bevorsteht.«
Jack blieb stehen, hielt für einen Moment inne und schaute in das Gesicht seines strengen Lehrmeisters. »Können wir es schaffen?«
»Wenn ihr diszipliniert an euch arbeitet, besteht eine durchaus realistische Chance. Doch dafür darfst du keine Zeit mehr vertrödeln. Das muss dir bewusst sein.«
Jack warf einen Blick zurück und schaute in Richtung der New York Public Library, die hinter einem Gestöber dicht rieselnden Schnees verschwand. Nightlight, du hast von Anfang an verstanden, worum es geht. Und was habe ich getan? Ich habe mich benommen wie ein überfürsorglicher Volltrottel. Er ballte die rechte Hand zur Faust. Ich werde genauso hart an mir arbeiten, wie du es schon die ganze Zeit tust.
Jack wandte sich mit einem Grinsen wieder an den Professor. »Okay, worauf warten wir noch? Ich habe einiges an Zeit gutzumachen.«
Der rechte Mundwinkel des Professors hob sich fast unmerklich. »Gut, dann lass uns aufbrechen.«
Auf den Straßen Manhattans herrschte wegen des extremen Schneefalls pures Chaos, daher fuhren sie mit der U-Bahn zurück in die Bronx. Sie wählten ein leeres Abteil, um ungestört reden zu können.
8
»Nochmal zu meiner Frage von vorhin. Woher wussten Sie, wo ich bin?« Jack lachte. »War das ein Aufspürzauber oder so etwas in der Art?«
»Die Runenkonjunktion hat nichts mit Zauberei zu tun, Jack. Dessen solltest du dir stets bewusst sein. Magie gibt es nur in Romanen oder im Kino.«
»Wenn es keine Magie ist, was ist es dann?«
»Um dir darauf eine Antwort geben zu können, muss ich dir zunächst eine Gegenfrage stellen.« Jack schwieg, was den Professor dazu bewog, weiterzusprechen. »Glaubst du an die menschliche Seele?«
Die menschliche Seele. Seit Mom und Dad tot sind, habe ich oft darüber nachgedacht. Ich habe mir gewünscht, dass sie im Himmel sind und ich sie eines Tages wiedersehen werde. Doch glaube ich dadurch automatisch an die Seele?
»Ich bin mir nicht sicher, Professor.«
Lawrence stieß ein tiefes Brummen aus. Er drehte sich zu dem Fenster über der Rückenlehne herum und hauchte gegen die Scheibe, die sofort beschlug. »Nehmen wir einmal an, dieser Bereich repräsentiert die menschliche Seele.« Der Professor ließ den Zeigefinger um den beschlagenen Bereich rotieren. »Sie ist der ausschlaggebende Indikator für die Runenkonjunktion. Ohne sie sind selbst die mächtigsten Runensteine nutzlos. Betrachtet man hingegen einen Runenstein und eine Seele als ein Ganzes …«, er zeichnete eine Rune in den Mittelpunkt der beschlagenen Stelle, »… bietet die Runenkonjunktion eine Vielzahl von Möglichkeiten, die weit jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liegen.«
Ding Dong. Eine blecherne Frauenstimme aus dem Lautsprecher über den hydraulischen Türen unterbrach den Vortrag des Akademikers. »Nächster Halt Westchester Ave.«
Lawrence verwischte sein Kunstwerk. »Das ist unsere Station.«
Die Türen öffneten sich zischend. Eiseskälte strömte ins Innere des U-Bahnzuges. Der Wind heulte gespenstisch in den Dachsparren der Überführung, zugleich wehte er ihnen Schneeflocken ins Gesicht. Jack fröstelte. Er zog den Reißverschluss seiner gefütterten Lederjacke nach ganz oben und stellte den Kragen aufrecht, um den Böen eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten. Von der Treppe führten unzählige Fußabdrücke im Schneematsch zur Straße hinunter. Auf dem Weg nach unten setzte der Professor seinen Vortrag fort. »Wo waren wir eben stehengeblieben? Ach ja, die Synchronisation von Seele und Rune. Eine unabdingbare Lektion, die es auf dem Pfad der Runenkonjunktion zu bewältigen gilt.«
»Und wie stellt man es an? Die Seele mit den Runen zu synchronisieren?«
»Zunächst musst du ein intuitives Gefühl für deine Astralkraft entwickeln. Die meisten Menschen nehmen sie eher beiläufig wahr. Und das auch nur in besonderen Situationen. Hervorgerufen durch intensive Emotionen wie Liebe, Hass, Freude oder Glück. Unwissende würden es als eine Art Kribbeln beschreiben, doch in Wirklichkeit spüren sie für einen kurzen Moment das Aufflackern ihrer Astralkraft. Genau dieses Gefühl ist der Ausgangspunkt für dein weiteres Training, vorausgesetzt, dir gelingt endlich die Visualisierung der Protestenzrune.«
Jack grinste. »Meine letzten Versuche waren schon ziemlich gut.«
Der Professor stieß ein abfälliges Brummen aus. »Solange du von Versuchen sprichst, beherrschst du die Lektion nicht. Du musst noch sehr viel in sehr kurzer Zeit lernen. Und ich weiß nicht, ob wir das mit deiner Arbeitseinstellung schaffen können.«
»Heathers Leben war in Gefahr.«
»Ganz offensichtlich war es das nicht und selbst wenn, was hättest du tun können?« Seine stahlgrauen Augen wirkten kalt und einschüchternd. »Du bist schwach und lässt dich viel zu leicht ablenken. Also reiß dich zusammen oder du wirst alles verlieren, was dir am Herzen liegt.«
Jack presste die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen und ballte die Fäuste. Sein Lehrmeister behandelte ihn wie ein Kind, dennoch konnte er den Worten einen gewissen Wahrheitsgehalt nicht absprechen. Aus diesem Grund zog er es vor zu schweigen und dem Professor zähneknirschend zu der alten Textilfabrik zu folgen. Inmitten des abendlichen Schneetreibens strahlten die dunklen Fenster des Backsteingebäudes eine bedrohliche Aura aus. Die runden Schornsteine strebten wie schwarze Türme dem wolkenverhangenen Himmel entgegen. Kein wirklich einladender Ort, doch der Beste, um sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen.
9