Jahre der Entscheidung - Oswald Spengler - E-Book

Jahre der Entscheidung E-Book

Oswald Spengler

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Beschreibung

Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung ist eine politisch-philosophische Schrift von Oswald Spengler. Sie erschien erstmals 1933 bei C. H. Beck in München. Vorarbeiten zu ihr leistete die Vortragstätigkeit des Philosophen.

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Jahre der Entscheidung

Oswald Spengler

Inhalt:

Oswald Spengler – Biografie und Bibliografie

Jahre der Entscheidung

Einleitung

Der politische Horizont

1. Deutschland ist keine Insel

2. Angst vor der Wirklichkeit

3. Der täuschende Friede 1871/1914

Die Weltkriege und Weltmächte

4. Zeitalter der Weltkriege

5. Was Metternich unter dem Chaos verstand

6. Die Wirtschaft mächtiger als die Politik: Keim der Wirtschaftskatastrophe

7. Wandlung der Heere und strategischen Gedanken

8. Neue Mächte

9. Die Vereinigten Staaten und die Revolution

Die weiße Weltrevolution

10. Die »Revolution von unten«. Zeitalter der Gracchen in Rom

11. Nicht wirtschaftlich, sondern städtisch: Zerfall der Gesellschaft

12. Besitz, Luxus, Reichtum

13. Der Klassenkampf beginnt um 1770

14. Typus des Demagogen

15. Die weiße Revolution heute am Ziel: Die Weltwirtschaftskrise seit 1840 von den Führern des Proletariats gewollt

16. Sieg der niederen Massenarbeit über die Führerarbeit

17. Um 1900 die weiße Wirtschaft schon untergraben

18. Der Klassenkampf noch nicht zu Ende

Die farbige Weltrevolution

19. Tatsache der zwei Revolutionen: Klassenkampf und Rassenkampf

20. Müdigkeit der weißen Völker: Unfruchtbarkeit

Jahre der Entscheidung, Oswald Spengler

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849619572

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Oswald Spengler – Biografie und Bibliografie

Deutscher Kultur- und Geschichtsphilosoph, geboren am 29. Mai 1880 in Blankenburg im Harz, verstorben am 8. Mai 1936 in München. Sohn eines Postsekretärs. Nach dem Bestehen des Abiturs 1899 studiert er Mathematik und Naturwissenschaften in Halle, München und Berlin. Bereits 1904 promoviert er. Von 1908 bis 1911 arbeitet er als Gymnasiallehrer in Hamburg, anschließend zieht er um nach München. Nach einer kurzen Anstellung als Kulturredakteur arbeitet er als freier Schriftsteller. Immer wieder kommt er auch in Kontakt mit den Nationalsozialisten, mit denen er anfangs sympathisiert, sich dann aber immer mehr abwendet. Er stirbt an Herzversagen.

Wichtige Werke:

    Der metaphysische Grundgedanke der heraklitischen Philosophie, 1904.

    Der Untergang des Abendlandes, 1918 – 1922

    Preußentum und Sozialismus, 1919.

    Neubau des Deutschen Reiches, 1924.

    Politische Pflichten der deutschen Jugend. 1924.

    Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931

    Politische Schriften, 1932.

    Jahre der Entscheidung, 1933.

Jahre der Entscheidung

Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung

Einleitung

  Im Zwange der Welt

  Weben die Nomen

  Sie können nichts wenden noch wandeln

Richard Wagner, Siegfried

Niemand konnte die nationale Umwälzung dieses Jahres mehr herbeisehnen als ich. Ich habe die schmutzige Revolution von 1918 vom ersten Tage an gehaßt, als den Verrat des minderwertigen Teils unseres Volkes an dem starken, unverbrauchten, der 1914 aufgestanden war, weil er eine Zukunft haben konnte und haben wollte. Alles, was ich seitdem über Politik schrieb, war gegen die Mächte gerichtet, die sich auf dem Berg unseres Elends und Unglücks mit Hilfe unserer Feinde verschanzt hatten, um diese Zukunft unmöglich zu machen. Jede Zeile sollte zu ihrem Sturz beitragen, und ich hoffe, daß das der Fall gewesen ist. Irgend etwas mußte kommen, in irgendeiner Gestalt, um die tiefsten Instinkte unseres Blutes von diesem Druck zu befreien, wenn wir bei den kommenden Entscheidungen des Weltgeschehens mitzureden, mitzuhandeln haben und nicht nur ihr Opfer sein sollten. Das große Spiel der Weltpolitik ist nicht zu Ende. Die höchsten Einsätze werden erst gemacht. Es geht für jedes der lebenden Völker um Größe oder Vernichtung. Aber die Ereignisse dieses Jahres geben uns die Hoffnung, daß diese Frage für uns noch nicht entschieden ist, daß wir – wie in der Zeit Bismarcks – irgendwann wieder Subjekt und nicht nur Objekt der Geschichte sein werden. Es sind gewaltige Jahrzehnte, in denen wir leben, gewaltig – das heißt furchtbar und glücklos. Größe und Glück sind zweierlei, und die Wahl steht uns nicht offen. Glücklich wird niemand sein, der heute irgendwo in der Welt lebt; aber es ist vielen möglich, die Bahn ihrer Jahre nach persönlichem Willen in Größe oder in Kleinheit zu durchschreiten. Indessen, wer nur Behagen will, verdient es nicht, da zu sein.

Der Handelnde sieht oft nicht weit. Er wird getrieben, ohne das wirkliche Ziel zu kennen. Er würde vielleicht Widerstand leisten, wenn er es sähe, denn die Logik des Schicksals hat nie von menschlichen Wünschen Kenntnis genommen. Aber viel häufiger ist es, daß er in die Irre geht, weil er ein falsches Bild der Dinge um sich und in sich entwickelt hat. Es ist die große Aufgabe des Geschichtskenners, die Tatsachen seiner Zeit zu verstehen und von ihnen aus die Zukunft zu ahnen, zu deuten, zu zeichnen, die kommen wird, ob wir sie wollen oder nicht. Ohne schöpferische, vorwegnehmende, warnende, leitende Kritik ist eine Epoche von solcher Bewußtheit wie die heutige nicht möglich.

Ich werde nicht schelten oder schmeicheln. Ich enthalte mich jedes Werturteils über die Dinge, die erst zu entstehen begonnen haben. Wirklich werten läßt sich ein Ereignis erst, wenn es ferne Vergangenheit ist und die endgültigen Erfolge oder Mißerfolge längst Tatsachen geworden sind, also nach Jahrzehnten. Ein reifes Verständnis Napoleons war nicht vor dem Ende des vorigen Jahrhunderts möglich. Über Bismarck können selbst wir noch keine abschließende Meinung haben. Nur Tatsachen stehen fest, Urteile schwanken und wechseln. Und schließlich: Ein großes Ereignis bedarf des wertenden Urteils der Mitlebenden nicht. Die Geschichte selbst wird es richten, wenn keiner der Handelnden mehr lebt.

Aber das darf heute schon gesagt werden: Der nationale Umsturz von 1933 war etwas Gewaltiges und wird es in den Augen der Zukunft bleiben, durch die elementare, überpersönliche Wucht, mit der er sich vollzog, und durch die seelische Disziplin, mit der er vollzogen wurde. Das war preußisch durch und durch, wie der Aufbruch von 1914, der in einem Augenblick die Seelen verwandelte. Die deutschen Träumer erhoben sich, ruhig, mit imponierender Selbstverständlichkeit, und öffneten der Zukunft einen Weg. Aber eben deshalb müssen sich die Mithandelnden darüber klar sein: Das war kein Sieg, denn die Gegner fehlten. Vor der Gewalt des Aufstandes verschwand sofort alles, was eben noch tätig oder getan war. Es war ein Versprechen künftiger Siege, die in schweren Kämpfen erstritten werden müssen und für die hier erst der Platz geschaffen wurde. Die Führenden haben die volle Verantwortung dafür auf sich genommen und sie müssen wissen oder lernen, was das bedeutet. Es ist eine Aufgabe voll ungeheurer Gefahren, und sie liegt nicht im Inneren Deutschlands, sondern draußen, in der Welt der Kriege und Katastrophen, wo nur die große Politik das Wort führt. Deutschland ist mehr als irgendein Land in das Schicksal aller andern verflochten; es kann weniger als irgendein anderes regiert werden, als ob es etwas für sich wäre. Und außerdem: Es ist nicht die erste nationale Revolution, die sich hier ereignet hat – Cromwell und Mirabeau sind vorangegangen –, aber es ist die erste, die sich in einem politisch ohnmächtigen Lande in sehr gefährlicher Lage vollzieht: das steigert die Schwierigkeit der Aufgaben ins Ungemessene.

Sie sind sämtlich erst gestellt, kaum begriffen, nicht gelöst. Es ist keine Zeit und kein Anlaß zu Rausch und Triumphgefühl. Wehe denen, welche die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln! Eine Bewegung hat eben erst begonnen, nicht etwa das Ziel erreicht, und die großen Fragen der Zeit haben sich dadurch in nichts geändert. Sie gehen nicht Deutschland allein an, sondern die ganze Welt, und sie sind nicht Fragen dieser Jahre, sondern eines Jahrhunderts.

Die Gefahr der Begeisterten ist es, die Lage zu einfach zu sehen. Begeisterung verträgt sich nicht mit Zielen, die über Generationen hinaus liegen. Mit solchen beginnen aber erst die wirklichen Entscheidungen der Geschichte.

Diese Machtergreifung hat sich in einem Wirbel von Stärke und Schwäche vollzogen. Ich sehe mit Bedenken, daß sie täglich mit so viel Lärm gefeiert wird. Es wäre richtiger, wir sparten das für einen Tag wirklicher und endgültiger Erfolge auf, daß heißt außenpolitischer. Es gibt keine andern. Wenn sie einmal errungen sind, werden die Männer des Augenblicks, die den ersten Schritt taten, vielleicht schon längst tot sein, vielleicht vergessen und geschmäht, bis irgendeine Nachwelt sich ihrer Bedeutung erinnert. Die Geschichte ist nicht sentimental, und wehe dem, der sich selbst sentimental nimmt!

In jeder Entwicklung mit solchem Anfang liegen viele Möglichkeiten, deren sich die Teilnehmer selten ganz bewußt sind. Sie kann in Prinzipien und Theorien erstarren, in politischer, sozialer, wirtschaftlicher Anarchie untergehen, ergebnislos zum Anfang zurückkehren, so wie man im Paris von 1793 deutlich fühlte, que ça changerait. Dem Rausch der ersten Tage, der oft schon kommende Möglichkeiten verdarb, folgt in der Regel eine Ernüchterung und die Unsicherheit über den »nächsten Schritt«. Es gelangen Elemente zur Macht, welche den Genuß der Macht als Ergebnis betrachten und den Zustand verewigen möchten, der nur für Augenblicke tragbar ist. Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis zur Selbstaufhebung übersteigert. Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie. Wir wollen diese Gefahren beizeiten und nüchtern ins Auge fassen, um klüger zu sein als manche Generation der Vergangenheit.

Wenn aber hier das dauerhafte Fundament einer großen Zukunft gelegt werden soll, auf dem kommende Geschlechter bauen können, so ist das nicht ohne Fortwirken alter Traditionen möglich. Was wir von unseren Vätern her im Blute haben, Ideen ohne Worte, ist allein das, was der Zukunft Beständigkeit verspricht. Was ich vor Jahren als »Preußentum« gezeichnet hatte, ist wichtig – es hat sich gerade eben bewährt –, nicht irgendeine Art von »Sozialismus«. Wir brauchen eine Erziehung zu preußischer Haltung, wie sie 1870 und 1914 da war und wie sie im Grunde unserer Seelen als beständige Möglichkeit schläft. Nur durch lebendiges Vorbild und sittliche Selbstdisziplin eines befehlenden Standes ist das erreichbar, nicht durch viel Worte oder durch Zwang. Sich selbst beherrschen muß man, um einer Idee dienen zu können, zu innerlichen Opfern aus Überzeugung bereit sein. Wer das mit dem geistigen Druck eines Programms verwechselt, der weiß nicht, wovon hier die Rede ist. Damit komme ich auf das Buch zurück, mit dem ich 1919 den Hinweis auf diese sittliche Notwendigkeit begonnen habe, ohne die sich nichts von Dauer errichten läßt: »Preußentum und Sozialismus«. Alle anderen Weltvölker haben einen Charakter durch ihre Vergangenheit erhalten. Wir hatten keine erziehende Vergangenheit und wir müssen deshalb den Charakter, der als Keim in unserem Blute liegt, erst wecken, entfalten, erziehen.

Diesem Ziel soll auch dieses Werk gewidmet sein, dessen ersten Teil ich hier vorlege. Ich tue, was ich immer getan habe: Ich gebe kein Wunschbild der Zukunft und noch weniger ein Programm zu dessen Verwirklichung, wie es unter Deutschen Mode ist, sondern ein klares Bild der Tatsachen, wie sie sind und sein werden. Ich sehe weiter als andere. Ich sehe nicht nur große Möglichkeiten, sondern auch große Gefahren, ihren Ursprung und vielleicht den Weg, ihnen zu entgehen. Und wenn niemand den Mut hat zu sehen und zu sagen, was er sieht, will ich es tun. Ich habe ein Recht zur Kritik, weil ich immer wieder durch sie das gezeigt habe, was geschehen muß, weil es geschehen wird. Eine entscheidende Reihe von Taten ist begonnen worden. Nichts, was einmal Tatsache ist, läßt sich zurücknehmen. Jetzt müssen wir alle in dieser Richtung fortschreiten, ob wir sie gewollt haben oder nicht. Es wäre kurzsichtig und feige, nein zu sagen. Was der Einzelne nicht tun will, wird die Geschichte mit ihm tun.

Aber das Ja setzt ein Verstehen voraus. Dem soll dies Buch dienen. Es ist eine Warnung vor Gefahren. Gefahren gibt es immer. Jeder Handelnde ist in Gefahr. Gefahr ist das Leben selbst. Aber wer das Schicksal von Staaten und Nationen an sein privates Schicksal geknüpft hat, muß den Gefahren sehend begegnen. Und zum Sehen gehört vielleicht der größere Mut.

Dies Buch ist aus einem Vortrag »Deutschland in Gefahr« entstanden, den ich 1930 in Hamburg gehalten habe, ohne auf viel Verständnis gestoßen zu sein. Im November 1932 ging ich an die Ausarbeitung, immer noch der gleichen Lage in Deutschland gegenüber. Am 30. Januar 1933 war es bis zur Seite 106 gedruckt. Ich habe nichts daran geändert, denn ich schreibe nicht für Monate oder das nächste Jahr, sondern für die Zukunft. Was richtig ist, kann durch ein Ereignis nicht aufgehoben werden. Nur den Titel habe ich anders gewählt, um nicht Mißverständnisse zu erzeugen: Nicht die nationale Machtergreifung ist eine Gefahr, sondern die Gefahren waren da, zum Teil seit 1918, zum Teil sehr viel länger, und sie bestehen fort, weil sie nicht durch ein Einzelereignis beseitigt werden können, das erst einer jahrelangen und richtigen Fortentwicklung bedarf, um ihnen gegenüber wirksam zu sein. Deutschland ist in Gefahr. Meine Angst um Deutschland ist nicht kleiner geworden. Der Sieg vom März war zu leicht, um den Siegern über den Umfang der Gefahr, ihren Ursprung und ihre Dauer die Augen zu öffnen.

Niemand kann wissen, zu was für Formen, Lagen und Persönlichkeiten diese Umwälzung führt und was für Gegenwirkungen sie von außen zur Folge hat. Jede Revolution verschlechtert die außenpolitische Lage eines Landes, und allein um dem gewachsen zu sein, sind Staatsmänner vom Range Bismarcks nötig. Wir stehen vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg mit unbekannter Verteilung der Mächte und nicht vorauszusehenden – militärischen, wirtschaftlichen, revolutionären – Mitteln und Zielen. Wir haben keine Zeit, uns auf innerpolitische Angelegenheiten zu beschränken. Wir müssen für jedes denkbare Ereignis »in Form« sein. Deutschland ist keine Insel. Wenn wir nicht unser Verhältnis zur Welt als das wichtigste Problem gerade für uns sehen, geht das Schicksal – und was für ein Schicksal! – erbarmungslos über uns hinweg.

Deutschland ist das entscheidende Land der Welt, nicht nur seiner Lage wegen, an der Grenze von Asien, weltpolitisch heute dem wichtigsten Erdteil, sondern auch weil die Deutschen noch jung genug sind, um die weltgeschichtlichen Probleme in sich zu erleben, zu gestalten, zu entscheiden, während andere Völker zu alt und starr geworden sind, um mehr als eine Abwehr aufzubringen. Aber auch großen Problemen gegenüber enthält der Angriff das größere Versprechen des Sieges.

Das habe ich beschrieben. Wird es die gehoffte Wirkung tun?

München, im Juli 1933 

Oswald Spengler

Der politische Horizont

1. Deutschland ist keine Insel

Hat heute irgendein Mensch der weißen Rassen einen Blick für das, was ringsumher auf dem Erdball vor sich geht? Für die Größe der Gefahr, die über dieser Völkermasse liegt und droht? Ich rede nicht von der gebildeten oder ungebildeten Menge unserer Städte, den Zeitungslesern, dem Stimmvieh der Wahltage – wobei zwischen Wählern und Gewählten längst kein Unterschied des Ranges mehr besteht –, sondern von den führenden Schichten der weißen Nationen, soweit sie nicht schon vernichtet sind, von den Staatsmännern, sofern es welche gibt, von den echten Führern der Politik und der Wirtschaft, der Heere und des Denkens. Sieht irgend jemand über diese Jahre und über seinen Erdteil, sein Land, selbst über den engen Kreis seiner Tätigkeit hinaus?

Wir leben in einer verhängnisschweren Zeit. Die großartigste Geschichtsepoche nicht nur der faustischen Kultur Westeuropas mit ihrer ungeheuren Dynamik, sondern eben um dieser willen der gesamten Weltgeschichte ist angebrochen, größer und weit furchtbarer als die Zeiten Cäsars und Napoleons. Aber wie blind sind die Menschen, über die dieses gewaltige Schicksal hinwegbraust, sie durcheinanderwirbelnd, erhebend oder vernichtend. Wer von ihnen sieht und begreift, was mit ihnen und um sie her geschieht? Vielleicht ein alter weiser Chinese oder Inder, der schweigend, mit einer tausendjährigen Vergangenheit des Denkens im Geiste um sich blickt – aber wie flach, wie eng, wie klein gedacht ist alles, was an Urteilen, an Maßnahmen in Westeuropa und Amerika hervortritt! Wer begreift von den Bewohnern des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten wirklich etwas von dem, was jenseits von New York und San Franzisko vor sich geht? Was ahnt ein Mann der englischen Mittelklasse von dem, was auf dem Festland drüben sich vorbereitet, um von der französischen Provinz zu schweigen? Was wissen sie alle von der Richtung, in welcher ihr eigenes Schicksal sich bewegt? Da entstehen lächerliche Schlagworte wie Überwindung der Wirtschaftskrise, Völkerverständigung, nationale Sicherheit und Autarkie, um Katastrophen im Umfang von Generationen durch prosperity und Abrüstung zu »überwinden«.

Aber ich rede hier von Deutschland, das im Sturm der Tatsachen tiefer bedroht ist als irgendein anderes Land, dessen Existenz im erschreckenden Sinne des Wortes in Frage steht. Welche Kurzsichtigkeit und geräuschvolle Flachheit herrschen hier, was für provinziale Standpunkte tauchen auf, wenn von den größten Problemen die Rede ist! Man gründe innerhalb unserer Grenzpfähle das Dritte Reich oder den Sowjetstaat, schaffe das Heer ab oder das Eigentum, die Wirtschaftsführer oder die Landwirtschaft, man gebe den einzelnen Länderchen möglichst viel Selbständigkeit oder beseitige sie, man lasse die alten Herren von der Industrie oder Verwaltung wieder im Stile von 1900 arbeiten oder endlich, man mache eine Revolution, proklamiere die Diktatur, zu der sich dann ein Diktator schon finden wird – vier Dutzend Leute fühlen sich dem schon längst gewachsen – und alles ist schön und gut.

Aber Deutschland ist keine Insel. Kein zweites Land ist in dem Grade handelnd oder leidend in das Weltschicksal verflochten. Seine geographische Lage allein, sein Mängel an natürlichen Grenzen verurteilen es dazu. Im 18. und 19. Jahrhundert war es »Mitteleuropa«, im 20. ist es wieder wie seit dem 13. Jahrhundert ein Grenzland gegen »Asien«, und niemand hat es nötiger, politisch und wirtschaftlich weit über die Grenzen hinaus zu denken, als die Deutschen. Alles was in der Ferne geschieht, zieht seine Kreise bis ins Innere Deutschlands.

Aber unsere Vergangenheit rächt sich, diese 700 Jahre jammervoller provinzialer Kleinstaaterei ohne einen Hauch von Größe, ohne Ideen, ohne Ziel. Das läßt sich nicht in zwei Generationen einholen. Und die Schöpfung Bismarcks hatte den großen Fehler, das heranwachsende Geschlecht nicht für die Tatsachen der neuen Form unseres politischen Lebens erzogen zu haben. Man sah sie, aber begriff sie nicht, eignete sie sich innerlich mit ihren Horizonten, Problemen und neuen Pflichten nicht an. Man lebte nicht mit ihnen. Und der Durchschnittsdeutsche sah nach wie vor die Geschicke seines großen Landes parteimäßig und partikularistisch an, das heißt flach, eng, dumm, krähwinkelhaft. Dieses kleine Denken begann, seit die Staufenkaiser mit ihrem Blick über das Mittelmeer hin und die Hansa, die einst von der Scheide bis Nowgorod geherrscht hatte, infolge des Mangels an einer realpolitischen Stützung im Hinterlande anderen, sicherer gegründeten Mächten erlegen waren. Seitdem sperrte man sich in zahllose Vaterländchen und Winkelinteressen ein, maß die Weltgeschichte an deren Horizont und träumte hungernd und armselig von einem Reich in den Wolken, wofür man das Wort Deutscher Idealismus erfand. Zu diesem kleinen, innerdeutschen Denken gehört noch fast alles, was an politischen Idealen und Utopien im Sumpfboden des Weimarer Staates aufgeschossen ist, all die internationalen, kommunistischen, pazifistischen, ultramontanen, föderalistischen, »arischen« Wunschbilder vom Sacrum Imperium, Sowjetstaat oder Dritten Reich. Alle Parteien denken und handeln so, als wenn Deutschland allein auf der Welt wäre. Die Gewerkschaften sehen nicht über die Industriegebiete hinaus. Kolonialpolitik war ihnen von jeher verhaßt, weil sie nicht in das Schema des Klassenkampfes paßte. In ihrer doktrinären Beschränktheit begreifen sie nicht oder wollen nicht begreifen, daß der wirtschaftliche Imperialismus der Zeit um 1900 gerade für den Arbeiter eine Voraussetzung seiner Existenz war mit seiner Sicherung von Absatz der Produkte und Gewinnung von Rohstoffen, was der englische Arbeiter längst begriffen hatte. Die deutsche Demokratie schwärmt für Pazifismus und Abrüstung außerhalb der französischen Machtgrenzen. Die Föderalisten möchten das ohnehin kleine Land wieder in ein Bündel von Zwergstaaten ehemaligen Gepräges verwandeln und damit fremden Mächten Gelegenheit geben, den einen gegen den andern auszuspielen. Und die Nationalsozialisten glauben ohne und gegen die Welt fertig zu werden und ihre Luftschlösser bauen zu können, ohne eine mindestens schweigende aber sehr fühlbare Gegenwirkung von außen her.

2. Angst vor der Wirklichkeit

Dazu kommt die allgemeine Angst vor der Wirklichkeit. Wir »Bleichgesichter« haben sie alle, obwohl wir ihrer sehr selten, die meisten nie bewußt werden. Es ist die seelische Schwäche des späten Menschen hoher Kulturen, der in seinen Städten vom Bauerntum der mütterlichen Erde und damit vom natürlichen Erleben von Schicksal, Zeit und Tod abgeschnitten ist. Er ist allzu wach geworden, an das ewige Nachdenken über das Gestern und Morgen gewohnt und erträgt das nicht, was er sieht und sehen muß: den unerbittlichen Gang der Dinge, den sinnlosen Zufall, die wirkliche Geschichte mit ihrem mitleidlosen Schritt durch die Jahrhunderte, in die der einzelne mit seinem winzigen Privatleben an bestimmter Stelle unwiderruflich hineingeboren ist. Das ist es, was er vergessen, widerlegen, abstreiten möchte. Er flieht aus der Geschichte in die Einsamkeit, in erdachte und weltfremde Systeme, in irgendeinen Glauben, in den Selbstmord. Er steckt, als ein grotesker Vogel Strauß, seinen Kopf in Hoffnungen, Ideale, in feigen Optimismus: es ist so, aber es soll nicht so sein, also ist es anders. Wer nachts im Walde singt, tut es aus Angst. Aus derselben Angst schreit heute die Feigheit der Städte ihren angeblichen Optimismus in die Welt hinaus. Sie vertragen die Wirklichkeit nicht mehr. Sie setzen ihr Wunschbild der Zukunft an die Stelle der Tatsachen – obwohl die Geschichte sich noch nie um Wünsche der Menschen gekümmert hat –, vom Schlaraffenland der kleinen Kinder bis zum Weltfrieden und Arbeiterparadies der großen.

So wenig man von den Ereignissen der Zukunft weiß – nur die allgemeine Form künftiger Tatsachen und deren Schritt durch die Zeiten läßt sich aus dem Vergleich mit anderen Kulturen erschließen –, so sicher ist es, daß die bewegenden Mächte der Zukunft keine anderen sind als die der Vergangenheit: der Wille des Stärkeren, die gesunden Instinkte, die Rasse, der Wille zu Besitz und Macht: und darüber hin schwanken wirkungslos die Träume, die immer Träume bleiben werden: Gerechtigkeit, Glück und Friede.

Dazu kommt aber für unsere Kultur seit dem 16. Jahrhundert die rasch wachsende Unmöglichkeit für die meisten, die immer verwickelter und undurchsichtiger werdenden Ereignisse und Lagen der großen Politik und Wirtschaft noch zu übersehen und die in ihnen wirkenden Mächte und Tendenzen zu begreifen, geschweige denn zu beherrschen. Die echten Staatsmänner werden immer seltener. Das meiste, was in der Geschichte dieser Jahrhunderte gemacht und nicht geschehen ist, ist von Halbkennern und Dilettanten gemacht worden, die Glück hatten. Aber sie konnten sich immerhin auf die Völker verlassen, deren Instinkt sie gewähren ließ. Erst heute ist dieser Instinkt so schwach und die redselige Kritik aus fröhlicher Ungewißheit so stark geworden, daß die wachsende Gefahr besteht, ein wirklicher Staatsmann und Kenner der Dinge werde nicht etwa instinktiv gebilligt oder auch nur murrend ertragen, sondern durch den Widerstand aller Besserwisser gehindert, das zu tun, was getan werden muß. Das erste konnte Friedrich der Große erfahren, das letzte wurde beinahe das Schicksal Bismarcks. Die Größe und die Schöpfungen solcher Führer würdigen können erst späte Geschlechter und nicht einmal die. Aber es kommt darauf an, daß die Gegenwart sich auf Undank und Unverständnis beschränkt und nicht zu Gegenwirkungen übergeht. Besonders die Deutschen sind groß darin, schöpferische Taten zu beargwöhnen, zu bekritteln, zu vereiteln. Die historische Erfahrung und die Stärke der Tradition, wie sie im englischen Leben zu Hause sind, gehen ihnen ab. Das Volk der Dichter und Denker, das im Begriff ist, ein Volk der Schwätzer und Hetzer zu werden! Jeder wirkliche Staatslenker ist unpopulär, die Folge der Angst, Feigheit und Unkenntnis der Zeitgenossen, aber selbst um das zu verstehen, muß man mehr sein als ein »Idealist«.

Wir befinden uns heute noch im Zeitalter des Rationalismus, das im 18. Jahrhundert begann und im 20. rasch zu Ende geht. Wir sind alle seine Geschöpfe, ob wir es wissen und wollen oder nicht. Das Wort ist jedem geläufig, aber wer weiß, was alles dazu gehört? Es ist der Hochmut des städtischen, entwurzelten, von keinem starken Instinkt mehr geleiteten Geistes, der auf das blutvolle Denken der Vergangenheit und die Weisheit alter Bauerngeschlechter mit Verachtung herabsieht. Es ist die Zeit, in der jeder lesen und schreiben kann und deshalb mitreden will und alles besser versteht. Dieser Geist ist von Begriffen besessen, den neuen Göttern dieser Zeit, und er übt Kritik an der Welt: sie taugt nichts, wir können das besser machen, wohlan, stellen wir ein Programm der besseren Welt auf! Nichts ist leichter als das, wenn man Geist hat. Verwirklichen wird es sich dann wohl von selbst. Wir nennen das einstweilen den »Fortschritt der Menschheit«. Da es einen Namen hat, ist es da. Wer daran zweifelt, ist beschränkt, ein Reaktionär, ein Ketzer, vor allem ein Mensch ohne demokratische Tugend: aus dem Wege mit ihm! So ist die Angst vor der Wirklichkeit vom geistigen Hochmut überwunden worden, dem Dünkel aus Ungewißheit in allen Dingen des Lebens, aus seelischer Armut, aus Mangel an Ehrfurcht, zuletzt aus weltfremder Dummheit, denn nichts ist dümmer als die wurzellose städtische Intelligenz. In englischen Kontoren und Klubs nannte man sie common sense, in französischen Salons esprit, in deutschen Gelehrtenstuben die reine Vernunft. Der flache Optimismus des Bildungsphilisters beginnt die elementaren Tatsachen der Geschichte nicht mehr zu fürchten, sondern zu verachten. Jeder Besserwisser will sie in sein erfahrungsfremdes System einordnen, sie begrifflich vollkommener machen als sie wirklich sind, sie sich im Geiste Untertan wissen, weil er sie nicht mehr erlebt, sondern nur noch erkennt. Dieser doktrinäre Hang zur Theorie aus Mangel an Erfahrung, besser: aus mangelnder Begabung Erfahrungen zu machen, äußert sich literarisch im unermüdlichen Entwerfen von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systemen und Utopien, praktisch in der Wut des Organisierens, die zum abstrakten Selbstzweck wird und Bürokratien zur Folge hat, die an ihrem eigenen Leerlauf zugrunde gehen oder lebendige Ordnungen zugrunde richten. Der Rationalismus ist im Grunde nichts als Kritik, und der Kritiker ist das Gegenteil des Schöpfers: er zerlegt und fügt zusammen: Empfängnis und Geburt sind ihm fremd. Deshalb ist sein Werk künstlich und leblos und tötet, wenn es mit wirklichem Leben zusammentrifft. All diese Systeme und Organisationen sind auf dem Papier entstanden, methodisch und absurd, und leben nur auf dem Papier. Das beginnt zur Zeit Rousseaus und Kants mit philosophischen, sich im Allgemeinen verlierenden Ideologien, geht im 19. Jahrhundert zu wissenschaftlichen Konstruktionen über mit naturwissenschaftlicher, physikalischer, darwinistischer Methode – Soziologie, Nationalökonomie, materialistische Geschichtsschreibung – und verliert sich im 20. im Literatentum der Tendenzromane und Parteiprogramme.

Aber man täusche sich nicht: Idealismus und Materialismus gehören gleichmäßig dazu. Sie sind beide rationalistisch durch und durch, Kant nicht weniger als Voltaire und Holbach, Novalis ebenso wie Proudhon, die Ideologen der Befreiungskriege ebenso wie Marx, die materialistische Auffassung der Geschichte in demselben Grade wie die idealistische: Ob man als deren »Sinn« und »Zweck« den Fortschritt, die Technik, die »Freiheit«, das »Glück der meisten« ansieht, oder die Blüte von Kunst, Dichtung und Denken, das macht wenig aus. In beiden Fällen hat man nicht bemerkt, das das Schicksal in der Geschichte von ganz anderen, robusteren Mächten abhängt. Menschengeschichte ist Kriegsgeschichte. Von den wenigen echten Historikern von Rang ist keiner populär geworden, und von den Staatsmännern wurde Bismarck es erst, als es ihm nichts mehr half.

Aber ebenso wie Idealismus und Materialismus ist die Romantik ein Ausdruck rationalistischer Überhebung aus Mangel an Sinn für die Wirklichkeit. Sie sind im tiefsten Grunde verwandt und es wird schwer sein, bei irgendeinem politischen oder sozialen Romantiker die Grenze zwischen diesen Richtungen des Denkens zu finden. In jedem bedeutenden Materialisten steckt ein heimlicher Romantiker. Gewiß, man verachtet den kalten, flachen, methodischen Geist der andern, aber man besitzt selbst genug davon, um es mit den gleichen Mitteln, dem gleichen Dünkel zu tun. Romantik ist kein Zeichen starker Instinkte, sondern schwachen, sich selbst hassenden Intellekts. Sie sind alle infantil, diese Romantiker, Männer, die zu lange oder immer Kinder geblieben sind, ohne die Kraft zur Selbstkritik, aber mit ewigen Hemmungen aus dem dumpfen Bewußtsein persönlicher Schwäche und von dem kranken Gedanken getrieben, die Gesellschaft abzuändern, die ihnen zu männlich, zu gesund, zu nüchtern ist, nicht mit dem Messer und Revolver wie in Rußland, beileibe nicht, sondern mit edlem Gerede und poetischen Theorien. Wehe ihnen, wenn sie nicht künstlerische Begabung genug besitzen, um sich die fehlende Gestaltungskraft wenigstens einzureden! Aber auch da sind sie weibisch und schwächlich: sie können keinen großen Roman, keine strenge Tragödie auf die Beine stellen, noch weniger eine geschlossene starke Philosophie; nur innerlich formlose Lyrik, blutleere Schemata und fragmentarische Gedanken kommen zum Vorschein, weltfremd und weltfeindlich bis zur Absurdität. Aber so waren auch die ewigen »Jünglinge« nach 1815 mit ihren altteutschen Röcken und Tabakspfeifen, auch Jahn und Arndt; selbst Stein konnte seinen romantischen Geschmack an altertümlichen Staatsordnungen nicht so weit bändigen, um von seiner großen praktischen Erfahrung den diplomatisch erfolgreichen Gebrauch zu machen. Gewiß, sie waren heldenhaft, edel und jeden Augenblick bereit Märtyrer zu sein, aber sie sprachen zu viel von deutschem Wesen und zu wenig von Eisenbahnen und Zollverein, und deshalb sind sie für die wirkliche Zukunft Deutschlands nur ein Hindernis gewesen. Haben sie je den Namen des großen Friedrich List gehört, der 1846 Selbstmord beging, weil niemand seine vorausschauenden realpolitischen Ziele – den Aufbau einer deutschen Nationalwirtschaft – begriff und unterstützte? Aber die Namen Arminius und Thusnelda kannten sie alle.

Und genau dieselben ewigen Jünglinge sind heute wieder da, unausgereift, ohne irgend eine Erfahrung oder den guten Willen dazu, aber frischweg über Politik schreibend und mitredend, von Uniformen und Abzeichen begeistert und mit dem fanatischen Glauben an irgend eine Theorie. Es gibt eine Sozialromantik des schwärmerischen Kommunismus, eine politische Romantik, die Wahlziffern und den Rausch von Massenreden für Taten hält, und eine Wirtschaftsromantik, die ohne alle Kenntnis der inneren Formen realer Wirtschaft hinter den Geldtheorien kranker Gehirne herläuft. Sie fühlen sich nur in Masse, weil sie da das dunkle Gefühl ihrer Schwäche betäuben können, indem sie sich multiplizieren. Und das nennen sie Überwindung des Individualismus.

Und sie sind, wie alle Rationalisten und Romantiker, sentimental wie ein Gassenhauer. Schon der Contrat social und die Menschenrechte stammen aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit. Burke betonte als echter Staatsmann demgegenüber mit Recht, daß sie da drüben ihre Rechte nicht als Menschen, sondern als Engländer forderten. Das war praktisch und politisch gedacht, nicht rationalistisch aus Zuchtlosigkeit der Gefühle. Denn diese üble Sentimentalität, die über allen theoretischen Strömungen dieser zwei Jahrhunderte liegt, dem Liberalismus, Kommunismus, Pazifismus, über allen Büchern, Reden und Revolutionen, stammt aus seelischer Unbeherrschtheit, aus persönlicher Schwäche, aus Mangel an Zucht durch eine strenge alte Tradition. Sie ist »bürgerlich« oder »plebejisch«, soweit das Schimpfworte sind. Sie sieht die menschlichen Dinge, die Geschichte, das politische und wirtschaftliche Schicksal von unten, klein und kleinlich, aus dem Kellerfenster, von der Gasse, dem Literatencafe, der Volksversammlung her, nicht aus der Höhe und Ferne. Jede Art von Größe, alles was aufragt, herrscht, überlegen ist, ist ihr verhaßt, und Aufbau bedeutet ihr in Wirklichkeit den Abbau aller Schöpfungen der Kultur, des Staates, der Gesellschaft bis zum Niveau der kleinen Leute, über das ihr armseliges Gefühl nicht begreifend hinausragt. Das allein ist heute volkstümlich und volksfreundlich, denn »Volk« bedeutet im Munde jedes Rationalisten und Romantikers nicht die formvolle, vom Schicksal im Laufe langer Zeiten gestaltete, geschichtete Nation, sondern den Teil der flachen formlosen Masse, den jeder gerade als seinesgleichen empfindet, vom »Proletariat« bis zur »Menschheit«.

Diese Herrschaft des städtischen wurzellosen Geistes geht heute zu Ende. Als letzte Art des Verstehens der Dinge wie sie sind erscheint die Skepsis, der gründliche Zweifel an Sinn und Wert des theoretischen Nachdenkens, an dessen Fähigkeit, kritisch und begrifflich irgend etwas zu erschließen und praktisch irgend etwas zu leisten: die Skepsis in Form der großen historischen und physiognomischen Erfahrung, des unbestechlichen Blickes für Tatsachen, der wirklichen Menschenkenntnis, die lehrt, wie der Mensch war und ist und nicht wie er sein sollte, des echten Geschichtsdenkens, das unter anderem lehrt, wie oft solche Zeitalter der allmächtigen Kritik schon da waren und wie erfolglos sie vergangen sind; die Ehrfurcht vor den Tatsachen des Weltgeschehens, die innerlich Geheimnisse sind und bleiben, die wir nur beschreiben und nicht erklären können und die praktisch nur durch Menschen von starker Rasse, die selbst historische Tatsachen sind, gemeistert werden können und nicht durch sentimentale Programme und Systeme. Dieses harte historische Wissen um die Tatsachen, wie es in diesem Jahrhundert beginnt, ist den weichen, unbeherrschten Naturen unerträglich. Sie hassen den, der sie feststellt, und nennen ihn einen Pessimisten. Nun gut, aber dieser starke Pessimismus, zu dem die Menschenverachtung aller großen Tatmenschen gehört, die Menschenkenner sind, ist etwas ganz anders als der feige der kleinen müden Seelen, welche das Leben fürchten und den Blick auf die Wirklichkeit nicht ertragen. Das erhoffte Leben in Glück, Frieden, ohne Gefahr, in breitem Behagen ist langweilig, greisenhaft und ist außerdem nur denkbar, nicht möglich. An dieser Tatsache, an der Wirklichkeit der Geschichte, scheitert jede Ideologie.

3. Der täuschende Friede 1871/1914

Was die augenblickliche Weltlage betrifft, so sind wir alle in Gefahr, sie falsch zu sehen. Seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1865), dem Deutsch-Französischen Krieg (1870) und der Viktorianischen Zeit hat sich bis 1914 ein so unwahrscheinlicher Zustand von Ruhe, Sicherheit, friedlichem und sorglos fortschreitendem Dasein über die weißen Völker verbreitet, daß man in allen Jahrhunderten vergebens nach etwas Ähnlichem sucht. Wer das erlebt hat oder von anderen davon hört, erliegt immer wieder der Neigung, es für normal zu halten, die wüste Gegenwart als Störung dieses natürlichen Zustandes aufzufassen und zu wünschen, daß es »endlich einmal wieder aufwärts« gehe. Nun, das wird nicht der Fall sein. Dergleichen wird nie wiederkommen. Man kennt die Gründe nicht, die diesen auf die Länge unmöglichen Zustand herbeigeführt haben: die Tatsache, daß die stehenden und immer wachsenden Heere einen Krieg so unberechenbar machten, daß kein Staatsmann mehr einen zu führen wagte; die Tatsache, daß die technische Wirtschaft sich in einer fieberhaften Bewegung befand, die ein rasches Ende nehmen mußte, weil sie sich auf rasch hinschwindende Bedingungen stützte; und endlich die Tatsache, daß durch beides die schweren ungelösten Probleme der Zeit immer weiter auf- und den Söhnen und Enkeln zugeschoben wurden, als üble Erbschaft kommender Geschlechter, bis man nicht mehr an ihr Vorhandensein glaubte, obwohl sie in ständig wachsender Spannung aus der Zukunft herüberdrohten.

Einen langen Krieg ertragen wenige, ohne seelisch zu verderben; einen langen Frieden erträgt niemand. Diese Friedenszeit von 1870 bis 1914 und die Erinnerung an sie hat alle weißen Menschen satt, begehrlich, urteilslos und unfähig gemacht, Unglück zu ertragen: die Folge sehen wir in den utopischen Vorstellungen und Forderungen, mit denen heute jeder Demagoge auftritt, Forderungen an die Zeit, die Staaten, die Parteien, vor allem »die anderen«, ohne an die Grenzen des Möglichen, an Pflichten, Leistungen und Entsagung auch nur zu erinnern.