Jägerstein - Rolf Sakulowski - E-Book

Jägerstein E-Book

Rolf Sakulowski

5,0

Beschreibung

Ein alter Aberglaube – ein junger Historiker. Und ein geheimnisvoller Schütze, der nie danebenschießt. Packend und bildgewaltig Im Thüringer Wald wird ein Erfurter Investor Opfer eines Heckenschützen. Als sich herausstellt, dass die tödliche Kugel aus dem Blei eines gestohlenen Kirchenkreuzes gegossen wurde, ist der junge Historiker Jonas Wiesenburg gefragt. Denn die Indizien erinnern an die jahrhundertealte Legende von den sogenannten Freikugeln, die um Mitternacht im Pakt mit dem Teufel gegossen werden und die ihr Ziel niemals verfehlen. Doch die Zeit drängt: Der Täter schlägt erneut zu, und schnell wird klar, dass niemand vor ihm sicher ist …

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Seitenzahl: 623

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Nach einer Assistenzzeit im ehemaligen DEFA-Studio für Dokumentarfilme studierte Rolf Sakulowski an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg. Seit mehr als zwanzig Jahren dreht der erfahrene Regisseur und Autor Filme im In- und Ausland. Daneben gibt er Filmseminare und arbeitet zu Themen polizeilicher Krisenintervention. www.sakulowski.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: zacariasdamata/depositphotos.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susanne Bartel

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-611-1

Thüringen Krimi

Originalausgabe

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Prolog

Der Wald besaß nichts Freundliches mehr. Nachdem das letzte Dämmerlicht der unerbittlichen Schwärze der Nacht gewichen war, hatte ein seltsamer Wandel eingesetzt. Seit Tagen herrschte fast völlige Windstille, aber vor einer halben Stunde war unvermittelt eine launische Brise aufgekommen, die mehr und mehr an Stärke gewann und die Wipfel der Bäume mit düsterem Rauschen erfüllte. Der Vollmond, der sich bis eben noch am Firmament gezeigt hatte, verschwand hinter einer dichten Wolkenwand. Etwas Unheimliches lag über dem abgelegenen Gebirgsforst.

Obwohl sich um diese Zeit kein vernünftiger Mensch mehr in die unwegsame Gegend wagte, ließ sich jetzt das Geräusch schabender Stiefelsohlen vernehmen. Vorsichtig, Schritt für Schritt, bewegte sich eine einsame Gestalt durch das Dickicht, die dunkle Wetterjacke bis zum letzten Knopf geschlossen und den Taschenlampenstrahl fest auf den engen Bergpfad gerichtet. Ein ausgebeulter Rucksack schmiegte sich schwer an den Körper, und eine Kapuze verhüllte den Kopf wie bei einem Mönch.

Schwankend streifte der schmale Lichtkegel über den Waldboden und fiel auf eine Stelle, an welcher der Weg einen scharfen Knick nach rechts beschrieb und steil abwärts führte. Der menschliche Schatten verharrte, und die Augen, die aus der Kapuzenöffnung hervorblickten, flackerten furchtsam.

Das war der Zugang.

Von hier aus ging es hinunter in die enge Talschlucht, die von den Bewohnern dieses Landstriches respektvoll »die Hölle« genannt wurde. Schon bei Tage schwer begehbar, war in der Nacht ein Abstieg ein riskantes Unterfangen. Aber es musste sein. Nur dort unten, so weit entfernt wie nur möglich von jeglicher Ansiedlung, konnte der Plan gelingen. Während ein langes Donnergrollen eine weitere Wetterverschlechterung ankündigte, riss sich die Gestalt aus ihrer Erstarrung und begann, den Hang hinabzuklettern.

Links und rechts ragten zerklüftete Felsen aus dem Wald und bildeten einen engen Korridor, der das bläuliche Lampenlicht wie ein schwarzer Schlund verschluckte. Loses Geröll machte jeden Tritt zu einem Wagnis, und freigespülte Wurzeln wanden sich wie riesige Finger über den engen Steig. In einem stetigen Wechsel aus Vorwärtstasten und Innehalten arbeitete sich die Gestalt immer tiefer in die Schlucht hinab.

Als ein gewaltiger Blitz über den Wolkenhimmel zuckte, dem fast augenblicklich ein lauter Donnerschlag folgte, geriet oberhalb des Weges etwas in Bewegung. Im Strahl der hektisch herumgerissenen Lampe brach eine Rotte Wildschweine durch das Unterholz und flüchtete zurück ins Dunkel. Im selben Moment lösten sich verwitterte Steinbrocken aus der Bergwand und rauschten als unaufhaltbare Lawine von oben herab. Nur Augenblicke später schlugen sie überall wie scharfkantige Geschosse ein. Obwohl sich der Eindringling sofort hinter eine nahe stehende Fichte warf, traf ein walnussgroßer Brocken seine vorgestreckte Hand und riss die Taschenlampe mit sich in die Tiefe. Der Strahl torkelte ins Nichts.

Es dauerte eine Weile, bis das nachrollende Gestein zum Stillstand gekommen war. Vorsichtig schob sich der menschliche Schatten hinter dem Baumstamm hervor, den Blick suchend auf die Umgebung gerichtet. Doch ringsum gab es nur undurchdringliche Finsternis und das Rauschen des Windes.

Der sehnige Körper sank kraftlos in sich zusammen. Sollte der beschwerliche Marsch auf diese Weise enden, der Plan schon zu Beginn so kläglich scheitern? Das konnte, das durfte nicht sein! Die Zeit wurde langsam knapp.

Die Augen unter der Kapuze spähten noch einmal in die Richtung, in die der Hohlpfad weiterverlief. Und tatsächlich – etwa fünfzig Meter tiefer ließ sich ein schwacher bläulicher Schein erahnen. Das konnte keine Täuschung sein! Die Taschenlampe hatte den Fall unbeschadet überstanden und war zum Liegen gekommen.

Obwohl die Entfernung nicht sehr groß war, dauerte es fast eine halbe Stunde, bis die Gestalt die Lampe erreichte. Dicht am Boden, auf allen vieren, arbeitete sie sich Handbreit um Handbreit voran. Dann, endlich, war der Grund des Tales erreicht. Auf beiden Seiten wuchsen bizarre Felssäulen empor, die sich zu einem kleinen Platz öffneten. Irgendwo im Dunkel gurgelte ein Gebirgsbach. In diesem Moment strich der Widerschein eines Blitzes über die Senke, begleitet von einem markerschütternden Donner. Für ein oder zwei Sekunden war zu erkennen, dass der Pfad hier einen anderen kreuzte. Genau im Schnittpunkt der beiden lag die brennende Taschenlampe.

Es war der richtige Ort, daran konnte kein Zweifel bestehen. Das Wegekreuz mit den markanten Felsen war leicht wiederzuerkennen. Nur wirkte jetzt, wo es Nacht war, alles viel bedrohlicher als im Tageslicht. Erschöpft ließ sich die Person auf den Boden sinken, griff in die Seitentasche der Wetterjacke, fischte ein Smartphone heraus und blickte auf die leuchtenden Ziffern der Zeitanzeige. Nur noch vierzig Minuten bis Mitternacht. Fast zu spät. Und das Gewitter wollte einfach nicht weiterziehen.

Eilig öffnete die Schattengestalt den mitgebrachten Rucksack und zog einen kleinen Klappspaten hervor. Im Licht der zurückgewonnenen Taschenlampe stieß sie das stählerne Blatt wieder und wieder in das Erdreich. Es dauerte nicht lange, und sie hatte eine steilwandige Vertiefung von der Größe eines Eimers ausgehoben. Mit der gleichen Eile raffte sie Reisig und trockene Äste zusammen und schichtete das Holz kegelförmig in die Erdgrube. Dann blitzte in der fahlen Hand der Gestalt ein Sturmfeuerzeug auf, und wenig später loderte ein Feuer im Erdloch. Das Ganze hatte keine Viertelstunde gedauert, trotzdem warf die verhüllte Person einen unruhigen Blick auf die Uhr ihres Mobiltelefons. Anschließend zog sie eine abgegriffene Werkzeugrolle aus dem Rucksack und wickelte sie neben dem Feuer auseinander. Die Instrumente, die dabei zum Vorschein kamen, glänzten matt und metallisch im pulsierenden Widerschein des Feuers. Die Gestalt wählte einen kleinen eisernen Schmelztiegel aus und stellte ihn sorgsam vor sich auf den Boden. Nachdem sie ein Leinensäckchen geöffnet hatte, ließ sie ein Dutzend schartiger Bleistücke in den Tiegel gleiten, hob ein unscheinbares Blechröhrchen über das runde Gefäß und schüttete seinen Inhalt behutsam dazu. Es war ein grobes, kristallines Pulver, eine winzige Menge nur, aber im Spiel des flackernden Lichtes funkelten die Partikel in den unterschiedlichsten Farben.

Mit Hilfe einer Griffstange positionierte der menschliche Schatten den gefüllten Tiegel im Zentrum des Feuers und fixierte die improvisierte Konstruktion mit einem Stein. Das Flammenbündel leckte gierig an der Schale, und nur wenig später begannen die Bleistücke darin zu schmelzen. Ein Klumpen nach dem anderen löste sich auf und versank in einem silbrig glänzenden Sud.

Plötzlich sprang der Eindringling auf. Eine wichtige Vorbereitung war noch zu treffen. Sie hatte nichts mit dem Schmelzprozess zu tun, diente ausschließlich dem eigenen Schutz. Die verhüllte Gestalt griff nach dem Rucksack, schritt damit einen weiten Kreis um die Feuerstelle ab und verteilte den restlichen Inhalt auf dem Waldboden. Es klapperte dumpf, als ausgeblichene menschliche Knochen auf Gestein oder Wurzelholz trafen. Das Licht des Feuers drang nicht bis zu diesem weiten Ring vor, und so blieben die Gebeine in der Anonymität der Finsternis verborgen.

Die Gestalt kehrte zum Feuer zurück und kontrollierte die Zeit. Noch elf Minuten. Sie zog eine verbeulte leere Tabaksdose aus der Jackentasche und stellte sie geöffnet auf den Boden neben dem Feuer. Das Blei im Schmelztiegel war fast vollständig zerronnen.

Eine Bö fegte durch die Schlucht und fachte die Flammen zusätzlich an. Dann ebbte das Wüten auf einmal ab, und eine beklemmende Stille breitete sich aus. Einzig das Knistern des glühenden Holzes war noch zu vernehmen. Die Person am Feuer hob den Kopf und blickte in das Dunkel jenseits ihres Lagers. Da war doch etwas! Nichts Bestimmtes, nichts, das man greifen konnte. Oder gar sehen. Dennoch war plötzlich eine kraftvolle Präsenz auf dem kleinen Platz zwischen den Berghängen zu spüren.

Ein Rascheln ertönte, dann rollten von den Hängen kleine Steine herab. Erschrocken drehte die Gestalt ihren Kopf in Richtung des Geräuschs und hielt abrupt inne. Aus einem Spalt zwischen zwei Felsen starrte ein gelbes Augenpaar zu ihr herüber. Ein Luchs? Es hieß, dass sich die Raubkatzen in der Gegend allmählich wieder ansiedelten. Doch die Tiere galten als extrem menschenscheu. Was immer es war, es lauerte bewegungslos im Schatten, schien furchtlos zu sein, und seine Augen schimmerten herausfordernd. Plötzlich barst ein brennender Ast in der Erdgrube, und ein Funkenregen stob empor. Einen Wimpernschlag lang ließ sich die zusammengeschreckte Gestalt ablenken, und als sie den Kopf wieder hob, war das gelbe Augenpaar zwischen den Felsen verschwunden. Im selben Moment leuchtete das Display des Smartphones auf, und ein Signalton erklang.

Null Uhr. Mitternacht.

Der entscheidende Moment war gekommen.

Augenblicklich nahm die verhüllte Person den Schmelztiegel aus dem Feuer und griff mit der zweiten Hand nach einer Zange, deren sechseckiger Kopf eine konische Öffnung besaß. Dort hinein füllte sie einen Schwall von dem flüssigen Blei, setzte den Tiegel zurück über das Feuer und wartete kurz. Dann öffnete sie die Zange über der Tabaksdose, und eine murmelgroße Kugel fiel scheppernd heraus.

Jetzt musste es schnell gehen. Schon umschloss die Hand erneut den Griff des Tiegels, wieder und wieder füllte sich der Kopf der Zange, und wieder und wieder entstand eine neue Kugel.

Dann war das Blei verbraucht. Das letzte Gussstück war gerade in die Blechdose gefallen, da ertönte ein ohrenbetäubender Schlag, und auf dem Berg hinter der Feuerstelle wurde der Stamm einer Fichte von einem grellen Blitz zerrissen. Der Sturm kehrte mit aller Macht zurück und trieb die Kronen der Bäume jaulend hin und her. Am Grund der Schlucht krümmte sich die Gestalt zitternd am Boden. Der Blick unter der flatternden Kapuze war fanatisch und zugleich voller Furcht. Von ihrer Stirn rannen Bäche aus Schweiß, und es war nicht ersichtlich, ob sie von der Arbeit am Feuer oder von der abgrundtiefen Angst herrührten, die die entfesselten Naturkräfte im Herzen eines einsamen Menschen hervorzurufen vermochten.

Erste Regentropfen mischten sich in die Luft, und im Handumdrehen brach ein gewaltiger Platzregen los. Das Feuer hatte gegen das herabpeitschende Wasser keine Chance. Die letzten Flammen erloschen und damit auch das Licht in der Dunkelheit, während sich die Grube langsam mit Schlamm zu füllen begann.

Das Unwetter verlor schnell an Heftigkeit und zog schließlich ganz ab. Friedliche Ruhe erfüllte jetzt das Tal. Die Luft war frisch und kühl, und am Himmel über den Berghängen kündete ein matter Schein von dem nahenden Morgen.

Die verhüllte Person trat unter dem Felsüberhang hervor, unter den sie sich geflüchtet hatte, während sich das nächtliche Gewitter austobte. In der Hand hielt sie die Taschenlampe, die wie durch ein Wunder immer noch funktionierte.

Es wurde Zeit, den Ort zu verlassen.

Konzentriert ging sie auf die Wegekreuzung, verstaute sorgsam alle Gegenstände im Rucksack, die für den Guss notwendig gewesen waren, und schüttete die Feuergrube vollständig mit Erde zu. Dann, kurz vor dem Abmarsch, zog sie noch einmal behutsam die verbeulte Tabaksdose aus ihrer Jackentasche und öffnete sie.

Da lagen sie. Ganz und gar unscheinbar im bläulichen Licht der Lampe. Eine Handvoll matt schimmernder Kugeln.

Sieben an der Zahl. Jede einzelne erfüllte die Vorgaben.

Der Pakt war geschlossen.

Es konnte beginnen.

1

Emmy tanzte. Die Musik aus dem in die Jahre gekommenen Gettoblaster schepperte erbärmlich, aber das störte die junge Frau nicht. Unablässig hämmerten die elektronischen Beats durch den leeren Kantinenraum, der einstmals zu einem Betriebsferienheim gehört hatte und jetzt kaum mehr als eine marode Halle war. Die milchigen Fensterscheiben hatten den langen Leerstand auf wundersame Weise überstanden, aber bis auf ein paar verwaiste Stühle erinnerte nichts mehr daran, dass hier in früheren Zeiten bunte Urlauberscharen zum täglichen Wettrennen um die besten Plätze angetreten waren.

Emmy tanzte allein, und sie tat es voller Hingabe. Die Augen geschlossen, ließ sie sich vom Rhythmus treiben. Ihr schlanker Körper zuckte im Takt, und das blonde Lockenhaar flog wild um ihren Kopf. Es war ihr tägliches Ritual, mit dem sie Triumphe feierte oder Rückschläge vergaß. Im Moment waren die Triumphe selten.

Zusammen mit ihrem Freund Dominic hatte Emmy, die eigentlich Emilia Weick hieß, das ehemalige Ferienheim in einem malerischen Tal des Thüringer Waldes gekauft und damit begonnen, es zu einem Pferdehof umzubauen. Reiten war ihre gemeinsame Leidenschaft, und sie liebten die Tiere und die Ausritte durch die wilde Forstlandschaft. Das Paar hatte immer davon geträumt, ihr Hobby zum Beruf zu machen und dabei von dem boomenden Naturtourismus zu profitieren, von dem alle Welt sprach. Doch in ihrer Begeisterung für die Idee war ihnen entgangen, dass nicht hinter jeder Dornenhecke ein Dornröschenschloss wartete. Bald nach dem Kauf hatte sich herausgestellt, dass sich die leer stehenden Gebäude in einem weit erbärmlicheren Zustand befanden, als es den Anschein gehabt hatte. Das Dach des Haupthauses, eines zweistöckigen Würfels, zu dem auch die ehemalige Kantine gehörte, war undicht, und die Wände waren feucht. Und von den hölzernen Bungalows, die früher als Unterkünfte gedient hatten, war kein einziger mehr zu retten. Lediglich ein Nebenhof mit Garagen und Wirtschaftsräumen wies kaum Schäden auf. Diesen Bereich hatten Emmy und Dominic liebevoll zu einer Stallanlage umgebaut, sodass vor zwei Jahren die ersten vier Pferde eingezogen waren. Eine kleine Wohnung über der Werkstatt diente den jungen Besitzern als provisorische Unterkunft. Der Traum von einem eigenen Restaurant und einer Pension war mittlerweile in ferne Zukunft gerückt, jetzt galt es erst einmal, genügend zahlungskräftige Touristen für Reitausflüge und Kutschfahrten zu gewinnen.

Emmy drückte einen Knopf am Gettoblaster, und die Beats erstarben. Einen Moment noch lauschte sie dem Nachhall der Musik in ihrem Kopf, dann tauschte sie ihre Turnschuhe gegen klobige Gummistiefel und trat ins Freie. Sofort umfing sie die Ruhe des verträumten Tales. Entfernte Vogelstimmen drangen aus der Tiefe des Waldes. Der Geruch von Holz und Erde lag in der Luft. Es war früher Vormittag, und die verschleierte Sonne hatte noch nicht die Kraft, die feuchten Nebelschwaden in der Senke zwischen den steilen Berghängen aufzulösen.

Jetzt ganz im Arbeitsmodus, marschierte Emmy zu den Stallgebäuden hinüber. Ihr altersschwacher Transporter stand nicht an seinem Platz. Dominic war vorhin damit weggefahren. Als gelernter Tischler nahm er immer wieder kleinere Aufträge in der Umgebung an, um ihre desaströse finanzielle Situation wenigstens etwas zu verbessern. Stattdessen parkte ein fabrikneuer Geländewagen auf dem geschotterten Areal vor dem Stalleingang. Das wuchtige Fahrzeug gehörte Justus Holthoff. Der Erfurter Investor galt als Schwergewicht seiner Branche und war überall in Thüringen bekannt. Warum er sich für seine Ausritte in die spektakuläre Berglandschaft ausgerechnet ihren halb fertigen Pferdehof ausgesucht hatte, stand in den Sternen. Nicht weit entfernt gab es in Oberhof, dem berühmten Ferienort, gut etablierte Reittouristikunternehmen. Aber Justus Holthoff kam immer nur hierher – zu ihnen in ihr einsames Tal. Emmy vermutete, dass den prominenten Unternehmer die Einsamkeit reizte.

Heute war Holthoff schon am frühen Morgen aufgetaucht. Er hatte glänzende Lederstiefel und seinen schwarzen Reitmantel getragen und Emmy gebeten, Amigo zu satteln. Der kräftige schwarze Wallach war sein Favorit. Er erwartete, dass ihm das Pferd zur Verfügung stand, wann immer er hier auftauchte. Der milde Julitag war kaum richtig angebrochen, da hatte ihr wohlhabender Kunde das Gelände bereits wieder verlassen und war auf dem Rücken des Rappen im dunstigen Forst verschwunden.

Emmy hoffte, dass Dominic bald zurück sein würde. Möglichst vor Holthoff mit Amigo. Die junge Pferdewirtin wollte vermeiden, mit dem Investor allein zu sein. Denn der mochte nicht nur diesen Reiterhof, sondern auch dessen Besitzerin.

Das war Emmys zweite Baustelle. Seit Holthoff zu ihnen zum Reiten kam, musste sie sich seiner Avancen erwehren. Manchmal waren es Komplimente, manchmal kleine Aufmerksamkeiten oder scheinbar zufällige Berührungen. Nie sprach er aus, was er von ihr wollte, aber in seiner Anwesenheit fühlte sie sich auf unangenehme Weise unter Druck gesetzt. Holthoff war verheiratet, doch das schien ihn nicht zurückzuhalten. Bisher hatte sich Emmy jedes Mal mehr oder weniger charmant aus der Affäre ziehen können, achtete aber darauf, dass Dominic möglichst immer in ihrer Nähe war. Ihrem Freund etwas von den Annäherungsversuchen zu sagen wagte sie nicht. Einerseits, weil es ihr peinlich war, andererseits, weil sie schlichtweg von Holthoff abhingen. Er war einer ihrer wenigen verlässlichen Kunden, und er zahlte pünktlich. Doch Emmy wusste, dass sie mit diesem Balanceakt den Konflikt nicht löste, sondern nur vertagte. Holthoff galt als ein Mann, der bekam, was er wollte.

Emmy drückte sich an dem Geländewagen vorbei und betrat den Stall. Hinter Amigos leerer Box bog ein Seitengang ab. Hier befanden sich die Abteile, in denen ihre anderen drei Pferde gleichmütig an den Resten des Morgenfutters knabberten.

»Hi, Richard. Mach mal Platz.« Emmy schob das Türgatter zur Seite und den großen Braunen sanft aus dem Weg. »Wie sieht’s denn hier schon wieder aus? Das ist kein Pferdestall, das ist ein Saustall!« Mit gespielter Verärgerung raffte sie das Futterheu, das der Wallach in der ganzen Box verteilt hatte, wieder zu einem Haufen zusammen. Dann umfing sie seinen breiten Hals und schmiegte sich an ihn. Richard war das erste Pferd, das sie gekauft hatte, und ihr unbestrittener Liebling. Sanft tätschelte sie ihm das glänzende Fell, bis aus dem Nachbarabteil ein Schnauben zu vernehmen war.

»Nicht so ungeduldig. Ihr kommt auch noch dran.« Emmy lächelte, löste sich von Richard und liebkoste auch die übrigen beiden Pferde. Mathilda, die gutmütige alte Stute, die hier ihr Gnadenbrot erhielt, und Freddy, den etwas zu klein geratenen Apfelschimmel, der seinen geringen Wuchs durch jugendlichen Übermut wettmachte. Dann mistete Emmy alle Boxen aus. Es dauerte nicht lange; sie hatte darin seit ihrer Kindheit Routine.

Die nächste Aufgabe wartete bereits vor dem Stall. Auf einem Pferdehof hörte die Arbeit nie auf. Im Moment war es die alte Kutsche, die nach ihrem jüngsten Einsatz auf schlammigen Waldwegen einer gründlichen Reinigung bedurfte. Die junge Frau füllte Wasser in einen Blecheimer, streifte sich Arbeitshandschuhe über und verließ das Gebäude.

Die Sonne hatte sich inzwischen gänzlich verzogen, und der Nebel war deutlich stärker geworden. Emmy sah zu dem Parkplatz hinüber, auf dem nach wie vor ausschließlich Holthoffs Geländewagen stand. Hoffentlich würde Dominic bald nach Hause kommen.

Die Pferdekutsche war ganz am Rand des Grundstücks abgestellt. Emmy griff nach der schweren Gummiplane, die zum Schutz vor Regen darübergebreitet war, und wälzte sie vom Wagen. Ein Schwarm Vögel stob kreischend aus den Wipfeln der umstehenden Fichten, als die Abdeckung lautstark auf den Boden rutschte.

Dann kehrte die Stille zurück. Emmy fiel auf, dass auch das muntere Zwitschern, das vorhin noch das Dickicht ringsum erfüllt hatte, vollends verstummt war. Seltsam. Beklommen sah sie sich um, entdeckte aber nichts, was sie in ihrem merkwürdigen Gefühl bestärkt hätte. »Na, dann wollen wir mal«, sagte sie laut zu sich selbst und schüttelte den Kopf. So idyllisch das entlegene Tal auch war – manchmal mutete es ihr geradezu unheimlich an.

Eine dicke Schlammschicht überzog die Wagenräder der Kutsche, und die verzierte Seitenverkleidung war von graubraunen Schlieren übersät. Emmy begann, energisch mit dem Lappen über den Holzlack zu wischen, und bald wurde die farbenfrohe Bemalung des leichten Reisewagens wieder sichtbar.

Plötzlich stockte Emmy. War das ein Pferdewiehern gewesen? Das Geräusch kam nicht aus dem Stall, sondern aus der Ferne. Konnte das Amigo sein? Kehrte Justus Holthoff schon von seinem Reitausflug zurück? Das war ungewöhnlich. Normalerweise dauerten seine Touren drei oder vier Stunden.

Die junge Pferdewirtin blickte angestrengt in die Richtung, aus der das Wiehern gekommen war. Zuerst vermochte sie nichts Konkretes auszumachen. Die gesamte Talsohle lag in einem dichten, unbeweglichen Nebelmeer. Doch dann schälte sich allmählich ein schwarzer Umriss aus dem milchigen Weiß. Ein großes Pferd und auf seinem Rücken ein Reiter in einem Umhang, dicht über den Hals des Rappen gebeugt. Er war noch zu weit entfernt, um ihn genau zu erkennen, aber eigentlich konnte das nur Holthoff sein.

Verdammt! Schnell wendete sich Emmy wieder ihrer Arbeit an der Kutsche zu. Wenn Holthoff sah, dass sie beschäftigt war, ersparte er ihr vielleicht seine amourösen Anspielungen. Verbissen zog Emmy den Lappen durch die Speichen des großen Hinterrades, den Blick fest nach vorn gerichtet. Es dauerte nicht lange, da vernahm sie das Klappern der Hufe auf dem Kiesweg. Emmy hatte gehofft, dass der Investor das Pferd gleich bis zum Stall reiten würde, doch nun kamen die Geräusche immer näher, bis Amigo direkt hinter ihr hielt. Emmy konnte die Wärme des schwitzenden Tierkörpers spüren. Dann stupste ihr der Rappe sanft seinen Kopf in den Rücken, wie er es immer tat, wenn er um eine Belohnung bettelte. Justus Holthoff sagte kein Wort. Wahrscheinlich genoss er das Schauspiel.

Noch hatte Emmy Holthoff den Rücken zugewandt, aber das Schweigen wurde langsam unangenehm, und viel länger konnte sie ihn nicht mehr ignorieren.

Als das Pferd schnaubte und sie erneut anstupste, murmelte sie ein halbherziges »Na, schon wieder da?«, griff in ihre Jackentasche und angelte nach einem der Möhrenstücke, von denen sie immer ein paar dabeihatte. Mit dem Leckerbissen in der Hand drehte sie sich langsam zu Amigo um. Der Rappe schnappte ihr die Möhrenscheibe behutsam von der flachen Handfläche. Emmy hatte ihren Arm noch nicht wieder zurückgezogen, da fiel ein großer roter Tropfen auf ihren Ärmel. Sie trat einen Schritt nach hinten und hob den Blick.

Wie in Zeitlupe brannten sich die Eindrücke in ihr Hirn.

Sie sah, dass Holthoff völlig schief im Sattel hing. Über seinen Mantel rann eine schmierige dunkelrote Flüssigkeit.

Emmy entfuhr ein kehliger Schrei.

Jetzt war klar, warum Justus Holthoff nichts gesagt hatte. Er konnte es nicht mehr.

Dem Investor fehlte der Kopf.

2

Wīgan gehörte der Wald. Die hohen, rauschenden Wipfel und die schweigenden Schluchten. Das Licht in der Höhe und der Schatten hier unten. Und die Pfade, die kein Fremder kannte.

Und Wīgan gehörte die Zeit. Sie lief nicht vorwärts und nicht zurück. Sie hüllte den Moment in eine goldene Wolke vollkommener Wahrnehmung und ließ Sekunden und Stunden miteinander verschmelzen, bis alles durchdrungen war vom Rausch der Erinnerung.

Der Rappe hatte nicht mal gescheut, als der entfernte Donner über ihn hinweggefahren war. Ein Zucken, ein kurzes Anspannen seiner Muskeln und dann die instinktive Gewissheit, dass ihm keine Gefahr drohte. Anmutig hatte er seinen Weg fortgesetzt. Der Mann war getroffen, aber nicht das Pferd.

So wie es der Plan vorgesehen hatte.

Fünfzehn Tage seit der Neugeburt.

Wīgan gewann an Kraft.

3

Noch zehn Minuten. Jonas ließ den Blick über seine Gäste schweifen, die in kleinen Grüppchen dicht gedrängt beieinanderstanden. Viele waren in feierlicher Abendgarderobe erschienen. Repräsentanten der Stadt und verschiedener Organisationen, sein neuer Verleger, ein paar enge Freunde und eine Handvoll Journalisten. Der Raum mit seinen alten Fachwerkbalken und der niedrigen Decke hatte sich in der letzten halben Stunde gut gefüllt. Jonas freute sich, dass die Leute seiner Einladung so zahlreich gefolgt waren. Unruhig sah er ein weiteres Mal auf die Uhr. Zwei wichtige Besucher fehlten. Aber gut, etwas Zeit blieb ihnen noch.

Jonas Wiesenburg war Historiker und stand mit seinen einunddreißig Jahren erst am Anfang seiner Karriere. Zwar wirkte er mit seinem ungebändigten rotblonden Haar und seiner schlanken, sportlichen Figur noch wie ein Student, konnte aber schon beachtliche Erfolge vorweisen. Seine erste Publikation über mittelalterliche Kriminalfälle in Thüringen hatte sich zu einem dauerhaften Bestseller entwickelt. Was vor allem daran lag, dass er die historischen Fälle nicht einfach nur nacherzählte. Jonas hatte die bis dato ungelösten Verbrechen durch hartnäckige Recherchen in Archiven und an Originalorten selbst aufgeklärt. Der junge Historiker besaß ein besonderes Gespür dafür, den verwehten Spuren längst vergessener Lebenswege zu folgen und Zusammenhänge herzustellen, wo andere nur verstaubte Relikte der Vergangenheit sahen. Dieses Talent hatte ihm auch zu seinem bisher größten Erfolg verholfen: Vor zwei Jahren war er zusammen mit seiner Freundin Fenja einem Mordkomplott aus dem 17. Jahrhundert auf die Spur gekommen, bei dem die berühmte Glocke Gloriosa im Erfurter Dom eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Sein jüngstes Buch mit dem Titel »Die Gloriosa-Verschwörung. Chronik einer verborgenen Rebellion« war gerade erst erschienen, hatte aber bereits für erhebliches Aufsehen gesorgt. Besonders nachdem bekannt geworden war, dass der Historiker durch seine Nachforschungen entscheidend zur Lösung eines aktuellen Kriminalfalles beigetragen hatte. Allerdings war ein Teil der Fakten der Öffentlichkeit bis heute nicht bekannt. Lediglich ein kleiner Zirkel von Eingeweihten wusste, dass Jonas und Fenja dieses Abenteuer um ein Haar mit ihrem Leben bezahlt hätten. Und dass die Thüringer Landeshauptstadt damals nur knapp einer Katastrophe entgangen war.

»Drei Minuten«, murmelte Jonas. Um zwanzig Uhr wollten sie beginnen. Möglichst pünktlich, um die Gäste nicht warten zu lassen, die extra seinetwegen in diese altehrwürdigen Räume gekommen waren. In die Räume, in denen heute sein neuestes Projekt seinen Anfang nehmen sollte.

Jonas schielte zu den Holzfenstern hinüber, die auf die Gasse führten. Die Sonne des warmen Augusttages drang schon nicht mehr in die enge Häuserschlucht auf der Krämerbrücke, einer der außergewöhnlichsten Adressen in Erfurts historischer Altstadt. Auf der hundertzwanzig Meter langen Flussbrücke standen links und rechts der gepflasterten Straße zweiunddreißig mittelalterliche Fachwerkhäuser, in denen Kunstgalerien und kleine Läden um die Gunst der Besucher buhlten. Obwohl die Geschäfte um diese Uhrzeit schon fast alle geschlossen waren, hatte der Strom der Touristen, die staunend und fotografierend an den Fenstern vorbeidrängten, kaum nachgelassen.

»Willst du draußen nachsehen? Ich kann hier die Stellung halten.« Fenja war neben Jonas getreten und lächelte ihm ermunternd zu. Mit ihren langen schwarzen Haaren und dem lachsfarbenen Abendkleid sah die schlanke Dreißigjährige hinreißend aus. »Und sei nicht so aufgeregt«, flüsterte sie, bevor sie ihrem Freund einen Kuss auf die Wange gab. »Sie werden bestimmt kommen.«

»Ja, ich weiß.« Jonas lächelte zurück, konnte seine Anspannung aber nur schwer verbergen. »Dann geh ich mal kurz raus.«

Er zwängte sich durch die Reihen seiner Gäste und trat vor die kunstvoll geschnitzte Tür. Unruhig sah er sich um. Plötzlich erschien ein erleichterter Ausdruck auf seinem Gesicht. Am Ende der Gasse schoben sich zwei alte Männer durch die quirlige Fußgängermenge, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Den jüngeren von ihnen, einen hochgewachsenen Mittsiebziger, umgab eine geradezu aristokratische Aura. Sein grau meliertes Haar war perfekt frisiert, und auch der Schnauzbart verriet sorgfältige Pflege. Aus der Brusttasche des hellbeigen Leinenanzugs schaute ein kunstvoll gemustertes Einstecktuch hervor, und eine königsblaue Fliege komplettierte das exquisite Outfit. Der Mann an seiner Seite war einige Jahre älter, von kleinem Wuchs und schmächtiger Statur. Sein schlohweißes Haar stand wirr vom Kopf ab, und die abgetragene Hausjacke hing an seinen Schultern wie ein zu kurz geratener Umhang. Was die beiden Senioren jedoch verband, war ihr wacher, verschmitzter Blick.

Jonas ging dem ungleichen Duo ein paar Schritte entgegen und drückte den Männern zur Begrüßung lange und herzlich die Hände. »Hallo, Professor Degglinger. Schön, dass Sie gekommen sind!«, sagte er und nickte dem Größeren der beiden zu, bevor er zu dessen Begleiter hinübersah. »Gotthold! Die gute Seele der Krämerbrücke. Willkommen zurück.«

»Ex-Seele«, verbesserte ihn der gebeugte alte Mann kichernd. »Komm, Junge. Nun spann uns nicht länger auf die Folter. Ich will sehen, wie du meinen schönen Laden verhunzt hast.« Der Alte zwinkerte Jonas vergnügt zu und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. Jonas war überrascht, wie viel Kraft darin lag.

Zusammen gingen sie die wenigen Meter zum Eingang zurück.

Vor der Tür blieb der alte Gotthold noch einmal stehen, und für einen kurzen Moment huschte ein wehmütiger Ausdruck über sein Gesicht. Durch diesen Eingang war er sechzig Jahre lang fast jeden Tag gegangen. Sein Laden hatte immer zur Krämerbrücke gehört. Jetzt drückte er die Klinke als Gast herunter. »Jugend voran«, sagte er schließlich, trat zur Seite und ließ Professor Degglinger den Vortritt.

Obwohl der Klang des Messingglöckchens dünn war, verstummten fast augenblicklich die Gespräche der Anwesenden. Dutzende Augenpaare richteten sich auf die Stirnwand des Raumes, wo Jonas neben einem kleinen Holztisch stand, auf dem ein weinrotes Samttuch einen Gegenstand verdeckte. Dem jungen Historiker war anzusehen, dass in seinem Herzen Vorfreude und Lampenfieber miteinander rangen.

»Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde«, begann er. »Als ich vor zehn Jahren mein Studium an der Jenaer Universität aufnahm, konnte ich nicht ahnen, dass ich auf dem Campus gleich zwei Lieben meines Lebens begegnen würde.« Jonas machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Die erste Begegnung war Fenja. Die Frau, die heute mein größtes Glück ist.« Mit einer geschickten Bewegung zauberte er einen Strauß Sonnenblumen hinter dem Tisch hervor und überreichte ihn seiner Freundin, die in der ersten Publikumsreihe stand.

Irgendwo flammte ein Blitzlicht auf, als Fenja ihren Freund überrascht und bewegt anstrahlte. Mit einer Sonnenblume hatte ihre Beziehung damals begonnen.

Jonas wandte sich wieder den Gästen zu. »Meine zweite große Liebe – und glauben Sie mir, die ist mindestens genauso verrückt und phantasiereich wie Fenja – ist die Vergangenheit. Die Geschichte der Menschen, die vor uns gelebt haben. Auch das habe ich erst während meines Studiums so richtig begriffen.«

Jonas schob noch einmal eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach: »Seitdem ich die ersten historischen Kriminalfälle untersucht habe, weiß ich, dass die Entscheidung für meinen Beruf richtig war. Ich konnte mir keinen spannenderen Start in mein Arbeitsleben wünschen. Viele von Ihnen haben mich von Anfang an begleitet. Und deswegen freue ich mich, dass Sie auch dabei sind, wenn ich heute den nächsten Schritt gehe.«

Überall im Raum wurde zustimmend genickt.

»In den letzten fünf Jahren bin ich mir oft vorgekommen wie ein Detektiv. Ich habe gelernt, dass die Ränkespiele unserer Altvorderen den Verbrechen der Gegenwart in nichts nachstehen. Sie nach Hunderten von Jahren aufzudecken ist schwierig, manchmal fast unmöglich. Meine Arbeit ähnelt dann der Suche nach den verstreuten Teilen eines Puzzles. Nur dass die Teile längst verblichen sind. Aber glauben Sie mir – es ist die Mühe wert. Denn öfter, als wir denken, wird das Hier und Jetzt von Ereignissen bestimmt, deren Wurzeln weit in der Zeit zurückreichen.« Jonas sah kurz auf, dann erklärte er: »Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Firma zu gründen, die professionelle Ermittlungen zu den Geheimnissen unserer Ahnen anbietet: eine Detektei der Vergangenheit.«

Beifall brandete auf, den der niedrige Raum zu einem lauten Stakkato verstärkte. Jonas sah in die Runde, und die vielen enthusiastischen Gesichter machten ihm Mut. Unter den Anwesenden befanden sich Vertreter von Stiftungen, Museen und Genealogenverbänden. Menschen, die sich aus beruflichen Gründen für frühere Epochen interessierten. Jonas wusste, wie wichtig ihre Begeisterung für seine Arbeit war. Schließlich würde die Detektei nur mit zahlenden Klienten funktionieren. Von der Leidenschaft allein konnte er nicht leben.

Als das Klatschen langsam verebbte, bat Jonas noch einmal um Aufmerksamkeit. Dann sagte er: »Zwei Männern möchte ich heute besonders danken. Ohne die beiden wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Einen von ihnen kennen Sie alle. Gotthold Enschütz, der in diesen Räumen mehr als ein halbes Jahrhundert lang seinen berühmten Zeitungsladen hatte.«

Im Raum erhob sich zustimmendes Gemurmel, und alle drehten sich zu dem sympathischen Greis um, der auf einem Stuhl in der Ecke saß und sichtlich ergriffen war. Bis zu seinem achtzigsten Geburtstag hatte er auf der Krämerbrücke die Stellung gehalten, bevor ihn die Gesundheit schließlich zum Kürzertreten gezwungen hatte.

»Danke, Gotthold«, fügte Jonas hinzu, »für die Zeit, die du uns geschenkt hast. Und für den Vorschlag, deinen Mietvertrag zu übernehmen und in diesen Räumen mein Ermittlungsbüro zu eröffnen.«

Erneuter Beifall folgte.

»Der zweite Mann, dem ich Dank schulde, ist Professor Ludwig Degglinger«, fuhr Jonas fort. »Er hat mir gezeigt, dass Geschichte nicht nach Mottenpulver riechen muss, sondern richtig rocken kann. Und wahrscheinlich hat er schon vor Jahren geahnt, was heute hier passiert.«

Damit trat Jonas hinter den Tisch und zog das weinrote Samttuch zur Seite. Eine glänzende Messingtafel kam zum Vorschein, in die groß vier Worte eingraviert waren:

DETEKTEIWIESENBURG

HISTORISCHEERMITTLUNGEN

»Mein Schild!«, rief Degglinger erstaunt aus. »Sie haben das Ding immer noch?« Der alte Geschichtsprofessor war Jonas’ Mentor an der Universität gewesen. Die Messingtafel hatte er seinem Schützling nach dessen erstem gelösten Kriminalfall überreicht – als wohlmeinenden Scherz.

»Ich habe es immer schön geputzt«, gab Jonas mit einem verschwörerischen Augenzwinkern zurück. »Und ab morgen wird es draußen neben der Eingangstür hängen.«

Die nächsten zwei Stunden vergingen mit angeregten Gesprächen über die Zukunftspläne, die Jonas mit seinem außergewöhnlichen Ermittlungsbüro hatte. Den anwesenden Journalisten gab er Interviews, und einige der Gäste signalisierten bereits ihr Interesse an einer zukünftigen Zusammenarbeit. Auch die Umgestaltung des alten Ladenraumes fand allgemeinen Anklang. In wochenlanger Arbeit hatten Jonas und Fenja die Fachwerkbalken freigelegt und die Wände dazwischen mit einem natürlichen Lehm verputzt. An den Wänden hingen jetzt Stahlrahmen mit Schwarz-Weiß-Fotos von Burgen und Klostergewölben, und in einem antiken Vitrinenschrank waren reich geschmückte Nachschlagewerke zur Geschichte Thüringens ausgestellt.

Die meiste Arbeit würde er in der Zukunft allein stemmen müssen. Fenja war mittlerweile eine anerkannte Geologin und arbeitete als Freelancerin für ein Jenaer Institut. Er hoffte jedoch, dass sie ihn dennoch ab und an mit ihrer Abenteuerlust und ihren unkonventionellen Ideen unterstützen würde. Und mit ihrer Fähigkeit, jedes mögliche oder unmögliche Gelände zu erkunden.

»Jonas, für mich wird es langsam Zeit. Ich möchte mich verabschieden.« Professor Degglinger war zu ihm getreten und deutete zum alten Gotthold hinüber, der sich gerade angeregt mit einer attraktiven Blondine unterhielt. »Ich bringe Herrn Enschütz noch nach Hause, dann fahre ich zurück nach Jena. Haben Sie vielen Dank für die Einladung.«

»Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie beide gekommen sind«, antwortete Jonas. »Und ich hoffe, Sie besuchen mich noch einmal, wenn die Detektei richtig läuft.«

»Das werde ich. Dafür sorgt schon meine Neugier. Übrigens – ich habe noch etwas für Sie.« Der Professor zog ein kleines Buch mit abgegriffenem Einband hervor und reichte es Jonas. Der Historiker erkannte sofort, dass es ein sehr altes Buch sein musste. »Logica sceleris«, lautete der Titel, der in verschnörkelten Druckbuchstaben auf dem Einband zu lesen war. Die Logik des Verbrechens. Herausgegeben von Martinus Baumgartner im Jahre 1687.

»Es ist eines der ersten Lehrbücher, die über kriminalistische Ermittlungen geschrieben wurden«, erklärte der Professor. »Und ein sehr kluges dazu. Baumgartner war seiner Zeit um einiges voraus. Vielleicht können Sie seine Ratschläge irgendwann einmal gebrauchen.«

»Wahnsinn!«, stieß Jonas hervor. »Danke!« Dann erinnerte er sich, wo er dem Namen des Autors schon einmal begegnet war. In einer alten Kriminalakte aus dem Jahre 1667. Der Gloriosa-Fall. Als junger Ermittler hatte Martinus Baumgartner einige wichtige Schlüsse gezogen, aber seine Vorgesetzten waren ihnen nicht gefolgt. Anscheinend hatte er später doch noch Karriere gemacht.

»Und das ist mein Geschenk.« Gotthold war neben dem Professor aufgetaucht und hielt einen altertümlichen Eisenschlüssel in seiner Hand. Er war fast fünfzehn Zentimeter lang und grob geschmiedet. »Der Schlüssel hat auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn aufgestöbert habe.« Gotthold senkte versonnen den Kopf. »Irgendwie hat er den Weg zu mir gefunden, als ich noch ein junger Spund war, und ich habe ihn aufgehoben. Hat mir stets Glück gebracht. Jetzt gehört er dir. Er soll dich daran erinnern, dass es immer eine Tür gibt, hinter der es weitergeht.«

»Das kann ich nicht annehmen.« Jonas war gerührt. Das stumpfe Stück Eisen schien Gotthold einiges zu bedeuten. Der Talisman eines langen Lebens. Und jetzt wollte er sich von ihm trennen.

»Schon gut, mein Junge. Ich brauche ihn nicht mehr, und bei dir ist er gut aufgehoben, da bin ich mir sicher.« Damit drückte der alte Mann Jonas das kühle Metall in die Hand und sah zu dem Professor. »Wollen wir?«

»Wir wollen.« Degglinger hielt Gotthold die Tür auf, und kurz darauf waren die beiden verschwunden. Auch die anderen Gäste begannen, sich nach und nach zu verabschieden.

»Jonas?«, rief Fenja plötzlich. »Kommst du mal?«

Er drehte sich zu seiner Freundin um und entdeckte eine Besucherin, die ihm bis jetzt noch nicht aufgefallen war. Sie musste eingetroffen sein, während er sich mit Gotthold und dem Professor unterhalten hatte. Jetzt stand sie neben Fenja und sah zu ihm herüber. Mit dem kurz geschnittenen dunkelblonden Haar und dem aufmerksamen Blick war sie Jonas bestens bekannt. Zweimal hatten sich ihre Wege bisher gekreuzt, und jedes Mal waren die Umstände außergewöhnlich gewesen.

»Kommissarin Vareel«, begrüßte er sie. »Toll, dass Sie auch noch vorbeischauen.«

»Hallo, Jonas«, gab die Kommissarin zurück. »Glückwunsch zu der Eröffnung. Eine historische Detektei … Ihre Ideen erstaunen mich immer wieder, das muss ich Ihnen lassen.«

»Ich werde nichts anderes tun als bisher«, gab sich Jonas bescheiden. »Wir haben dem Kind nur endlich einen Namen gegeben.« Ihm war anzusehen, dass er sich über den Besuch der LKA-Ermittlerin freute. »Möchten Sie ein Glas Sekt?«

»Danke, aber nicht jetzt.«

»Kann ich Ihnen etwas anderes anbieten? Sie haben die Wahl. Heute ist ein Tag zum Feiern.« Jonas wies auf ein Büfett mit einer erklecklichen Auswahl an Getränken. Doch Anne Vareel schüttelte den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, wie erschöpft sie aussah. Fragend blickte er sie an.

»Ich bin dienstlich hier«, erklärte sie ernst. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

4

Es dauerte noch eine Weile, bis die letzten Gäste die neu eröffnete Detektei verlassen hatten und Jonas und Fenja mit der Kommissarin allein waren.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Anne Vareel und deutete in Richtung der Stühle, die wie die versprengten Tiere einer Herde im Raum standen.

»Ich habe eine bessere Idee«, schlug Jonas vor. »Lassen Sie uns nach nebenan gehen.«

»Nebenan?« Anne Vareel sah sich fragend um. Es gab nur diesen Raum. Sie machte ein paar Schritte auf die Eingangstür zu, die hinaus auf die Krämerbrücke führte.

»Halt, nicht die Tür!« Jonas zeigte mit einem spitzbübischen Grinsen auf den antiken Vitrinenschrank, der fast ein Drittel der einen Wand einnahm. »Wir gehen durch den Schrank.«

Fenja, die den überraschten Blick der Polizistin einfing, hob nachsichtig die Schultern. Lassen Sie ihm seinen Spaß, sollte das heißen. Sie kennen ihn doch.

Unterdessen war Jonas vor das mondäne Möbelstück getreten und presste den Finger auf eine Rosette, die zum Schnitzwerk der Holzverkleidung gehörte. Aus dem Inneren war eine Folge metallischer Geräusche zu vernehmen, bevor die beiden Hälften der Vitrine nach links und rechts auseinanderglitten und den Durchgang zu einem weiteren Raum öffneten.

»Eine Geheimtür?«, entfuhr es Anne Vareel.

»Nur eine kleine Historikermacke«, winkte Jonas ab, aber es war ihm anzusehen, dass ihm die Vorführung Vergnügen bereitete. »Ich fand das Teil einfach toll. Es stammt aus einem alten Gutshaus, das kurz vor dem Umbau stand. Als mir ein befreundeter Architekt den Schrank samt Türmechanismus angeboten hat, konnte ich einfach nicht widerstehen.«

»Sie sind verrückt«, bemerkte Anne Vareel. »Darf ich jetzt?« Ohne abzuwarten verschwand sie durch die Wandöffnung ins Nebenzimmer.

Jonas und Fenja folgten ihr, und hinter ihnen schoben sich die Schrankteile mit einem dezenten Schnarren wieder zusammen.

»Nicht schlecht.« Anne Vareel betrachtete das eigenwillige Interieur. Auch dieses Zimmer war von Fachwerkbalken durchzogen und besaß eine Reihe kleiner Holzfenster. Aber im Gegensatz zu der Klarheit des Empfangsraumes herrschte hier ein produktives Chaos. In Regalen und auf Wandsimsen reihten sich historische Bücher aneinander. Altertümliche Landkarten bedeckten die Wände. In den Ecken türmten sich Kästen mit vergilbten Handschriften. Doch nicht alles hier war alt. Auf einem Tisch stand ein großer Flachbildschirm, der zu einem leistungsfähigen Rechner gehörte, ebenso wie ein hochauflösender Scanner und ein Drucker. Die Stirnwand des Zimmers wurde von einem Whiteboard eingenommen.

»Das ist das Gehirn der Detektei«, erläuterte Jonas. »Die Recherchezentrale. Wir nennen sie einfach nur ›der Schrank‹. Eigentlich soll niemand diesen Raum kennen, aber für Sie mache ich gerne eine Ausnahme.« Er deutete auf drei englische Ledersessel, die etwas beengt um ein rundes Tischchen gruppiert waren. »Bitte setzen Sie sich.« Plötzlich wich die überschwängliche Stimmung, die Jonas den Abend über erfüllt hatte, einer angespannten Neugier. Anne Vareel war mit ihrem Anliegen bestimmt nicht ohne Grund so spät noch zu ihnen gekommen.

Als sie in den Sesseln Platz genommen hatten, fragte die Kommissarin: »Was sagt Ihnen der Name Justus Holthoff?«

»Holthoff?«, gab Jonas zurück. »Der Unternehmer, der Ende Juli im Thüringer Wald erschossen wurde?« Alle Zeitungen hatten groß über den spektakulären Mord berichtet. Ein Pferd war mit einer Leiche auf dem Rücken zu seinem Heimatstall zurückgekehrt. Dem Toten hatte der Kopf gefehlt, aber er war schnell als der Erfurter Großinvestor Justus Holthoff identifiziert worden. Die Boulevardpresse hatte dem »Reiter ohne Kopf« tagelang ihre Titelseiten gewidmet. Eine gruselige Schlagzeile, noch dazu so eingängig, dass die makabre Bezeichnung seitdem zusammen mit allerlei wilden Spekulationen durch die Medien geisterte. Mittlerweile war von den Ermittlungen durchgesickert, dass Holthoff ein tödlicher Schuss getroffen hatte.

»Genau der«, bestätigte die Kommissarin. »Kannten Sie ihn?«

»Ich? Nein. Ich weiß nur, was man jetzt so hört und liest. Ein Mann, der zig Millionen in Hotels und Wohnparks gesteckt hat. Toller Hecht. Schlimmer Finger. Je nachdem, wer gefragt wird. Aber persönlich bin ich ihm nie begegnet. War nicht ganz meine Liga.«

»Wissen Sie inzwischen, wer ihn erschossen hat?«, wollte Fenja wissen.

»Nein. Ehrlich gesagt – wir haben keine Ahnung«, gestand Anne Vareel. »Die Tat ist jetzt zweieinhalb Wochen her, aber die Ermittlungen stehen immer noch ziemlich am Anfang. Wir folgen verschiedenen Spuren.«

»Sind Sie deswegen hier? Wegen dem Holthoff-Mord?«, fragte Jonas.

»Ja«, antwortete Anne Vareel. »Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.«

»Und wie kann ich Ihnen dabei helfen? Ich bin Historiker. Von der Finanzszene habe ich keinen blassen Schimmer.«

»Es geht um etwas anderes.« Anne Vareel sah Jonas an. »Eine Besonderheit bei der Ausführung der Tat. Etwas, von dem bisher nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Nennen wir es eine bizarre Anomalie.«

»Eine bizarre Anomalie?« Die verklausulierten Ausführungen trieben Jonas’ Neugier in ungeahnte Höhen. »Dürfen Sie mir sagen, worum genau es sich dabei handelt?«

»Damit sind wir jetzt an dem Punkt, an dem ich Sie fragen muss, ob Sie einen weiteren kleinen Rechercheauftrag für uns übernehmen möchten.« Anne Vareel warf Jonas ein knappes Lächeln zu. »Sagen Sie Ja, dann ist das für mich eine verbindliche Zusage, Sie erfahren die Details und können sofort loslegen.«

Jonas war überrumpelt. Das Angebot kam doch ziemlich unerwartet. »Ich soll wieder für Sie arbeiten?« Er zögerte einige Sekunden. »Und wenn ich Nein sage?«

»Dann ist unsere Plauderei an dieser Stelle beendet.«

»Das heißt, ich muss die Katze im Sack kaufen?«

»Nicht ganz. Ich kann den Auftrag grob umreißen. Sie recherchieren für uns ein paar historische Zusammenhänge und bereiten sie entsprechend auf. Dann überlegen wir gemeinsam, ob es Schnittpunkte mit unserem gegenwärtigen Fall gibt und, falls ja, was sie für eine Bedeutung haben. Das ist alles. Sie sind Teil des Teams, aber Ihre Zuständigkeit beschränkt sich auf die Vergangenheit und damit auf Ihr gewohntes Arbeitsfeld.«

Für einen Moment herrschte Schweigen. Jeder am Tisch wusste, dass es so einfach nicht war.

Jonas hatte schon einmal für das LKA gearbeitet und erlebt, wie schnell sich Vergangenheit und Gegenwart vermischten. Und wie gefährlich diese Mischung werden konnte. Andererseits hatte er von dieser Zusammenarbeit auch profitiert, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Er sah zu Fenja hinüber. Ohne sie wollte er die Entscheidung nicht treffen. Sie erwiderte seinen Blick und zwinkerte ihm schließlich mit leuchtenden Augen zu. Jonas nickte. Er wusste, was das bedeutete. Mach es, ich bin dabei.

»Gut, ich übernehme den Auftrag«, erklärte er der Kommissarin.

»Sicher?«, fragte sie noch einmal nach.

»Sicher«, bestätigte Jonas.

»Wunderbar, die Bedingungen kennen Sie ja schon.« Die Polizistin schlug jetzt einen geschäftsmäßigen Ton an. »Sie wissen, dass wir intern mit offenen Karten spielen, aber keine Informationen nach draußen geben. Alles, was Sie bei uns hören, sehen oder lesen, ist absolut vertraulich. Das gilt für Sie, und das gilt auch für Fenja. Sind wir uns da einig?«

Jonas und Fenja nickten unisono.

»Sie werden für Ihre Arbeit natürlich bezahlt. Unser Vergütungssatz ist der gleiche wie beim letzten Mal«, fuhr Anne Vareel fort. »Den Vertrag machen wir morgen in der Dienststelle. Einverstanden?«

»Einverstanden«, stimmte Jonas zu. »Und jetzt kann ich es kaum erwarten, dass Sie mir erzählen, worum es geht.«

Anne Vareel lachte auf. Offenbar hatte sie schon wieder vergessen gehabt, welchen Tatendrang der Erfurter Historiker besaß. »Also«, begann sie und wurde sofort wieder ernst. »Wie Justus Holthoff gestorben ist, hat sich ja inzwischen herumgesprochen. Durch einen Schuss aus einem Gewehr. Wer geschossen hat, wissen wir nicht. Aber wir haben den Tatort ausfindig gemacht. Er liegt in einem Tal in der Nähe von Oberhof. Dichter Baumbestand. Keine Zeugen. Extrem einsam. Das Pferd ist von dort aus allein nach Hause gelaufen, mit dem Toten im Sattel.«

»Wenn es ein Schuss war – was ist dann mit seinem Kopf passiert?« Jonas fand die Geschichte unheimlich. »Warum wurde er abgetrennt?«

»Er wurde nicht abgetrennt. Er wurde zerstört. Die Mordwaffe hatte ein ziemlich großes Kaliber. Und das Geschoss war … außergewöhnlich.«

»Inwiefern?«

»Die Projektile, die wir heute kennen, sind lang und zylindrisch. Die meisten haben eine Ummantelung aus einer Kupferlegierung. Aber Holthoff wurde mit einer einfachen Bleikugel getötet. Sie hat sich beim Auftreffen deformiert, sodass Knochen und Gewebe förmlich zerfetzt wurden.«

»Puh.« Jonas mochte sich die Details gar nicht ausmalen. »Und woher wissen Sie das?«

»Wir haben die Kugel gefunden. Sie steckte in einer Fichte gleich neben dem Weg, auf dem Holthoff getroffen wurde. In Höhe seines Kopfes, wenn man die Widerristhöhe des Pferdes und Holthoffs Größe ab der Hüfte addiert. Auf den Tatort sind wir gestoßen, als wir die Hufspuren zurückverfolgt haben. Die Stelle war nicht zu übersehen. Das halbe Hirn klebte am Baum.«

Fenja schluckte hörbar. Sie war deutlich blasser als noch vor einigen Minuten.

»Sorry«, entschuldigte sich Anne Vareel mit einem unbeholfenen Lächeln. Vermutlich hatte sie sich im Eifer des Gefechts für einen Moment im Kreise ihrer Kollegen gewähnt. Dann setzte sie ihren Vortrag fort. »Die Kugel ist für uns von besonderem Interesse. Die Verwendung solcher antiquierten Geschosse ist heute nicht mehr üblich. Unsere Techniker gehen davon aus, dass der Täter einen Vorderlader benutzt hat.«

»Einen Vorderlader?« Jonas’ berufliche Neugier war geweckt. Er wusste, dass solche Gewehre nur bis ins 19. Jahrhundert in Gebrauch gewesen waren. Von Liebhaberstücken einmal abgesehen. »Das heißt, Justus Holthoff ist mit einer historischen Waffe erschossen worden? Sind Sie deswegen zu mir gekommen?«

»Auch.« Die Kommissarin zögerte. Dann fügte sie hinzu: »Aber es geht nicht nur um die Waffe. Da gibt es noch etwas.«

»Und das wäre?«

»Das Material der Kugel. Bei der Laboranalyse haben wir einen Zufallstreffer in unserer Datenbank gelandet. Das ist nicht irgendwelches Blei. Das Metall stammt von einem gestohlenen Kirchenkreuz.«

»Oh!« Jetzt war Jonas wirklich perplex. »Sind Sie sich da sicher?«

»Es gibt keinen Zweifel. Das fünfhundert Jahre alte Kruzifix wurde kurz nach Pfingsten in einer Kirche von seinem Sockel gesägt. Wir hatten die Daten des Materials in unserem System, weil die KT damals verschiedene Proben von der Schnittstelle genommen hat, um das Tatwerkzeug zu identifizieren.«

»Krass. Eine Gewehrkugel aus einem antiken Kreuz. Und was bedeutet das?«

Anne Vareel richtete sich auf. »Das, Jonas, ist genau die Frage, die Sie für uns beantworten sollen.«

Jonas war immer noch aufgewühlt. Nachdem sich Anne Vareel verabschiedet hatte, war er mit Fenja in den Empfangsraum der Detektei zurückgekehrt, um noch ein wenig aufzuräumen. Dann war Fenja in die gemeinsame Wohnung vorausgegangen, die sich nur zwei Etagen höher im gleichen Haus befand und in der sie schon seit einigen Jahren zusammenlebten.

Inzwischen war es kurz nach Mitternacht, und Jonas verharrte noch einen Moment in der Mitte seines Recherchekabinetts. Sein Blick ruhte auf den beiden Geschenken, die er am Abend erhalten hatte. Auf der abgegriffenen Ermittlerfibel von Professor Degglinger. Und auf Gottholds Eisenschlüssel. Obwohl der Raum von der drückenden Hitze des vergangenen Sommertags durchdrungen war, fühlte sich das Metall kühl an. Behutsam hängte Jonas den Schlüssel an einen Nagel zwischen zwei Fenstern und stellte lächelnd fest, dass ihm der alte Talisman schon jetzt Glück gebracht hatte. Ein erster Auftrag. Wenn auch von unerwarteter Seite.

Der Reiter ohne Kopf. Eine merkwürdige Geschichte.

Jonas wandte sich zum Gehen um. Es war ein langer Tag gewesen. Höchste Zeit, Feierabend zu machen. Doch nach ein paar Schritten blieb er stehen. Die Neugier ließ ihm keine Ruhe. Nur ein kurzer Blick …

Er ging zurück, weckte den Computer aus seinem Schlaf und gab in eine Suchmaschine ein paar Stichworte ein. »Diebstahl«. »Kruzifix«. »Kirche«. »Pfingsten«.

Es dauerte keine Sekunde, bis die Ergebnisse auf dem Bildschirm erschienen. Zu dem Vorfall gab es nur einige wenige Meldungen, ausschließlich Artikel auf Onlineportalen regionaler Tageszeitungen. Alle ähnelten sich. Der Diebstahl hatte am Donnerstag nach dem diesjährigen Pfingstfest stattgefunden, unbemerkt und wahrscheinlich in der Nacht. Jemand hatte die Kirchentür aufgehebelt und das fest installierte Kruzifix einfach abgesägt. Darüber hinaus fehlte nichts. Die betroffene Kirche stand in Gräfenroda, einer Gemeinde im Nordosten des Thüringer Waldes. Das gestohlene Bleikreuz stammte aus dem Jahr 1524. In einem Interview appellierte Sebastian Seeber, der örtliche Pfarrer, an den Dieb oder die Diebe, das Kruzifix zurückzugeben, da es für seine Gemeinde einen hohen ideellen Wert besitze. Mehr Informationen fanden sich nicht.

Jonas rief eine Landkarte des Thüringer Waldes auf. Interessant, dachte er. Neben dem Material der Kugel existierte noch eine zweite Verbindung zum Holthoff-Mord. Die geografische Nähe. Gräfenroda lag nicht weit entfernt von Oberhof. Sicher war der Polizei das auch schon aufgefallen.

Einer spontanen Eingebung folgend öffnete er auf seinem Computer den WICHTEL, ein spezielles Programm, das ihm Zugang zu einem Netzwerk von Geschichtsdatenbanken verschaffte. In dessen Suchmaske gab er drei neue Schlagworte ein: »Gewehrkugel«. »Blei«. »Kirchenkreuz«.

Diesmal ließen die Resultate auf sich warten. Das Programm durchsuchte die Server von Universitäten und digitalen Bibliotheken. Dann erklang ein akustisches Signal, und auf dem Bildschirm baute sich eine Liste von Fachartikeln auf, die sich allesamt mit einem Themenfeld befassten, das unter dem Begriff »Waffenmagie« zusammengefasst war. Okkulte Rituale, die Soldaten und Jäger in früheren Jahrhunderten vollzogen hatten, um ihre Schießkünste günstig zu beeinflussen.

Jonas klickte den obersten Artikel der Liste an, überflog die erste Seite und stutzte. Der Text beschrieb einen Zauber, der auf beunruhigende Weise zu dem Vorgehen des Holthoff-Mörders passte: die Herstellung von sogenannten Freikugeln. Einem alten Aberglauben zufolge wurden Gewehrkugeln unfehlbar, wenn sie um Mitternacht aus dem Metall von Kruzifixen oder Friedhofskreuzen gegossen wurden.

Jonas starrte auf den Bildschirm.

Freikugeln. Geschosse, die ihr Ziel immer trafen. Ein Mythos aus einer Zeit, in der die Menschen noch an übernatürliche Kräfte glaubten. Er las weiter und stieß auf zusätzliche Zutaten, die dem Zauber zuträglich sein sollten, beispielsweise das Pulver einer entweihten Hostie, einige Tropfen Menschenblut oder ein Splitter vom Schädel eines Hingerichteten. Auch der Tag des Gusses war von Bedeutung. An Neujahr konnte das Werk gelingen, wie auch zu Ostern oder in der Johannisnacht. Der Aberglaube hatte viele Spielarten. Doch in einem Punkt glichen sie sich alle. Es war ein Pakt mit dem Teufel. Wer Freikugeln herstellte, versprach dem Leibhaftigen im selben Moment seine Seele.

5

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, fiel Jonas das Aufstehen schwer. Der lange Eröffnungsabend steckte ihm noch in den Knochen, und er hatte extrem unruhig geschlafen. Er war sich nicht sicher, ob daran die drückende Wärme schuld war, die sich im Sommer nur schwer aus dem alten Gemäuer vertreiben ließ, oder die düsteren Zaubergeschichten, die ihn bis in seine wirren Träume verfolgt hatten.

Leise schlich er sich aus dem Schlafzimmer in der Hoffnung, Fenja nicht aufzuwecken, die das Weckerklingeln nicht gehört zu haben schien. Sie arbeitete heute zu Hause, und es bestand kein Grund, sie jetzt schon aus den Federn zu trommeln.

Die Küchenuhr zeigte kurz nach sechs Uhr, und die Sonne war gerade aufgegangen. Das Wasser der Gera, die unter den steinernen Bögen der Krämerbrücke hindurchfloss, funkelte bläulich zu den Häuserfenstern hinauf.

Jonas bereitete eine Schwarzteemischung zu, eine Zeremonie, mit der er jeden Tag begann. Dann setzte er sich an den Tisch und genoss das Aroma des Tees, während er die Ergebnisse seiner Recherchen vom Vorabend in einigen kurzen Notizen zusammenfasste. Einen richtigen Arbeitsplan würde er erst erstellen können, wenn er von Anne Vareel und ihren Kollegen mehr Informationen bekommen hatte.

Es wurde Zeit aufzubrechen. Die Kommissarin hatte ihn gebeten, spätestens um acht Uhr zum Briefing in ihrer Dienststelle zu sein. Das war in einer halben Stunde. Jonas verstaute sein ledergebundenes Notizbuch in seinem Rucksack und verließ die Wohnung.

Fünfzehn Minuten später erreichte er die Kranichfelder Straße, die sich durch den südöstlichen Teil der Stadt zog. Sein Ziel war der gewaltige Gebäudekomplex des Thüringer Landeskriminalamts. Jonas parkte seinen in die Jahre gekommenen Land Rover vor dem Gelände und begab sich zum Besuchereingang.

Offenbar war seine Ankunft bereits bemerkt worden, denn wie von Geisterhand öffnete sich die Glastür, noch bevor er seine Hand nach der Klinke ausstrecken konnte. Er betrat eine schmale Sicherheitsschleuse und hörte gleich danach ein sattes Schnappen, als die Tür in seinem Rücken wieder ins Schloss fiel. Hinter einer Trennscheibe saß ein bärtiger Fünfzigjähriger in der makellosen Uniform eines privaten Sicherheitsdienstes. Er ließ seinen Blick über eine Reihe von Kontrollmonitoren gleiten, bevor er aufsah und die Augenbrauen hob.

»Hi. Mein Name ist Wiesenburg«, kam Jonas der Frage des Mannes zuvor. »Ich habe einen Termin mit Kommissarin Vareel. Um acht Uhr.«

»Moment, bitte«, brummte der Uniformierte gleichmütig zurück und führte ein kurzes Telefonat, das er mit einem Nicken beendete. Dann ließ er seine Finger über die Plastikkärtchen in einem Karteikasten wandern, fischte einen Besucherausweis heraus und schob ihn Jonas durch eine Stahlklappe in der Trennscheibe zu. »Nehmen Sie einen Moment Platz. Jemand wird Sie abholen.« Damit richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Monitore.

Jonas setzte sich in den verwaisten Warteraum am Ende der Schleuse und hoffte inständig, dass er es noch pünktlich zum Briefing schaffen würde. Als er zum dritten Mal zur Wanduhr schielte, vernahm er das Geräusch einer Automatiktür, und Sekunden später erschien ein bekanntes Gesicht.

»Herr Wiesenburg. So schnell sieht man sich wieder«, begrüßte ihn der hochgewachsene Mann. Er hieß Daniel Kempfer und gehörte zu Anne Vareels Ermittlungsteam. Jonas war ihm bei einer früheren Zusammenarbeit mit dem LKA bereits mehrmals begegnet.

Die beiden gaben sich die Hand, dann öffnete Kempfer mit Hilfe eines Transponders die innere Tür der Schleuse und führte Jonas einen langen Gang entlang tief in den Bauch des Neubautraktes.

Während der Empfangsbereich noch in sanftem Lindgrün gehalten war, dominierte hier schweres Grau. Kempfer, der Jonas’ scheele Blicke verfolgt hatte, lächelte. »Alles ein bisschen nüchtern bei uns, das kennen Sie ja schon.«

Jonas nickte. Es konnte kein größerer Unterschied zu seinen eigenen Arbeitsräumen bestehen. Aber die Krämerbrücke war ja auch nicht Sitz einer Behörde.

Sie erreichten einen Aufgang, und Kempfer deutete nach oben. »Hier hinauf, bitte. Zweiter Stock. Da wird’s dann auch ein bisschen bunter.«

Tatsächlich hatte man das Treppenhaus seit Jonas’ letztem Besuch neu gestaltet. Überall hingen großformatige Fotografien. Es handelte sich ausnahmslos um friedlich wirkende Naturmotive: Schmetterlinge, Blüten, Vögel. Alles war leicht und farbenfroh. Als sollte nichts daran erinnern, dass in diesem Gebäude oft die Schattenseiten des Lebens den Arbeitsalltag bestimmten.

»Ein interner Wettbewerb«, erläuterte Kempfer. »Ausschließlich Bilder, die von unseren Mitarbeitern gemacht wurden. Eins von mir ist auch dabei. Eine Hummel. Makroaufnahme. Drüben im anderen Block.« Dann senkte er die Stimme und fügte mit einem verschwörerischen Grinsen hinzu: »Das Bild hat eigentlich meine Frau gemacht. Verraten Sie mich nicht.«

Jonas wunderte sich ein wenig über Kempfers kumpelhaften Tonfall. Er hatte den Kommissar als rationalen und prosaischen Beamten im Gedächtnis gehabt, der nicht gerade für seine lockeren Sprüche bekannt war. Aber vielleicht sollte das zwanglose Geplänkel nur das Unvermeidliche etwas hinauszögern, mit dem sie sich in der nächsten Stunde beschäftigen würden. Dem blutüberströmten Reiter ohne Kopf.

Wenig später erreichten sie ein Besprechungszimmer. An der Stirnseite eines langen Tisches stand Anne Vareel und telefonierte. Daneben waren ein sportlicher junger Mann und eine blondierte Fünfzigjährige in ein Gespräch vertieft. Jonas kannte auch sie. Marc Schätzele vom Mobilen Einsatzkommando und Hella Marx aus der Sachbearbeitung.

Als die Kommissarin ihr Telefongespräch beendet hatte, begrüßte sie Jonas. »Guten Morgen. Prima, dass Sie da sind.« Und mit einem Blick in die Runde fügte sie hinzu: »Sie kennen sich ja schon alle, also setzen wir uns. Bedienen Sie sich, in der Kanne ist frischer Kaffee.«

Sie nahmen an dem schmucklosen Bürotisch Platz. Während Hella Marx und Daniel Kempfer die Kaffeetassen verteilten, schob Anne Vareel Jonas ein dünnes Dokument zu. »Ihr Vertrag. Außer der Fallnummer und dem Datum hat sich daran seit dem letzten Mal nichts geändert. Die Verschwiegenheitserklärung ist auch dabei. Lesen Sie sich trotzdem alles durch, und wenn es für Sie in Ordnung ist, unterschreiben Sie bitte. Danach können wir anfangen.«

Jonas überflog die dicht bedruckten Seiten. Ein prickelndes Gefühl erfasste ihn. Die Euphorie, die er jedes Mal spürte, wenn ihn ein neues Geheimnis auf seine Spuren lockte. Und dazu das Flüstern der rationalen Stimme, die ihn warnte, dass es kein Spiel war, auf das er sich hier einließ. Was würde ihn wohl diesmal erwarten?

Die Antwort konnte er nur finden, wenn er sich der Aufgabe stellte. Entschlossen unterschrieb er den Vertrag und schob ihn zu Anne Vareel zurück. »Ich bin einverstanden und ganz Ohr«, erklärte er.

»Na dann … Willkommen im Team!« Sie nickte Jonas zufrieden zu, bevor sie mit ernstem Gesicht in die Runde blickte und ihr Ton offiziell wurde. »Wir wissen alle, warum wir heute hier sitzen. Der Mord an Justus Holthoff hat in der Öffentlichkeit ziemlich hohe Wellen geschlagen. Was die Identität des Täters betrifft, tappen wir leider noch völlig im Dunkeln. Holthoff war Großinvestor und ist vielen Leuten auf die Füße getreten. Auch privat hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Es wird eine ganze Weile dauern, sein Umfeld zu durchleuchten. Heute möchte ich, dass wir uns auf den Tathergang konzentrieren. Auf die Ausführung des Mordes und die Ungereimtheiten, die wir bisher festgestellt haben. Es ist wichtig, dass wir diesbezüglich alle auf dem gleichen Sachstand sind. Das betrifft vor allem Herrn Wiesenburg, der neu dazugekommen ist. Kommissar Kempfer wird uns deswegen gleich eine Zusammenfassung der Erkenntnisse geben, die wir am Tatort gewonnen haben.« Anne Vareel wies auf ihren zweiten Kollegen. »Kommissar Schätzele habe ich aufgrund seiner Tätigkeit für das MEK und seiner früheren Zugehörigkeit zu einem Spezialverband der Bundespolizei hergebeten. Alle Fragen, die mit Schießen und Waffentechnik zu tun haben, bitte an ihn.« Dann deutete sie auf die einzige andere Frau in der Runde. »Frau Marx wird das Protokoll führen und die Verbindung zu den anderen Arbeitsgruppen der SOKO halten.«

Alle am Tisch nickten.

Jonas war klar, dass der überschaubare Kreis, in dem sie gerade zusammensaßen, nur einen kleinen Teil der Sonderkommission darstellte. Dieses Treffen diente vor allem dazu, ihn selbst mit den für ihn wichtigen Details des Mordes vertraut zu machen.

»Also«, begann Daniel Kempfer und schob sich seine Notizen zurecht, »Justus Holthoff wurde am Morgen des 25. Juli bei einem Ausritt in der Nähe von Oberhof erschossen. Der Tatzeitpunkt dürfte zwischen acht Uhr und zehn Uhr dreißig liegen. Das ist die Zeitspanne zwischen seinem Aufbruch und der Rückkehr des Pferdes mit seiner Leiche. Vermutlich traf ihn die Kugel eher in der zweiten Hälfte dieses Zeitraums, sonst wäre das Pferd früher wieder auf dem Hof aufgetaucht. Genau können wir das allerdings nicht sagen. Den Schuss selbst hat niemand gehört, jedenfalls haben sich bisher keine Zeugen gemeldet. Die Gegend ist waldreich und unwegsam, um diese frühe Tageszeit ist da kaum jemand unterwegs. Außerdem handelt es sich um ein Jagdgebiet, da knallt es öfter. Für die Einheimischen sind Schüsse nichts Besonderes.« Kempfer räusperte sich, bevor er weitersprach. »Entdeckt wurde die Tat von der Besitzerin des Reiterhofs, bei dem Holthoff das Pferd ausgeliehen hatte. Sie heißt Emilia Weick und war komplett durch den Wind, als die Kollegen vor Ort eintrafen. Die junge Frau hatte sich in ihrer Wohnung eingeschlossen und war erst nach langem Zureden bereit, die Tür zu öffnen. Der Wallach hat derweil friedlich auf dem Hofgelände gegrast – mit Holthoffs Leiche auf seinem Rücken.«

»Das ist ja furchtbar!«, stieß Hella Marx hervor. Dann sinnierte sie: »Dass der Mann nicht runtergefallen ist, als ihn der Schuss getroffen hat …«

»Trägheit der Masse«, entgegnete Kempfer lakonisch. »Das Geschoss hat den Kopf einfach weggefegt. Der Körper ist nach vorn gesunken und im Sattel sitzen geblieben.«

»Und der Knall? Hat das Pferd da nicht …?« Hella Marx starrte ihren Kollegen an, als wäre er dabei gewesen und könnte ihr sämtliche Details zu dem Mord liefern.

»Offenbar nicht. Ich habe ja schon gesagt, dass es dort öfter mal knallt.« Kempfer zuckte mit den Schultern. »Die Besitzerin hat das Tier in einer späteren Vernehmung als kräftig, aber gutmütig und wenig schreckhaft beschrieben. Laut den Hufspuren am Tatort hat es nicht mal gebockt. Ist einfach weitergelaufen.«

»Puh«, ließ sich die Sachbearbeiterin vernehmen. Einen Moment lang herrschte Stille, und alle hingen ihren Gedanken nach.

»Apropos Tatort …«, erinnerte Anne Vareel ihren Kollegen an seine Zusammenfassung.