Jahreszeit der Steine - André Hille - E-Book

Jahreszeit der Steine E-Book

André Hille

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Beschreibung

Ein allzu frühes Erwachen im dörflichen Zuhause, der kleine Sohn des Ich-Erzählers liegt quer im Bett zwischen den Eltern – die tägliche Routine setzt ein, aber eine Spannung liegt in der Luft, das Paar mit seinen drei kleinen Kindern schweigt sich an, im Laufe des Tages baut sich immer mehr Druck auf, der sich einfach entladen muss. Doch wohin wird das führen? André Hilles Roman "Jahreszeit der Steine" erzählt einen einzigen Tag von morgens bis Mitternacht, ein Tag voller Arbeit, Erledigungen, Kontakten, Auseinandersetzungen, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Ein Tag voller Anspannung. Jeder Tag birgt ein ganzes Leben. Mit seinen Höhen und Tiefen, Ereignissen und Begegnungen, den Bildern und Überlegungen, die hervorgerufen werden. Konfrontiert mit den Wünschen und Eigenheiten der Kinder, die zärtlich und liebevoll beschrieben werden, erinnert sich der Erzähler an seine eigene, schwierige Kindheit im Osten, fragt sich, was es heißt, ein guter Vater zu sein und woher die Konflikte mit seiner Frau Levje rühren. Gedankenreich und berührend, entwaffnend ehrlich, gelegentlich zornig, dann wieder komisch, aber immer von einer geradezu magischen Präzision – "Jahreszeit der Steine" ist ein Gegenwartsroman, der einen noch lange beschäftigt.

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André Hille

Jahreszeit der Steine

Roman

C.H.BECK

Zum Buch

Ein allzu frühes Erwachen im dörflichen Zuhause, der kleine Sohn des Ich-Erzählers liegt quer im Bett zwischen den Eltern – die tägliche Routine setzt ein, aber eine Spannung liegt in der Luft, das Paar mit seinen drei kleinen Kindern schweigt sich an, im Laufe des Tages baut sich immer mehr Druck auf, der sich einfach entladen muss. Doch wohin wird das führen?

André Hilles Roman «Jahreszeit der Steine» erzählt einen einzigen Tag von morgens bis Mitternacht, ein Tag voller Arbeit, Erledigungen, Kontakten, Auseinandersetzungen, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Ein Tag voller Anspannung. Jeder Tag birgt ein ganzes Leben. Mit seinen Höhen und Tiefen, Ereignissen und Begegnungen, den Bildern und Überlegungen, die hervorgerufen werden. Konfrontiert mit den Wünschen und Eigenheiten der Kinder, die zärtlich und liebevoll beschrieben werden, erinnert sich der Erzähler an seine eigene, schwierige Kindheit im Osten, fragt sich, was es heißt, ein guter Vater zu sein und woher die Konflikte mit seiner Frau Levje rühren. Gedankenreich und berührend, entwaffnend ehrlich, gelegentlich zornig, dann wieder komisch, aber immer von einer geradezu magischen Präzision – «Jahreszeit der Steine» ist ein Gegenwartsroman, der einen noch lange beschäftigt.

Über den Autor

André Hille geboren 1974, gründete die «Textmanufaktur», heute eine der führenden Autorenschulen im deutschsprachigen Raum. Zehn Jahre lang unterrichtete er Kreatives Schreiben, u.a. an den Universitäten Leipzig und Saarbrücken und am mediacampus Frankfurt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fischerhude. Im Herbst 2020 erschien sein erster Roman «Das Rauschen der Nacht».

Inhalt

Licht bewahren

Entfernte Wärme

Vatersprache

Selbstklimmer

Schnappviecher

Bicicletta

Vom Gehen

Der Gundermann-Exzess

Die verdichtete Zeit

Starkzehrer

Buchkörper

«geet mit uns auf ein ort»

Spaltraue Stunde

Prozession für eine Ratte

To be a young man

Es ist das Fällige, das fällt

Inselverzwergung

Wolfen

Der Archetyp des Eigenbrötlers

Das Zentrum des Lebens

Blatt und Schmetterling

Madenhacker

Die Gewissheiten der Nacht

Dank

Zitatnachweis

Für meine Eltern Für meine Kinder

Licht bewahren

Mein Schlaf ist ein scheues Wesen. Es duckt sich weg. Versteckt sich. Es flieht vor mir. Wenn ich es suche, ist es nicht da, wenn ich nicht mit ihm rechne, lauert es mir auf. Überfällt mich am Abend, wenn ich mit den Kindern auf dem Sofa liege und Kinderserien schaue, mittags, wenn ich in meinem Arbeitszimmer ein paar Seiten lesen will. Habe ich nachts seine Spur verloren, irre ich durch meine Gedanken, auf der Suche nach etwas Beruhigendem, einer leisen Stimme, einem zärtlichen Lied, auf der Suche nach einem Geräusch. Wenn ich etwas nicht ertrage, dann die Stille, wenn ich etwas nicht aushalte, dann das Alleinsein mit mir selbst.

Ich wache auf, oder ich weiß nicht genau, ob ich wach bin, ich liege auf der Seite, in meinem Kopf sticht es einmal, draußen tropft das Wasser in die Tonne. Regnet es? In meinem rechten Ohr drückt der Stöpsel der Kopfhörer unangenehm auf die Innenohrwand, ein hintergründiger Schmerz, der Teil meiner Nächte geworden ist. Die Stimme einer Nachrichtensprecherin dringt in mein halb waches Bewusstsein. Ihre Stimme ist immer da, die ganze Nacht, sie ist ein monoton plätschernder Bachlauf, der neben mir herfließt und in den ich, sollte ich aufwachen, jederzeit eintauchen kann. Ich achte darauf, dass meine Kopfhörer im Bett liegen, irgendwo unter dem Kissen, ich achte darauf, dass mein Handy immer geladen ist, zumindest so weit, dass es die Nacht durchhält. Ich achte darauf, dass ich immer Ersatzkopfhörer in der Nähe habe oder weiß, wo ich sie finde, falls bei einer ungestümen Drehung das Kabel reißen sollte. Kabellose Kopfhörer kämen für mich nicht infrage, denn jede Nacht würde ich sie suchen müssen, in den Falten der Bettdecke, unter dem Bett oder im Kissen. Die Kabel hingegen sind wie ein Tau, das ich in jedem Zustand zwischen Wachsein und Schlaf aus dem Laken fischen kann, indem ich mit der flachen Hand in großen Halbkreisen darüberstreiche, um anschließend mein Handy wie eine Barke einzuholen.

Früher ist es öfter vorgekommen, dass ich nachts erwachte und mich unvorbereitet wiederfand in der Stille. Ich hatte noch den Ehrgeiz, die Stille auszuhalten, aus dem festen Willen heraus, von allen äußeren Einflüssen unabhängig zu sein. Ich wollte nicht wahrhaben, dass es etwas gibt, dem ich nicht gewachsen bin.

Heute passiert mir das nicht mehr.

Oder nur noch sehr selten.

Im letzten Jahr genau einmal.

Unser Urlaub in Schweden, in Bohuslän, ein Ferienhaus am Fjord. Am zweiten Abend vergaß ich, das Handy aufzuladen.

Das Liegen im Dunkeln in der unbestimmbaren Zeit. Das Lauschen. Die schwedische Stille. Eine fremde Stille. Alles verliert seine Kontur, die Zeit, der Raum, ich selbst. Ich liege inmitten eines Sees und bin aus Sand, ich drehe mich von einer Seite auf die andere, mein Hirn arbeitet an gegen die Auflösung, es denkt in Schleifen, die ganze Zeit denkt es in Schleifen, ich drehe mich hin und her, Stunde um Stunde, bis die Müdigkeit derart übermächtig wird, dass sie mich förmlich ausknockt.

Es ist die Stimme der Moderatorin der ARD-Infonacht, die mir jede Nacht die Gewissheit gibt, dass die Welt noch da ist. Dass ich in der Welt bin. Es ist die Gewissheit, dass diese Stimme immer da ist, egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit, durch sie erst weiß ich, in welcher Epoche ich lebe und an welchem Ort ich bin. Es ist die Gewissheit, dass die Geschichten immer weitergehen, die Nachrichtengeschichten, die gar keine Nachrichten sind, sondern Geschichten. Jede Nachricht hat eine Vergangenheit und eine Zukunft, sie hat ein Jetzt, in dem ich mich befinde, sie hat ihre Protagonisten und Antagonisten, ihre Spannungsbögen, offenen Fragen und überraschenden Wendungen. Jede Nachricht ist eine Verkürzung der Welt, denn für jede Nachricht steht nur eine begrenzte Anzahl von Wörtern zur Verfügung, und diese Wörter müssen ausgewählt werden, jede Nachricht ist also eine Geschichte desjenigen, der die Wörter ausgewählt hat, und diese Auswahl der Wörter verlangt, dass ich mich zu ihr verhalte, und dieses Verhältnis erst setzt mich in Beziehung zur Welt.

Ich stelle mir vor, wie die Moderatorin jetzt im Studio sitzt und auf dem Laptop ihre MP3s anklickt, manchmal verklickt sie sich und sagt dann: Ups, das war wohl der falsche Beitrag, und man hört, wie sie mit ihrer Maus hantiert und den richtigen Beitrag sucht, so, dann hoffe ich mal, dass das der richtige ist, und so weiß ich, dass sie jetzt wirklich dort im Studio anwesend ist und nicht nur irgendeine Stimme vom Band läuft, und ich stelle mir die anderen Menschen vor, die jetzt ebenfalls anwesend sind und mit mir zusammen diese Stimme hören, Lkw-Fahrer, Nacht-portiers, Krankenschwestern, und allein diese Vorstellung einer Verbindung über alle Räume hinweg beruhigt mich.

In meiner Studentenzeit stand ein Radiowecker auf der Bettkante direkt neben meinem Ohr, ein flacher Kasten von Telefunken, die Ziffern leuchteten rot, die Wurfantenne – was für ein anachronistisches, aussterbendes Wort – schlängelte sich am Kissen vorbei auf den Boden. War der Empfang schlecht, wickelte ich das metallene Ende des Kabels um die metallene Leselampe, und schlagartig verbesserte sich der Empfang. Ich drehte die Lautstärke so leise, dass ich die Stimme gerade noch hören konnte, denn meine Freundin neben mir verstand nicht, was ich da jede Nacht tat. Wenn es zu laut war, schimpfte sie, ich solle das Ding endlich ausmachen, wenn es zu leise war, verstand ich nichts, und so bemühte ich mich Nacht für Nacht, die Laustärke so leise wie möglich und so laut wie nötig einzustellen, doch auf dem letzten Millimeter machte die Lautstärke immer einen winzigen Sprung. Wenn man genau hinhörte, merkte man, dass sie sich gar nicht stufenlos einstellen ließ, sondern die Regelung in minimalen Etappen verlief, und sooft man auch über Stufen fährt, sie werden nie eine Linie, immer fehlt etwas, genau jene Nuance, nach der ich suchte. Ich war versessen darauf, diese letzte Nuance zu finden, als könne ich das Gerät überlisten. Ich fühlte mich wie ein Amateurfunker auf hoher See, mit einem Ohr am Gerät, zwei Fingern am Knopf, um exakt die richtige Frequenz und die richtige Lautstärke zu finden, bei der es mir endlich möglich sein würde, in den Schlaf zu gleiten.

Heute gibt es Earpods. Und noch immer stelle ich die Lautstärke an der Wahrnehmungsgrenze ein, noch immer verläuft die Lautstärkeregelung in winzigen Schritten, noch immer versuche ich, den Grat zwischen einem verständlichen Flüstern und einem undeutlichen Gemurmel zu finden, sodass ich das Gesagte gerade noch oder auch gerade nicht mehr verstehe oder nur so viel verstehe, dass ich den Rest ergänzen muss, und in diese offenen Stellen hinein falle ich dann in den Schlaf.

In den Nächten meiner Jugend, in denen es weder Radiowecker noch Earpods gab, lag ich in meinem Bett, es war eher eine Liege aus Pressspan, die sich mit einem martialischen Quietschen der Länge nach aufklappen ließ, mit einem Federmechanismus, der einem die Liegefläche beim Öffnen aus der Hand riss und beim Einklappen einen enormen Widerstand entgegensetzte. Der Bezug war an den Rändern festgetackert und franste aus, eine Produktion aus irgendeinem VEB-Kombinat, ein Produkt, das wie alle in der DDR produzierten Dinge wie ein Provisorium wirkte und das mein Vater aufgrund seiner Beziehungen irgendwo ergattert hatte. Jeden Morgen raffte ich das gesamte Bettzeug zusammen und stopfte es in den Stauraum, damit ich die Liege tagsüber als Sofa nutzen konnte, und abends holte ich das Bettzeug wieder heraus und rollte es auf. Und in den Nächten lag ich auf dieser Liege in einem verdunkelten Zimmer, in einem schwarzen Zimmer, als würden draußen die Bomber fliegen und als dürfe nicht der kleinste Lichtstrahl hinaus in die Nacht dringen. Ich lag im fünften Stock eines Plattenbaus mit Fernwärme, hinter meinem Fenster führte ein Schacht in die Tiefe, geradewegs auf das geteerte Dach des Hintereingangs zu, auf das ich mich immer fallen sah, wenn ich an das Fenster trat und hinunterschaute, weshalb ich das Fenster auch tagsüber nie ganz öffnete, allenfalls kippte, in diesen Nächten lag ich wach und lauschte auf jedes Geräusch, denn mein Gehör war der einzige Sinn, auf den ich mich verlassen konnte. Es gab zwei Arten von Nächten. Die, in denen mein Vater zu Hause war, und die anderen. Fünf Uhr Feierabend, sechs Uhr Abendessen, sieben Uhr fernsehen, acht Uhr ins Bett, gegen neun Uhr war meistens klar, um welche Art Nacht es sich handeln würde.

Ich lag auf der Liege und ertrug es nicht, in die Schwärze zu schauen, weshalb ich die Augen immer geschlossen halten musste, ich ertrug es auch nicht, die geschlossenen Augen der Schwärze zuzuwenden, weshalb ich immer mit dem Gesicht zur Wand liegen musste, mit trockenem Mund und die Decke an das Kinn gezogen, und wenn ich mit den Fingern die Wand entlangfuhr, spürte ich kleinste Unebenheiten und Krater im Beton, manche winzig, manche so groß, dass die Spitze meines kleinen Fingers darin Platz gefunden hätte. Ich fühlte den Hohlraum unter der Tapete und war versucht, sie einzudrücken, ich war ganz kurz davor, den Krater mit der Fingerspitze auszufüllen und meiner Fingerkuppe eine passgenaue Höhlung zu geben, sie darin zu drehen, das wäre eine Befriedigung gewesen, die mich vielleicht beruhigt hätte, aber es war unmöglich. Mein Vater wäre aus der Haut gefahren, wenn er das Loch in der Tapete entdeckt hätte.

Das Warten auf Papi in der unbestimmbaren Zeit.

Die Tapete auf blankem Beton.

Das schwarze Zimmer.

Als herrsche Krieg. Vielleicht herrschte Krieg.

Nichts durfte nach außen dringen.

Die unbestimmbare Zeit endete erst, als ich eine Armbanduhr bekam. Sie hatte fluoreszierende Zeiger, darauf hatte ich bestanden. Vor dem Zubettgehen hielt ich sie unter das Licht einer Schreibtischlampe, um die Zeiger mit Licht aufzuladen. Es faszinierte mich jeden Abend aufs Neue, dass es möglich war, Licht einzufangen und es aufzubewahren, doch es war ein äußerst flüchtiges Gut, dem ich unter der Bettdecke beim Verschwinden zusah. Ich starrte so lange auf das zarte, grüne Leuchten, bis ich mir nicht mehr sicher war, ob es wirklich noch ein Leuchten oder nicht nur ein Nachglühen meiner Netzhaut war. Wenn auch die letzte optische Täuschung verschwunden war, legte ich die Uhr neben mich auf das Kopfkissen und fiel wieder in die unbestimmbare Zeit. Das Licht reichte nie bis zu dem Zeitpunkt, an dem mein Vater nach Hause kam.

Malik wirft sich auf die Seite und schlägt mit seinem Kopf gegen meine Hüfte. Ich bin also wach, streiche ihm einmal über die Haare, seine Wange, über seine Arme, die kalt sind, weil er sich wieder der Decke entledigt hat und die kühle Nachtluft durch das offene Fenster hereinströmt. Drehe ich meinen Kopf zur Seite, spüre ich, wie die Luft an meiner Nase vorbeifließt, es ist tatsächlich ein bachartiges Fließen der Novemberluft, wie Wolken, die in Zeitraffer über einen Bergkamm streichen, hinunter ins Tal. Wer weiß, wie lange er schon in der Kälte liegt. Ich ziehe die Decke über seine Arme, er schiebt sie sofort wieder weg; er hat diesen Freiheitsdrang, den auch die anderen beiden hatten, nichts darf ihn beengen, keine Decke, keine Jacke, keine Jeans.

Einige Augenblicke später richtet er sich auf. Ich erkenne seine Gestalt vor dem Hintergrund der durch ein schwaches Nachtlicht erhellten Wand, bevor er zur anderen Seite kippt, auf Levjes Körper. Er sucht unsere Nähe, wie jede Nacht, er muss sich vergewissern, dass wir da sind, dass es links und rechts von ihm eine Begrenzung gibt. Wir sind die Mauern an den Rändern unseres Bettes, das so groß ist, dass wir uns darin kaum mehr begegnen. Manchmal erinnere ich mich an den Sommer in Schweden: ein hundertjähriges Fischerhaus mit tiefen Decken und weiß gestrichenen Dielen. Eine Terrasse, auf der sich Rad fahren ließe, mit Blick über den Fjord. Jedes Mal den Kopf einziehen, wenn man das Haus betritt oder die Stiege hinaufsteigt, als käme man in ein gerade verlassenes Haus in einer märchenhaften Gegend, dessen Bewohner um ein Drittel kleiner wären als man selbst. Wir schliefen in einem Bett von eins vierzig, vielleicht eins zwanzig Breite und waren uns wieder nah. Ständig berührten wir uns, unsere Rücken rieben aneinander, unsere Hände, unsere Arme kreuzten sich, es war unmöglich, sich auszuweichen. Nach zwei Nächten hatten wir uns derart an diese Nähe gewöhnt, dass wir uns vornahmen, sofort nach unserer Rückkehr unser breites Bett gegen ein schmaleres einzutauschen. Als läge es am Bett, uns zusammenzubringen.

Die Müdigkeit zieht mich zurück in die Tiefe, Malik wälzt sich herum, seine Füße stoßen gegen meine Brust. Er wälzt sich jede Nacht so lange herum, bis er uns beide berührt, bis er eine Art elektrischer Leiter zwischen uns ist. Er berührt Levje mit dem Kopf und mich mit den Füßen, und ich frage mich, woher er weiß, wie er liegen muss. Ist es ihr Geruch, ihre Weichheit, sind es Levjes lange Haare, die er im Gesicht spürt? Ich frage mich, warum ich die Füße abbekomme und Levje den Kopf. Ich kann gut damit leben, so muss ich keine Angst haben, dass er mir unvermittelt im Schlaf mit seinem Hinterkopf gegen das Nasenbein oder die Zähne schlägt, und doch hätte ich manchmal gern seinen Atem neben mir.

Mit Daumen und Zeigefinger drücke ich sacht seine Zehenspitzen zusammen, jedes einzelne dieser weichen Kügelchen. Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen. Obwohl dieses Spiel für die Hände gedacht ist, wenden wir es auch beim Schneiden der Zehennägel an. Es ist die einzige Möglichkeit, ihn abzulenken und zum Stillhalten zu bewegen. Der hebt sie auf, der trägt sie nach Haus, und der kleine isst sie alle alle auf. Ein Uhr achtundfünfzig. Meine Muskeln erschlaffen. Ich zucke zusammen. In der ARD-Infonacht spielen sie einen Jingle zur Überbrückung einer Leerstelle, jemand hat da falsch gerechnet, denn der Jingle zieht sich in die Länge. Sie haben zu viel Zeit bis zu den Nachrichten, und ich frage mich, wer diese gefälligen Zwischenstücke eigentlich komponiert und worauf sie achten beim Arrangement. Darauf, dass sie möglichst schleifenhaft gespielt werden können, sich ansatzlos ins Endlose ziehen lassen? Aber man hört dann doch immer einen winzigen Sprung, wenn der Jingle wieder von vorn startet, ich bin gefangen in einem Loop, in einer Realität mit einem kaum wahrnehmbaren Riss. Gerade bin ich so weit, wieder einzuschlafen, die vierte oder fünfte Wiederholung des Jingles hat mich mit auf ihre Schwingen genommen, da richtet sich Malik auf und ruft: Milch! Sein Ruf steht im Schlafzimmer wie etwas Physisches, er hallt lange nach, und ich weiß, was das bedeutet. Manchmal, selten, bleibt es bei diesem einen Ausruf, dann kippt er zurück und schläft weiter, doch heute kommt der zweite Ruf, energischer, und dann, als Levje und ich uns nicht rühren, immer noch in der Hoffnung, dass es vorbeigehen werde, der dritte Ruf, der keine Nicht-Reaktion mehr duldet. Wo ist meine Milch? Vor einigen Wochen haben wir ihm die nächtliche Milch abgewöhnt, denn er hatte sich so an diese Mahlzeiten gewöhnt, dass er jede Nacht nach ihnen verlangte. Die Aussicht, ihn damit zu beruhigen, erwies sich als Trugschluss, denn der Forderung nachzugeben, hieß nicht, sie zu befriedigen, sondern sie weiter anzustacheln. Er rief dann mehr Milch, und wenn er damit fertig war, rief er wieder mehr Milch oder noch eine Milch, wie die Fischersfrau, die ihren Mann immer wieder hinaus zum Butt schickt, weil sie den Hals nicht vollkriegen kann. Immer wenn wir ihm die Milch verweigerten, bekam er einen Wutanfall. Die Wut kommt, mit oder ohne Milch, es ist eine Wut, die nicht durch Milch zu stillen ist, es ist der zunehmend verzweifelte Versuch, etwas, das sich in ihm aufgetan hat, ein Abgrund, eine Angst, mit Milch zu füllen, es ist die Wut über einen bevorstehenden Entwicklungsschritt, den er nicht gehen will. Wir sehen es, wir leiden mit ihm und müssen dennoch der Maßlosigkeit Einhalt gebieten.

Einige Tage herrschte Ruhe, und wir hegten die Hoffnung, dass die Phase beendet, der Schritt gegangen sei. Morgens atmeten wir erleichtert auf, wenn er die Nacht durchgeschlafen hatte, wir flüsterten uns beim Aufstehen Satzfetzen zu, vielleicht haben wir es jetzt geschafft oder langsam wird es besser, doch heute Nacht der Rückfall. Vielleicht ein Traum, die plötzliche Erinnerung an den paradiesischen Zustand, so, wie man nach einer Trennung von der allumfassenden Versöhnung träumt, davon, dass alles wieder gut ist, dass man ja doch nicht loslassen muss.

Levje redet leise auf ihn ein, Morgen gibt es wieder eine Milch, morgen früh. Er unterbricht dann sein Weinen und hört ihr aufmerksam zu, doch sobald er die Bedeutung dessen, was sie sagt, versteht, denn er weiß mittlerweile, was morgen heißt, nämlich nicht jetzt, setzt das Wüten nur umso heftiger ein, es hebt an wie ein Sturm, bricht aus ihm heraus und bildet einen surrealen Kontrast zu der vollkommenen ländlichen Stille um uns herum. In städtischen Nächten gehörte es dazu, dass im Hinterhof irgendein Kind weinte, und ich wachte auf und dachte, Mensch, jetzt beruhigt es halt und nehmt es in den Arm, mit einer Haltung des Vorwurfs, einer latenten Anschuldigung, als würden sie das Kind absichtlich schreien lassen. Wie unwissend ich war. Welch eine Stimmgewalt ein solch kleiner Körper erzeugen kann. Er brüllt seine Frustration hinaus in den leeren Raum. Zehn, zwanzig Minuten, in denen er sich nicht beruhigen oder berühren lässt, die man nur übersteht, indem man sich die Decke über die Ohren zieht und abwartet. Er wird dann ganz eins mit seiner Wut, wie er überhaupt ganz in Emotionen lebt, nichts wird relativiert, alles, was er fühlt, fühlt er ganz.

Vielleicht sollten wir von ihm lernen. Nicht er von uns.

Ich schließe das Fenster, weil es mir unangenehm ist, die Nachbarn zu wecken oder in ihnen den Verdacht zu wecken, wir würden unsere Kinder vernachlässigen.

Nach zehn Minuten beruhigt er sich wieder, die Abstände zwischen den Milch-Rufen werden größer. Immer wieder wartet er, ob nicht doch noch etwas passiert, ob sein Rufen nicht eine Wirkung zeigt. Ich bin mir unsicher, ob es richtig ist, auf sein Rufen nicht zu reagieren. Lernt er dann nicht, dass auf ein Bedürfnis keine Reaktion folgt? Äußert er sich dann nicht in eine beängstigende Leere hinein? Aber wenn ich jetzt reagiere und etwas sage, schöpft er Hoffnung, denn alles ist nur auf dieses Milchwollen ausgerichtet. Mit jedem Wort, das man an ihn richtet, fängt man wieder von vorn an, provoziert das Gegenteil von dem, was man bezweckt. Irgendwann wird er müde, hebt noch ein letztes Mal an, schon kraftloser, es ist mehr ein Seufzen, alles schon nicht mehr so schlimm, und irgendwann kippt er zur Seite und schläft weiter.

Zwei Uhr neunundzwanzig. Jetzt höre ich wieder die Stimme der Radiomoderatorin in meinem Ohr. Sie kündigt einen Beitrag an, den ich in den letzten Stunden schon zweimal gehört habe. Die Pointe ist keine Pointe, die Geschichte hat keinen Neuigkeitswert mehr. Nachts fahren sie die Rotation auf ein Maximum hoch, vermutlich aus Spargründen, sie ahnen nicht, wie sie mich damit quälen. Doch die Infonacht ist das einzige Programm, das vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr Redebeiträge sendet und damit genau jene absolut zuverlässige stimmliche Konsistenz erzeugt, die ich brauche, um einzuschlafen. Jeder Versuch, auf einen anderen Sender umzusteigen, ist gescheitert. Manchmal erwachte ich dann bei unangenehm schrillem Jazz, bei Neuer Musik, bei metallisch-sphärischen Klängen, die mich in einen Albtraum führten, sodass ich immer wieder zurückkehrte zur Infonacht.

Wenn nur die Rotation nicht wäre.

Malik schläft. Levje schläft. Sie hat die beneidenswerte Fähigkeit, sofort wieder einzuschlafen. Bei der dritten Wiederholung eines Beitrags wechsle ich zu Spotify, scrolle durch meine Playlist, mein Daumen landet auf Descending von Tool. Der Song setzt ein mit einem aus der fernsten Ferne kommenden Raunen, als würde ein Sturm über eine Wüste fegen, und diese Leere am Anfang des Songs räumt mich sofort aus, das Rauschen des Windes wird zu einem Wellenschlagen, die Wellen schlagen auf Sand, immer und immer wieder, und das macht den Raum in mir weit, dann setzt die Gitarre ein, monoton, fiebrig, die falsettartige Stimme von Maynard James Keenan kommt hinzu, im Hintergrund erklingt hin und wieder eine Triangel wie ein Kontrapunkt der Leichtigkeit, so etwas wie das Anreißen eines Streichholzes zieht sich durch den ganzen Song, sie legen die Stränge aus, einen nach dem anderen, und verknüpfen sie in einer Viertelstunde zu einem epischen Stück Musik. Als die unverkennbaren, schweren Tool-Riffs dazukommen, werde ich ruhig. Ich folge meinen Gedanken in die feinen Verästelungen von Descending hinein, wie in ein Gebäude, dessen Säle und Kammern ich nach und nach erkunde, und immer wieder falle ich dabei in den Schlaf, erwache, nicht wissend, wie lange ich geschlafen habe, es können nur Sekunden gewesen sein, inmitten brachialer Gitarrenriffs, und spüre plötzlich eine solche Kraft in mir, dass ich in Erwägung ziehe, aufzustehen, irgendwohin zu fahren und es meinem Vater gleichzutun und mich zu betrinken, um zum Frühstück wieder aufzutauchen, aber nein, ich sacke in den Schlaf, erwache, es ist ein Auf und Ab, ein Schaukeln auf Wellen, und ich stehe am Rand einer Plattform und genieße es, noch nicht zu springen, bis ich irgendwann unmerklich ins Wasser hineingeglitten und mit den letzten Tönen des Songs eingeschlafen bin.

Entfernte Wärme

In mein Bewusstsein dringt ein angenehmer Ton, der eine unangenehme Empfindung in mir auslöst, etwas Fernes, auf das ich konditioniert bin, ich weiß nur noch nicht genau, was, ich komme gleich drauf, wenn er nur aufhören würde, der Ton, aber er hört nicht auf, und deswegen komme ich drauf: Es ist eine ansteigende Harfenmelodie, die angenehmste, die wir unter Apples Vorschlägen für einen Weckton finden konnten und die doch hinter ihrer sanft anmutenden Tonfolge die Grausamkeit der Erkenntnis, dass der Schlaf zu Ende ist, obwohl er doch gerade erst begonnen hat, nur schlecht verbergen kann. Ich höre, wie Levje sich bewegt, sie dreht sich um, die Decke raschelt, sie drückt auf die Schlummerfunktion, zehn Minuten Ruhe, noch einmal zurücksinken in die Bilder des Traumes: Ich mit Levje in einem Haus, ungewohnt viel Liebe zwischen uns, der Plan eines Umzugs, eines Aufbruchs steht im Raum. Gerade will ich mit ihr darüber sprechen, dass ich mir ein viertes Kind wünsche. Mich überkam im Traum eine plötzliche Sehnsucht nach einem weiteren Kind, für einen Moment stand mir die gesamte Existenz des vierten Kindes vor Augen, und ich war der festen Überzeugung, dass, wenn wir das Kind nicht bekommen, wir diese Existenz verhindern würden, und gerade hatte ich mich dazu durchgerungen, meinen Wunsch mit Levje zu teilen, in dem Wissen, wie freudig erregt sie jedes Mal gewesen war, wenn wir uns dazu entschlossen hatten, ein Kind zu bekommen, doch es war noch jemand im Haus, ein anderes Paar, eine andere Frau, die meine Nähe suchte und mich in einer ruhigen Minute in eine Ecke drückte und küsste, leidenschaftlich und lange und ohne, dass ihr Freund oder Levje daran Anstoß genommen hätten, und derart erotisiert war ich nun erst recht bereit dazu, ein weiteres Kind zu zeugen.

Doch dann kam die Harfe. Die Harfe kommt immer im falschen Augenblick.

Ich setze mich auf, um Levje zu signalisieren, dass ich wach bin. Es ist eine Abmachung zwischen uns: Sie kümmert sich nachts um die Kinder, dafür stehe ich morgens als Erster auf, doch heute bleibe ich, benommen von der kurzen Nacht, auf der Bettkante sitzen. Draußen heult der Wind um den Giebel, es ist kalt im Schlafzimmer, und was ich abends als angenehme Klarheit empfinde, nach dem gemeinsamen Sitzen im stickigen Wohnzimmer in ein kühles, gut gelüftetes Schafzimmer zu kommen, führt morgens zu einem fröstelnden Widerstand, in diesen Tag hinauszugehen. Ich sitze auf der Bettkante und versuche noch einmal, in den Traum zurückzufinden, zu dem Kuss der fremden Frau, dem Wunsch nach einem weiteren Kind, dieser ganzen euphorischen Stimmung des Aufbruchs, doch ich laufe nur noch durch Trümmer. Natürlich wäre es Wahnsinn, ein weiteres Kind zu bekommen, das hielten wir nicht durch. Mir kommt die Begegnung mit einer Nachbarin vor ein paar Tagen in den Sinn, sie wohnt weiter unten im Dorf, die unerwartet mit Mitte vierzig zum fünften Mal schwanger wurde. Das Kind starb während der Geburt, all das ist Jahre her, doch als sie mir davon erzählte, sagte sie mit tonloser Stimme, ein weiteres Kind hätte die Familie nicht verkraftet. Einer von beiden hätte die Existenz beenden müssen: die Familie oder das fünfte Kind. Während ich müde auf der Bettkante sitze, findet ein Kampf auf Leben und Tod in mir statt, in mir kämpfen Existenzen gegeneinander, die meiner Familie gegen die des ungeborenen Kindes, nein, nicht Existenzen, Schatten, Gedanken, es ist nichts als ein Spuk, ich kann all das mit einer Bewegung meines Körpers hinwegwischen.

Die Geister zurücklassen und den Tag bewältigen.

Ich sitze schon viel zu lange hier, und in mir regt sich, wie jeden Morgen, die Wut gegen dieses System, denn irgendein System muss es sein, dessen Wirkung allmorgendlich in unser Schlafzimmer hineinreicht, sonst würde ich jetzt nicht hier auf der Bettkante sitzen. So lange wie möglich hier zu sitzen, ist meine schärfste Form des Widerstands. Die Bettkante ist der Frontverlauf in diesem Krieg, meine Füße stehen schon auf feindlichem Terrain. Ich frage mich, ob es das System wirklich gibt, und wer genau es repräsentiert, oder ob es nicht nur die in meinen Körper eingeschriebenen Routinen meiner Kindheit sind, gegen die ich opponiere. Meine Mutter weckte mich früh, gegen fünf, halb sechs, und ich saß lange mit durchgestreckten Armen auf der Bettkante und ignorierte ihre Rufe, nicht aus Böswilligkeit, sondern weil ich nicht in der Lage war zu reagieren. Ich kann nicht unterscheiden zwischen dem System in mir und dem Realen, ich weiß nicht, was wahr ist und was nicht, ich stoße allmorgendlich an die Grenzen meiner Beurteilungsfähigkeit. Aber doch, es gibt Zeichen für seine Existenz. Wenn ich über die alte Grenze fahre, bei Gartow und Aulosen oder bei Helmstedt, sehe ich den Grenzturm, den Todesstreifen, die hundert Meter breite Schneise im Wald, ich sehe, wie sich die Straßendecke ändert und der Baumbestand und die Farbe der Häuser, und jedes Mal wieder sage ich dann zu Levje oder, nach hinten gewandt, zu den Kindern: Mensch, hier war die Grenze, unvorstellbar. Ich fahre hinein ins Altmärkische, das uns mit zwei Schildern begrüßt: Auf Wiedersehen Niedersachsen und Willkommen im Land der Frühaufsteher, und dann fühle ich mich darin bestätigt, dass irgendjemand ein Interesse daran hat, dass wir früh aufstehen, als sei das frühe Aufstehen eine Leistung an sich, ein erstrebens- und lobenswerter Zustand, der die Bevölkerung in zwei Arten Menschen unterteilt, die Frühaufsteher und – ja, wen eigentlich?

Sieben Uhr zehn. Levje muss wieder eingeschlafen sein, sonst hätte sie längst etwas gesagt. In spätestens fünfunddreißig Minuten muss ich mit Alma im Auto sitzen. Ich gebe den Kampf verloren und gehe hinunter ins Wohnzimmer. Polly liegt eingerollt in ihrem Korb, hebt nicht einmal den Kopf. An anderen Tagen steht sie schon vor der Tür, wedelt mit dem Schwanz und schaut mich erwartungsvoll an. Im Wohnzimmer sind achtzehn Grad. Obwohl die Fußbodenheizung die ganze Nacht durchheizt, hat sie in der Übergangszeit manchmal Probleme, den Raum zu erwärmen. Es riecht nach kaltem Rauch. Das kommt vom offenen Kamin. Wir hatten ihn gestern an, wie fast jeden Abend im aufkommenden Herbst, doch der Zug im Schlot zieht die Raumluft die ganze Nacht über nach draußen. Am Morgen bleibt nur der Geruch nach kaltem Rauch. Entfernte Wärme.

Ich schalte erst das kleine Küchenlicht an, um meine Augen an die Helligkeit zu gewöhnen, dann den Kippschalter der Kaffeemaschine, damit sie aufheizen kann, dann erst gehe ich ins Bad, checke auf der Toilette meine Mails, schaue in drei Apps, wie das Wetter wird, überfliege Instagram und Facebook. Isabel erzählt von den Erfahrungen bei einem Dreier, wer wann kommt, wer wem dabei zuschaut, Franziska ergänzt im Kommentar das Wort Dauerrausch. WhatsApp, Telegram, Signal. Eine Nachricht in der Männergruppe. Wir sind mitten in der Diskussion über einen Künstler, den wir auf Instagram entdeckt haben. Auf die letzte Frage, was mir an ihm gefalle, hatte ich noch nicht geantwortet. Ich tippe rasch: Vor allem die Farbigkeit. Ausgewogen, reduziert, aber trotzdem komplex. Diese Unschärfe erzeugt ein angenehmes Flirren, als würde etwas bei zusammengekniffenen Augen in der Sonne verschwimmen. Und dann noch der mitgemalte Rand – das Bild stellt seine eigene Bildhaftigkeit aus. Ich überfliege die Schlagzeilen von SPON, ZEIT, FAZ und ntv, meine Augen sind Krähen, sie jagen über die Zeilen und picken sich die schmackhaftesten Brocken aus dem Textfeld heraus. Ich muss schon lange keinen ganzen Artikel mehr lesen, um die wesentliche Information zu finden. Mein Denken kommt langsam in Gang, ein Schwungrad, auf das unmittelbar sämtliche Kräfte wirken, getrieben von der Frage, ob der Weltuntergang in der Nacht stattgefunden hat oder kurz bevorsteht. Aber nein. Das Übliche. Das meiste habe ich schon in der Nacht gehört, im Schlaf oder halb wach, morgens fällt es mir dann wieder ein. Es gab eine Zeit in meinem Leben, gut vier Monate, da lebte ich ohne Nachrichten. Ich überwinterte auf den Kanaren, Handys hatten noch Tasten, das Internet quälte sich durch ein 56-K-Modem, und Schröder war Kanzler. Die letzte Schlagzeile im November, als ich abflog, galt ihm, und als ich im Februar wieder in Deutschland landete und zum ersten Mal einen Blick auf die Nachrichten warf, war wieder Schröder auf der Titelseite, mit einem ähnlichen Bild und unter einer ähnlichen Überschrift. Mein Erstaunen darüber, wie wenig in dieser Zeit tatsächlich passiert war, ging einher mit einer Enttäuschung darüber, dass die Überwältigung durch etwas Unerhörtes, Unerwartetes, auf die ich insgeheim gehofft hatte, ausblieb, sowie einer Erleichterung über die Erkenntnis, dass all die Ereignisse da draußen eine viel geringere Bedeutung hatten, als ich ihnen zugeschrieben hatte. Es war, als wäre ich nicht vier Monate fort gewesen, sondern vier Tage. Seither sehne ich mich immer wieder zurück nach dieser nachrichtenfreien Zeit, diesem Zustand, für den sich an diesem Morgen unweigerlich das Wort unschuldig aufdrängt. Doch was hieße in diesem Zusammenhang denn schuldig werden? Sich versündigen an dem reinen, nachrichtenfreien, nur auf die großen Seinsfragen fokussierten Denken? Zu glauben, dass man sich ohne Nachrichten selbst näher sei? Das hieße ja, dass es ein echteres, reineres Selbst jenseits der Nachrichtenlage gäbe, dass ich das jetzt hier auf der Toilette gar nicht will, all diese Nachrichten aufnehmen, sondern dass etwas anderes, etwas Fremdes die Kontrolle über mich übernommen hat. Nur was?

Sieben Uhr siebzehn. Noch dreiundzwanzig Minuten, ehe ich mit Alma zur Schule muss. Ich lasse die Rollläden hochfahren, ich schalte das Gartenlicht an, ich gehe hinaus in den kalten Morgen, um die Zeitungen aus dem Briefkasten zu holen. Es ist ein nasskühler Novembermorgen, der Himmel ist bewölkt, stumpf und flach, der Asphalt glänzt. Eine Amsel schimpft und verschwindet im Liguster. Eine erste Helligkeit liegt über den Feldern. Am Briefkasten halte ich inne, wie jeden Morgen, um hineinzuspüren in diesen Tag, in seine Geräusche, seine Temperatur, die Atmosphäre. Benny von gegenüber startet seinen Transporter, der kalte Diesel wummert und klopft. Benny ist Zimmermann und bricht jeden Morgen zur Arbeit auf, wenn ich die Zeitung hole. Auch spät dran heute. Als er weg ist, herrscht wieder Ruhe, eine Landruhe mit Landgeräuschen, die wir vor fünf Jahren gegen Stadtgeräusche eingetauscht haben, eine kalbende Kuh in einem fernen Stall, das urtümliche Schreien aus der Tiefe eines Tierleibs, das sich nachts über Kilometer hören lässt, die Rasenbewässerung der Nachbarin, das leise Zischen der Düsen, ein vorbeifahrender Trecker unten in der Senke, das hohe Sirren seiner Reifen auf dem Asphalt. Ich öffne den Briefkasten, den ich selbst zusammengeschraubt habe, er ist geräumig, damit er auch Päckchen aufnehmen kann, und hat kein Schloss. Das braucht man auf dem Land nicht. Die Zeitungen liegen zusammengefaltet auf dem Grund des Kastens, und wie jeden Morgen frage ich mich, wer sie wann hier hineingeworfen hat. Ich bin ihm oder ihr noch nie begegnet. An Weihnachten stellen wir einen Schokoweihnachtsmann auf den Briefkasten, zu Ostern manchmal einen Osterhasen, und morgens sind sie jedes Mal verschwunden. Es gibt eine stille Kommunikation zwischen dieser Person und mir, jeden Morgen wieder bin ich ihr dankbar für diese unsichtbare nächtliche Arbeit. Nur bei Neuschnee sieht man morgens die Fußspuren zum Briefkasten. Sie enden kurz vor dem Kasten und führen in einem spitzen Winkel wieder zurück auf die Straße. Ich habe Angst, dass der Briefkasten eines Tages leer bleibt, weil sich niemand mehr findet, der diesen Job mitten in der Nacht machen will, weil Papier eine Rarität geworden ist oder niemand mehr Zeitungen auf Papier lesen will. Es gibt Tage, da bleibt der Briefkasten tatsächlich leer, weil bei den Zustellern jemand ausgefallen ist, und diese enttäuschende Leere überträgt sich dann auf den Morgen, den Vormittag, den ganzen Tag. Missgelaunt gehe ich dann zurück an den Tisch, hole die Zeitung von gestern aus dem Altpapier und suche nach ungelesenen Artikeln, irgendetwas, das noch einen Neuigkeitswert hat.

Ich decke den Tisch, drei Teller, zwei Schälchen, drei Messer, zwei Löffel, die Marmeladen, der Honig. Jetzt kommt die Phase, in der ich den vorherigen Zeitverlust wieder aufholen, die Verschwendung teuer bezahlen muss. Jede meiner Bewegungen ist effektiv, über die Jahre habe ich die Handgriffe optimiert, ich weiß genau, was ich wann tun muss, damit die Zeit mehrfach genutzt wird. Jede Minute trägt ein dreifaches Päckchen, die Zeit arbeitet jetzt für mich. Wichtig ist die Reihenfolge der zu erledigenden Dinge: den Fünf-Minuten-Prozess zuerst anstoßen, danach den Vier-Minuten-Prozess, dann das, was drei Minuten dauert. Ich moduliere die Zeit, erst habe ich sie gedehnt, jetzt raffe ich sie, das gibt mir immerhin die Illusion von Hoheit über sie. Ich backe drei Brötchen vom Vortag auf, ich lege die Zeitung an meinen Platz, ich stelle das Radio an. Manchmal versuche ich, mich während all dieser Vorgänge zu erinnern, wie das Frühstück meiner Kindheit ablief, ob wir auch Radio hörten oder in der Stille dasaßen, doch ich habe kaum Erinnerungen daran. Es ist, als hätte diese Mahlzeit in unserer Familie nie stattgefunden. Ich erinnere mich an die Nächte, an die Wochenenden, natürlich an die Urlaube, aber nicht an das Frühstück, was vielleicht an meiner Müdigkeit lag oder daran, dass diese Routinen keinerlei Abdruck in meinem Gedächtnis hinterlassen haben. Manchmal tauchen verschwommene Bilder auf, meine Mutter im Nachthemd am Herd, weinend, die Wohnung riecht nach Alkohol und dem schalen Mundgeruch meines Vaters, wir hocken auf der Eckbank unserer Küche, unserer Betonküche, an dem höhenverstellbaren Tisch, unter dessen Platte sich eine Schneckenwelle und eine Kurbel befinden, die nie benutzt werden, außer von uns Kindern, um damit zu spielen. Ich frage mich, welche Idee hinter einem höhenverstellbaren Küchentisch steckt. Welchen Grund sollte es geben, seine Höhe ständig anzupassen? Wir nehmen ein schnelles Frühstück zu uns, Milch mit Brötchen, eine Scheibe alten Graubrots mit Honig, dazu Malzkaffee, während sich mein Vater eines seiner drei karierten Hemden anzieht. Meine Mutter spricht nicht, sie steht am Herd und rührt in etwas, und ich weiß nicht, ob ich sie trösten soll, ob es zu meinen Aufgaben gehört, sie zu trösten. Mein Vater weiß nicht, ob er ein schlechtes Gewissen haben soll, und ist irgendwann verschwunden. An Samstagen, an denen er nicht zur Arbeit konnte, schlich er in der Wohnung herum, als könne er sich noch dunkel daran erinnern, dass etwas vorgefallen war. Er hatte dann eine gewisse Art, durch die Wohnung zu trotten, zugleich schuldbewusst und trotzig, in Unterhemd und blauer Jogginghose die Zeitung zu lesen, indem er sich vor dem Blättern den Daumen leckte und die Seiten beim Umblättern fast abriss, den Abwasch allein zu erledigen, lass, ich mach das schon, und manchmal fing meine Mutter dann an, was du dir wieder geleistet hast, aber er wehrte das ab mit einem matten Ach, hör doch auf. Meine Mutter schwieg den Rest des Tages, manchmal schwieg sie auch die nächsten zwei, drei Tage, bis mein Vater Montagabend wieder wegblieb, dann ging das eine Schweigen in das andere über, eine Kette des Schweigens, in der einzig die Sprache Rettung war, das Sprechen mit mir selbst.

Ich schäume die Milch auf, drehe an den Edelstahlknöpfen, betätige die Kippschalter, all das mit der Routine eines Lokführers, der sein altes Stahlross auf die Fahrt vorbereitet, schaue der Maschine dabei zu, wie sie die schwarze Flüssigkeit durch den Siebträger drückt, dabei ächzt und knarzt, während die Tassen langsam volllaufen. Es ist wichtig, dass sie sich im richtigen Tempo füllen, ist der Kaffee zu fein gemahlen, tröpfelt es nur heraus, ist er zu grob, läuft das Wasser zu schnell durch, und er wird zu dünn. Man muss die Maschine gut kennen, um genau die richtige Stärke zu erreichen. Wenn die Tassen zu zwei Dritteln gefüllt sind, lege ich den Kippschalter um und schiebe den Milchschaum mit einem flachen Löffel auf den Kaffee, und spätestens wenn die Geräusche der Kaffeemaschine durch das Haus tönen, weiß Levje, dass es höchste Zeit wird aufzustehen. Sie kommt fast immer exakt zu dem Zeitpunkt hinunter, an dem der Kaffee fertig ist, in dicken Socken, in ihrem wollenen Morgenmantel und mit Malik auf dem Arm, der seinen Kopf in ihre Halsbeuge presst, weil ihn das Licht blendet. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab, seine Beine hängen an ihrer Hüfte hinunter, er umklammert ihren Hals wie ein Äffchen. Sie sagt Na, ich sage auch Na und bringe die beiden Tassen zum Tisch, setze mich auf meinen Platz und nippe am Kaffee, er schmeckt durch den Schaum hindurch bitter, gut geröstet, und schlage die Zeitung auf. Alma und Fritzi trotten ins Wohnzimmer, blinzeln gegen das Licht, quetschen sich auf die Bank an den Tisch und starren mit müden Augen auf ihre Müslischälchen. Sieben Uhr fünfundzwanzig.

Vatersprache

Levje wickelt Malik im Bad, ich höre sein Gezeter. Er schreit momentan bei allem, was ihn in seiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigt, und sei es nur für kürzeste Zeit, beim Anziehen, beim Wickeln, beim Waschen oder Baden, beim Schneiden der Finger- und insbesondere der Zehennägel sowie der Haare, all diese notwendigen Eingrenzungen des wachsenden Körpers sind ihm suspekt. Er will keine Grenzen, alles soll immer weiterwachsen, und manchen Kindern in seiner Kitagruppe sieht man an, dass die Eltern diesen Kampf aufgegeben haben.

Fritzi und Alma klappern leise mit den Löffeln. Sie sind morgens nicht sehr gesprächig, und ich weiß nicht, ob ich ein Gespräch beginnen oder sie in Ruhe lassen soll. Ich selbst müsste nicht reden, ich lese und kaue und trinke meinen Kaffee, mehr brauche ich morgens nicht, es ist eher der Anspruch in mir, ein guter Vater zu sein, der bei den Mahlzeiten redet, bewusst isst, nicht liest, nicht aufs Handy starrt. Das Handy am Tisch haben wir auf Betreiben von Levje verboten, auch wenn ich mich manchmal frage, was genau der Unterschied zwischen dem guten Lesen auf Papier und dem schlechten Lesen auf einem Display sein soll.

– Darf ich mal die Milch?

– Natürlich, sage ich und schiebe Alma die Flasche hinüber, obwohl die Milch auch in ihrer Reichweite gestanden hätte. Alma beginnt im Moment jede Frage am Tisch mit dem Wort dürfen. Darf ich mal die Butter? Darf ich mal das Müsli? Als würde sie fragen, ob sie länger aufbleiben oder fernsehen dürfe, als wäre die Frage nach der Milch etwas, das von meiner Erlaubnis abhinge. Almas lange, glatte Haare hängen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht, sie ist in den letzten Monaten in die Höhe geschossen, lang und schmal ist sie geworden. Sie wird in Kürze elf, und man spürt, dass sie am Beginn einer umfassenden Wandlung steht. Manchmal, in einer sentimentalen Stimmung, drücke ich sie fest an mich und sage im Spaß: Eben warst du noch ein Baby, jetzt bist du schon halb erwachsen, du musst wieder schrumpfen, meine Alma, und dann hebe ich sie hoch und drücke sie, als wäre sie noch die kleine, pummelige Sechsjährige, und sie schreit und lacht und ruft Papa!, es ist ihr peinlich, und zugleich freut sie sich, dass wir diese Ebene noch haben. Ständig sucht sie im Moment unsere Nähe, lauscht unseren Gesprächen, hält sich, wenn wir Besuch haben, lieber in der Nähe der Erwachsenen auf als in der anderer Kinder. Sie hört uns bei unseren Gesprächen aufmerksam zu, fragt: Wovon redet ihr?, sie nimmt alles wahr, die Stimmung, die Gesten, die Vorwürfe, unseren Umgang miteinander.

Der Umgang. Das Umgehen.

Ab einem gewissen Alter haben auch mich die Gespräche der Erwachsenen geradezu magisch angezogen, all das ausschweifende Reden über Politik, über Krankheiten, den Tod, die Vergangenheit, alte Konflikte, die Nachbarn, auch wenn ich das meiste nicht verstand, mich interessierte der Gestus ihres Redens. Ich gesellte mich bei den Familiengeburtstagen zu ihnen ins Wohnzimmer, der Kurbelküchentisch war hinübergeschafft, die Tafel verlängert worden, die Eckbank in der Küche stand verwaist, seltsam ins Leere gerichtet, gelegentlich saß mein Onkel auf ihr und rauchte, die Beine unsicher übereinandergeschlagen, da sie nicht von einem Tisch geschützt waren. Die Stimmung im Wohnzimmer wurde immer erhitzter, der Eierlikör machte die Runde, Kurze, Weinbrand, Pils, Kaffee, und ich war mittendrin in den hitzigen Diskussionen, dachte, ich sei unsichtbar, während die Eltern sagten, na, da kriegste lange Ohren, geh doch mal mit den Kindern spielen. Doch ich fühlte mich gar nicht mehr wie ein Kind, ich fühlte mich schon viel mehr als Teil dieser Erwachsenenwelt. Sobald die Verwandten abgereist waren, ging es zwischen den Eltern weiter: das Reden über Brüder und Schwestern und Schwager und Schwägerinnen, bei denen natürlich immer alles anders war, tendenziell komisch. Die Einigkeit entstand in der Ablehnung der Abwesenden, und kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, stürzte das Hochgefühl in sich zusammen, und zurück blieb die Leere unserer Plattenbauwohnung. Die Ausnahmesituation war beendet und machte wieder den Routinen Platz.

– Na, wie habt ihr geschlafen?, frage ich.

– Gut, sagen sie.

Malik kommt ins Wohnzimmer gelaufen, vielmehr, er tänzelt wie ein Harlekin. Er kennt hundert Arten zu gehen, ständig ist sein Körper in Bewegung, als teste er, was diese Gelenke und Gliedmaßen so alles können, er schlenkert mit Armen und Beinen, verlagert das Gewicht nach links und rechts, er hüpft von einem Zehenballen auf den anderen, als überspränge er einen Bachlauf, manchmal pirscht er sich mit gebeugten Knien durchs Wohnzimmer oder flitzt mit flinken Schritten davon, wenn ich mit einer Jacke hinter ihm herlaufe.

– Bin ich wach, sagt er.

– Toll, sage ich.

Er formuliert Aussagesätze immer nur als Fragesätze, die Betonung geht am Ende des Satzes jedoch nicht nach oben, sondern nach unten. Nicht das Subjekt steht am Anfang, sondern das Prädikat: bin. Sein. Er ist. Nicht: Er ist.

– Hab ich geweint. Nicht schön.

Alles, was ihm nicht gefällt oder ihm Angst macht, ist nicht schön. Seine Welt ist so groß wie der Wortschatz für ihre Beschreibung. Wenn sich in einem Trickfilm jemand wehtut: nicht schön. Wenn er den Tisch mit Farbe vollgeschmiert hat und wir schimpfen: nicht schön. Und jetzt das Weinen: nicht schön. Ich frage mich, wie er darauf kommt, das Weinen als nicht schön zu bewerten. Haben Alma und Fritzi das als Kinder auch gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Ich hocke mich vor ihn hin, drücke ihn fest an mich, diesen kleinen, kompakten Körper, und sage: Du kannst ruhig weinen, Weinen ist nicht schlimm, okay?

Er nickt.

– Hast du Hunger?

Er nickt wieder, und ich hebe ihn hoch, setze ihn auf seinen Platz und schütte ihm Müsli in die Schale. Er isst es immer ohne Milch, obwohl er sonst liebend gern Milch trinkt, im Müsli mag er sie nicht. Vielleicht liegt es daran, dass wir naturbelassene Milch in Flaschen kaufen, dass sich manchmal beim Kippen der Flasche der Rahm löst und dann oben auf dem Müsli liegt wie ein kleiner Gletscher, oder es ist eine jener sich in der Kindheit anbahnenden Abneigungen gegen bestimmte Lebensmittel, bei denen ich mich manchmal frage, wie genau sie sich ausbilden, warum man ausgerechnet eine Abneigung gegen dieses oder jenes Lebensmittel entwickelt, ob diese seltsamen Irrwege und Absonderlichkeiten des Geschmacks Zufall oder Mitteilungen des Unbewussten sind, die man lesen kann wie die Körpersprache. Ich esse Erdnüsse, aber keine Erdnusscreme, ich liebe Möhren, aber ich esse niemals Möhrenkuchen. Warum widern mich Tomaten an? Weil sie mich an Herzen erinnern, weil ich den Gedanken unerträglich finde, dass mein offenes Herz vor mir auf dem Tisch liegt. Das Herz hat in unserer Familie immer eine besondere Rolle gespielt. Wenn ich unversehens um den Vorsprung in der Küche bog, hinter dem meine Mutter am Herd stand, rief sie: Hast du mich erschreckt, ich krieg gleich einen Herzkasper, bei jeder Erkältung musste ich aufpassen, dass sich die Grippe nicht aufs Herz legt, es herrschte immer die Angst, dass etwas mit dem Herzen ist, dass es aussetzt, dass es schwach ist, dass man es nicht mehr spürt, dass es aufhört zu schlagen.

Jeder in unserer Familie hat diese gewissen Aversionen, nur Levje isst alles. Sie probiert alles, sie schiebt sich mit einem Seufzen, als wäre es ihre Bestimmung, die Reste der Kinder auf ihren Teller, sie hat keinerlei Abneigungen gegenüber Lebensmitteln, empfindet überhaupt das Wort Ekel in Zusammenhang mit Essen als völlig unpassend und ermuntert die Kinder, zumindest alles einmal zu probieren. Sie hat Vorlieben für seltsame Dinge, Gegorenes und Eingelegtes, Kimchi oder Kapern, die sie sich manchmal abends aus dem Kühlschrank holt und dann löffelweise verspeist, eine der wenigen Maßlosigkeiten, die sie sich erlaubt. Levje passt sich jedem Essen und jeder Umgebung an. Sie besitzt eine unerschütterliche Genügsamkeit. Wenn wir zu fünft in einer winzigen Dreizimmerwohnung leben würden, würde sie sagen: Ach, wie schön, dass wir uns haben. Sie passt sich auch an das Schweigen an. Das ist das Problem. Es wird zur Normalität.

Levje kommt aus dem Badezimmer und setzt sich, nimmt ihre Tasse zwischen beide Hände, führt sie an die Lippen.

– Und, was hast du heute in der Schule?, frage ich Alma.

Alma schaut zu Levje. Ihr Blick wirkt unsicher. Levje sagt:

– Deutsch, Mathe, Sachkunde, Sport. Wir dürfen die Sportsachen nicht vergessen.