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Mein Name ist Mary Jane Kelly, den meisten dürfte ich jedoch besser bekannt sein als das fünfte Opfer des berüchtigten Serienmörders Jack the Ripper. Nach meinem Tod fand meine Seele keinen Frieden, sondern wurde von meinem Mörder mit dunkler Magie festgehalten. Er will mir und all seinen anderen Opfern die Möglichkeit geben, für Gerechtigkeit zu sorgen und Rache an all jenen zu nehmen, die uns im Leben unrecht taten. Doch schon bald muss ich erkennen, dass meine vermeintliche Freiheit nichts als eine Illusion ist, solang Jack the Ripper im Besitz meines Herzens ist. Für ihn bin ich nicht mehr als eine Schachfigur, die er nach Belieben lenken kann, um seinem Ziel näher zu kommen, die Königin zu stürzen. Zusammen mit Inspektor Abberline versuche ich hinter die Identität des Rippers zu kommen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Jemand, der bereits tot ist, hat schließlich nichts mehr zu verlieren, oder? Softcover mit Farbschnitt
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Seitenzahl: 557
Veröffentlichungsjahr: 2023
Copyright © 2023 by
Lektorat: Stephan R. Bellem
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout Ebook: Stephan R. Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-752-0
Alle Rechte vorbehalten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Nachwort
Danksagung
Drachenpost
Für meine Lieblingssteffi,
ohne die dieses Buch erst sehr viel später
oder vielleicht auch gar nicht geschrieben worden wäre.
Jeder, der schon einmal in Ohnmacht gefallen war, kannte das Gefühl der vollkommenen Orientierungslosigkeit, wenn das Bewusstsein zurückkehrte. Es war wie das Aufwachen aus einem tiefen Schlaf. Sobald man die Augen öffnete, wurde man sich klar darüber, dass man nicht dort war, wo man sein sollte: im eigenen Bett.
So empfand ich am 9. November 1888, als ich an einem mir unbekannten Ort wieder zu mir kam. Mir passierte das nicht zum ersten Mal. Der übermäßige Verzehr von Spirituosen führte zu Gedächtnislücken. Deshalb kam es häufiger vor, dass ich meine Nacht in einem der zahlreichen Pubs von Whitechapel begann, mich am Morgen jedoch ganz woanders wiederfand. Oft in Begleitung, deren Namen ich nicht kannte oder mich nicht einmal daran erinnern konnte, sie je zuvor gesehen zu haben.
Dieses Mal war es anders. Das spürte ich deutlich. Ich war anders. Es war eine Gewissheit, die mehr auf einem Gefühl beruhte, als durch eindeutige Hinweise belegt wurde. Vielleicht lag es auch an der verstörenden Tatsache, dass mich vier Frauen musterten, als hätten sie nur auf mein Aufwachen gewartet. Ihre Gesichter kamen mir vage bekannt vor, aber ich konnte keine von ihnen zuordnen. Sie waren alle vier von unterschiedlicher Statur und Alter. Nur eines hatten sie gemeinsam: den Charme des Londoner East End. Ich sah ihn in ihrer fahlen Haut, die mit zu wenig Sonne und zu viel Smog in Berührung kam. In ihren müden Augen lag die Härte von Menschen, die immer wieder enttäuscht worden waren. Von anderen. Von sich selbst. Vom Leben.
Ein bisschen war es, als würde ich in einen Spiegel sehen, denn ich erkannte mich in jeder dieser Frauen wieder.
Mein Blick schweifte durch den fensterlosen Raum, bei dem es sich um eine Art Gewölbekeller handeln musste. Das Licht von etwa einem Dutzend flackernder Kerzen, die rund um mich verteilt waren, vertrieb die Dunkelheit und sorgte zugleich für zuckende Schatten an den feucht glänzenden Wänden. Naserümpfend setzte ich mich auf und erwartete, den modrigen Gestank eines schimmelverseuchten Zimmers wahrzunehmen, aber ich roch gar nichts. Als ich an mir hinabsah, bemerkte ich nicht nur, dass ich fremde Kleidung trug, sondern mich in einem Kreis aus seltsamen Symbolen befand, die mit einer dunklen Flüssigkeit auf den Boden geschmiert worden waren. Blut.
Kopfschüttelnd versuchte ich, den Gedanken zu vertreiben, und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. Schnell stellte ich fest: Ich war unverletzt. Mir ging es gut. Abgesehen davon, dass ich womöglich bei einer okkulten Sekte gelandet war.
»Der Moment nach dem Erwachen ist der seltsamste«, richtete eine der Frauen das Wort an mich. Ihre Stimme klang mitfühlend, so als hätte sie selbst das auch schon erlebt.
Verwirrt fuhr ich zu ihr herum. Ihr dunkles Haar reichte ihr bis zu den Schultern und hatte dieselbe Farbe wie ihre Augen, die im Kerzenschein fast schwarz wirkten. Falten zogen sich über ihre Stirn, umrahmten die Augen und verliehen ihrem Mund einen missgelaunten Ausdruck, dennoch ließen sie nicht auf ihr Alter schließen, denn im East End hatte jeder Falten. Jeder hatte Sorgen. Selbst Babys kamen schon mit Kummer auf die Welt. Die wenigsten von ihnen erreichten das dritte Lebensjahr.
»Ich verstehe nicht«, war alles, was ich hervorbrachte, und dennoch fassten diese drei schlichten Worte perfekt zusammen, was mir gerade alles durch den Kopf ging: Wo war ich? Wer waren die anderen Frauen? Warum war ich an diesem Ort? Was war dies für ein Ort? Was hatten die Symbole am Boden zu bedeuten? Wie war ich hierhergekommen? Warum konnte ich mich nicht erinnern?
Die Frau blickte mit erhobenem Kinn und einer Gleichmut auf mich herab, als könnte nichts, was ich sage, sie überraschen. »Ich bin Polly«, stellte sie sich mir vor, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, mir irgendetwas zu erklären. Sie deutete auf die kleine, korpulent gebaute Frau rechts von sich, die ihr grau-braunes Haar unter einer weißen Haube trug. Eine tiefe Traurigkeit lag in ihren grauen Augen, deren Anblick mir das Herz schwer machte. »Das ist Annie.«
Die Dritte der Runde machte einen Schritt auf mich zu und streckte mir ihre von Schwielen gezeichnete Hand entgegen. Sie hatte lange, schlanke Finger, die ihrem restlichen Körper entsprachen. Sie überragte die anderen Frauen um mindestens einen Kopf, was ihr eine gewisse Erhabenheit verlieh. Es war jedoch nicht ihre Größe, die sie stark erscheinen ließ, sondern der unbeugsame Ausdruck in ihrem Gesicht, das von schwarzem Haar eingerahmt wurde und im Kontrast zu ihren blauen Augen stand. »Mein Name ist Elizabeth, alle nennen mich Liz.«
Zögerlich legte ich meine Hand in ihre und ließ mich von ihr mit festem Griff hochziehen. Obwohl die Berührung nicht lange andauerte, löste sie etwas in mir aus. Erst konnte ich es nicht benennen, dann wurde mir bewusst: Es war das Fehlen von etwas. Ich hatte die Hornhaut an ihrer Handinnenfläche überhaupt nicht gespürt. Meine Hand in ihrer fühlte sich taub an, als würde ich eine Wand anfassen. Da war weder Wärme noch Kälte gewesen.
Bevor ich darüber nachdenken konnte, was das zu bedeuten hatte, stellte sich mir die Letzte der Anwesenden vor. »Catherine«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. Auch wenn ich ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte, fiel mir sofort auf, wie hübsch sie war. Langes blondes Haar ergoss sich in sanften Wellen auf ihre zierlichen Schultern. Ihre Haut hatte einen zarten Pfirsichton, der nicht in die graue Tristesse von Whitechapel passte. Vielleicht lag es an ihrer Jugend. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein, wenn überhaupt. Trotzdem bestand kein Zweifel daran, dass das Schicksal bereits seine grausamen Klauen in sie gebohrt hatte. Ihre herabhängenden Schultern, niedergedrückt von einer unsichtbaren Last, verrieten es mir. »Du bist Mary Kelly, oder?«, fragte sie mich mit einer Stimme so zart und zerbrechlich wie Glas, ohne den Blick zu heben.
»Ja«, bestätigte ich ihr erstaunt. »Woher weißt du das?«
Nun sah sie mich doch an, mit Augen so blau wie der Ozean, aber feucht von Schuld. Ihre Unterlippe bebte, als könnte sie die Tränen nicht mehr lange zurückhalten.
Ihr Gesicht.
Ich hatte es schon einmal gesehen.
Nicht persönlich, sondern nur in der Presse. Es war in jeder Zeitung in den letzten Wochen gewesen. Ich kannte sogar ihren Nachnamen, obwohl sie ihn mir nie genannt hatte: Catherine Eddowes. Besser bekannt als das vierte Opfer des Rippers, ein Mörder, der seit zwei Monaten im East End für Angst und Schrecken sorgte. Er zeichnete sich durch seine Brutalität aus, denn er tötete die Frauen, ausschließlich Prostituierte, nicht nur, sondern verstümmelte sie und entnahm ihnen Organe. Die Polizei tappte völlig im Dunkeln darüber, wer der Täter sein könnte.
Bestürzt legte ich mir eine Hand über den Mund und konnte nicht begreifen, wie diese junge Frau hier vor mir stehen konnte. Wie sie atmen konnte. Ihr Körper war zerfetzt worden. Die Zeitungsartikel hatten ausgiebig darüber berichtet, und ich hatte jeden einzelnen davon gelesen, weil ich nicht genug von dem Schrecken bekam. Der Ripper hatte ihr nicht nur die Gedärme aus dem Leib gerissen und über ihrer Schulter platziert, sondern ihr die verdammte Nase aus dem Gesicht geschnitten. Trotzdem stand dieselbe Frau nun lebendig vor mir mit einem makellosen Stupsnäschen wie eine Porzellanpuppe. Das war unmöglich! Ich musste mich täuschen.
Fassungslos begann ich mich im Kreis zu drehen, von einer Frau zur anderen zu sehen: Polly, Annie, Liz und Catherine.
Sie waren alle Opfer. Es waren nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Gesichter, die ich wiedererkannte. Jetzt ergab es Sinn, weshalb sie mir direkt so bekannt vorgekommen waren. Gleichzeitig ergab gar nichts mehr einen Sinn.
»Das ist der Moment unseres Ruhms, Ladys«, raunte Polly in die Runde. Es klang gehässig, als wäre sie meines Schocks überdrüssig. »Wer weiht sie ein?«
Liz, die mir am nächsten stand, berührte mich sanft an der Schulter, aber ich wich vor ihr zurück, als hätte sie mir einen Stromschlag verpasst. Das hielt sie dennoch nicht davon ab, die entsetzliche Wahrheit auszusprechen. »Du bist tot, Mary.«
»Genauso tot wie jede von uns«, ergänzte Annie tröstend, als wäre der Tod weniger schlimm zu ertragen, wenn man ihn nicht allein erleiden musste.
Polly schnalzte mit der Zunge. »Mausetot.« Im Gegensatz zu Annie schien sie keinerlei Mitleid mit mir zu haben, sondern die Situation amüsant zu finden, wenn nicht sogar zu genießen.
Ich streckte beide Hände von mir und schritt rückwärts aus ihrer Mitte. »Nein!«, widersprach ich ihnen bestimmt. »Das ist nicht wahr! Ich bin nicht tot! Unmöglich!«
Das harte und freudlose Gelächter von Polly hallte von den nackten Wänden wider. Es war wie eine Ohrfeige, die mich bis ins Mark erschütterte.
»Ich kann nicht tot sein«, begann ich mich hilflos zu rechtfertigen, wobei meine Stimme immer dünner wurde und zu brechen drohte. »Ich kann mich bewegen, ich atme …« Keuchend schnappte ich nach Luft, drängte die Tränen in meinen Augen zurück und presste mir eine Hand über meine linke Brust. »Mein Herz schlägt!«
»Bist du dir da ganz sicher?«
Die Worte kamen von einem Mann direkt hinter mir.
Panisch wirbelte ich zu ihm herum und starrte in dunkle, emotionslose Augen, die so kalt wie geschliffener Onyx glänzten. Buschige Augenbrauen erhoben sich darüber, die meinen Blick zu dem edlen Zylinder auf seinem Kopf lenkten. Ich hätte gern behauptet oder wenigstens mir selbst eingeredet, dass ich diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte, aber das konnte ich nicht, denn ich erinnerte mich an ihn.
Er hatte mich angesprochen, als ich aus dem Ten Bells-Pub taumelte. Obwohl ich schon ziemlich betrunken gewesen war, hatte ich einige Details nicht vergessen: Neben seinem Zylinder war mir direkt sein langer Mantel mit Pelzkragen und die Krawatte mit der Hufeisennadel aufgefallen. In seiner Weste hatte eine massive Goldkette mit einem roten, funkelnden Stein gesteckt. Er hatte den Eindruck von Wohlstand erweckt, und ich hatte ihn für einen jener älteren Männer gehalten, die sich nur nach Whitechapel verirrten, um einen ganz bestimmten Dienst in Anspruch zu nehmen. Das waren mir die liebsten Freier, denn sie zahlten gut. Mit den Händen, die damals wie heute in hochwertigen Lederhandschuhen steckten, hatte er mir ein Päckchen, eingeschlagen in braunes Papier, entgegengehalten und mich gefragt, ob ich mein Halstuch verloren habe. Er würde mir gern ein neues schenken.
Entsetzt griff ich mir an den Hals und spürte den feinen Seidenstoff durch meine Finger gleiten. Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, welche Farbe das Tuch hatte: Es war rot.
Der Mann, der mir nun gegenüberstand, hatte es mir umgelegt, bevor wir zu meiner Unterkunft aufbrachen. Zusammen waren wir die Treppen emporgestiegen. Was immer danach in meinem Zimmer geschehen war, hatte mich in diesen Keller geführt.
Er wusste, ich erinnerte mich an ihn. Die Handbewegung an meinen Hals hatte mich ebenso verraten wie das Entsetzen in meinem Blick. Unter seinem dünnen Schnurrbart, der an den Ecken nach oben gezwirbelt war, breitete sich ein zynisches Schmunzeln aus. »Rast dein Herz? Pocht es gegen deine Brust, als wollte es fliehen?«
Genau das glaubte ich zu fühlen, doch mit Bestürzung musste ich feststellen, dass dies nicht stimmte. In meiner Mitte regte sich nichts. Kein Blut rauschte in meinen Ohren. Kein Puls ließ meine Venen vibrieren.
Ich war tot.
Wie durch einen Schleier beobachtete ich, wie der Mann ein Gefäß aus seinem Mantel hervorholte. Es war ein Einmachglas, wie sie ältere Frauen manchmal benutzten, um darin eingelegtes Obst oder Marmelade aufzubewahren. Nun schwamm in der rauchig grünen Flüssigkeit ein Fleischklumpen, den ich erst bei genauerem Hinsehen als Herz identifizieren konnte.
Mein Herz.
Mit einem dumpfen Geräusch klopfte der Mann gegen das Glas. »Dieses kleine, unscheinbare Organ, um das sich so viele Mythen drehen, ist der Grund dafür, dass du noch hier bist.« Er entblößte seine Zähne in einem raubtierhaften Grinsen. »Und ich natürlich.«
Ehe ich mich’s versah, packte er mich am Oberarm und zerrte mich zurück in die Mitte des Raums, dorthin, wo die unheimlichen Symbole auf dem Boden prangten. Die anderen Frauen scharten sich um uns, als wären sie Motten und unser Mörder das Licht.
»Du kannst mich Jack nennen«, verkündete er mir selbstgefällig und ließ mich wieder los. »Es wäre wohl etwas zu viel verlangt, mich mit Gebieter oder Schöpfer anzusprechen, auch wenn ich letztlich genau das für dich bin.« Er sah kurz in die Runde, als wollte er die anderen noch mal an seine Bedeutung erinnern. »Für euch alle.«
Zu meinem Erstaunen nickten sie wie brave Lämmer.
»Die Zeichen, die du hier siehst, sind das Werk jahrzehntelanger Forschung«, fuhr er stolz fort und deutete auf jedes einzelne davon, als präsentierte er mir seinen wertvollsten Besitz. In seiner anderen Hand hielt er das Glas mit meinem Herz, wobei die Flüssigkeit darin bei jeder seiner Bewegungen auf und ab schwappte. »Ich bin um die halbe Welt gereist, um die dunklen Künste verstehen zu lernen. In Afrika habe ich mit Voodoo-Priestern gearbeitet, und in Indien habe ich die Wunder der Bhils-Magier mit eigenen Augen erlebt. Meine Macht basiert auf dem Wissen verschiedenster Kulturen und Generationen. Nur deshalb ist es mir gelungen, eine neue Daseinsform zu schaffen.«
Er streckte seine behandschuhten Finger nach mir aus, als wollte er mir durchs Haar fahren. Angewidert wich ich vor ihm zurück. Als Irin war ich katholisch erzogen worden, und auch wenn ich dem Glauben in den letzten Jahren keinen großen Wert in meinem Leben beigemessen hatte, so kamen mir seine Behauptungen nicht nur absurd, sondern falsch vor. Die Art, wie er über den Okkultismus sprach, ließ mich seine Faszination dafür erahnen. Die meisten Männer, die ich kennengelernt hatte, sehnten sich nach Anerkennung. Jack schien in der schwarzen Magie etwas gefunden zu haben, was ihm das Gefühl gab, wichtig zu sein – unersetzbar.
Meine Zurückweisung kränkte ihn nicht im Geringsten. Er brauchte nur seine Hand auszustrecken und Polly trat bereitwillig an seine Seite. In ihrem Blick fand er die Bewunderung, auf die er es abgesehen hatte.
»In vielen Religionen wird die Ansicht vertreten, der Tod sei nicht das Ende, sondern vielmehr ein Anfang«, fuhr er ekstatisch fort. »Ich habe für euch eine Tür geöffnet, die es euch ermöglicht, für die Gerechtigkeit zu sorgen, die euch im Leben verwehrt blieb. Nie wieder wird eine von euch Schmerz erdulden müssen. Nie wieder werden andere auf euch herabsehen. Nie wieder werdet ihr schwach sein.«
Mir war nicht ganz klar, wie er dafür sorgen wollte. Zwar waren wir tot, doch das änderte nicht, wer wir waren. Ich blieb Mary Kelly, eine Prostituierte aus dem East End. Mein Tod machte mich nicht zu einer Königin.
»Wer hat dir unrecht getan, Mary?«, wandte Jack sich direkt an mich. »Wer hat dir im Leben so übel mitgespielt, dass du dich gern an ihm gerächt hättest, aber einfach nicht die Möglichkeit dazu hattest?«
Ich dachte über seine Frage nicht einmal nach, sondern schüttelte nur den Kopf. »Ich hege gegen niemanden Groll.« Außer vielleicht gegen Jack, der mich umgebracht hatte, auch wenn er sich gerade als mein großer Retter aufspielte.
Polly lachte spöttisch auf. »Schätzchen, du hast nicht genug Finger, um all jene aufzuzählen, die deine Rache verdient haben. Wir sind hier unter uns. Du brauchst nicht länger die Großmütige zu spielen.«
»Was ist mit den Freiern, die nicht nur grob waren, sondern sich auch noch geweigert haben zu zahlen?«, pflichtete Liz ihr bei. »Erzähl mir nicht, du hättest nie mit solchen Bekanntschaft gemacht!«
Ihre Erwähnung sorgte für ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend. Natürlich war auch ich vor solchen Erfahrungen nicht verschont geblieben, aber ich hatte gelernt sie zu verdrängen, anstatt mich mit der Erinnerung an sie zu quälen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern, geschehen war geschehen, wichtig war nur, sich nicht unterkriegen zu lassen und weiterzumachen, erhobenen Hauptes. Immerhin stellten solche Kunden die Ausnahme dar.
»Vielleicht hattest du auch einen gewalttätigen Ehemann«, mutmaßte Annie. »Ein Dreckskerl, der dich grün und blau geschlagen hat, nur weil ihm gerade danach war. Selbst wenn du dich gegen ihn gewehrt hättest, wärst du zu schwach gewesen, um ihn ernstlich zu verletzen.« Schaudernd rieb sie sich über die Arme. Sprach sie aus Erfahrung?
»Ich war nie verheiratet«, merkte ich an, auch wenn es nicht von Bedeutung sein sollte. Es brauchte keinen Ring am Finger einer Frau, um die Hand gegen sie zu erheben.
»Hast du Familie in London?«, hakte Polly nach, aber ließ mir nicht einmal Zeit, um zu antworten. »Selbst wenn, wirst du wahrscheinlich kaum Kontakt zu ihnen gehabt haben, nicht wahr? Mütter, Väter, Brüder, Schwestern.« Sie schnaubte verächtlich. »Alle wenden sich von Menschen wie uns ab, weil sie sich für etwas Besseres halten. Du nimmst die Erniedrigung in Kauf, suchst sie auf, nur um sie um ein paar Pence zu bitten, und sie knallen dir die Tür vor der Nase zu. Ihre Beleidigungen gibt es umsonst dazu.«
Dieses Mal verkniff ich es mir, etwas zu erwidern. Zusammen mit meinen Eltern und Geschwistern war ich als Kind nach London gekommen. Als irische Einwandererfamilie hatte man es damals wie heute nicht leicht. Meine Mutter starb kurz nach der Einreise an Schwindsucht, weil wir uns keinen Arzt oder Medikamente leisten konnten. Mein Vater folgte ihr ein paar Jahre später, als es zu einem Unfall in der Fabrik kam, in der er arbeitete. Auf uns allein gestellt, gingen meine Geschwister und ich jeder unserer Wege – verteilt wie Samenkörner im Wind.
»Es ist der mangelnde Respekt der Leute, der am meisten schmerzt«, fügte Catherine leise hinzu. »Sie sehen einen an und glauben alles zu wissen, dabei haben sie keine Ahnung. Für Frauen wie uns ist es völlig sinnlos, sich an die Gesetzeshüter zu wenden, denn ganz gleich, was uns auch angetan wurde, wir sind für sie immer die Schuldigen.«
Die anderen nickten zustimmend, und auch ich merkte, wie meine Gegenwehr langsam schwand. Vieles von dem, was sie beklagten, war mir schmerzlich vertraut. Wie oft hatte ich es erlebt, dass Menschen mich auf offener Straße beschimpften? Wie oft waren meine Beschwerden von Gesetzeshütern nicht ernst genommen oder gar belächelt worden? Wie oft hatten Männer mich behandelt, als wäre ich nicht mehr als ein Stück Fleisch? Der alte Groll, den ich so lange verdrängt hatte, begann sich erneut in meiner Mitte zu regen.
»Vergesst nicht jene, die das Sagen in diesem Land haben und etwas an eurer Situation hätten ändern können, aber stattdessen lieber Pfeife geraucht oder sich mit Kaviar vollgestopft haben«, mischte sich Jack ein. »Sie sind diejenigen, die am eigenen Leib erfahren müssen, was Elend bedeutet.«
Die Last der Ungerechtigkeit war ein ewiges Thema. Es gab immer Menschen, die mehr als man selbst hatten, aber zugleich auch jene, die noch weniger besaßen. Damit hatte ich mich stets zu trösten versucht. In diesem Raum mit den anderen Frauen, deren Gesichter der Kerzenschein in entschlossene Masken verwandelte, und angeheizt von ihrer Wut, wollte ich mich nicht mehr in Demut üben, sondern meine Stimme erheben und nach mehr verlangen.
»Ich wünschte, die Menschen hätten mehr in mir gesehen als eine Hure«, gestand ich den anderen und mir selbst gegenüber ein.
Jack ließ das Einmachglas mit meinem Herz wieder in seiner Manteltasche verschwinden und klatschte in die Hände, bevor er mich an beiden Schultern ergriff. Dieses Mal entzog ich mich ihm nicht.
»Mary Kelly, ich verspreche dir, keine von euch wird je wieder unbedeutend sein«, prahlte er und löste sich von mir, um sich in unserer Mitte langsam im Kreis zu drehen. »Eure Namen werden in die Geschichte eingehen, und zusammen werden wir erst das East End, dann London, schließlich England und vielleicht sogar die Welt verändern!« Er reckte seine Arme in die Höhe wie ein Politiker, der eine Wahl gewonnen hatte. Keine von uns hatte ihm ihre Stimme gegeben, und trotzdem applaudierten wir ihm. Er stellte uns etwas in Aussicht, das wir im Leben nie besessen hatten: Macht.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden verließ Jack unser Versteck. Es lag in einem unscheinbaren Handwarengeschäft in der Dorset Street, das seit Monaten leer stand. Die Fenster waren mit Holzbrettern verrammelt und die Tür glänzte von feuchtem Schimmel. Niemand würde je auf die Idee kommen, dass sich unter dem Gebäude fünf Frauen aufhalten könnten, die offiziell als tot galten. In der Nacht hatte ich mich von der Euphorie der anderen mitreißen lassen und mich der Vorstellung hingegeben, wir hätten tatsächlich die Macht, etwas zu verändern. Nicht in der ganzen Welt oder auch nur in England, wie Jack großspurig geprahlt hatte. Mir würde das East End völlig reichen. Etwas mehr Respekt war alles, wonach ich mich sehnte. Mit Beginn des Tages ließ das Hochgefühl nach. Es flachte ab wie der Rausch nach einem Alkoholgelage. All die Gedanken, die ich verdrängt hatte, um nicht an ihnen zu zerbrechen, drängten sich wieder an die Oberfläche.
Ich war tot.
Alles, was ich mir je erhofft hatte, rückte in unerreichbare Ferne. Ich blickte zurück auf eine Existenz, die die Bezeichnung Leben kaum verdiente. Ich trauerte nicht um das, was gewesen war, sondern um das, was hätte sein können. Es gab nicht vieles, auf das ich stolz war. Dafür war die Liste der Dinge, von denen ich mir wünschte, sie anders gemacht zu haben, lang. Allen voran hätte ich weniger trinken sollen. Der Alkohol half einem beim Vergessen und Verdrängen. Ich hatte ihn für meinen treuesten Freund gehalten, meinen Seelentröster, dabei war er es, der mich in den Sog der Resignation stürzte. Jedes Mal, wenn ich mir vorgenommen hatte, etwas zu ändern, überzeugte er mich davon, wie viel leichter es war, alles beim Alten zu lassen.
Später, hatte ich mir stets gesagt. Du bist noch jung. Du hast noch genug Zeit.
Jetzt war es vorbei. Ich würde niemals die Gelegenheit bekommen, wieder Kontakt zu meinen Geschwistern aufzunehmen. Niemals würde ich ihnen oder mir selbst beweisen können, dass ich zu mehr taugte, als meine Beine für Männer zu spreizen. Tief in meinem Herzen hatte ich mich danach gesehnt, irgendwann mal dem einen zu begegnen, der mehr in mir sah. Jener, der meine Gegenwart suchte, weil meine Worte ihn auf eine Weise berührten, wie es meine Hände nicht vermochten. Vielleicht war ich ihm längst über den Weg gelaufen, ohne es auch nur zu merken. Vertrauen war ein Luxus, den ich mir nicht hatte leisten können. Es war sicherer gewesen, mein Herz in Ketten zu legen. Ich brauche niemanden, hatte ich mir eingeredet, wenn ich wieder mitbekommen hatte, wie eine Frau von ihrem Mann verlassen, betrogen oder verprügelt wurde. Genauso hatte ich Männer erlebt, die an dem Schmerz zerbrachen, ihre Frau nicht halten zu können. Einer liebte immer mehr als der andere. Das Scheitern von Beziehungen war an der Tagesordnung.
Das East End war kein Pflaster, auf dem Zuneigung gedeihen konnte – es verlangte den Menschen zu viel ab. Liebe war käuflich, wenn der Preis stimmte. Freundschaften zerbrachen an Neid oder Verrat. Es war sicherer, niemandem zu vertrauen und sich nur auf sich selbst zu verlassen.
Mein Leben erschien mir wie eine Verschwendung von Zeit, Chancen und Potenzial. Ich hatte es nie leicht gehabt, aber es gelang mir nicht, die Schuld für mein Scheitern ausschließlich bei anderen zu suchen. Auch mir wäre es möglich gewesen, etwas zu verändern, wenn ich es nur genug gewollt hätte, an diesen winzigen Funken Selbstbestimmung musste ich mich einfach klammern.
Obwohl es jetzt nicht mehr von Bedeutung war. Jack hatte mich jeder Möglichkeit beraubt, die sich für mich hätte ergeben können. Mein Tod war kein tragischer Unfall, auch nicht die Folge einer Krankheit, sondern kaltblütiger und gezielter Mord. Während ich nicht in der Lage gewesen war, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, hatte er es ausgelöscht. Seine Entscheidung, nicht meine. Niemals würde ich erfahren, ob ich nicht doch noch einen Ausweg aus diesem Elend gefunden hätte. Für immer würde ich den Stempel einer Versagerin tragen, weil ein anderer beschlossen hatte, dass ich tot mehr wert war als lebendig. Ich hatte nicht darum gebeten, von ihm für seine Armee auserkoren zu werden. Zumal mir die Methode, Frauen bis zur Unkenntlichkeit zu zerstückeln, etwas zweifelhaft für diesen vermeintlich noblen Zweck vorkam. Mir hatte der Mut gefehlt, ihn zu fragen, was er mit meinem Körper angestellt hatte.
Sein Ziel, etwas in der Gesellschaft verändern zu wollen, war ehrenhaft, aber rechtfertigte das seine Tat? War mein Leben und das der anderen Frauen ein vertretbares Opfer, sollte es der Allgemeinheit wirklich Wohlstand bringen? Ich bezweifelte das, und hätte er mich um mein Einverständnis gebeten, bevor er mir die Kehle aufschlitzte oder wie auch immer er es gemacht hatte, hätte ich es ihm in jedem Fall verweigert – dafür war ich nicht selbstlos genug. Meine Mitmenschen waren mir zwar nicht gleichgültig, doch ich war auch keine, die sich in die Angelegenheiten anderer einmischte. Alles, was ich gewollt hatte, war, über die Runden zu kommen.
Ich versuchte zu akzeptieren, dass ein unfreiwilliger Schlussstrich unter meine Geschichte gezogen worden war und sie an diesem Punkt hätte enden sollen. Alles, was von jetzt an geschehen würde, lag nicht mehr in meiner Macht.
So fühlte es sich jedoch nicht an. Weiterhin denken, reden und sich bewegen zu können, widersprach meiner Vorstellung vom Tod in jeder Weise. Woher sollte ich auch wissen, wie es war, tot zu sein? Die wenigsten Menschen starben mehrfach. Mit meinem Herzschlag war auch jegliches Hunger- oder Durstgefühl erloschen. Ich brauchte nicht einmal zu schlafen. Von allen menschlichen Bedürfnissen befreit, schien es mir leichter möglich zu sein als je zuvor, meine Existenz, in neue Bahnen zu lenken. Letztlich hielt mich nichts in London.
Ich könnte nach Irland reisen, um meine Heimat kennenzulernen, wie ich es mir schon oft vorgestellt, aber nie ernstlich in Erwägung gezogen hatte. Es war ein Traum, mit dem ich mich in dunklen Momenten tröstete, jedoch keiner, von dem ich angenommen hatte, er könnte je in Erfüllung gehen. Oft hielt die Realität der Vorstellung ohnehin nicht stand. Meine Eltern hatten nicht grundlos alles aufgegeben, was sie besessen hatten, um ins Ungewisse zu fliehen. Ich war noch zu klein gewesen, um mich an das Leid zu erinnern, das sie vertrieben hatte. Ich kannte nur die Armut, die uns in London eingehüllt hatte wie der Nebel, der durch die Gassen waberte. In meiner Fantasie spazierte ich als geheimnisvolle Fremde durch Dublin – eine Frau ohne Vergangenheit. Vielleicht würde ich die Aufmerksamkeit irgendeines wohlhabenden Lords erregen, der mich auf sein Schloss einlud, um dort mit ihm zu leben. Ich könnte noch einmal von vorn beginnen und jemand anderes sein, sogar einen neuen Namen könnte ich mir zulegen.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, durchbrach Liz meinen Gedankengang und deutete auf den Platz neben mir auf der abgenutzten Couch, die in einem Hinterzimmer des Handwarenladens stand. Gewiss stank die ganze Bude nach Schimmel, doch ich konnte es nicht mehr riechen. Genauso wenig spürte ich die Kälte, die in den Räumen herrschen musste. Nicht einmal mein Atem kondensierte in der Luft. Er war genauso kalt wie mein Herz – der einzige Hinweis darauf, dass etwas mit mir nicht stimmte.
»Natürlich«, erwiderte ich. »Gehört mir schließlich nicht.« Ich versuchte mich an einem schiefen Grinsen, spürte aber, wie es misslang. Meine Miene glich vermutlich eher einer Grimasse. Genau genommen gehörte mir nun gar nichts mehr, auch wenn das keinen großen Verlust darstellte, da ich zuvor schon kaum etwas besessen hatte.
Liz ließ sich neben mir nieder und lächelte mich mitfühlend an. »Ist hart am Anfang«, räumte sie ein. »Wie kommst du zurecht?« Einzelne Strähnen ihres braunen Haares hatten sich aus dem Knoten gelöst, den sie im Nacken trug, und fielen ihr ins Gesicht. Sie wirkte durchweg menschlich, dabei war sie genauso tot wie ich.
Ratlos zuckte ich mit den Schultern. Was sollte ich darauf antworten? Innerhalb einer Nacht war ich buchstäblich aus meinem Leben gerissen worden, und trotzdem fühlte ich mich kein Stück anders als zuvor. »Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, was euch hier hält«, gab ich zu und wählte meine folgenden Worte mit Bedacht, um Liz nicht zu kränken. »Jack sprach von der großen Macht, die er uns hat zuteilwerden lassen, stattdessen sitzen wir in dieser Bruchbude, obwohl uns doch alle Türen offen stehen sollten. Das erscheint mir nicht unbedingt wie eine Verbesserung zu meinem vorherigen Leben. Da konnte ich wenigstens selbst darüber bestimmen, wohin ich gehe.«
Liz blieb von meinen Worten unberührt. »Wohin sollten wir denn sonst gehen?«, fragte sie mich ausdruckslos, als hätte sie mit ihrem Tod auch all ihre Ambitionen verloren.
»Ich weiß nicht, doch es gibt viele bessere Orte als diesen.« Ich lachte ungläubig auf. »Gab es in deinem Leben nichts, was du gern getan oder gesehen hättest, aber nicht die Möglichkeit dazu hattest? Wäre jetzt nicht der ideale Zeitpunkt, um das nachzuholen? Du könntest irgendwohin gehen, wo dich niemand kennt, und alles anders machen. Welchen Vorteil hat es sonst, eine lebende Tote zu sein, wenn wir uns nur wie Ratten verstecken?«
Wissend nickte Liz, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie das hörte. »Diese Phase haben wir alle durchgemacht. Du trauerst um das Leben, das dir genommen wurde, so armselig es auch gewesen sein muss, und verleugnest deshalb deinen Tod. Du kannst nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Zwar siehst du aus wie ein Mensch, aber in deiner Brust schlägt kein Herz. Das macht einen Unterschied, und wenn du das begreifst, wirst du erst einmal wütend auf alles und jeden sein.« Sie senkte ihre Stimme und warf einen verstohlenen Blick zur offen stehenden Tür, als wollte sie sichergehen, dass uns niemand hörte. »Manch eine von uns kommt über diese Phase nicht hinaus, so wie Polly, obwohl sie die Erste war, die Jack sich geschnappt hat. Seit einer Weile zieht sie jede Nacht los und übt Rache.«
Ein betrübter Ausdruck glitt über ihr Gesicht.
»Ihr redet alle von Rache und ausgleichender Gerechtigkeit, aber ich sehe keine Genugtuung darin, anderen wehzutun. Ist Gewalt das Einzige, was dieses Leben für mich bereithält?« Meine Stimme überschlug sich beinahe vor Enttäuschung. Ich fühlte mich in eine Rolle gedrängt, die nicht zu mir passte.
»Natürlich nicht«, versuchte Liz mich zu beruhigen und legte tröstend ihre Hand über meine, die ich ihr jedoch sofort entzog. Wir mochten uns in der gleichen Situation befinden, trotzdem war sie eine Fremde für mich. Ich kannte sie nicht gut genug, um sie einschätzen zu können. Gerade kam sie mir wie jemand vor, der mich zu etwas überreden wollte, was ich ablehnte. »Wenn du es schaffst, die Wut hinter dir zu lassen – und behaupte nicht, du würdest keine empfinden, das tun wir alle –, wirst du die Schuld für das, was dir widerfahren ist, bei dir selbst suchen.« Ein tiefes Seufzen entfuhr ihrer Kehle, und sie schüttelte bedeutsam den Kopf. »Das ist sinnlos, weil es nichts ändert. Sobald du einsiehst, dass es für dich kein Zurück gibt, fällst du in ein großes schwarzes Loch, aus dem es schwer ist wieder rauszukommen. Alles wird dir bedeutungslos erscheinen.«
Ich bezweifelte nicht, dass sie mir das erzählte, um mir zu helfen. Liz wirkte aufrichtig, aber auch wie jemand, der sich zu schnell ein Urteil über andere bildete. Ihre persönliche Erfahrung musste sich nicht mit meiner decken. »Und in welcher Phase befindest du dich?«, hakte ich herausfordernd nach.
Mein Konter schien ihr zu imponieren, denn sie verzog ihre Lippen zu einem Schmunzeln. »Ich akzeptiere, dass ich mein altes Leben nicht zurückbekommen kann, und versuche das Beste aus dem zu machen, was ich jetzt habe. Das ist alles.«
Argwöhnisch hob ich die Augenbrauen. Ich wusste kaum etwas über Liz, sie wirkte auf mich jedoch nicht wie jemand, der sich leicht mit etwas zufriedengab. Im Kreis der Frauen hatte ich sie als Rebellin wahrgenommen – eine toughe Persönlichkeit, die nicht mit ihrer Meinung zurückhielt, nicht einmal dann, wenn sie damit aneckte. »Und wie sieht das Beste aus?«
»Ich habe aufgehört, Erwartungen an mich selbst und andere zu stellen, sondern nehme jeden Tag, wie er kommt.«
»Du meinst, du hast aufgegeben«, stieß ich hervor, ehe ich mich bremsen konnte. Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich die Worte augenblicklich zurückgenommen. »Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen sollen.«
Erst starrte Liz mich staunend an, dann brach ein lautes Lachen aus ihr hervor. Es war ein schönes Geräusch. Eines, von dem ich nicht erwartet hätte, es an einem Ort wie diesem zu vernehmen. Es kam aus ihrem Bauch – ungezwungen und ehrlich.
»Schon gut«, winkte sie unbeschwert ab. »Ich mag deine direkte Art. Du wirst für eine willkommene Abwechslung in der Gruppe sorgen.« Sie tätschelte meine Hand, obwohl ich ihre Berührung zuvor so schroff abgewiesen hatte. Offensichtlich nahm sie mir das genauso wenig übel wie meine Worte.
Versöhnlich erwiderte ich ihr Lächeln. Wenn wir uns früher kennengelernt hätten, dann hätten wir vielleicht Freundinnen werden können – auf einer oberflächlichen Ebene, denn mehr ließ ich selten zu. Dafür war es zu spät. Meine Sympathie für sie reichte nicht aus, um mich umzustimmen. Ich wollte mehr vom Leben und war nicht bereit, all das, was sein könnte, aufzugeben, wenn ich gar nicht wirklich tot war. Ich hatte zwei funktionierende Beine, demnach gab es nichts, was mich davon abhalten könnte, durch die morsche Tür des Handwarenladens zu marschieren und dem dreckigen East End, nein, ganz London den Rücken zuzukehren. Das sagte ich Liz aber nicht, denn ich wollte mir einen Versuch ihrerseits ersparen, mich umzustimmen. Zudem fürchtete ich, sie könnte Jack über mein Vorhaben informieren. Zwar hatte er mir nicht verboten, die Stadt zu verlassen, jedoch hatte er bei mir den Eindruck hinterlassen, als würde er Besitzansprüche auf jede Einzelne von uns erheben. Er bezeichnete sich selbst als unser Meister. Jener, der uns erschaffen hatte. Gewiss würde es ihm nicht gefallen, wenn einer seiner Racheengel die Flügel ausbreitete, um ihm davonzufliegen.
»Ich bin doch keine Gefangene, oder?«, erkundigte ich mich scherzhaft bei Liz. »Demnach spricht sicher nichts gegen einen Spaziergang.«
»Nein, du solltest nur einen großen Bogen um die Gegend machen, in der du dich früher bewegt hast. Der Mord an dir ist noch nicht lange her, und deine Leiche wurde vielleicht noch nicht einmal entdeckt. Sollte dich jemand sehen, der dich kennt, könnte das zu Verwirrung führen.«
»Keine Sorge, ich hatte ohnehin nicht vor, in dieses Rattenloch zurückzukehren«, log ich leichthin. Tatsächlich musste ich ein letztes Mal in mein altes Viertel zurückkehren, um an Geld zu gelangen. Eine Überfahrt nach Irland war immerhin nicht kostenlos. Als echter Geist, der durch Wände gehen und sich unsichtbar zwischen den Menschen bewegen konnte, hätte nicht einmal das ein Hindernis für mich dargestellt. Gefangen in einer Existenz, die sich weder den Toten noch den Lebenden zuordnen ließ, unterlag sogar ich gewissen Beschränkungen.
»Ich könnte dich begleiten«, schlug Liz vor und machte Anstalten, sich von der alten Couch zu erheben.
Schnell lehnte ich mit einer abwehrenden Handbewegung ab. »Das ist sehr fürsorglich von dir, aber nicht nötig. Bitte sei mir nicht böse, ich brauche gerade etwas Zeit für mich. Es gibt einiges, was ich erst einmal verkraften muss. Allein.«
Beschwichtigend hob Liz die Hände. »Schon gut, ich verstehe das. Ich bin auch niemand, der Trost in den Armen eines anderen findet, sondern mache die Dinge lieber mit mir selbst aus.« Wieder lächelte sie mich an, und es tat mir fast leid, sie zu hintergehen. »Solltest du doch jemanden zum Reden brauchen, weißt du, wo du mich findest.« Sie nahm ihr Wolltuch ab und legte es mir um den Kopf. »Nur zur Sicherheit, damit dich niemand erkennt.« Behutsam steckte sie mein rotes, widerspenstiges Haar zurück. Mit den Fingerspitzen streifte sie dabei sanft meine Wange. Bevor sie ging, klopfte sie mir noch kurz auf die Schulter, als wollte sie mir Mut zusprechen. Sie schien eine nette Person zu sein, die es nicht verdiente, belogen zu werden. Trotzdem vertraute ich ihr nicht genug, um sie einzuweihen.
Die Gewissensbisse ignorierend, trat ich hinaus auf die Dorset Street und atmete tief die von Dämpfen der Fabriken verpestete Luft ein. Meine Lunge, sollte ich noch eine haben, war immun gegen jedes Gift. Die Morgensonne blitzte hinter den grauen Wolken hervor und hüllte die Trostlosigkeit des East End in einen unwirklichen Glanz. Die schlammigen Pfützen zwischen den Pflastersteinen reflektierten das Licht und schimmerten wie flüssiges Gold. Der Anblick bot eine ungewohnte Schönheit in all dem Elend. Vielleicht bot diese Existenz für mich wirklich eine Chance, und ich war nicht bereit, mir diese von Jack verwehren zu lassen, nachdem er mir schon mein Leben genommen hatte. Genauso wenig, wie er mich um Erlaubnis gebeten hatte, würde ich nun meine Entscheidung von seiner Zustimmung abhängig machen. Ich gehörte ihm nicht!
Meine wehmütigen Gedanken abschüttelnd zog ich das Tuch etwas tiefer in mein Gesicht und eilte die Straße entlang. Lang genug nannte ich das East End schon mein Zuhause, um mich nahezu blind zurechtfinden zu können. Geschickt wich ich den mir entgegenkommenden Passanten aus und hielt den Kopf gesenkt, um nicht Gefahr zu laufen, jemandem zu begegnen, den ich kannte. Zugleich versuchte ich die Stimmung zu erspüren, in der sich die Leute befanden. Waren sie aufgeregt? Nach dem Fund eines neuen Opfers des Rippers hatte stets eine nervöse Unruhe in der Luft gelegen. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell in Whitechapel. Sie lenkten die Bewohner für kurze Zeit von ihren eigenen Problemen ab. Ich hielt Ausschau nach tratschenden Grüppchen, doch alles wirkte ruhig – sofern man im East End von Ruhe sprechen konnte. Irgendwo passierte immer irgendetwas.
Schnell schlüpfte ich in die Schneiderstube, die ich als mein Ziel auserkoren hatte. Eine kleine Glocke über der Tür verriet mein Eindringen und ließ mich zusammenzucken, so vertraut mir ihr Klang auch war. Ich hob den Blick und seufzte vor Erleichterung, als ich Maurice hinter dem Verkaufstresen entdeckte. Es lag ein argwöhnischer Ausdruck in seinen Augen angesichts meines Verhaltens. Ich streifte mir das Wolltuch von den Haaren und konnte beobachten, wie er sichtbar ausatmete. Kurz hatte ich gefürchtet, er habe schon von dem Mord an mir gehört, aber seine Skepsis beruhte lediglich darauf, dass er mich nicht erkannt hatte.
»Mary«, begrüßte er mich nun mit einem Lächeln. »Welch unerwarteter Besuch! Was treibt dich so früh zu mir? Für gewöhnlich bekommt man dich doch nicht vor dem Nachmittag zu Gesicht!«
Mir war nicht nach Scherzen zumute. Mit wenigen Schritten überbrückte ich die Distanz zu ihm. »Ich stecke in Schwierigkeiten. Bitte hilf mir, Maurice«, flehte ich ihn an.
Unsere erste Begegnung lag etwa ein Jahr zurück. Ich hatte selten einen schüchterneren Mann als ihn erlebt. Er hatte mir kaum in die Augen sehen können, als er mich in einem Pub auf ein Getränk einlud. Sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf, hatte er mir schon zu Beginn unseres Gesprächs gestanden und mir von seiner Frau erzählt, die vor wenigen Monaten an einer Lungenentzündung gestorben war. Nie zuvor hatte er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen, doch seine Trauer und seine Verzweiflung trieben ihn in den Wahnsinn. Er wollte seine Frau nicht vergessen, aber er musste einen Weg finden, um ohne sie weiterleben zu können.
Nach unserer ersten Vereinigung brach er in Tränen aus, weil er seine Schuldgefühle kaum aushielt. Ich versicherte ihm, dass die Liebe für seine Frau nicht durch unsere Zusammenkunft gemindert wurde, danach hielt ich ihn bis in die frühen Morgenstunden in den Armen. Von da an trafen wir uns regelmäßig. Nicht jedes Mal kam es zum Geschlechtsverkehr. Manchmal brauchte er nur jemanden, der ihm zuhörte und ihn nicht für seine Trauer verurteilte. Im Gegenzug machte er mir kleine Geschenke: ein Paar Handschuhe, wenn er sah, dass meine Löcher hatten, einen neuen Unterrock oder warme Strümpfe. Obwohl er ein Freier war, sah ich ihn mehr als Freund. Ein Freund, der mir die Tür öffnete, wenn ich für die Nacht kein Dach über dem Kopf hatte. Ein Freund, der mich von der Straße auflas, wenn ich vor lauter Alkohol nicht mehr allein den Heimweg fand. Ein Freund, der mich zum Essen einlud, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Ich wusste, er würde mir auch jetzt helfen.
»Beruhige dich erst einmal«, bat er mich und fasste nach meinen Händen, die eiskalt waren. »Du bist völlig durch den Wind! Komm, ich mache dir einen Tee, und dann erzählst du mir, was passiert ist.«
Ich ließ mich von ihm in das ordentliche Hinterzimmer führen und auf einen weich gepolsterten Sessel drücken, während er die Ladentür abschloss, damit niemand uns störte. Danach setzte er Wasser auf, stellte ein Kännchen mit etwas Sahne auf den Tisch und ließ sich mir gegenüber nieder. Eingehend musterte er mich, als könnte er in meinem Gesicht lesen, welche Sorgen mich quälten. Er war ein Mann von Größe, wenn auch nicht von körperlicher. Obwohl ich selbst eher klein war, überragte ich ihn mit Absätzen. Er besaß etwas viel Wichtigeres: Anstand. Seine Frau musste sich glücklich geschätzt haben, ihn an ihrer Seite zu wissen, denn er war jemand, der stets sein Wort hielt und seinen Mitmenschen mit Güte begegnete. Umso schlechter fühlte ich mich dabei, seine Fürsorge auszunutzen.
»Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll«, druckste ich herum. Ich hatte mir nicht überlegt, was ich ihm erzählen sollte. Die Wahrheit kam nicht infrage – ich konnte sie ja selbst kaum glauben.
Das Pfeifen des Kessels verschaffte mir etwas Zeit. Er goss das sprudelnde Wasser auf schwarzen Tee und drehte eine Sanduhr um, die exakt drei Minuten brauchen würde, um durchzulaufen. Maurice hielt sich nicht nur bei der Anpassung eines Kleidungsstücks an jeden kleinen Fleck, sondern ging auch bei der Zubereitung eines Tees gewissenhaft vor.
Er drehte sich zu mir um. Das einfallende Morgenlicht ließ die grauen Strähnen in seinem schwarzen Haar und Bart wie Silber glänzen. »Eine Geschichte kann auf viele verschiedene Weisen beginnen, das ändert nichts an ihrem Ausgang.« Ermutigend blickte er mich über die Gläser seine Brille hinweg an. »Du hast mir schon viele Male zugehört, jetzt bin ich dran.«
Vielleicht würde er mir doch glauben. Wenn jemand dazu in der Lage wäre, dann er. Aber ich wollte ihn nicht in Gefahr bringen. Jack würde nicht vor einem Mord an einem Mann, der zu viel wusste, zurückschrecken.
»Es ist besser, je weniger zu weißt«, wies ich ihn kopfschüttelnd ab. »Ich kann dir nur so viel sagen: Es ist schlimm. So schlimm, dass ich London verlassen muss. Und zwar so schnell wie möglich.«
Bestürzt betrachtete er mich. »Vielleicht täuschst du dich und –«, setzte er an, doch ich ließ ihn nicht ausreden.
»Nein, Maurice, ich kenne mich mit gewalttätigen Männern aus und weiß, wann es besser ist unterzutauchen. Ich habe mich mit dem falschen eingelassen.« In gewisser Weise stimmte das sogar.
Er senkte betreten den Blick und knetete seine Hände. Ein anderer hätte vielleicht angeboten, sich den Übeltäter vorzunehmen, aber Maurice verfügte zum einen nicht über die nötige körperliche Ausstattung, um es mit einem anderen aufnehmen zu können, außerdem verabscheute er Gewalt, wofür ich ihn seit jeher schätzte. »Wo willst du denn hin?«
»Zurück in meine Heimat – nach Irland«, erwiderte ich, ohne zu zögern.
Das ließ ihn aufhorchen. »Das wolltest du schon lange«, erinnerte er sich und schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Offensichtlich beruhigte ihn mein Versuch, zumindest etwas Gutes aus meiner misslichen Lage zu machen.
Scheinbar in Besitz einer inneren Uhr, wandte er sich exakt in dem Moment, als das letzte Sandkorn durch die Sanduhr gelaufen war, wieder dem Tee zu und goss uns beiden eine Tasse ein. Meinen süßte er mit einem gehäuften Löffel Zucker – so wie ich ihn mochte. Er stellte das dampfende Getränk vor mir ab und bot mir zusätzlich eine Scheibe Brot mit Butter an, die ich ablehnte. Ich wollte nicht mehr von ihm nehmen, als ich brauchte.
»Leider kann ich mir die Überfahrt nicht leisten«, kam ich zum Punkt und nippte an meinem Tee. Weder schmeckte ich die Süße noch spürte ich die Hitze an meinen Lippen.
Maurice nickte wissend, als hätte er damit gerechnet. »Ich gebe dir das Geld«, erwiderte er unumwunden.
Obwohl ich auf diese Reaktion gesetzt hatte, bildete sich in meiner Kehle ein Kloß, der mir das Schlucken erschwerte. Maurice ging es als Schneider mit eigenem Geschäft zwar besser als manch anderen Bewohnern des East End, aber er war nicht reich. Er brauchte sein Geld selbst, und sei es auch nur, um neue Stoffe anschaffen zu können. Trotzdem war er bereit, mir zu helfen.
»Danke«, krächzte ich heiser und leerte den heißen Tee in einem Zug.
»Du hast es eilig«, erkannte er, erhob sich und begab sich mit wenigen Schritten zu der Geldkassette, die er unter seinem Verkaufstresen aufbewahrte. Ich hörte ihn mit den Schlüsseln rasseln. Als er zurück in das Hinterzimmer kam, reichte er mir einen prall gefüllten Münzbeutel. »Das sollte für die Überfahrt und die erste Zeit in Irland reichen. Pass bitte auf dich auf!«
Bevor ich noch in Tränen ausbrechen würde, stand ich aus dem Sessel auf, schlang meine Arme um ihn und drückte mein Gesicht gegen seine Schulter. »Du wirst mir fehlen!« Gute Menschen wie er waren selten, nicht nur im East End, sondern überall auf der Welt.
»Du mir auch, Mary! Ich hoffe, du findest dein Glück, wo immer du hingehst.« Obwohl mir nach weinen zumute war, als ich mich von ihm löste, blieben meine Augen trocken. Hab ich mit meinem Tod etwa auch die Fähigkeit verloren, Tränen zu vergießen?, fragte ich mich bestürzt, als Maurice den Laden wieder aufschloss und ich ihm ein letztes Mal zum Abschied winkte, bevor ich ihm für immer den Rücken kehrte. Jeder Schritt über das leidgetränkte Pflaster von Whitechapel fühlte sich bedeutsam an, so wie alles, was man in der Gewissheit tat, dass es das letzte Mal war. Eine letzte Mahlzeit. Ein letzter Tanz. Ein letzter Kuss.
War es für mich schon zu spät, noch mein Glück zu finden, weil ich bereits tot war?
Oder gab es sogar für mich eine Chance auf ein glückliches Ende?
Möwen zogen ihre Kreise über den grauen Himmel. Ihre Schreie gellten durch die verwinkelten Gassen des Londoner Hafenviertels. Wabernder Morgendunst dämpfte die Rufe der Fischer und Händler, die hektisch ihren Geschäften nachgingen. Streunende Katzen saßen lauernd auf Fässern, Kisten oder Dächern, darauf aus, zuzuschlagen, wenn sich die Chance auf Beute ergab. Sie waren wie Schatten, die aus der Szenerie genauso wenig wegzudenken waren wie die Prostituierten, die vor den Bordellen posierten – jederzeit bereit, Männer, die lange Zeit auf den Weiten des Ozeans verbracht hatten, mit weiblicher Gesellschaft zu beglücken.
Während ich nach dem Gebäude des Hafenmeisters Ausschau hielt, versuchte ich mich daran zu erinnern, wie ich vor mehr als zwanzig Jahren an diesem Ort ein neues Leben begonnen hatte. Welche Hoffnungen mochte mein vierjähriges Ich gehegt haben, abgesehen davon, keinen Hunger mehr leiden zu müssen? Zumindest diese Qual würde ich nie wieder erdulden müssen. Trotzdem konnte ich Jack gegenüber keine Dankbarkeit empfinden. Ich fühlte mich von ihm nicht von der Last des Lebens befreit, sondern zur Flucht gedrängt. Seine Tat machte mich zu einer Obszönität, die überall dort, wo man erkannte, was sie war, verfolgt werden würde. Was blieb mir anderes übrig, als die Ferne zu suchen?
In meine Gedanken versunken stieß ich mit einem Mädchen zusammen, das einen Bauchladen mit frischen Muscheln vor sich hertrug. Einige der Delikatessen fielen zu Boden und landeten platschend in einer schmutzigen Pfütze.
»Pass doch auf!«, fauchte die Kleine, kaum älter als zehn. »Das bezahlst du mir gefälligst!« Fordernd streckte sie mir ihre geöffnete Handfläche entgegen.
Jeder andere hätte ihr wahrscheinlich gesagt, sie solle sich davonscheren, aber die zahlreichen Münzen von Maurice in meiner Tasche machten mich großmütig. Ich hatte noch nie gut mit Geld umgehen können – eines meiner Laster. »Was schulde ich dir?«
Abschätzig musterte mich das Kind, überrascht davon, dass ich seinem Appell nachkam. »Fünf Penny«, behauptete es schließlich, ohne auch nur dabei rot zu werden. Mir war klar, das Mädchen log und nannte mir einen höheren Preis, als es für gewöhnlich einkassierte. Trotzdem versuchte ich nicht, mit ihr zu verhandeln, sondern überreichte ihr die verlangte Summe. Sie brauchte es dringender als ich.
Hastig steckte sich die Kleine die Münzen ein und nickte mir versöhnlich zu.
»Kannst du mir verraten, wo ich die Hafenmeisterei finde?«, hakte ich nach.
Sie deutete auf einen alten Fachwerkbau, der gerade nah genug war, um nicht vom Nebel verschluckt zu werden.
»Danke dir«, zeigte ich mich erkenntlich und zog weiter. Als ich mich noch einmal zu ihr umdrehte, sah ich, wie sie die Muscheln aus der Pfütze fischte und zurück in ihre Auslage legte. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, denn genauso hätte ich es auch gemacht. Wer nicht über ein gewisses Maß an Gewitztheit verfügte, überlebte im East End nicht.
Ich hatte das Gebäude, das von einem Messingschild mit einem geprägten Anker geziert wurde, fast erreicht, als sich mir plötzlich eine Frau in den Weg stellte. Ihr Gesicht war mir gänzlich unbekannt. Ich schätzte sie auf Mitte vierzig. Unter ihrem Kopftuch schaute dunkles Haar hervor. Lediglich ihre Kleidung kam mir vage bekannt vor, aber die Mode im East End war nicht derart ausgefallen, dass dies verwunderlich wäre.
»Was hast du vor? Du wirst doch nicht etwa so dumm sein und die Stadt verlassen wollen, oder?«, blaffte sie mich an. Auch ihre Stimme und die Art zu sprechen hatten etwas Vertrautes, trotzdem war es mir unmöglich, sie zuzuordnen.
»Ich wüsste nicht, was Sie das anginge«, konterte ich unbeeindruckt und wollte mich an ihr vorbeischieben.
Sie ließ mich jedoch nicht passieren, sondern hielt mich mit der Hand an der Schulter zurück. »Ich beobachte dich, seitdem du heute Morgen das Haus verlassen hast. Ich habe die Unruhe in deinem Blick gesehen und geahnt, was du vorhast. Deshalb bin ich dir nach«, behauptete sie und beugte sich bedrohlich zu mir vor. »Du hättest den Schneider nicht aufsuchen sollen. Wenn deine Leiche gefunden wird, dann wird niemand ihm glauben, dass er dich gesehen und mit dir gesprochen hat. Der arme Mann wird wie ein Wahnsinniger dastehen!« Tadelnd schnalzte sie mit der Zunge.
Fassungslos starrte ich sie an und versuchte verzweifelt zu verstehen, wie sie das alles über mich wissen konnte. Ganz gleich, wie eingehend ich ihr Gesicht auch musterte, mir wollte nicht einfallen, wo ich ihr schon einmal begegnet sein könnte. »Woher kennen Sie mich?«, stieß ich überfordert hervor.
Das Lachen der Unbekannten ließ mich erschaudern. Es war kalt und gehässig, wie ich es bisher nur einmal vernommen hatte. »Ich bin es, Mary! Komm schon, sieh genau hin!«, forderte sie mich auf, und ihre Gesichtszüge begannen vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich glaubte, mich täuschen zu müssen, und blinzelte heftig. Ihre Nase verformte sich weiterhin, ebenso wie ihre Stirn, die Lippen und ihr Kinn – bis schließlich eine andere vor mir stand. Polly. Ihr Körper hatte sich genauso wenig verändert wie ihre Kleidung, nur ihr Gesicht war nicht wiederzuerkennen.
Verwirrt wich ich vor ihr zurück. »Was ist das für ein Zauber? Wie ist das möglich?«
»Das ist nur ein kleiner Teil der Magie, die Jack uns zum Geschenk gemacht hat«, säuselte sie und zog mich dicht zu sich heran. »Alles, was er dafür von uns erwartet, ist unsere Hilfe dabei, seine Pläne zu verwirklichen.« Eine unausgesprochene Drohung schwang in ihren Worten mit.
Ich war nicht bereit, mich von ihr oder Jack einschüchtern zu lassen. Entschieden wehrte ich sie ab. »Ich habe um nichts davon gebeten. Wenn er sich mehr von mir erhofft hat, hätte er sich meiner Zustimmung versichern sollen, bevor er mich umbrachte. Weder er noch du ihr könnt mich nicht davon abhalten, London zu verlassen!«
Spöttisch grinste mich Polly an und schüttelte den Kopf. »Ich bedauere, dich deiner Illusion berauben zu müssen, aber das kannst du nicht.«
Ich versteifte mich und verschränkte meine Arme vor der Brust. »Was willst du dagegen unternehmen?«, forderte ich sie mit gerunzelter Stirn heraus.
»Nichts«, erwiderte sie ruhig, ungerührt von meiner Provokation. »Jack hat für einen Fall wie diesen vorgesorgt. Keine von uns kann London verlassen. Wir sind an diese Stadt ebenso wie an ihn gebunden.«
Bestürzt musterte ich sie. Wenn das der Wahrheit entsprach, warum klang sie dann weder enttäuscht noch verärgert? Es konnte doch wohl nicht in ihrem Interesse sein, von jemandem gefangen gehalten zu werden, oder? Was war mit der Freiheit, die Jack uns versprochen hatte?
»Was sollte mich denn daran hindern?«, verlangte ich von ihr zu erfahren. Ich bemühte mich um Stärke, doch ein kaum merkliches Beben in meiner Stimme verriet meine Angst.
»Besteig ruhig ein Schiff«, forderte sie mich auf, wobei ihre dunklen Augen wie Kohleklumpen funkelten – hart und kalt. »Sobald du den Hafen verlässt, wird dein Körper erlöschen wie eine Kerze im Wind. Von dir bleibt nicht mehr als eine ruhelose Seele, auf alle Ewigkeit dazu verdammt, umherzuirren, ohne irgendjemand erreichen zu können. Der einzige Ort, an dem du existieren kannst, ist London. Bei Jack.«
Widerwillig schüttelte ich den Kopf. »Nein! Ich weigere mich, das zu glauben. Das sagst du nur, damit ich bleibe. Sonst hätte Liz mich davor gewarnt!«
Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. »Liz hat dir auch nicht von unserer Fähigkeit, unser Gesicht zu verbergen, erzählt, oder? Warum sollte sie auch, wenn sie davon ausgeht, dass du nur einen kleinen Spaziergang unternehmen willst, wie du ihr gegenüber behauptet hast?« Wie um ihren Worten Wirkung zu verleihen, ließ sie erneut ihre Gesichtszüge verschwimmen. Mir wurde schwindelig vom Zusehen – es war, als hätte ich einen Sehfehler. Blinzelnd kämpfte ich gegen das Pochen in meinem Schädel an. Die Verwandlung dauerte nur wenige Sekunden, dann stand Polly mir erneut als Fremde gegenüber. »Du bist es, die gelogen hat, nicht ich«, fuhr sie fort und seufzte in geheuchelter Resignation auf. »Nur zu, probiere es aus, aber beklag dich später nicht bei mir, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Oh, die Gefahr besteht nicht, wenn ich danach ein Geist bin«, widersprach ich ihr scharfzüngig. »Wie sollte ich da Kontakt zu dir aufnehmen?«
Kummer vertrieb die Arroganz aus ihrer Miene. »Wir sind alle Geister, Mary. Geister in menschlichen Hüllen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Privileg. Für die anderen«, sie machte eine um sich greifende Handbewegung, »mögen wir wie ihresgleichen erscheinen, aber wir teilen nicht mehr ihre Nöte und Sorgen. Jack hat uns zu einer höheren Existenz berufen. Es ist unsere Bestimmung, ihm zu dienen.« Eine Ehrfurcht, die einen nur schwer unterdrückbaren Würgereiz in meiner Kehle auslöste, schwang in ihrer Stimme mit. Trotzdem lag nun ein versöhnlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie mir geradezu fürsorglich über den Arm strich. »Komm mit mir zurück! Sei nicht töricht und wirf dein neues Leben weg.«
Obwohl ich es nicht wahrhaben wollte, begann ich ihr zu glauben. Polly hatte keinen Grund, mich zu belügen, denn letztlich war ihr gleichgültig, ob ich meine körperliche Präsenz verlor. Wir kannten einander kaum, und ihr lag nichts an mir. Alles, was sie wollte, war, mir eine Chance zu geben.
»Das ist kein Leben«, klagte ich verunsichert.
»Nein«, pflichtete sie mir bei. »Es ist besser als das. Lass mich dir all die Vorteile zeigen, die dein Dasein als Untote mit sich bringt. Ich versichere dir, danach wirst du Jack nicht mehr von der Seite weichen wollen.«
Daran hegte ich große Zweifel, aber sie strahlte mich derart euphorisch an, dass es mir schwerfiel, nicht zu lachen.
»In Ordnung«, willigte ich zu ihrer Zufriedenheit ein. Wenn mir die Ewigkeit blieb, hatte ich es schließlich nicht eilig.
* * *
»Seht mal, wen ich am Hafen erwischt habe!«, rief Polly, als wir in das Versteck in der Dorset Street zurückkehrten. Sie präsentierte mich den anderen, die sich in der Stube aufhielten, wie einen entlaufenen Welpen. Fehlte nur noch, dass sie mich am Nacken packte und von sich hielt.
»Am Hafen?«, wiederholte Liz mit gerunzelter Stirn und sah von ihren Spielkarten auf. »Was wolltest du denn da?«
Ich schämte mich dafür, sie belogen zu haben, nachdem sie sich fürsorglich um mich gekümmert hatte. Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, nahm Polly mir das auch schon ab.
»Na, abhauen!«, verkündete sie wie selbstverständlich, wobei der Hauch einer Anklage in ihrer rauen Stimme mitschwang. Sie warf mir einen tadelnden Blick zu und schüttelte den Kopf.
Für einen Moment flackerte Enttäuschung in Liz’ Miene auf. Obwohl sie nichts sagte, konnte ich ihr ansehen, wie sie sich fragte, warum ich nicht ehrlich zu ihr gewesen war.
»Kleine, das geht nicht«, seufzte Annie bedauernd. Sie verriet mir damit nichts Neues, aber an der Art, wie sie mich betrachtete, voller Mitgefühl, glaubte ich zu erkennen, dass sie selbst auch schon auf die Idee gekommen war.
Ich sah zu Catherine, die mit einem Buch auf der Couch saß und bisher nichts gesagt hatte. Als sich unsere Blicke trafen, sah sie schnell wieder auf die beschriebenen Seiten. Hielt sie ihre Meinung absichtlich zurück oder war sie nur schüchtern?
»Fast am schlimmsten ist, dass sie mit diesem hübschen Gesicht«, Polly legte beide Hände an meine Wangen und drückte sie zusammen, wodurch meine Lippen zu einem Fischmund geformt wurden, »dort draußen rummarschiert ist. Es ist an der Zeit, ihr das Wunder der Wandlung beizubringen, Ladys!«
»Ich liebe diesen Part!« Liz legte die Karten flach auf den Tisch. Ihre Enttäuschung ließ sie sich nicht länger anmerken. »Komm, setz dich zu uns!« Einladend klopfte sie auf den freien Stuhl zwischen Annie und sich.
Zögerlich kam ich ihrer Aufforderung nach und ließ mich nieder, während sich auch Polly und Catherine zu uns gesellten.
»Zeigen wir ihr, was wir können«, schlug Liz gut gelaunt vor. »Erschreck bitte nicht, wenn dir gleich vier Fremde gegenübersitzen.« Sie zwinkerte mir schelmisch zu, ehe sie die Augen schloss, tief einatmete und ihre Gesichtszüge zu zucken begannen. Ihre Haut schien sich in eine bewegliche Masse zu verwandeln, die sich vor meinen Augen verformte. Ich ertrug es kaum, dabei zuzusehen, so schnell geschah alles. Hier ging etwas vor, was nicht möglich sein sollte, und mein Verstand weigerte sich, das zu akzeptieren.
Schnell sah ich von Liz zu Annie und zuckte erschrocken zurück, als ich mich neben einer mir gänzlich unbekannten Person wiederfand. Unter ihrer weißen Haube schaute zwar noch Annies grau-braunes gelocktes Haar hervor, doch ihr Gesicht war nicht wiederzuerkennen. Es hatte nicht einmal mehr dieselbe runde Form, sondern zeichnete sich durch ein spitzes Kinn aus. Eine prägnante Nase hob sich aus der Mitte hervor. Zahlreiche Falten und Altersflecken, die zuvor noch nicht so stark ausgeprägt gewesen waren, rahmten ihre Augen ein und ließen sie bestimmt zehn Jahre älter wirken. Nur ihre grauen Iriden waren gleich geblieben, wenn ich mich nicht täuschte.
Verwirrt ließ ich den Blick an ihr hinabgleiten und stellte fest: Die Veränderung betraf ausschließlich ihr Gesicht. Ich wandte mich von ihr ab und sah zu den anderen, die zwar alle noch dieselben Frisuren und Kleider trugen, aber deren Gesichter mir fremd waren.
»Das … das ist unglaublich«, stieß ich stammelnd hervor, was Polly ein zufriedenes Lachen entlockte.
»Das ist Magie!«, konterte sie grinsend und vollführte eine ausladende Bewegung mit ihren Armen, als handelte es sich um ein gut einstudiertes Kunststück. Im Gegensatz zu Annie hatte sie ihr neues Gesicht etwas jünger gestaltet, als sie mit ihren etwas über vierzig eigentlich war. Verbarg sich dahinter eine Spur Eitelkeit?
»Und ihr könnt euren Gesichtern jede beliebige Form verleihen?«, hakte ich beeindruckt nach.
»Wir«, verbesserte mich Liz und schenkte mir ein Lächeln. »Wir können das! Du bist jetzt eine von uns.«
»Keine Sorge, es ist ganz einfach«, versicherte Polly mir selbstgefällig. »Nicht wahr, Catherine?« Sie stieß die zierliche junge Frau mit dem Ellbogen an. Sie war etwa einen Monat vor mir von Jack ermordet worden.
Verlegen nickte Catherine. »Es ist eine reine Willensfrage«, bestätigte sie. »Unsere Körper funktionieren jetzt anders.«
Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, ich bräuchte nur die Augen zu schließen und könnte mir ein anderes Gesicht wie eine Maske überstreifen, aber genau das hatte ich gerade mitangesehen. Trotzdem gab es noch einige Dinge, die ich nicht verstand. »Was ist mit den Haaren und dem Rest des Körpers? Können wir diese auch verändern?« Vielleicht hatten sie die Wandlung möglichst einfach halten wollen und deshalb die Veränderung ausschließlich auf ihre Gesichter bezogen.