Jahre der Angst, Momente der Hoffnung - Mohammad Sarhangi - E-Book

Jahre der Angst, Momente der Hoffnung E-Book

Mohammad Sarhangi

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Beschreibung

Wie Exil, Fremdheit und Diskriminierung Gefühle prägen »Vom Balkon aus schaute ich auf einen Spielplatz, auf dem Kinder meines Alters umherliefen und sich amüsiert rauften. Nach kurzem Zaudern fragte ich sie, ob ich mitspielen dürfte. Die Antwort war: ›Nein, mit Ausländerkindern spielen wir nicht.‹ Ich weiß nicht mehr, was ich damals empfunden habe. Im Nachhinein war klar: Künftig würde ich in den Spiegel sehen und einen Ausländer erkennen.« Es sind Ereignisse wie diese, die Gefühle der Ausgrenzung produzieren: Angst, Scham, Wut, Verzweiflung, aber auch Sehnsucht und Hoffnung. Der Historiker Mohammad Sarhangi analysiert, inwieweit die vielfältigen Erfahrungen der Migration die Gefühle von Migrant:innen prägen und formen – auch über Generationen hinweg. Eindrücklich verwebt er seine eigenen Erfahrungen mit Oral-History-Interviews und autobiographischen sowie literarischen Publikationen zu einem aufschlussreichen wie berührenden Buch.

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Seitenzahl: 352

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Mohammad Sarhangi

Jahre der Angst, Momente der Hoffnung

Eine Gefühlsgeschichte der Migration

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Vom Balkon aus schaute ich auf einen Spielplatz, auf dem Kinder meines Alters umherliefen und sich amüsiert rauften. Nach kurzem Zaudern fragte ich sie, ob ich mitspielen dürfte. Die Antwort war: ›Nein, mit Ausländerkindern spielen wir nicht.‹ Ich weiß nicht mehr, was ich damals empfunden habe. Im Nachhinein war klar: Künftig würde ich in den Spiegel sehen und einen Ausländer erkennen.«

Es sind Ereignisse wie diese, die Gefühle der Ausgrenzung produzieren: Angst, Scham, Wut, Verzweiflung, aber auch Sehnsucht und Hoffnung. Der Historiker Mohammad Sarhangi analysiert, inwieweit die vielfältigen Erfahrungen der Migration die Gefühle von Migrant*innen prägen und formen – auch über Generationen hinweg. Eindrücklich verwebt er seine eigenen Erfahrungen mit Oral-History-Interviews und autobiographischen sowie literarischen Publikationen zu einem ebenso aufschlussreichen wie berührenden Buch.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mohammad Sarhangi, geboren 1980 in Iran und aufgewachsen in Deutschland, ist promovierter Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung (TU Berlin). In Zusammenarbeit u. a. mit Carolin Emcke und Manuela Bojadzijev wirkte er wissenschaftlich-kuratorisch mit an dem viel beachteten Oral-History-Projekt »Archiv der Flucht« am Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

[Inhaltsverzeichnis]

Prolog

Emotionen der Ausgrenzung

Eine migrantische Geschichte der Gefühle?

Formen sozialer Exklusion

Wir tragen Geschichte im Körper

Was sind Gefühle? – Vom emotionalen Grundrauschen

Wo werden Gefühle geprägt? – Institutionen und emotionale Gemeinschaften

Wo sind Gefühle? – Körper, Habitus und Hexis

Haben Gefühle eine Geschichte? – Vergänglichkeit und Historizität

Von Flucht und Migration erzählen

Die Ordnung der Erzählung

Oral History und die Geburt der Zeitzeugenschaft

Archiv der Flucht

New Heaven, New Earth

Soziale Exklusion

Von der Geschichte ignoriert

Exklusion, Ausgrenzung, Ausschluss in die Gesellschaft

Der Welt abhandenkommen

Hoffnung

Im Staub, unter sengender Sonne

Hoffnungszerstörungsmaschine

Immer dem Meer entgegen

Die Nacht in Brand setzen

Geborgenheit

Das salzige Brot der Fremde

Arbeit, Unsicherheit und Exklusion

Geborgenheitsverweigerungspolitik

Orte der Geborgenheit

Die Gefühle der anderen fühlen

Intermezzo – oder:

Habitus, Körper, Gefühl

»Sie fühlen, was Ihr Gehirn glaubt«

Exklusion und Selbstexklusion

Wut, Zorn und Ressentiment

Geringschätzung und Rache

Beleidigte und Ignorierte

Gefährlicher Zorn

Sympathie und Empathie: Wege aus Wut und Zorn

Ressentiment – oder von der Bitterkeit

Ein kurzes und persönliches Kapitel über Angst

Kalkulierte Kälte

Grenzbewegungen

Abschottung und Abschreckung

Antisemitismusbekämpfung und neue Rückführungspläne

Epilog

Anhang

Literaturverzeichnis

Romane, Sachbücher und Monographien

Wissenschaftliche Aufsätze

Zeitungsartikel und Online-Publikationen

Filme, Videos und andere Medien

Websites

Für Sarah und Musa

Historiker (jedenfalls die, an denen ich mich orientiere) wollen Abstand gewinnen, sie neigen dazu, auf Meinungen nicht allzu viel zu geben und sie versuchen, das Eigentümliche des Moments durch ein Netz von Vergleichen zu identifizieren. Denn das ist der historische Vergleich: das wichtigste Instrument, um Unterschiede, Besonderheiten, Einmaligkeiten herauszuarbeiten, selbst da, wo er dazu führt, das gar nicht so Neue, vielmehr Altbekannte einer Erscheinung bewusst zu machen. In dieser Spannung zwischen dem, was neu ist, und dem, was sich fortsetzt und wiederholt oder nur variiert wird, bewegt sich geschichtliche Betrachtung.

Gustav Seibt

Um sein Leben zu schreiben, bedarf es großer Originalität; oder großer Trivialität.

Imre Kertész

Prolog

An den Krieg kann ich mich nicht erinnern.[1] Obwohl er begann, als ich wenige Monate alt war, und noch andauerte, als wir Iran[2] verließen, um nach Deutschland zu migrieren. Vielleicht muss ich etwas präzisieren: Ich kann mich nicht an Gefechtshandlungen, Raketenangriffe oder zerstörte Gebäude erinnern. Was mir jedoch in Erinnerung geblieben ist, sind die Spuren, die der Krieg im zivilen Alltag hinterlassen hatte; die indirekten Auswirkungen des Krieges. Die Ernsthaftigkeit in den Augen meiner Großeltern, die Strenge der Eltern, die zunehmende Traurigkeit in den Straßen, in denen wir Tauben verjagten, der Augenblick, in dem mein Onkel schweigend von der Front heimkehrte und meine Umarmung nicht erwidern konnte, oder die Nächte, in denen wir im Keller des Großelternhauses Schutz suchten.

Eines Nachts fuhren wir mit Familienangehörigen und Bekannten aus der näheren Nachbarschaft im Anhänger des Lastwagens meines Vaters einige Kilometer außerhalb Teherans, um einem möglichen und wahrscheinlich ernst zu nehmenden Luftangriff zu entkommen. Wir blieben einige Tage in einer abgelegenen Steinwüste, wo wir gemeinsam aßen und nachts im Lastwagenanhänger schliefen.

Am Mittag des zweiten Tages lief ich barfuß über den heißen, steinigen Boden, bis ich einen stechenden Schmerz an einem meiner Zehen verspürte. Als ich hinunterblickte, sah ich eine fette Ameise, die sich in meinen großen Zeh festgebissen hatte. Ich brach in Tränen aus und lief humpelnd zu meiner Mutter. Ich flehte sie an, diesen Ort zu verlassen. Mein Vater bemerkte das kleine Drama, woraufhin meine Mutter ihm erklärte, was passiert war. Er schaute mich an, richtete seinen tatarischen Schnurrbart auf meinen Fuß, hievte mich auf die Ladefläche des Anhängers und zerdrückte die Ameise zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne ein Wort zu sagen. Der fette kleine Korpus zerplatzte unter dem Druck seiner Finger.

Wenn ich heute an den Krieg denke, erinnere ich mich vor allem an die Ameisenepisode. Diese und ähnliche Erinnerungen teile ich mit vielen Angehörigen meiner Generation. Damit meine ich jene Generation von Iraner*innen,[3] die kurz vor oder kurz nach der Revolution von 1979 auf die Welt gekommen sind und das Glück hatten, sich durch Flucht und Migration[4] ihrer Eltern der brutalen Konsolidierung der Islamischen Republik und den verheerenden Auswirkungen des Krieges entziehen zu können.

Im Juni 1986 reisten wir in den »Geltungsbereich des Asylverfahrensgesetzes« ein, wie es auf dem Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL)[5] steht, der viele Jahre die Wände meiner wechselnden Arbeitszimmer schmückte, bis ich entschied, dass die Zeit gekommen war, ihn abzuhängen. Diesem Dokument ist zu entnehmen, dass meine Eltern im September 1986 »die Anerkennung als Asylberechtigte« beantragten. Während ihr Antrag im September 1988 bewilligt wurde, lehnte das BAFL meinen Antrag (ich war damals acht Jahre alt) und den meines zweijährigen Bruders ab. Die Ablehnung folgte einer bürokratischen Logik. Unsere »Asylanträge stützen sich«, wie es in dem Bescheid heißt, »auf das Verfolgungsschicksal« unserer Eltern und erfüllten daher »nicht die Voraussetzungen des Artikels 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG)«, wonach nur diejenigen asylrechtlichen Schutz genießen, die gemäß der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 »begründete Furcht vor Verfolgung« aufgrund ihrer »Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe« oder aufgrund ihrer »politischen Überzeugung« haben. Mein zweijähriger Bruder und ich verfügten demnach nicht über ein eigenes Verfolgungsschicksal, und daher drohte uns in unserem Herkunftsland auch keine Gefahr an Leib und Leben oder die Beschränkung unserer persönlichen Freiheit. Die Entscheidung im Wortlaut des Bundesamtes: »Da die Anerkennung eines Ausländers als Asylberechtigter stets eine eigene Verfolgung voraussetzt, kann auch die familiäre Verbundenheit der Antragsteller mit ihren Eltern allein nicht zu ihrer Anerkennung als Asylberechtigte führen.«

Was haben meine Eltern gefühlt, als sie diesen Bescheid erhalten haben? Konnten sie ihn verstehen, oder mussten sie jemanden bitten, ihn zu übersetzen? Woher wussten sie, dass sie dagegen Einspruch erheben konnten? Was sie dann auch taten. Wir zogen nach Hamburg, wohnten in verschiedenen Unterkünften und warteten auf den neuen Bescheid, der im November 1991 eintraf. Die Klage meiner Eltern hatte Erfolg, meinem Bruder und mir wurde die »Rechtsstellung von Asylberechtigten gewährt«. Meine Eltern verbrachten vier Jahre zwischen Angst und Hoffnung. Die Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, vor allem für ihre Kinder, und die Angst davor, dass all ihre Mühen umsonst gewesen sein könnten. Und obwohl die Anerkennung als Asylberechtigte anfangs eine große Erleichterung darstellte, wirkte die Angst fort, denn es bestand die Gefahr, dass wir irgendwann wieder zurückkehren mussten. Angst und Hoffnung begleiten meine Eltern noch heute, obwohl wir alle längst die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben. Mein Vater gestand mir erst kürzlich, dass sein Magen noch immer »bebt«, wenn er den Briefkasten öffnet. Die Angst hat sich längst in seinen Körper eingeschrieben – mitsamt den anderen in Zusammenhang mit den Migrationserfahrungen stehenden Gefühlen.

Die Regeln der Migration prägen und produzieren die Gefühlswelt und das Gefühlswissen von Migrant*innen auf tiefgreifende Weise. Ich möchte untersuchen, wie sie es tun. Dieses Buch handelt von Gefühlen, die durch die Erfahrungen der Migration, des Exils, der Fremdheit und der Alltagsdiskriminierung geprägt werden. Gefühle, die wir mit Begriffen wie Verzweiflung, Sehnsucht oder Hoffnung zu beschreiben versuchen, jedoch nicht immer fassen können. Gefühle, die häufig als wiederkehrendes Motiv in den Geschichten von Geflüchteten geschildert werden und in literarischen sowie in filmischen Fiktionalisierungen auftauchen, wie etwa in Philippe Liorets Spielfilm Welcome aus dem Jahr 2009, in welchem ein 17-jähriger kurdischer Junge mit allen Mitteln versucht, nach England zu gelangen, um mit seiner großen Liebe vereint zu sein. Seine verzweifelte Sehnsucht treibt ihn dazu, durch den Ärmelkanal von Calais nach England zu schwimmen. Einen ähnlichen Zustand beschreibt Tahar Ben Jelloun in seinem Roman Verlassen: »Das Land verlassen. Es wurde zu einer Obsession, einer Art Wahn, der ihn Tag und Nacht beschäftigte. Wie sollte er es schaffen, wie der Demütigung entkommen? Weggehen, die Erde verlassen, die ihre Kinder verstößt, diesem schönen Land den Rücken zukehren […].«[6] Und in Dadaab[7], dem größten Flüchtlingslager der Welt, hat die Realität die Fiktion schon längst eingeholt. Dort haben somalische Geflüchtete für ein komplexes Gefühl den Begriff »Buufis« geprägt.[8] Dieser bezeichnet eine geistige Erschöpfung, mehr noch eine geistige Erkrankung, von der es in Dadaab heißt, dass sie wie HIV sei, du wirst sie nicht mehr los: »Es ist eine Art Depression, die in der unauslöschlichen Hoffnung nach einem Leben anderswo wurzelt und gleichzeitig einen Schatten auf das derzeitige Leben wirft.«[9]

Auf den folgenden Seiten stelle ich, basierend auf Quellen und wissenschaftlichen Publikationen, Mutmaßungen über ein Thema an und entwickle eine Theorie, die nicht »wahrer« oder »richtiger« ist als andere Theorien, die sich auf dasselbe Thema beziehen oder sich daran abgearbeitet haben. Meine Thesen entstanden in einer simulierten Diskussion mit den Arbeiten verschiedener Autor*innen und Forscher*innen. In dieser Hinsicht habe ich dieses Buch nicht alleine geschrieben, sondern beim Schreiben immer wieder auf bereits bestehendes Wissen zurückgegriffen. Ohne dieses Wissen, ohne die Arbeiten von Autor*innen und Wissenschaftler*innen, die mich inspiriert haben, wäre es mir gar nicht erst möglich gewesen, ein eigenes Buch zu verfassen. Wann immer ich auf »fremdes Wissen« zurückgreife, mache ich es im Text kenntlich. Die Leser*innen mögen es mir also verzeihen, dass ich im Text viele Bezüge zu anderen Wissensproduzent*innen herstelle und sehr oft aus ihren Texten zitiere. Zuweilen wird sich mein Buch wie eine Art Textcollage lesen. Das ist von mir intendiert. Ich möchte, dass die Leser*innen wissen, woher mein Wissen stammt und was ich damit mache bzw. wie ich damit arbeite.

Der vorliegende Text ist ein Versuch im wahrsten Sinne, ein Gedankenexperiment, das in zehn Jahren womöglich anders ausfallen und andere Erkenntnisse hervorbringen würde. Es ist auf einem weißen Blatt entstanden, und wer »vor einem weißen Blatt Papier sitzt«, erklärt der Soziologe Armin Nassehi, »kann eine ganze Welt erschaffen, indem er sie schreibend fixiert«.[10] Die schreibende Person läuft jedoch Gefahr, dem »Irrtum des weißen Blattes« zu erliegen, denn das »weiße Blatt entzieht sich der Komplexität der Welt geradezu, sein Zugzwang ist nicht die Komplexität des Beschriebenen. Die Zugzwänge des Schreibens verlangen eher Geschichten, die aufgehen, und genau deshalb erzeugt die Praxis des Schreibtisches und des Beschreibens des weißen Blattes meistens kohärente Geschichten, die aufgehen in einer inkohärenten Welt, die eben nicht aufgeht.«[11]

Mein Schreiben ist begrenzt, ebenso die Perspektive, aus der heraus ich versuche, eine Gefühlsgeschichte der Migration zu schreiben. Vielmehr handelt es sich hier um eine kleine Teilgeschichte aus der deutschen Migrationsgeschichte. Große, weite Teile dieser Geschichte und den Geschichten werden unerwähnt bleiben, wie z.B. jene der Geflüchteten aus Vietnam oder der »Vertragsarbeiter«, die aus den »Bruderländern« der DDR nach Ostdeutschland migrierten. Der Fokus der Untersuchung wird sich im Verlauf des Buches auf jene Migrant*innen (und ihre Nachfahren) verengen, die aus islamisch geprägten Ländern nach Deutschland migrierten, auf Menschen, die sich selbst als Muslim*innen begreifen und beschreiben, sowie auf all jene, die als »Muslime« wahrgenommen und markiert werden. Über den eigenen Erfahrungsraum ist diese Gruppe auch in migrationsgeschichtlicher Hinsicht von Bedeutung, da sie zum einen die größte Migrant*innen- bzw. Minderheitengruppe darstellt und zum anderen (derzeit) zum größten Feindbild rechter Gruppen, der Neuen Rechten und der in Teilen rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland (AfD) gehört. In den vergangenen 60 Jahren haben sie viele Bezeichnungen bekommen: »Gastarbeiter«, »Ausländer«, »Türken«, »Muslime«.

Von ganzem Herzen möchte ich all jenen danken, die den Schreibprozess begleitet und mich unterstützt haben. Mein erster Dank gilt Lisa Volpp und Stefan Hermes. Ohne sie wäre dieses Buch niemals geschrieben worden. Ich danke Ulrike Holler, die an das Projekt geglaubt und das Manuskript mit so viel Feingefühl lektoriert hat. Ich danke der Agentur Copywrite und dem S. Fischer Verlag und all den Mitarbeiter*innen, die dieses Buch Zeit gekostet und denen es Mühen abverlangt hat. Ich danke Uffa Jensen, ohne dessen Zornpolitik ich niemals auf die Idee zu meinem Buch gekommen wäre. Und ich danke Stefanie Schüler-Springorum – ohne sie wäre ich beruflich nicht da, wo ich heute bin. Ich danke meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Vater, dem ich in den vergangenen Jahren so viel verzeihen konnte. Ich danke meiner großen Familie in Hamburg, Teheran und Spielberg. Ich danke Sarah, die mir beigebracht hat, über Gefühle zu sprechen, die mich immer hinterfragt, meine Launen erträgt und die für meine Arbeit auf so vieles verzichten musste. Ich danke ihr für ihr Vertrauen, für ihre Liebe – und für Musa.

Emotionen der Ausgrenzung

Die Bestimmtheit, mit der Ahmad Hussainy reagierte, überraschte die Interviewerin Charlene Lynch genauso wie seine Antwort auf die Frage, ob er sich eine Zukunft in Deutschland vorstellen könnte. »Niemals!«, sagte Ahmad Hussainy instinktiv,[1] denn die abwehrende, negierende Haltung gegenüber Fragen nach dem Verbleib im Ankunftsland wird nach einer gewissen Zeit zu einem selbstachtungsbewahrenden Instinkt. Im März 2018, also zu der Zeit, als wir das Interview für das Archiv der Flucht[2] aufzeichneten, befand sich Hussainy seit etwa drei Jahren in Berlin. Er hatte eine Ausbildung als Hotelfachmann angefangen, lebte in einer Wohngemeinschaft mit seinem besten Freund und kam mehr oder weniger gut zurecht. Die Tatsache, dass nun dieser junge Mann das Land, das er als Ziel seiner Flucht ausgewählt und nur unter großen Strapazen erreicht hatte, wieder verlassen wollte, stieß auf Verwunderung. Daher hakte Charlene Lynch noch einmal nach: Warum möchte er denn nicht in Deutschland bleiben, schließlich durchlaufe er doch hier eine »schöne Ausbildung«, die er bald schon abgeschlossen haben werde? Anschließend könne er doch in einem Hotel arbeiten, Geld verdienen. Ahmad Hussainy schüttelte den Kopf und blieb bei seinem »Niemals!«. Wenig später endete das Interview. Anschließend brachte ich ihn zum Bus und dankte ihm für seine Zeit, für seine Geschichte. Und obwohl seine Antwort auch mich überrascht hatte, ging ich nicht mehr darauf ein. Bald vergaß ich Ahmads »Niemals!« und widmete mich den Vorbereitungen für die nächsten Dreharbeiten der Interviews im Haus der Kulturen der Welt (HKW). Es sollten drei Jahre vergehen, bis ich wieder daran erinnert wurde.

Meine Arbeit am Archiv der Flucht begann in einer Zeit des beruflichen Umbruchs und der persönlichen Rückkehr. Anfang 2017 hatte ich meine Dissertation aus Angst vor dem nahenden Auslaufen des Stipendiums innerhalb kürzester Zeit fertiggestellt und eingereicht. Unter dem selbst erzeugten Stress hatte ich mir sogar einen Zahn abgebrochen. Im Anschluss daran stürzte ich mich ins nächste Forschungsprojekt und musste bald feststellen, dass mein Körper komplett leer war, und zwar nicht leer im buddhistischen Sinne, sondern vielmehr so leer wie gegen Ende eines Marathonlaufs. Ich konnte keinen sinnvollen Gedanken mehr fassen. Das alles lag jedoch nicht nur an der Überlastung und der mangelnden Selbstsorge, sondern vor allem am jahrelangen Abarbeiten an einem akademischen Milieu, dem ich so oft den Rücken kehren wollte – aus Kränkung darüber, dass ich mich nie zugehörig gefühlt hatte oder fühlen durfte oder genauer: mir selbst nie erlaubt hatte, mich zugehörig zu fühlen. Es war eine Form der Selbstexklusion. Nun war es an der Zeit, mich auch körperlich von diesem Ort abzugrenzen. Und weil mein Stipendium ausgelaufen war und ich ohnehin eine Finanzierung brauchte, um mein Leben zu bestreiten (ich schämte mich, zum Jobcenter zu gehen), kehrte ich in jenes Milieu zurück, in dem ich neben Schule, Dojo und Studium die meiste Zeit meines Lebens verbracht hatte und wo ich sozialisiert wurde: in gastronomischen Betrieben. Dieses Bedürfnis konnte ich mir lange nicht erklären, bis ich in Didier Eribons Rückkehr nach Reims eine Erklärung dafür fand:

Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Deshalb bedeutet Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst.[3]

Ich begann, als Spüler in jenem Hotel zu arbeiten, in dem Ahmad Hussainy seine Ausbildung begonnen hatte. Dort, in der ewig lauten Spülküche, begegneten wir uns zum ersten Mal und sprachen Farsi. Zu der Zeit wusste ich noch nichts vom Archiv der Flucht, und das Haus der Kulturen der Welt (HKW) sagte mir nichts. Auch auf die Gefahr hin, manieriert zu erscheinen, die Arbeit als Spüler, der Kontakt mit Menschen, denen ich mich nahe fühlte – näher als den meisten Kolleg*innen aus Wissenschaft und Kultur –, erfüllte mich mit einem Gefühl des Glücks, das ich schon lange nicht gespürt hatte. Selbstverständlich gehörte ich dort zu den Privilegierten. Ich war ein Arbeitstourist; jemand, der seinen Job theoretisch jederzeit kündigen konnte, um eine besser bezahlte Stelle anzunehmen.

Und dies geschah schließlich wenige Monate später. Durch die Vermittlung der Publizistin Carolin Emcke trat ich die Stelle als wissenschaftlich-kuratorischer Mitarbeiter im HKW an, wo ich gemeinsam mit ihr und der Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev (beide waren die Kuratorinnen des Projekts, das auf eine Idee Carolin Emckes zurückgeht) sowie einigen Kolleg*innen vom HKW am Aufbau des Archivs der Flucht arbeitete. Meine Stelle als Spüler behielt ich jedoch noch für eine Weile. Montags bis freitags ging ich ins HKW, samstags (manchmal auch zusätzlich sonntags) ins Hotel. Was vermutlich wie eine doppelte Belastung klingen mag, war tatsächlich eher eine Entlastung. Die Arbeit im Hotel gab mir jedes Wochenende die Gelegenheit, mich von dem intellektuellen Kulturmilieu abzugrenzen. Die inneren Widerstände und das Unbehagen, das ich bereits an der Universität gespürt hatte, erneuerten sich und drangen nun stärker an die Oberfläche. Obwohl ich durch meine Bildung längst Teil dieses Milieus geworden, also »aufgestiegen« war, wollte ich einfach nicht dazugehören. Das lag nicht daran, dass ich mich nicht zugehörig fühlte. Nein, ich wollte mich nicht zugehörig fühlen, ich weigerte mich, zugehörig zu sein. Ich fühlte keine Scham gegenüber meinem Herkunftsmilieu und meiner sozialen Klasse. Ich hatte nicht das Gefühl, mich davon befreien zu müssen. Ganz im Gegenteil, die erneute Nähe befreite einen lange unterdrückten Teil meines Selbst. Ich war stolz auf meine soziale Herkunft, stolz auf meine jahrelange Arbeit in diversen gastronomischen Betrieben. Im Hotel wurde ich wieder zum hart arbeitenden »Ausländerkind«.

Im HKW hingegen pendelte ich zwischen Zorn und Melancholie. Zorn auf ein saturiertes Milieu, das aus meiner damaligen Sicht nur um sich selbst kreist, sich selbst genügt. Die Melancholie schien einen anderen Grund zu haben. Eine Beschreibung fand ich erneut bei Eribon: »Eine Melancholie, die aus einem ›gespaltenen Habitus‹ erwächst, um diesen schönen und kraftvollen Begriff Bourdieus aufzugreifen.«[4] Es dauerte eine Weile, bis mir bewusst wurde, dass mein starkes Bedürfnis danach, mich abzugrenzen, mich selbst aus den intellektuellen Zirkeln auszuschließen – kurz: meine Selbstexklusion –, auf meinem »gespaltenen Habitus« gründete sowie den Erfahrungen der Exklusion im Zuge der Migrationsrealitäten und der Gefühle, die diese geprägt hatten und fortwährend prägten.[5] Der Zorn und die Melancholie, die ich bereits während meines Studiums und der anschließenden Promotionszeit verspürte, hatten bei genauerer Betrachtung weniger mit den Institutionen selbst zu tun, diese waren lediglich die Orte und Systeme, welche solche Gefühle, die sich zu einem viel früheren Zeitpunkt in meinen Körper eingeschrieben hatten, an die Oberfläche trieben.

Im Herbst 2021 war das Archiv der Flucht abgeschlossen und sollte am HKW in Berlin vorgestellt werden – zeitgleich wurde das Online-Portal, auf dem alle 41 Oral-History-Interviews gespeichert sind, freigeschaltet. Im Zuge der Vorbereitungen dieses Events wurden vier Mitarbeiter*innen des Projekts zu einem Interview für das Süddeutsche Zeitung Magazin mit Marija Barišić und Lara Fritzsche eingeladen.[6] Die beiden Journalistinnen überraschten mich mit der Frage nach Ahmad Hussainys »Niemals!« und der Aussage, in Deutschland nicht glücklich zu sein, sowie seinem Wunsch, dieses Land wieder verlassen zu wollen. Meine Antwort darauf war unbeholfen. Ich erzählte von seiner schwierigen Beziehung zu den deutschen Vorgesetzten im Hotel und den deutschen Frauen. Im veröffentlichten Interview heißt es: »Womit Ahmad konfrontiert wurde, war Berührungslosigkeit – in allen Formen. Und dann ist doch klar, dass er sich nicht mehr wohlfühlt.«[7] Ich kann mich gut erinnern, dass ich diesen Satz später bei der Durchsicht des transkribierten Interviews hinzugefügt hatte, weil er zum einen schöner klang und zum anderen das, was ich zum Ausdruck bringen wollte, besser auf den Punkt brachte.

»Berührungslosigkeit« – ein Begriff, der mir zum ersten Mal im Werk des exiliranischen Dichters SAID[8] begegnet ist (»immer dorthin gehen, wo keine berührung möglich ist – ein geborener flüchtling!«[9]) – ist ein anderer, ein poetisierter Begriff für Exklusion. Berührungslosigkeit und Exklusion meinen dasselbe. Sie fassen die Erfahrungen der Migration, des Exils, der Fremdheit, des Ausgeschlossenseins, der Ungleichbehandlung und die Gefühle, die durch diese Erfahrungen geprägt werden, zusammen. Das migrierte und diskriminierte Subjekt lernt mit der Zeit, anders zu fühlen als jene Menschen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben.

Stimmt das? Kann ich das an dieser Stelle so behaupten? Fühlen wir »Ausländerkinder« (oder wenn es einigen lieber ist: wir »Deutsche mit Migrationsgeschichte«; »Deutsche mit inter- oder gar transnationaler Geschichte« spare ich mir, da diese Bezeichnung für jene reserviert sein sollte, die sich diese Bezeichnung ökonomisch und kulturell leisten können) Zorn, Scham oder Trauer anders als unsere deutschen Mitbürger*innen ohne Migrationsgeschichte? Gibt es bestimmte Gefühle, die ausschließlich mit den Erfahrungen der Migration und des Lebens als Migrant*in zusammenhängen? Welche Rolle spielt dabei unsere Klassenzugehörigkeit? Fühlt sich die Scham eines iranischen Arbeiterkindes anders an als die von Kindern türkischer Ärzt*innen oder syrischer Diplomat*innen? Und wie sehr beeinflussen Diskriminierungserfahrungen die Geschichte unserer Gefühle?

Eine migrantische Geschichte der Gefühle?

»In allen Gesellschaften spielen Emotionen eine große Rolle«, konstatiert die Philosophin Martha C. Nussbaum in ihrem Buch Politische Emotionen.[1] Und in allen Gesellschaften sind sie, um mit Uffa Jensen zu sprechen, »an vielem, wenn nicht gar an allem beteiligt, was wir Menschen tun«.[2] Das Bewusstsein für die Signifikanz von Emotionen innerhalb gesellschaftspolitscher Entwicklungen nimmt spätestens seit der Jahrtausendwende stetig zu. Und in öffentlichen, feuilletonistischen Debatten nehmen Emotionen immer mehr Raum ein, insbesondere dann, wenn eine Diskussion um sogenannte identitätspolitische Themen, wie z.B. Rassismus, entbrannt ist. Im Sommer 2020, vor dem Hintergrund der Black Lives Matter-Proteste in Berlin, beklagte der Journalist Deniz Yücel in seinem Artikel »Kein Mensch ist Müll« – eine Replik auf die Kolumne »All cops are berufsunfähig« der Journalist*in Hengameh Yaghoobifarah,[3] in welcher Yaghoobifarah sich die Polizei auf die Mülldeponie wünscht – die »Wende des Antirassismus zur Identitätspolitik« und die »Verschiebung der politischen Diskussion vom Gedanken zum Gefühl«.[4] Yücels Intervention waren zahlreiche Artikel vorausgegangen, in denen sich Journalist*innen entweder mit Yaghoobifarah solidarisierten oder Kritik übten. Einige Kolleg*innen warfen Yaghoobifarah eine »sprachliche Verrohung«, Gefährdung der Pressefreiheit und Verletzung der Würde der Polizist*innen vor.[5] Andere Journalist*innen hingegen verteidigten Yaghoobifarah mit dem Hinweis auf Yaghoobifarahs Stellung als PoC (People of Color) und damit automatisch als diskriminiertes Subjekt, welche eine überzogene Reaktion auf Machtstrukturen erlaube.[6]

Identitätsdebatten wie jene um Yaghoobifarahs Kolumne sind in erster Linie Gefühlsdebatten, in welchen die Gefühle jedoch nicht kritisch reflektiert werden, vielmehr wird ihnen eine eigenartige Evidenz zugesprochen: Gefühle sollen etwas beweisen und letztendlich einer unreflektierten Apologie dienen: auf der einen Seite als Ausrede für ein »Alles ist erlaubt«, wenn du einer diskriminierten Gruppe angehörst, und auf der anderen Seite als Rechtfertigung für die Empörung privilegierter Gruppen, die sich durch glückliche Konstellationen alltäglicher Diskriminierungen (aufgrund von Race, Gender and Class) elegant entziehen konnten. In diesen Debatten geht es zuweilen weniger um eine physische Exklusion aus der Gesellschaft, sondern vielmehr um ein gefühltes Ausgeschlossensein auf der Sozialebene. Es geht mir hier nicht darum, diese und ähnliche Phänomene der gefühlten Exklusion geringzuschätzen, ganz im Gegenteil: Ich nehme diese Gefühle durchaus ernst, und ich möchte ihre Ursprünge beleuchten, indem ich sie einer emotionsgeschichtlichen Untersuchung unterziehe. Denn Gefühle sind historisch, und sie verfügen in mehrfacher Hinsicht über eine Geschichte, wie Ute Frevert in ihrem Buch Mächtige Gefühle erklärt: Zum einen »wandeln sich die Anlässe und Kontexte, die bestimmte Gefühle hervorrufen«, und zum anderen können sich Gefühle, »die wir heute noch haben, früher anders« angefühlt haben.[7] Gefühle unterliegen historischen, politischen, kulturellen und sozialen Konjunkturen und sind gesellschaftlich gerahmt.[8] Gesellschaften produzieren und prägen Gefühle, die jedes Individuum für sich empfindet. Jede Person hat eigene Gefühle, dennoch, wie Frevert betont, sind sie nicht immer subjektiv oder bloße Privatsache. Vielmehr können sich »gefühlte und Gefühlsgemeinschaften von unterschiedlicher Dauer [bilden], manche wirken in der Erinnerung lebenslang nach«.[9]

Im Januar 2008 entstand unter Ute Frevert am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung der interdisziplinäre Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle«.[10] Ausgehend von der Annahme, dass »Gefühle – Empfindungen und ihr Ausdruck – kulturell geformt und sozial erlernt werden«, untersuchen zahlreiche Projekte die gesellschaftliche Normierung, historische Variabilität und die »Gefühlsmächtigkeit« von Gefühlen. Uffa Jensen, der lange in diesem Forschungsbereich gearbeitet hat, veröffentlichte rund zehn Jahre später seinen Essay Zornpolitik, in welchem er sich der »Verbindung zwischen Vorurteilen und Gefühlen« vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten um Antisemitismus und Islamfeindlichkeit bzw. antimuslimischen Rassismus widmet und dabei starke »Verneinungsgefühle« wie Zorn, Hass, Ekel und Angst einer emotionshistorischen Untersuchung unterzieht.[11] Wie Jensen gleich zu Beginn erklärt, sind »Gefühlszustände als solche […] zunächst nicht eindeutig in Ekel, Hass, Zorn etc. zu unterscheiden«, denn das, was wir empfinden, wird in der psychologisch-kognitivistischen Forschung als »Grundaffekt« beschrieben, welches sich »grob zwischen stark/schwach und positiv/negativ« unterscheiden lässt.[12] Erst mit der Zeit lernen wir, diesen Grundaffekten einen Begriff zu geben. Genauso wie wir das Denken lernen, lernen wir auch das Fühlen. Unser Fühlen bzw. unser Gefühlswissen ist von unserem Geschlecht, Alter, der körperlichen und geistigen Befähigung, unserer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse, ethnischen Herkunft und Religion abhängig. Gefühle basieren schließlich, wie Jensen zusammenfasst,

auf Übersetzungsleistungen, mit denen wir Stimmungsänderungen, ausgelöst durch bestimmte Gegenstände, Geschehnisse oder Personen, interpretieren. Dabei wenden wir das Wissen über Gefühle an, welches uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft zur Verfügung steht.[13]

Das vorliegende Buch verhält sich in gewisser Hinsicht spiegelbildlich zu Uffa Jensens Zornpolitik. Während sich Jensen überwiegend den stark verneinenden Emotionen jener Menschen widmet, von denen diskriminierende Handlungen ausgehen (z.B. Bürger*innen, deren Zorn sich gegen Geflüchtete richtet), möchte ich zum einen die Perspektive drehen: von den Zürnenden und Wütenden auf die Empfänger*innen des Zorns, der Wut und anderer stark negierender Gefühle. Zum anderen möchte ich dabei den Fokus auf die vielfältigen Erfahrungen der Migration legen, die mir selbst seit meiner Kindheit bekannt sind und die meine Gefühle geprägt haben. Diese bestimmten Gefühle beeinflussen noch heute meinen Alltag. Doch meine persönlichen Erinnerungen sollen in dem vorliegenden Buch nicht im Vordergrund stehen, sondern lediglich der Einführung und Einordnung bestimmter Gefühle dienen. Für meine Untersuchungen greife ich sowohl auf die Oral-History-Interviews des Archivs der Flucht zurück als auch auf literarische und autobiographische Werke von Autor*innen und Dichter*innen wie z.B. Emine Sevgi Özdamar, Semra Ertan und SAID sowie auf wissenschaftliche Arbeiten aus der Migrationsforschung und der Emotionsgeschichte.

Formen sozialer Exklusion

Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob es im Jahr 1987 oder 1988 gewesen ist, als wir – meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich – eine befreundete Familie, die wir bei einem unserer Aufenthalte in diversen Heimen und Unterkünften kennengelernt hatten, in ihrer neuen Wohnung besuchten. Woran ich mich jedoch erinnern kann, ist, dass es ein besonderer Anlass gewesen sein muss. Schließlich gehörte der Auszug aus dem Heim und der darauffolgende Einzug in die erste eigene Wohnung zu den ersten Höhepunkten des Einwanderlebens. Nach mehr als dreißig Jahren kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie der Tag abgelaufen ist, nur eine Episode hat in meinem Gedächtnis überdauert. Ich muss mich gelangweilt haben, weil die Familie zu der Zeit entweder noch keine Kinder hatte oder weil ihr Kind sich im Säuglingsalter befunden hat und ich mich daher alleine beschäftigen musste. Ich ging die Wohnung ab und landete am Ende auf dem Balkon, der auf einen Spielplatz zeigte, auf dem einige Kinder meines Alters umherliefen und sich amüsiert rauften. Nach kurzem Zaudern fragte ich sie, ob ich mitspielen dürfte. Die Antwort: »Nein, mit Ausländerkindern spielen wir nicht.«

Ich weiß nicht mehr, was ich damals empfunden habe. Vielleicht Scham, Traurigkeit oder Zorn? Was ich jedoch heute sagen kann: Es muss sich um die erste Erfahrung sozialer Exklusion gehandelt haben. Denn mir wurde damals klar, dass mein Anderssein, mein Fremdsein der Grund dafür war, dass ich von einer Aktivität und aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde. Es muss eines der ersten Erlebnisse gewesen sein, in denen ich – ob nun bewusst oder unbewusst – eine Verbindung zwischen dem Gefühl der Zurückweisung, des Ausschlusses und dem Begriff »Ausländer« hergestellt habe. Künftig würde ich in den Spiegel sehen und einen Ausländer erkennen. Eribon würde dieses Erlebnis mit Rückgriff auf Sigmund Freud als »gesellschaftliches Spiegelstadium« deuten: Bewusstwerdung und »Erkenntnis der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu«.[1]

Diese und ähnliche Erfahrungen sind Teil eines Initiationsritus für »Ausländerkinder«. An einem bestimmten Punkt in unserem Leben sagt uns jemand, dass wir anders sind und dass diese Andersartigkeit mit einem großen Makel behaftet ist – so groß, dass andere nicht mit uns spielen oder reden möchten. Ich möchte diese Tatsache vorerst weder bewerten noch normativ einordnen. Viel interessanter und produktiver ist an dieser Stelle die Frage, welche Gefühle aus solchen Erfahrungen entstehen und wie sie sich durch mehrmalige Wiederholung in unseren Körpern festschreiben. Um diese Gefühle und ihren Einfluss auf unseren Habitus ergründen zu können, sind weitere Beispiele nötig. Ich möchte daher ein wenig ausholen und verschiedene Formen sozialer Exklusion zusammentragen und voneinander differenzieren. Beginnen möchte ich mit einer Szene, die mich beim erstmaligen Lesen an die oben geschilderte Balkonepisode erinnerte.

Giorgio Bassanis 1958 veröffentlichter Roman Die Brille mit dem Goldrand handelt von den Erfahrungen eines Arztes aus dem Bürgertum, der aufgrund seiner Homosexualität von der faschistischen Gesellschaft Italiens geächtet wird. Bassanis sensibler, jedoch nicht sentimentaler Erzählstil ermöglicht es den Leser*innen, die Erfahrungen des Protagonisten Doktor Fadigati nachzufühlen. Besonders eine Stelle des Romans ist aufgrund der darin beschriebenen Emotionen noch heute von hoher Relevanz. In dieser Szene sitzt Doktor Fadigati, der gezwungen ist, seine Homosexualität zu verbergen, in einem Zug, in dem sich auch der Erzähler des Romans befindet:

Blickte man im Vorübergehen auf den haltenden Zug, Abteil um Abteil, entdeckte man plötzlich Doktor Fadigati hinter der dicken Fensterscheibe seines Abteils, wie er die Menschen beobachtete, die über die Gleise liefen und auf die Wagen der dritten Klasse zueilten. Nach dem Ausdruck gramvollen Neids in seinem Gesicht, nach den sehnsüchtigen Blicken, mit denen er der kleinen ländlichen Menge, die uns so unerträglich schien, folgte, hätte man auf einen Häftling schließen können: einen prominenten Verbannten auf dem Transport nach Ponza oder Isole Tremiti, wo er wer weiß wie lange bleiben mußte.[2]

Das Urteil, das die (damalige) Gesellschaft über ihn, seine Liebe und Sexualität gefällt hatte, zwang ihn, seine Liebe geheim zu halten. In Bassanis Roman ist Fadigati dazu verdammt, mit gramvollem Neid und Sehnsucht auf all jene zu blicken, die in ihrer Liebe frei sind. Habe auch ich damals als Kind vom Balkon aus mit gramvollem Neid und Sehnsucht auf jene Gruppe und Szene geschaut, von der ich ausgeschlossen war? Vermutlich ja, obwohl es nicht meine sexuelle Orientierung war, die mich der Ausgeschlossenheit preisgab, sondern meine ethnische Herkunft. Ich denke jedoch, dass sich die Gefühle – trotz der unterschiedlichen Gründe des Ausschlusses – ähneln oder sogar gleichen.

Wie es sich anfühlt, seine Liebe geheim zu halten, hat auch Bashar Taha erlebt, der 2017 aufgrund seiner Homosexualität aus Kurdistan (Autonome Region Kurdistan, Irak) nach Deutschland geflohen ist. Taha lebte und studierte Schauspiel und Maskenbild in Dohuk (etwa 470 Kilometer von Bagdad entfernt). In seinem Interview für das Archiv der Flucht erzählt Taha, wie er und die Liebe seines Lebens sich zwar offen zeigten, jedoch ihre Liebe füreinander in der Öffentlichkeit geheim hielten bzw. maskierten. Sie lebten zusammen und reisten zusammen, jedoch wurden sie als Brüder oder heterosexuelle Freunde wahrgenommen – und, um sich zu schützen, hielten sie dieses Schauspiel in der Öffentlichkeit aufrecht.[3] In Deutschland lernte Bashar Taha eine andere Form der Exklusion kennen, die ihn nicht nur zu einem anderen Umgang zwang, sondern auch andere Emotionen hervorrief. Auf die Frage seiner Interviewerin Carolin Emcke, was das Etikett »Geflüchteter« genau für ihn bedeute, erzählt Taha von seinen Schwierigkeiten auf dem deutschen Wohnungs- und Arbeitsmarkt, ohne sich jedoch in eine Opferrolle stecken zu lassen. Was folgt, ist eine differenzierte Betrachtung der Dynamiken von rassistischen Vorurteilen und Diskriminierungen.[4] »Geflüchteter« oder »Flüchtling« führt Taha weiter aus, sei »kein Name für einen Menschen«, sondern nur eine Bezeichnung für die Unterlagen deutscher Behörden.[5]

Wie sich solche und andere Formen der Exklusion auf den Körper des exkludierten und letztendlich diskriminierten Subjekts auswirken, beschreibt Didier Eribon in seinem Buch Grundlagen eines kritischen Denkens anhand einer persönlichen Geschichte. Eines Tages beschließen Eribon und sein Partner eine eingetragene Lebensgemeinschaft einzugehen. Für die Eintragung müssen sie sich zum Zivilgericht begeben und nicht, wie bei Trauungen üblich, zum Standesamt. Diese Trennung – eine politische Entscheidung – sollte, wie Eribon schreibt, von Beginn an verhindern, dass die eingetragene Lebensgemeinschaft homosexueller Menschen »im Entferntesten an die Ehe erinnert«.[6] In Paris, wo sich in vielen Arrondissements die Zivilgerichte im selben Gebäude befinden wie die Standesämter, betraten Eribon und sein Partner das Gericht, gingen die Gänge entlang, vorbei an einer standesamtlichen Trauung – einer »pompösen Feierlichkeit«, wie Eribon schreibt – und gelangten schließlich »zu der Abstellkammer«, in der sie empfangen wurden. Dieser Gegensatz war, wie Eribon weiter ausführt,

so krass, dass uns dieses Dekor der zivilen Liturgie auf brutale Weise vergegenwärtigte, worauf wir kein Anrecht hatten und was so viele tapfere Menschen, in ihrem Streben, die Zivilisation zu retten, auf ewig vor unseren Ansprüchen schützen wollten. Ich hatte noch nie Gefallen an Zeremonien gefunden und habe mich auch nie nach dem ganzen Hochzeitstheater gesehnt. Doch für einen kurzen Augenblick haben wir beide die ganze Macht der gesellschaftlichen und rechtlichen Exklusion und ihrer Unterdrückungsmechanismen gespürt.[7]

Diese rechtliche, institutionelle und architektonische Ausgrenzung ließ Eribon »die allgegenwärtige Gewalt der Exklusion spüren«.[8] Die Erfahrung der Exklusion, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein (und schon immer ausgeschlossen gewesen zu sein), schreibt sich schon früh, also mit den ersten Erlebnissen der Exklusion, tief in unseren Körper ein. Es schlummert kaum wahrnehmbar unter unserer Haut und wartet auf eine Gelegenheit, um wieder mit Gewalt an die Oberfläche unseres Bewusstseins zu drängen. Dabei kann meist, wie Eribon schreibt, eine »einzige kurze und unerwartete Szene des Alltagslebens […] ausreichen, um all das zu erwecken, was in uns schlummert. Sie kann alle Nervenstränge in unserem Körper zum Vibrieren bringen.«[9]

Eine Erfahrung, die auch Dilek Güngör in ihrem Roman Ich bin Özlem beschreibt. In einem der dramaturgischen Höhepunkte sitzt die titelgebende Hauptfigur Özlem mit ihrem deutschen Mann und ihren deutschen Freund*innen beim Abendessen, als das Gespräch über die angemessene Schule für ihre Kinder in dem Moment entgleist, als sie auf eine »Brennpunktschule« zu sprechen kommen, in der, wie einer der Freunde erklärt, »›80 Prozent der Kinder […] nicht deutscher Herkunft [sind] und viele aus schwierigen Familien‹« stammen.[10] Ein Mann namens Ralf äußert sich am lautesten dazu: »›Ja, erst finden es alle ganz klasse, multikulti und so, aber dann, wenn die Kinder in die Schule kommen, ziehen sie weg, dahin, wo die guten Schulen sind‹«. Johanna, die gute Freundin Özlems, ergänzt: »›Wenn die ganze Klasse nur Arabisch und Türkisch spricht, ist es auch nicht so toll für die Kinder‹«.[11]

Nur Özlem bleibt stumm und spricht in sich hinein: »Wieso reden meine Freunde so? Wieso reden sie so, wenn ich mit am Tisch sitze? Statt zu fragen, grolle ich stumm in mich hinein. Ich fühle mich wie versteinert. Mir laufen die Tränen über die Wangen, ich bin unfähig, den Mund aufzumachen.«[12] Die Stimmung kippt vollends, als Özlem versucht, ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ihre Freunde verlieren die Geduld und fühlen sich angegriffen. Sie seien, so ihre Freunde, schließlich keine Rassisten, und sie, Özlem, würde sich als Opfer inszenieren. Özlem muss sich in diesem Moment wie in Treibsand gefühlt haben: Je mehr sie sich bewegt, je unruhiger sie agiert, desto tiefer versinkt sie. Am Ende bleibt nur vibrierende Resignation. Die Freundschaft zwischen ihr und den anderen kühlt im Laufe des Romans ab. Auch ein erneuter Versuch der Klärung, in dem sich Özlem darum bemüht, ihr Gefühl des Fremdseins offenzulegen, bewirkt letztendlich das Gegenteil:

›Ich bin die, die nicht dazugehört, die anders ist, die anders aussieht, anders heißt. 39 bin ich jetzt und fühle mich dennoch wie das kleine Mädchen im Kindergarten, das sich nicht verständlich machen kann und nicht mitspielen darf. Das Angst hat, dass es stinkt.‹[13]

Ihre Freundinnen begegnen ihren Erklärungsversuchen mit Unverständnis: »›Jeder ist doch unsicher und ängstlich. Das geht jedem von uns so, das hat mit deiner Geschichte gar nichts zu tun.‹«[14] Hat es das wirklich nicht? Und können sich die deutschen Freundinnen, die alle weiß und bürgerlich (aufgewachsen) sind, auf die gleiche Weise ausgeschlossen fühlen wie Özlem? Lassen sich ihre Kindheitserlebnisse mit denen Özlems vergleichen? Hatten sie auch ein »Balkonerlebnis«, oder wollten Kinder nicht mit ihnen spielen, weil sie »stinken«? Anstatt sofort auf diese Fragen zu antworten, möchte ich zunächst Özlem bzw. Güngör zu Wort kommen lassen:

Als Kind hatte ich keinen Namen für das Gefühl, das mich quälte. Ich hielt es für Bauchweh. Es macht tatsächlich Bauchschmerzen. Jetzt habe ich Namen dafür, aber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind große Worte.

 

Die Scham des Gastarbeiterkindes hat einen festen und gut geschützten Platz in meinem Herzen. Manchmal rührt sie sich Tage nicht, und dann macht sie sich unvermittelt breit und verdüstert alles.[15]

Özlems Freundinnen mögen auch Erfahrungen des Ausschlusses gemacht haben, z.B. weil sie nicht sportlich genug waren, nicht die angemessene Kleidung oder eine Brille getragen haben. Und natürlich können solche Exklusionserfahrungen schmerzhaft sein und das Selbst in Frage stellen, wie Joan Didion in ihrem Essay »Über Selbstachtung« festgehalten hat. Darin beschreibt sie, was die Nichtaufnahme in eine Studentinnenverbindung mit ihrem neunzehnjährigen Ich gemacht hat: »Ich verlor die Überzeugung, dass die Ampel für mich immer auf Grün springen würde«.[16] Didion wuchs mit einer Selbstverständlichkeit auf, mit der wahrscheinlich auch Özlems Freundinnen aufgewachsen sind, die jedoch Özlem selbst, als Kind aus einer migrantischen Arbeiterklasse, verwehrt geblieben ist: die Überzeugung, dass die Ampeln für sie immer auf Grün springen würden.

Was unterscheidet die geschilderten Exklusionserfahrungen voneinander? Die einfache Antwort: Diskriminierungsrealitäten. Der kleine Junge auf dem Balkon, das kleine Mädchen im Kindergarten, Fadigati und Eribon, sie alle eint die Erfahrung und die Emotion der Exklusion aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse (hier Arbeiterklasse), ihrer sexuellen Orientierung und ethnischen Herkunft. Im Gegensatz zu Didion und den Freundinnen Özlems wurden sie im Laufe ihres Lebens immer wieder mit verschiedenen Formen der Diskriminierung konfrontiert – einige seit ihrer Kindheit. Von diesen Erfahrungen erzählt auch die Psychologin Lucía Muriel in ihrem Interview mit Carolin Emcke im Archiv der Flucht.[17] Muriel migrierte als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Anfang der 1970er Jahre aus Ecuador in die DDR. Ihre Erinnerungen ähneln den Erzählungen Özlems:

Ich war das erste, glaube ich, dunkle Kind weit und breit. Man hat wirklich gar keinen Umgang mit mir gefunden. Die Kinder haben sich alle geweigert, mit mir zu spielen. Sie haben alle, auch Erwachsene, überall, überall, ich kann mich wirklich erinnern, überall haben die Leute, auch auf der Straße sind manchmal die Leute stehen geblieben und haben gesagt: »Du bist aber schmutzig, geh dich mal waschen.« Und ich hab mich immer angeguckt, wo habe ich mich, wo bin ich schmutzig, wo bin ich schmutzig?[18]

Die Erfahrung und Emotion der Exklusion haben dazu geführt, dass Lucía Muriel als Kind irgendwann und für eine gewisse Zeit ganz damit aufgehört hat, außerhalb der Wohnung, zu sprechen.[19] Im Laufe des Interviews wird immer wieder sicht- und hörbar, wie sehr solche Erfahrungen der Ausgrenzung, die mit der Migration einhergehen, Muriel geprägt haben – und welch zentralen Platz die Beschäftigung mit rassistischer Diskriminierung in ihrem Leben eingenommen hat.

Von all dem handelt dieses Buch: der Erfahrung sozialer (gefühlter) Exklusion, die von einer Exklusion in der Sachdimension unterschieden wird (dazu später mehr), und von den Gefühlen, die von derartigen Erfahrungen geprägt werden. In den folgenden Kapiteln werde ich zunächst in verschiedene Emotionstheorien einführen, anschließend die Quellen vorstellen, auf die ich im Zuge meiner Untersuchungen und Darstellungen zurückgreifen werde, und schließlich die Begriffe Exklusion und Ausgrenzung näher beleuchten.

Wir tragen Geschichte im Körper

Im Jahr 2017 wurden die Datteltäter mit gleich drei Preisen ausgezeichnet, darunter die Grimme Online Awards in den Kategorien »Kultur und Unterhaltung« sowie »Publikumspreis«. Auf ihrem YouTube-Kanal[1] (und mittlerweile auch auf funk[2]) setzt sich die Satire-Gruppe mit zentralen Themen der deutschen Migrationsgesellschaft auseinander, wobei der Alltag in Deutschland lebender Muslim*innen und all jener, die dafür gehalten werden, im Fokus steht. Frei nach Kurt Tucholsky überspitzen, übertreiben und überzeichnen sie in ihren Videos Alltagssituationen, bedienen sich Klischees und Stereotypen und blasen »die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird«[3]. Der Logik postkolonialer Theorien verpflichtet, drehen sie dabei die Perspektive und damit zugleich die Verhältnisse: von jenen, die stets unter Beobachtung stehen, auf die, deren Blicken, Wertungen und Urteilen sie ausgesetzt sind. In ihren Sketchen sind nicht mehr die vermeintlichen Migrant*innen die »Anderen«, sondern die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft ohne nennenswerte Migrationserfahrung.[4] Aus ebendieser Perspektive heraus inszenieren die Datteltäter in ihrem Video »Battle der Emotionen – Kanak vs. Alman«[5] die Gefühle[6] und Gefühlsausdrücke stereotyper weißer Deutscher auf der einen und migrantischer Deutscher auf der anderen Seite.

In drei Clips stellen sie drei verschiedene Situationen dar, auf die »Kanaks« und »Almans« emotional unterschiedlich reagieren: Trennung, Krankheit und gute Nachricht. Die »Almans«, also weiße Deutsche ohne Migrationsgeschichte, agieren durchgehend kühl, distanziert und beinahe emotionslos, während die »Kanaks«, People of Color bzw. migrantische Deutsche, ihren Gefühlen durch große, zuweilen pathetische Gesten Ausdruck verleihen.[7]