Jailed Hearts - Laura E. Ashcroft - E-Book

Jailed Hearts E-Book

Laura E. Ashcroft

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Beschreibung

Liebe kann Mauern durchbrechen – auch die, die wir selbst errichtet haben.
Amir ist Touristenführer im ehemaligen Gefängnis Alcatraz. Ähnlich zu seinem bedrückenden beruflichen Umfeld lebt er im stillen Kampf zwischen den Erwartungen seiner traditionsbewussten persischen Familie und seinem wahren Ich. Doch dann wird er mit einem neuen Kollegen konfrontiert, der sein sorgfältig kontrolliertes Leben ins Wanken bringt.
Julian lebt laut, bunt und kompromisslos offen, zumindest auf den ersten Blick. Als angehender Historiker sieht er in der verlassenen Gefängnisinsel nicht nur Mauern, sondern Spiegel für Einsamkeit, innere Konflikte, und vielleicht auch für seine eigenen Ängste.
Keiner von ihnen hat erwartet, gerade an diesem tristen Ort jemandem zu begegnen, der ihre Überzeugungen herausfordert – und sie berührt. Zwischen Zellentrakt und stillen Blicken wächst eine Verbindung, die stärker ist als ihre Unterschiede. Doch die Herausforderung bleibt, den Weg zueinander zu finden, ohne sich selbst zu verlieren …

Der schwule Liebesroman “Jailed Hearts” erzählt von queerer Liebe inmitten der tristen Mauern von Alcatraz, über kulturelle Identität, stille Sehnsucht und laute Herzen. Für Fans von Grumpy meets Sunshine und Slow-Burn-Romantik, die unter die Haut geht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


JAILED HEARTS

LAURA E. ASHCROFT

Verlag:

Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH

Werinherstr. 3

81541 München

_____________________

Texte: Laura E. Ashcroft

Cover: Zeilenfluss

Satz: Zeilenfluss

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer,

TE Language Services – Tanja Eggerth

_____________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

_____________________

ISBN: 978-3-96714-581-6

TRIGGERWARNUNG

Liebe Leser*innen,

ich möchte euch darauf aufmerksam machen, dass dieses Buch einige Elemente enthält, die unter Umständen triggern können.

In „Jailed Hearts“ werden Homophobie und Rassismus thematisiert.

JAILED HEARTS – THE SOUNDTRACK

Scott McKenzie – San Francisco (Be Sure to Wear Flowers in Your Hair)Patti Smith – Because the NightThe Killers – Read My MindLondon Grammar – StrongThe National – I Need My GirlMumford & Sons – I Will WaitFlorence + The Machine – Shake It OutHozier – Take Me to ChurchGeorge Ezra – BudapestBronski Beat – Smalltown BoyCigarettes After Sex – ApocalypseLana Del Rey – RideTroye Sivan – HeavenSam Smith – Lay Me DownColdplay – Fix YouKeane – Somewhere Only We KnowSnow Patrol – Chasing CarsU2 – With or Without YouRadiohead – CreepFrank Ocean – Thinkin Bout You

PROLOG

Ich stand am Rande des Ozeans, die Kälte des Wassers sickerte durch meine Schuhe und klatschte gegen meine Beine. Der Wind riss an mir, als wollte er mich ins Unbekannte zerren, fort von allem, was ich kannte, und von all den Mauern, die ich einst um mich gebaut hatte. Hinter mir glommen die Lichter der Stadt, doch der Lärm schien fern, wie aus einer anderen Welt.

Es war still. Und gleichzeitig laut. Ich spürte das Rauschen in meinem Kopf, das Dröhnen all der Worte, die ich so lange unterdrückt, die Fragen, die ich immer nur mir selbst gestellt hatte. War das Freiheit, hier zu stehen, allein in der Dunkelheit? War es Liebe, die mich in diese Nacht getrieben hatte, an diesen Punkt, an dem ich weder zurück noch vor konnte, sondern einfach nur … sein?

In diesem Moment dachte ich an ihn. An Julian. Seine Stimme war mir so vertraut geworden, dass sie sich in mir eingebrannt hatte – wie eine Melodie, die man nicht vergisst, selbst wenn sie mit der Zeit leiser klingt.

Ich hatte nie geglaubt, dass es möglich wäre, jemanden wie ihn zu finden. Jemanden, der mich so sieht, wie ich wirklich bin – nicht als das Bild, das ich nach außen trug, nicht als die Rolle, die ich gelernt hatte zu spielen. Jemanden, der mir gezeigt hatte, wie es sich anfühlte, echt zu sein.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, bis die Kälte allmählich von mir Besitz ergriff und meine Haut taub wurde.

Aber in diesem Moment wusste ich, dass ich nicht mehr derselbe Mann war wie zu Beginn dieser Reise.

Ich war hierhergekommen, um mich selbst zu verstecken, doch stattdessen hatte ich mich gefunden – in ihm, in mir.

Es ist seltsam, denke ich jetzt, wie ein Mensch dein Leben auf den Kopf stellen kann. Wie eine einzige Begegnung alles verändern kann, was du je gekannt hast. Und manchmal, nur manchmal, führt sie dich an einen Abgrund, den du selbst nie erreicht hättest.

Ein leises Lächeln überkam mich, als ich endlich den ersten Schritt zurück zur Stadt machte. Ich wusste nicht, wohin dieser Weg mich führen würde. Aber ich wusste eines – ich würde ihm folgen.

1

ALCATRAZ ISLAND

AMIR

Fröstelnd lief ich über die windige Plattform und zog meine Jacke enger um mich. Der Wind auf Alcatraz war anders als der in der Stadt, rauer, härter – als würde er entlang des Wassers eine gewisse Wut aufbauen und mit voller Wucht auf mich zielen. Mir gefiel das. Hier draußen hatte ich das Gefühl, die Kälte und die Einsamkeit zu brauchen. Alcatraz war nicht nur ein Ort, sondern ein Zustand. Hier draußen, mitten im Nebel und den zerklüfteten Mauern des alten Gefängnisses, konnte ich verschwinden. Wer würde sich schon für einen Einzelgänger interessieren, der den Großteil seiner Zeit damit verbrachte, Besuchern etwas über Gefängnisflure und Fluchtversuche zu erzählen?

Ich ließ meinen Blick über die Zellenblöcke schweifen. Der Lärm der Möwen vermischte sich mit den dumpfen Stimmen der Menschen, die sich um mich herum sammelten. Besuchertage waren die hektischsten Tage. Die meisten schauten mich nicht einmal an. Sie kamen mit Kameras und Handys, plapperten und murmelten in unterschiedlichen Sprachen und schienen zu glauben, dass dieses Gefängnis nur ein Filmset war. Sie konnten das Grauen, das sich in den Wänden festgesetzt hatte, nicht spüren, und es störte sie auch nicht. Für sie war es nur eine weitere Touristenattraktion.

Aber ich war anders. Ich spürte, dass dieser Ort eine Art Verbündeter war, als hätten die Mauern hier eine Geschichte, die nur für die erzählt wurde, die wirklich hinsehen wollten. Auch ich trug Mauern mit mir herum, unsichtbare, aber genauso schwere wie diese hier. Mauern, die ich mir aufgebaut hatte, um nicht gesehen zu werden, Mauern, die mich beschützten und gleichzeitig einsperrten. Und Alcatraz war dafür der perfekte Ort – isoliert, kalt, ein Schutzschild gegen die Welt.

Mein Funkgerät knackte, riss mich aus meinen Gedanken. »Amir, wir haben einen neuen Teamkollegen, der sich dir heute anschließen wird. Julian Montgomery.«

Ich unterdrückte ein genervtes Seufzen. Ein neuer Kollege. Das Letzte, was ich wollte.

»Verstanden«, antwortete ich knapp, meine Stimme rau vom Wind und den tausend Touren, die ich bereits hinter mir hatte.

Ich wartete nicht lange, da sah ich ihn auch schon. Er kam mit langen, selbstbewussten Schritten die Plattform entlang auf mich zu, die Sonne glitzerte auf seiner silbernen Sonnenbrille, die er als Krönung seines auffälligen Outfits trug. Irgendetwas an ihm schien in die Welt hinauszuschreien: ›Seht her, hier bin ich!‹ Das genaue Gegenteil von dem, was ich für diesen Ort fühlte.

»Julian Montgomery?«, fragte ich, die Worte kaum mehr als ein tiefer Ton, der sich im Wind verlor.

Er nahm die Sonnenbrille ab und grinste mich an. »Amir Khalil, richtig?« Seine Stimme war ein Kontrast zum Wind – leicht, fast spielerisch, als ob ihm hier nichts ernst genug sein konnte. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

Ich nickte nur und ließ meinen Blick über ihn gleiten. Er trug eine enge tiefschwarze Lederjacke, perfekt abgestimmt auf seine glänzenden schwarzen Stiefel und Jeans, die wahrscheinlich mehr gekostet hatten als die Miete für meine ganze Wohnung. Er wirkte fehl am Platz – wie ein Popstar, der sich in ein Museum verirrt hatte. Und obwohl er hier stand, auf einem Boden, der von Jahrzehnten des Leidens und der Isolation durchdrungen war, schien ihm das nicht das Geringste auszumachen.

»Also … was machen wir heute?« Er sah mich an, die Augen neugierig, und lächelte dieses unverschämte Grinsen, als hätte er schon längst entschieden, dass wir Freunde werden würden.

»Heute?« Ich spürte, wie meine Kiefermuskeln sich anspannten. »Wir arbeiten. Zeigen den Besuchern, was sie sehen wollen.«

Er runzelte kurz die Stirn, als ob ihm dieser Pragmatismus nicht gefiel. »Na gut. Wo starten wir?«

Ich wandte mich wortlos ab, führte ihn in Richtung Zellenblock D. »Hier«, sagte ich und deutete auf die Tür. »Das ist der Hauptbereich. Die Touren beginnen und enden meistens hier. Versuch, nicht im Weg zu stehen.«

Ein leises Lachen hinter mir. »Mach dir um mich mal keine Sorgen, Amir.«

Seine Stimme war sanft, aber ich hörte die leichte Herausforderung darin. Ich widerstand dem Drang, mich umzudrehen und ihm eine passende Antwort zu geben. Stattdessen setzte ich meinen Weg fort, ignorierte ihn und konzentrierte mich auf die Gruppe, die uns entgegenkam.

Trotz allem spürte ich seine Anwesenheit wie eine brennende Glut in meinem Nacken.

Sein Lachen hatte einen Nachklang, der mich irritierte. Es war nicht das spöttische, abschätzige Lachen, das ich erwartet hatte, sondern etwas anderes – warm und irgendwie unbeschwert, als hätte er sich schon lange daran gewöhnt, dass seine Andersartigkeit Leute wie mich verstimmte.

Wir erreichten die Zellen, und ich begann meine übliche Ansprache. Es war fast ein Ritual: die harten Fakten, die geflüsterten Geschichten über Ausbrüche und Scheitern, das Schicksal derjenigen, die hier eingesperrt waren. Der Tourismus machte aus allem eine Show, aber ich versuchte, den Menschen die Realität hinter den Mauern zu vermitteln. Die meisten nickten nur mechanisch, warfen einen Blick auf die grauen Zellen und waren dann froh, wenn sie die kalten Wände wieder verlassen konnten.

Während ich sprach, stand Julian leicht seitlich von mir, die Arme locker verschränkt. Er beobachtete mich, nicht die Zellen.. Sein Blick war seltsam aufmerksam, und das irritierte mich mehr, als ich zugeben wollte. Anders als die typischen Touristen ließ er die Details der Zellen nicht einfach auf sich wirken, als wäre das alles nur eine Inszenierung. Stattdessen hafteten seine Augen an mir, als wollte er begreifen, warum ich das hier tat.

Ich hielt inne, als ich die Tour beendete und mich kurz nach ihm umsah. Dieses Grinsen war wieder präsent, das eines Mannes, der genau wusste, wie sein Auftreten auf andere wirkte, aber sich nichts daraus machte. Ein stiller Rebell in einer Welt voller Regeln und Erwartungen. Und doch … in seinen Augen lag ein Funkeln, , das andeutete, dass all das vielleicht nur eine Fassade war.

»Also, das machst du hier jeden Tag?«, fragte er, als wir schließlich eine ruhigere Ecke des Blocks erreichten. Sein Blick glitt über die Zellen, als könnte er darin Geschichten erkennen, die die meisten übersehen hatten.

»Ja«, erwiderte ich knapp, »jeden Tag.« Ich hatte keine Lust auf Smalltalk, erst recht nicht mit ihm. Was wusste er schon über Mauern und Zellen? Für ihn war das alles ein Schauspiel, ein Stück Geschichte, das er genauso gut in einem schicken Restaurant in der Innenstadt erzählen konnte, während er teuren Wein schlürfte.

»Interessant.« Er sagte das Wort langsam, wie um es zu kosten, und sah mir direkt in die Augen. »Du machst das hier also nicht nur wegen des Jobs. Stimmt’s?«

»Was du denkst, ist mir ziemlich egal«, gab ich zurück und zwang mich, den Blick abzuwenden. Ich spürte, wie sich ein Anflug von Ärger in mir zusammenbraute. Er hatte keine Ahnung, was dieser Ort für mich bedeutete.

Julian lachte leise. »Schätze, das macht uns zwei dann gar nicht so unterschiedlich.«

Ich drehte mich zu ihm um und musterte ihn. »Was meinst du damit?«

Ich konnte es nicht verhindern; seine Worte hatten mich neugierig gemacht, obwohl ich es nicht wollte.

Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Blick über die Zellenreihen gleiten. »Manchmal zieht es einen einfach an Orte, die andere meiden. Orte, die einen nicht sofort umarmen, sondern erst einmal anstarren und infrage stellen. Sie fordern dich heraus. Zwingen dich, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen.«

Das klang zu tiefgründig, als dass ich ihm glauben konnte. Vielleicht war das nur eine neue Taktik, um mich aus der Reserve zu locken, um zu testen, wie weit er mit mir gehen konnte. Aber da war dieser Hauch von Aufrichtigkeit in seiner Stimme, den ich nicht ignorieren konnte.

»Alcatraz ist für dich eine Bühne, nicht mehr«, sagte ich kalt. »Du bist hier, um gesehen zu werden.«

Er grinste, aber diesmal war da etwas in seinem Gesicht, das ich nicht deuten konnte. »Vielleicht. Aber du auch, Amir.«

Die Worte trafen mich härter, als ich erwartet hatte. Ich spürte, wie sich meine Kiefermuskeln anspannten, und drehte mich wortlos weg. Ich wollte nichts weiter sagen, wollte ihm keine Angriffsfläche bieten. Doch die Wahrheit in seinen Worten fraß sich in meine Gedanken.

»Ich glaube«, setzte er an und lehnte sich gegen eine der eisernen Streben der Zellen, »wir verstecken uns beide hinter Mauern. Nur dass deine vielleicht aus Beton sind, während meine … etwas glänzender aussehen.« Sein Grinsen war zurück, halb spöttisch, halb herausfordernd.

Ich wollte ihm widersprechen, ihn zurechtweisen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Da stand er, dieser Fremde, der keine Stunde hier war, und doch hatte er es irgendwie geschafft, etwas in mir zu durchdringen, von dem ich selbst nicht wusste, dass es existierte.

»Komm einfach zur Arbeit und mach deinen Job«, sagte ich schließlich, meine Stimme schneidend. »Es ist nicht meine Aufgabe, dir den Sinn dahinter zu erklären.«

»Oh, ich bin überzeugt, ich werde den schon noch rausfinden.« Er ließ sich von meinem Tonfall nicht einschüchtern. Stattdessen sah er mich an – direkt, offen, ohne eine Spur von Unsicherheit. »Vielleicht lerne ich dabei ja sogar dich ein bisschen besser kennen.«

Bevor ich eine passende Antwort finden konnte, drehte er sich um und ging, die Schritte federnd, als hätte er hier schon längst das Kommando übernommen. Ich blieb stehen und spürte, wie der Wind erneut über mich hinwegfegte, mich fast in die alten, kühlen Mauern presste.

Ich konnte ihn immer noch sehen, wie er die Zellen entlangschlenderte, die Hände lässig in den Taschen, die Haltung eines Mannes, der sich niemals verstecken würde.

Julian schlenderte die Zellenreihen entlang, und es fiel mir schwer, die Augen von ihm zu lösen. Alles an ihm schrie förmlich ›Schwuchtel‹. Und das in San Francisco – nicht verwunderlich –, wo auch sonst. Irgendwie musste ich fast über mich selbst lachen. Ich lebte in der wohl weltoffensten Stadt auf dem Globus, und doch reagierte ich wie ein dummer Teenager, der in seiner engen Kleinstadt das erste Mal jemanden wie ihn sah.

Seine ganze Erscheinung war wie ein aufdringlicher Regenbogen: Die enge Lederjacke schimmerte leicht, das dunkle Haar lag perfekt gestylt, und seine Bewegungen – als ob die ganze Welt nur darauf wartete, dass er sie mit einem dramatischen Auftritt beehrte. Ich seufzte innerlich. Dass man mir diesen Paradiesvogel aufhalsen musste …

Er kam zurück zu mir, nachdem er scheinbar seine Kurzinspektion beendet hatte, das Grinsen wie festgetackert auf seinem Gesicht. »Und? Schon lange hier?«

»Lange genug«, antwortete ich, knapp und ohne Interesse, mich auf Smalltalk einzulassen. In mir regte sich das Gefühl, dass diese Begegnung nur Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Ich hatte schon oft gedacht, dass dieser Ort eine gewisse Ruhe und Anonymität versprach, eine Flucht aus meiner eigenen Geschichte, aber mit ihm in der Nähe fühlte sich das alles wie ein schlechter Scherz an.

Julian betrachtete mich weiter, als suchte er nach etwas. Dann, fast wie beiläufig, kam die Frage, die ich so oft gehört hatte und die dennoch jedes Mal ein Stich war: »Also, aus welcher Gegend stammst du ursprünglich?«

Er ließ die Frage in der Luft hängen, mit einem neugierigen, unschuldigen Ausdruck auf dem Gesicht, der mir aber nicht das Geringste bedeutete.

Mein Magen zog sich zusammen, als ich die Worte hörte. Sie besaßen diesen leicht abschätzigen Unterton, oder bildete ich mir das nur ein? Er hatte keine Ahnung, was er da ansprach, keine Ahnung, wie viele Male ich diese Frage schon in meinem Leben gehört hatte und welche Bedeutung sie jedes Mal mit sich brachte – besonders nach 9/11, als ich mich gezwungen sah, eine Antwort zu geben, die Menschen milde stimmte oder beruhigte, nur damit ich nicht wie ein potentieller Feind behandelt wurde.

»Kalifornien«, sagte ich so kühl wie möglich, ohne die Details, nach denen er vielleicht suchte.

»Oh«, erwiderte er, und ich konnte sehen, dass ihm das nicht ganz reichte. »Und … deine Familie?«

Mein Kiefer spannte sich an, und ich spürte, wie das alte, schwere Gefühl des Unwohlseins in mir hochkochte.

»Was ist mit meiner Familie?« Ich starrte ihn an, mein Blick schneidend. Wenn er eine weitere klischeehafte Frage stellte, würde ich ihn am liebsten mit der Antwort ersticken.

»Ach, ich meinte nur …« Er hielt inne, eventuell, weil er spürte, dass er sich auf dünnes Eis begeben hatte. »Sorry, ich bin nur neugierig.« Sein Ton war fast entschuldigend, und doch lag eine gewisse Unbedarftheit darin, als würde er nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die mit dieser Neugier Dinge verbinden, die ihnen wehgetan haben.

Ich wollte ihn zur Rede stellen, wollte ihm all die Dinge sagen, die ich den Menschen nie gesagt hatte, die mich wegen meiner Herkunft ausgefragt hatten, als wäre ich ein Exot im Zoo.

»Neugierig«, wiederholte ich leise, fast verächtlich. Er hatte keine Ahnung, was es bedeutete, sich ständig rechtfertigen zu müssen, was es bedeutete, den eigenen Namen zu hören und die Augenblicke zu zählen, bis das erste Vorurteil fiel. Was war ich für ihn? Eine Geschichte, die er jemandem bei einem Drink in einer schicken Bar erzählen konnte? Eine Anekdote, die seine Weltanschauung erweiterte?

Ich spürte, wie ich mich innerlich abschottete. Julian und ich lebten nicht in der gleichen Welt. Für ihn war das hier ein Job, ein Abenteuer – er durfte ›Schwuchtel‹ sein, in seiner Lederjacke glänzen und sich über die kulturellen Eigenheiten anderer lustig machen, ohne die Last des Urteils zu tragen, ohne die Scham, die man mir beigebracht hatte.

Doch was mich am meisten störte, war, dass ein Teil von mir auf das gleiche Urteil hereinfiel. Alles, was Julian verkörperte, dieses offene ›Schwulsein‹, diese Leichtigkeit, widerte mich und zog mich gleichzeitig an, als wäre es etwas Verbotenes, das mir nie offenstand. Ich war kein gläubiger Muslim, nein, das war ich nie gewesen, aber tief in mir war diese Schicht von Scham, von all den Dingen, die ich nicht sein durfte und nicht tun konnte, die ich immer noch spürte.

»Hör zu«, murrte ich schließlich, die Worte knapper, als ich beabsichtigt hatte. »Wenn du hier nur bist, um dir eine Geschichte zu schnappen, die du später mit deinen Freunden teilen kannst, dann kann ich dir auch die Audios einspielen, denen die Touristen mit ihren Kopfhörern ehrfürchtig lauschen.«

Julian hob überrascht die Augenbrauen und sah mich einen Moment an. Dann, völlig unbeeindruckt von meinem Versuch, ihn abzuwehren, räumte er einfach ein: »Ich wusste nicht, dass ich einen Nerv getroffen habe. Tut mir leid.«

Und zum ersten Mal wirkte er … gedämpft. Fast nachdenklich.

»Entschuldige bitte. Ich meine es ehrlich.« Seine Stimme war leiser, und ich erkannte einen Hauch von Ernst darin, den ich bisher nicht bei ihm bemerkt hatte. Doch bevor das Gespräch sich vertiefen konnte, knackte das Funkgerät, und unsere Vorgesetzte, Officer Grace O’Malley, kam den Korridor entlang, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem für sie typischen, leicht abschätzigen Blick, als müsste sie das Personal immer wieder an ihre Autorität erinnern.

Ihr scharfer Blick blieb an Julian hängen, wanderte von oben bis unten über seine Lederjacke, die enge Jeans und die Stiefel. Sie hob eine Augenbraue und ließ ein langes Schweigen verstreichen, bevor sie den Mund öffnete. »Mr. Montgomery«, begann sie und verschränkte die Arme noch etwas fester. »Wir legen hier für gewöhnlich Wert auf eine … einheitliche Erscheinung.«

Julian sah sie an, und ein leichtes Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel, als würde er sich über ihre Strenge amüsieren. »Das ist mir tatsächlich schon aufgefallen«, sagte er gelassen, die Worte fast zuckersüß. »Ich dachte nur, ich bringe etwas Abwechslung in die altehrwürdigen Mauern.«

Grace ließ sich von seinem Lächeln nicht beeindrucken. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte ihn erneut, bevor sie mit einem trockenen Lächeln antwortete: »Abwechslung schön und gut, Mr. Montgomery, aber ab morgen ziehen Sie die Uniform an, die wir Ihnen zur Verfügung stellen, ist das klar? Das ist hier kein Laufsteg.«

Julian nickte artig, aber sein Grinsen blieb. »Natürlich, Ma’am. Ich freue mich schon auf den … formellen Look.«

Er zwinkerte, was Grace mit einem knappen Kopfnicken ignorierte.

Ein Teil von mir konnte sich Julian wirklich nicht in der einfachen Parkuniform vorstellen. Die steifen Khakis, das neutrale Hemd mit den Emblemen auf der Schulter – alles daran schien seiner Art, sich zu präsentieren, geradezu entgegenzuwirken. Doch ein anderer Teil … wollte sehen, wie er sich darin bewegte, wie viel von seiner Unabhängigkeit und seinem Selbstbewusstsein in der Uniform bestehen blieb. Nur ein ganz kleiner Teil, ein Gedanke, den ich sofort wieder verdrängte.

Grace warf mir einen kurzen, prüfenden Blick zu und wandte sich dann wieder Julian zu. »Was Ihren Aufenthalt hier betrifft«, begann sie und lockerte ihre Haltung ein wenig, »dies ist nicht nur ein Sommerjob für Sie, korrekt? Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen und weiß, dass Sie an einem … sozialhistorischen Projekt arbeiten. Alcatraz soll Ihnen wohl als Inspiration dienen, habe ich recht?«

Julian nickte, diesmal ernsthafter. »Genau. Ich beschäftige mich in meinem Studium mit der Geschichte von Bestrafung und sozialer Ausgrenzung. Alcatraz war da ein naheliegender Ort – die Geschichte, die Symbolik, die Isolation … das alles passt perfekt zu meinem Projekt.«

Grace zog wieder die Augenbraue hoch und nickte langsam, anscheinend mit einem Hauch von Anerkennung. »Das ist in der Tat ein weit gefasster Ansatz. Aber bevor Sie mit dem Projekt loslegen, rate ich Ihnen, die Insel und die Abläufe hier kennenzulernen. Machen Sie erst mal die Touren mit Khalil mit, lernen Sie die Touristenperspektive und verstehen Sie, was dieser Ort wirklich bedeutet, bevor Sie sich ans Theoretische wagen.«

Julian nickte abermals und warf mir einen kurzen Blick zu, in dem vielleicht sogar ein Funke von Respekt lag.

»Verstanden«, entgegnete er ruhig.

»Gut«, bekräftigte Grace scheinbar ihre eigenen Worte und straffte die Schultern. »Dann viel Erfolg, Montgomery. Und vergessen Sie die Uniform nicht.« Sie zwinkerte ihm zu, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als Julian nur leise »Ja, Ma’am« murmelte und wir uns wieder allein auf der Plattform befanden.

Er sah mich an und grinste. »Was glaubst du, werde ich den strengen Kriterien von Alcatraz gerecht?«

»Ich denke, es wird … interessant, dich in Uniform zu sehen«, erwiderte ich trocken, ohne den Hauch eines Lächelns zu zeigen, auch wenn mir der Gedanke daran plötzlich seltsam amüsant vorkam.

Der Rest des Tages verlief überraschend unspektakulär. Julian hielt sich an Grace’ Rat, warf sich nicht weiter in den Vordergrund und folgte mir fast stumm auf den Touren, ohne seine typischen Kommentare und neckischen Blicke. Er hielt Abstand, und ich konnte nicht sagen, ob er mir die seltsame Konfrontation von vorhin übelnahm oder ob es etwas anderes war, was ihn beschäftigte.

Als der Tag schließlich zu Ende ging, packte ich meine Sachen zusammen und machte mich zur letzten Fähre auf, die die Mitarbeiter zurück aufs Festland brachte. Draußen wurde es bereits dunkel, und die Lichter der Stadt flackerten über das Wasser hinweg. San Francisco lag wie ein funkelndes Versprechen am Horizont.

Ich war fast schon an Bord, als ich ihn sah. Julian stand allein an der Reling, den Blick auf die Stadt gerichtet. Er schien völlig in Gedanken versunken, und das überraschte mich. Dieser Mann, der sonst immer so viel Energie und Selbstbewusstsein ausstrahlte, wirkte jetzt … ruhig, ja, fast zerbrechlich. Da war kein Lächeln, kein gespielt-übermütiger Ausdruck. Nur er, und die Stille der hereinbrechenden Nacht.

Etwas in mir schrie, dass ich einfach verschwinden und ihm aus dem Weg gehen sollte. Alles an ihm war eine Erinnerung daran, was ich nie sein konnte, nie sein durfte. Aber gegen jede Vernunft zog es mich dennoch zu ihm, als ob ich diesem Moment nicht entkommen könnte.

Ich schlenderte gemächlich zur Reling und stellte mich neben ihn. Ich stützte mich mit den Unterarmen auf das kalte Metall, genau wie er, und ließ meinen Blick über das Wasser gleiten. Wir schwiegen. Einige Minuten vergingen und keiner von uns sprach ein Wort. Nur das beständige, leise Rauschen der Wellen und das schwache Summen des Fährmotors begleiteten uns.

Ich spürte seine Anwesenheit, roch einen Hauch seines Parfums – etwas Holziges, leicht Süßliches, das eigenartig beruhigend wirkte. In dem Moment war mir das alles seltsam egal. Es war nur er, ich und das Wasser, das uns wie eine dunkle Grenze von der Stadt trennte.

Dann, ohne nachzudenken, ließ ich ein einziges Wort einfach heraus. »Persien.«

Julian drehte den Kopf zu mir, seine Augen weiteten sich einen Moment lang. Dann schien er zu verstehen. Seine Miene wurde weich, und er nickte leicht, wie um die verspätete Antwort zu würdigen. Seine Augen, die mir zuvor übertrieben lebhaft erschienen waren, wirkten jetzt dunkel und tief, und es ging ein unerwarteter Ernst von ihm aus. Zum ersten Mal sah ich etwas anderes in ihnen – etwas, das mir das Gefühl gab, dass er mehr war als das Bild, das er mir zu präsentieren versuchte.

Er hielt meinen Blick, und ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Heutiger Iran?«

Ich blinzelte und war positiv überrascht. Die meisten Amerikaner schauten mich verwirrt an, wenn ich ›Persien‹ sagte, als hätte ich gerade das Land von Narnia erwähnt. Ich nickte knapp, nicht sicher, ob ich überrascht oder beeindruckt sein sollte, dass Julian tatsächlich wusste, wovon ich sprach.

»Ja«, murmelte ich schließlich, »heutiger Iran.«

Er nickte und schaute wieder aufs Wasser. »Ich hab mal jemanden gekannt, dessen Eltern aus dem Iran kamen. Er hat mir ein bisschen was erzählt … über die Geschichte, das alte Persien, über die Kultur. Hat irgendwie Eindruck bei mir hinterlassen.«

Ich sah ihn aus den Augenwinkeln an, verwundert, dass er das Thema nicht noch mehr ins Lächerliche zog oder aufdringlich weiterbohrte. Stattdessen ließ er es einfach dabei bewenden, als würde er genau verstehen, was diese Worte für mich bedeuteten.

»Weißt du«, fuhr er leise fort, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern im Wind, »manchmal sind die Fragen, die am meisten verletzen, die, die man gar nicht stellen will.«

Etwas an seiner Ausdrucksweise ließ mich innehalten. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber sicher nicht das.

»Vielleicht«, antwortete ich schließlich, und meine Stimme klang rauer, als ich wollte.

Julian nickte, als hätte er meine Reaktion verstanden, ohne sie wirklich hinterfragen zu müssen. Er hielt den Blick auf das Wasser gerichtet, und für einen Moment fragte ich mich, was ihn wohl in so eine Stimmung versetzt hatte. Der Julian, den ich heute erlebt hatte – laut, provokant, alles an ihm in leuchtenden Farben und geschliffenen Kanten –, schien wie ein anderer Mensch zu sein, wenn er einfach nur hier stand und auf die nächtlichen Wellen hinausschaute.

»Alcatraz ist … faszinierend«, sagte er nach einer Weile, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden. »Es ist fast wie ein lebender Organismus. Die Wände, die Gänge … es fühlt sich an, als würde der Ort jede Geschichte, jedes Schicksal, das jemals hier gefangen war, in sich tragen.«

Ich sah ihn an, erneut unvorbereitet auf seine Worte. Die meisten Menschen, die hierherkamen, betrachteten Alcatraz als Museum, als Inszenierung für die morbide Neugier, die sie an diesen Ort trieb. Aber das war es nicht – Alcatraz hatte einen eigenen Geist, eine Kälte, die sich festgesetzt hatte und jede Oberfläche, jede Faser durchdrang. Dass Julian das spüren konnte, hatte ich nicht erwartet.

»Es ist ein Platz für Leute, die sich verstecken müssen«, sagte ich, leise und fast zu mir selbst, bevor ich meine Worte überdenken konnte. Aber er hörte es, und ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie er den Kopf leicht in meine Richtung neigte.

»Und … versteckst du dich, Amir?«, fragte er, und seine Stimme war sanft, kein Spott, keine Ironie darin. Er erkundigte sich, als wäre es die natürlichste Frage der Welt.

Ich spürte, wie sich etwas in mir verkrampfte. Das war eine Frage, die niemand stellte. Eine Frage, die ich selbst nie laut ausgesprochen hatte. Mein Blick wanderte über das Wasser und blieb an den Lichtern der Stadt hängen. Da war San Francisco, das schimmernde Versprechen von Freiheit und Möglichkeiten. Und hier war ich, ein Gefangener meiner eigenen Vergangenheit, meiner eigenen Angst.

»Vielleicht«, sagte ich leise, ohne ihn anzusehen. Es war das einzige Wort, das ich zulassen konnte. Alles andere schien zu viel zu sein.

Wieder schwieg er und ließ die Stille zwischen uns sich ausdehnen, als wollte er mir den Raum geben, den ich brauchte. Da war etwas so überraschend Einfühlsames in seinem Verhalten, dass es mich verunsicherte. Ich hatte Julian anders eingeschätzt, ihm diese Fähigkeit zu stiller Aufmerksamkeit nicht zugetraut.

»Ich verstecke mich auch«, sagte er schließlich, und seine Stimme hatte eine Schwere, die ich bisher noch nie bei ihm gehört hatte. Er hielt immer noch den Blick aufs Wasser gerichtet, und seine Hände umfassten die Reling so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Die meisten Leute sehen nur das, was ich ihnen zeige. Sie sehen das Grinsen, die Klamotten, die ganze … Show. Sie denken, dass ich keine Sorgen habe, dass ich einfach nur ein Spaßvogel bin. Sie sehen nur das, was ihnen gefällt.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Ein Teil von mir verstand, was er meinte, aber ich kämpfte auch dagegen an, es zuzulassen. Ihn als jemanden anzuerkennen, der sich ebenfalls versteckte, brachte mich näher an ihn heran, als ich es wollte. Ich hatte ihn als diesen frechen, nervigen Typen abgestempelt, der keine Ahnung davon hatte, was es bedeutete, Mauern um sich herum aufzubauen. Aber nun erkannte ich einen Teil von ihm, sah ihn wirklich, und es war, als hätte er eine ganz neue Schicht enthüllt, die ich bisher nicht wahrgenommen hatte.

»Also … die Uniform morgen«, sagte ich schließlich, mehr, um das Gespräch in eine sichere Richtung zu lenken, als aus echtem Interesse, »das wird eine ziemliche Veränderung für dich, oder?«

Er lachte leise, und ein bisschen von dem alten Julian blitzte in seinen Augen auf. »Ach, das überlebe ich schon. Vielleicht sollte ich dir beweisen, dass ich auch brav und angepasst sein kann.«

Ich schnaubte. »Glaube ich erst, wenn ich es sehe.«

Julian grinste schief. »Du würdest dich wundern, Amir. Die Leute denken oft, sie hätten mich durchschaut, aber … das meiste ist nur Show.«

Ich taxierte ihn noch einmal, und diesmal hielt er meinen Blick. Für einen Moment schien es, als ob all die Masken, die er trug, gefallen wären, als ob er einfach nur da war – ohne Fassade, ohne Schutzschild, nur er. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, ihn wirklich wahrzunehmen.

»Womöglich«, sagte ich leise, »sollten wir uns beide daran gewöhnen, dass Menschen mehr sind, als sie zeigen.«

Ein Funkeln trat in seine Augen, und er lächelte, diesmal ehrlich, ohne die Selbstgefälligkeit, die ich an ihm so oft bemerkt hatte. »Weißt du was? Du könntest recht haben.«

Wir blieben noch eine Weile schweigend nebeneinander stehen, die Kälte des Windes über uns hinwegfegend, und zum ersten Mal fühlte ich mich neben ihm nicht unwohl.

* * *

Am nächsten Morgen erschien Julian tatsächlich in der vorgeschriebenen Parkuniform, was mich unwillkürlich innehalten ließ. Ich hätte es nie zugegeben, aber die schlichte Kombination aus dunkelblauem Hemd, Khaki-Hose und den festen Stiefeln stand ihm … gut. Besser, als ich erwartet hatte. Die Uniform milderte seine exzentrische Aura und ließ ihn fast … bodenständig wirken. Und doch schien er sich selbst treu zu bleiben.

Da war immer noch etwas an ihm, ein kleiner Hauch von Julian, der aus dem Grau der Uniform herausblitzte. Vielleicht lag es an dem silbernen Ring, den er an seinem rechten Ohr trug und wohl selbst den Anweisungen des Parkdienstes zuliebe nicht abnehmen wollte. Ein winziger rebellischer Akzent, der seine Persönlichkeit sofort verriet – die Art von kleinem Detail, das sagte: ›Ich füge mich, aber nur, weil ich es selbst will.‹ Es war schwer zu sagen, ob ich das nervig oder … beeindruckend fand.

Er kam näher, eine Art federnder Schritt in seinen Bewegungen, der deutlich machte, dass ihn auch die Uniform nicht völlig zähmen konnte. Als er mich bemerkte, blieb er kurz stehen und setzte ein übertrieben strahlendes Lächeln auf. »Na? Begeistert, mich in diesem Meisterwerk der Mode zu sehen?«

Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. »Wenigstens bist du heute mal unauffällig.«

Julian hob dramatisch die Hände in die Luft. »Ich gebe mein Bestes, mich anzupassen, Amir.« Doch er ließ seine Finger mit einer eleganten, fast tänzerischen Bewegung sinken, und ich spürte, wie sich bei dem Anblick mein Magen unwillkürlich verkrampfte. Es war nichts Großes, nur eine kleine, scheinbar beiläufige Geste, aber sie hatte etwas an sich, das mich sofort störte. Die Art, wie er seine Hand bewegte, wie er seinen Kopf leicht zur Seite neigte – es hatte etwas Feminines, das mir unbehaglich war.

»Pass nur auf, dass du nicht zu sehr auffällst«, sagte ich trocken und versuchte, die leichte Spannung in meiner Stimme zu verbergen. In meinem Kopf drehte sich alles um diesen einen Gedanken: ›Schwuchtel.‹ Das Wort war wie eine kleine Klinge, die sich langsam in meinen Verstand bohrte. Ich wusste, dass es lächerlich war, aber mein Blick blieb dennoch an ihm hängen. Seine Bewegungen, seine Manier zu lächeln, sogar die Art, wie er sich selbstironisch in der Uniform zeigte … sein ganzes Wesen sträubte sich gegen die Konformität, und das irritierte mich. Es erinnerte mich an all die Dinge, die ich besser vergessen sollte. Und es machte mich wütend, obwohl ich nicht einmal wusste, warum.

Julian sah mich einen Augenblick lang an, als würde er etwas in meinem Gesicht lesen. Dann schob er die Hände in die Taschen und zuckte die Schultern, als ob ihm meine Kälte wenig anhaben konnte. »Weißt du, Amir«, sagte er kaum vernehmlich und legte den Kopf leicht schief, »manchmal denke ich, es verunsichert dich mehr, wenn ich so bin, wie ich bin, als es mich nervös macht, wahrgenommen zu werden.«

Ich schluckte, gezwungen, ihm kurz in die Augen zu schauen. Da war so viel in seinem Blick – kein Spott, kein Selbstmitleid, nur ein stummes Verständnis. Fast, als hätte er diese Reaktion schon zu oft erlebt, als wäre es ein vertrautes Muster. Aber bevor ich zu einer Erwiderung imstande war, setzte er sein strahlendes Lächeln wieder auf und zwinkerte mir zu.

»Also, Boss«, sagte er, fast singend, und drehte sich mit einem kleinen Schwung, der beinahe tänzerisch wirkte, »führen wir die Herrschaften mal durch den Zellenblock?«

Ich sah ihm einen Moment nach, unfähig, eine klare Antwort zu finden.

Als der Vormittag verstrich, war mir immer deutlicher bewusst, dass ich Julian mit meinem distanzierten, abweisenden Verhalten womöglich genauso verletzte, wie er mich am ersten Tag verletzt hatte – mit einer einzigen, beiläufigen Frage, die mehr ausgelöst hatte, als er je verstehen würde. Und doch war da dieser Widerwillen in mir, eine innere Mauer, die sich auftürmte , sobald er in meiner Nähe war. Seine überdrehte Art, die kleinen Bewegungen, das andauernde Grinsen, das ganze ›Ich-bin-wie-ich-bin-und-wem-es-nicht-passt-der-kann-mich-mal‹-Auftreten.

Ich versuchte, mich von außen zu betrachten, als sähe ich mich durch die Augen eines Fremden. Und was ich sah, war … nicht gerade schmeichelhaft. Ich stellte mir vor, was ein unbeteiligter Dritter wohl denken würde: ein breitschultriger Kerl mit ernstem Gesichtsausdruck, der wie ein bärbeißiger Türsteher durch Alcatraz stapfte und den bunten Kollegen ignorierte wie einen ungebetenen Gast. Ein Bild drängte sich auf – das eines schwulenfeindlichen Muslimbruders, streng und verurteilend, eine Karikatur, die ich im Grunde selbst verabscheute. Aber wie sollte ich es ändern? Julian drückte auf all die Knöpfe, die ich immer tief in mir begraben hatte, Knöpfe, die ich nicht einmal zuordnen konnte.

Ich zwang mich, mich etwas freundlicher zu verhalten, bemühte mich um Smalltalk während der Touren, wenn auch unbeholfen. Julian schien es zu bemerken und kommentierte meine Bemühungen mit einem leichten Lächeln und einem zurückhaltenden »Danke, Amir«. Es war nicht spöttisch, sondern fast … dankbar. Dieser Gedanke ließ etwas in mir sacken, und ich versuchte, die dezenten Anflüge von Schuldgefühl beiseitezuschieben.

Doch dann, in der Mittagspause, als er seine Jacke ablegte und sich an den Tisch setzte, bemerkte ich etwas, das mir den Blutdruck schlagartig hochtrieb: ein Regenbogenbutton, an seinem Hemd befestigt, leuchtend und unmissverständlich.

Ich konnte den Blick nicht abwenden. Der Button prangte an seiner Brust, als wäre es das Natürlichste der Welt, ihn zu tragen – und wahrscheinlich war es das auch, zumindest für ihn. Aber für mich … Für mich war das eine andere Welt, eine, die ich zwar als tolerant und weltoffen akzeptierte, die jedoch bei mir selbst auf Widerstände stieß, die ich nicht verstand und nicht steuern konnte.

Das war ein Symbol, das über eine einfache Modeentscheidung weit hinausreichte. Der Regenbogen stand für etwas, das ich mir selbst nie erlaubt hatte – Freiheit, Offenheit, eine Identität, die man nicht versteckte. Und da saß er nun, als wäre es selbstverständlich, diesen Button zu tragen, ohne Angst vor Urteil oder Verurteilung. Ich fragte mich, ob er wohl sicher war, dass dieses Symbol nicht gegen die Uniformvorschriften verstieß. Aber wie könnte es? Wer würde in einer Stadt wie San Francisco einen Regenbogen verbieten?

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, aber sie ließen sich nicht verdrängen. Julian schien meinen Blick zu bemerken und musterte mich fragend. »Was ist los, Khalil? Hab ich was im Gesicht?«

Er grinste schief, als wäre er sich vollkommen sicher, dass das alles nur ein harmloses Spiel war.

»Nein … nein, ist schon gut.« Ich wusste, dass ich meine Antwort zu schnell gegeben hatte. Mir war bewusst, dass er mein Zögern spürte, dass ich ihm irgendwie signalisierte, was ich von seinem Auftritt hielt.

Julian musterte mich noch einen Moment, und das vertraute Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Seine Augen verengten sich leicht, und ich bemerkte, dass er seine Kiefermuskeln anspannte. »Weißt du, Amir«, begann er leise, mit einer Schärfe in der Stimme, die ich bei ihm noch nie gehört hatte, »manchmal frage ich mich, wie jemand, der selbst ständig mit Vorurteilen zu kämpfen hat, so schnell andere verurteilen kann.«

Ich öffnete den Mund, nahe daran zu protestieren, etwas zu entgegnen, aber er hob eine Hand und schüttelte den Kopf, wie um zu verhindern, dass ich mich verteidigte. »Ich meine, du spürst doch selbst, wie es ist, wenn Leute dich anstarren und denken, sie wüssten alles über dich – nur wegen eines Blicks, einer Herkunft, eines Symbols. Aber genau das tust du bei mir.«

Seine Worte trafen mich wie eine Ohrfeige, scharf und unmissverständlich. Er hatte recht, das wusste ich. Aber ich wollte es nicht zugeben. Irgendwo in mir brodelte eine Wut, die ich nicht zuordnen konnte, ein Gefühl, das mir sagte, dass ich mich von ihm distanzieren musste – um mich zu schützen oder vielleicht nur, um die Kontrolle über mich selbst nicht zu verlieren.

»Julian, das …« begann ich, unsicher, was ich überhaupt sagen wollte. Doch seine Augen verengten sich nur weiter, und er schüttelte den Kopf, diesmal langsamer, fast enttäuscht.

»Weißt du was? Vergiss es.« Er klang ruhig, beinahe resigniert, und das machte seine Aussage nur noch eindringlicher. Ohne eine weitere Entgegnung stand er auf, zog seine Jacke über und verschwand aus dem Pausenraum, ließ mich allein mit einer Stille, die bedrückender war als jedes hitzige Wortgefecht.

Der Nachmittag verging, aber Julian sprach kaum noch mit mir. Er machte die Touren, zeigte den Besuchern die Sehenswürdigkeiten, beantwortete Fragen – doch mir schenkte er keinen einzigen Blick mehr. Selbst wenn wir nebeneinanderstanden, war es, als wäre ich unsichtbar für ihn.

Es war ein Schweigen, das mir stärker zu schaffen machte, als ich erwartet hätte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einen flüchtigen Blick auf ihn zu werfen, spürte ich seine Kälte wie einen schneidenden Wind. Dieser Kerl, der mich seit unserer ersten Begegnung mit seiner übertriebenen Freundlichkeit und seiner lässigen Art provoziert hatte, der mich zur Weißglut gebracht hatte, indem er ständig über meine Mauern hinweg zu mir durchdringen wollte – er war plötzlich stumm und fern, als wäre ich ihm völlig egal. Und doch … Es fühlte sich nicht so an, als wäre er einfach nur beleidigt.

Es war mehr. Vielleicht war er wirklich verletzt.

Der Nachmittag zog sich endlos hin, die Minuten dehnten sich quälend in die Länge. Es war erstaunlich, wie spürbar jemand fehlen konnte, selbst wenn er direkt neben einem stand. Julian machte seine Arbeit perfekt – er führte die Gruppen, sprach mit den Besuchern, lächelte hier und da und beantwortete geduldig jede noch so redundante Frage. Doch seine Augen glitten ohne jede Regung über mich hinweg, als betrachteten sie lediglich ein weiteres Artefakt, einen bloßen Teil der Kulisse. Ein absichtliches Ignorieren, das er mit meisterhafter Präzision ausführte.

Ich versuchte, mich auf meine eigenen Aufgaben zu konzentrieren, doch immer wieder drifteten meine Gedanken zu ihm zurück. Die Leichtigkeit, die ihn sonst umgab, war verschwunden. Stattdessen war da diese unsichtbare Wand, die mich von ihm fernhielt, die klarer und schärfer war als jede meiner eigenen Mauern. Es fühlte sich beinahe ironisch an, so wie er mir den Spiegel vorgehalten hatte und jetzt dieselbe Distanz ausstrahlte, die ich zuvor selbst aufgebaut hatte.

Ich fand mich plötzlich dabei, diese Stille mehr zu bedauern, als ich erwartet hätte. Die Überlegenheit in seinem Lächeln, die frechen Blicke, die mich so sehr gereizt hatten – sie hatten eine seltsame Lebendigkeit in meinen Alltag gebracht, eine Energie, die ich nie vermisst hatte, bis sie auf einmal fehlte. Das Schweigen war wie ein klares, kaltes Wasser, das unbarmherzig alle Abwehrschichten durchbrach und mich dazu zwang, über seine Worte nachzudenken.

In einem Augenblick der Ruhe standen wir wieder nebeneinander, beide stumm, als die Touristen die Zellenblöcke bestaunten. Ich rang damit, den Knoten in meinem Magen zu ignorieren, forschte nach den richtigen Worten, um das Schweigen zu brechen, doch es war, als hätte ich meine Stimme verloren.

Schließlich wagte ich es. Ich räusperte mich leise, spürte, wie meine Stimme sich erst zurückmeldete. »Julian …«

Er reagierte nicht sofort, ließ mich warten, bevor er sich letzten Endes doch, fast mechanisch, zu mir drehte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, und das verstärkte seine Wirkung nur noch mehr.

»Was?«, fragte er, die Stimme ruhig, aber kalt, wie ein Hauch von Frost in der Luft.

Ich suchte nach etwas Sinnvollem, etwas, das ihm zeigen würde, dass ich nicht so war, wie er vielleicht dachte. »Ich … Das war nicht in Ordnung, wie ich reagiert habe. Ich war einfach nur … überrascht.«

Es klang erbärmlich, und ich wusste es. Aber es war alles, was mir in diesem Moment einfiel.

Julian zog eine Augenbraue hoch, seine Miene blieb kühl. »Überrascht, Amir?« Er schüttelte den Kopf und lachte leise, aber es war ein bitteres, trockenes Lachen. »Weißt du, Überraschung ist eine Sache. Aber das, was du machst – das ist etwas anderes. Du kannst dich nicht entscheiden, ob du mich verachten sollst oder ob ich dich zum Lachen bringe. Aber ehrlich gesagt«, er senkte den Blick und zog den Regenbogenbutton an seinem Hemd zurecht, »ich habe es ziemlich satt, dein Projekt zur Selbstfindung zu sein.«

Das Gewicht seiner Worte lastete auf mir. Er sah mich an, und zum ersten Mal spürte ich, dass da etwas gebrochen war, dass ich etwas zerstört hatte, das schwer zu reparieren sein würde.

»Julian, ich wollte nicht …«, begann ich, doch gleichgültig, was ich hätte entgegnen können, es fühlte sich leer an, bedeutungslos. Ich wusste, dass es keinen einfachen Weg zurück gab, keinen Zauberspruch, der all das auslöschte, was ich ihm an den Kopf geworfen hatte, ganz ohne etwas zu sagen.

Er nickte langsam, wie jemand, der einen finalen Entschluss gefasst hatte. »Schon gut, Amir. Ich hab verstanden.«

Dann wandte er sich ab und ging weiter, die Hände in die Taschen geschoben, den Kopf leicht gesenkt, als würde er die Distanz zwischen uns endgültig festlegen.

Das Schweigen hielt bis zum Feierabend an, und selbst als die letzte Gruppe gegangen war und die Dämmerung über Alcatraz hereinbrach, stand die Distanz zwischen uns wie eine unsichtbare Mauer. Ich sah ihm nach, während er zur Fähre ging, und in meinem Kopf hallten die Worte wider, die ich ihm nicht gesagt, die Worte, die ich nicht auszusprechen gewagt hatte.

* * *

Als die Schicht am nächsten Tag überraschend früher endete – wir arbeiteten nur bis mittags, dann wurde die Insel wegen irgendwelcher Doku-Aufnahmen bis auf wenige verbleibende Mitarbeiter dichtgemacht –, hoffte ich insgeheim, dass Julian einfach wortlos gehen würde, so wie er es gestern getan hatte. Die Spannung zwischen uns war über Nacht nicht verflogen, und die Erinnerung an sein bitteres Lachen und seine scharfe Ansprache lastete noch immer auf mir. Doch als die Fähre anlegte, sah ich ihn, wie er mich mit zusammengekniffenen Augen betrachtete, als hätte er sich etwas vorgenommen, das er weder wollte noch einfach ignorieren konnte.

»Also, Amir«, begann er, seine Stimme fast beiläufig, aber mit einem Hauch von Herausforderung darin. »Ich gehe zum Pier. Mach, was du willst, aber …« Er zuckte mit den Schultern, doch sein Blick war fest auf mich gerichtet, als ob er mich unbemerkt dazu aufforderte, mich ihm anzuschließen. »Falls du Hunger hast und mal was anderes als die übliche Kantinenkost willst … dann komm halt mit.«

Es war weder eine Einladung noch eine Bitte. Es war eher ein Test. Ein Angebot, das ich nicht einfach ausschlagen konnte, ohne alles zwischen uns noch weiter zu verschärfen. Ich wusste, dass dies vielleicht meine letzte Chance war, die Distanz zu überbrücken, bevor sie unüberwindbar wurde.

»Hm«, machte ich, als würde ich überlegen, während ich die Hände in die Taschen schob. Ein Mann vieler Worte war ich sicher nicht, und das würde sich auch jetzt nicht ändern. »Pier, also.« Ich hielt inne, senkte den Blick und zuckte leicht mit den Schultern, fast beiläufig, so als wäre mir die Entscheidung völlig gleichgültig. »Ich schätze … ich könnte auch was anderes als Kantinenessen vertragen.«

Julian blinzelte und zog die Augenbrauen hoch, als hätte er mit allem gerechnet, nur nicht mit meiner Zustimmung. Dann legte sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, und obwohl es nach wie vor reserviert wirkte, lag ein winziger Funken Zufriedenheit darin.

»Na schön«, sagte er, und seine Stimme klang weicher, aber weiterhin abwartend, als wollte er herausfinden, ob ich es ernst meinte. »Dann komm.«

Er drehte sich um, ging den Weg zur Fähre entlang, ohne sich zu mir umzusehen. Doch ich folgte ihm, hielt ein wenig Abstand, aber nicht zu viel. Als wir das Schiff betraten und die Fahrt Richtung Stadt antraten, spürte ich die Schwere der gestrigen Worte immer noch zwischen uns hängen. Doch für den Moment schien Julian bereit, die Waffen niederzulegen – zumindest für die Dauer einer Fahrt und eines Besuchs am Pier.

Es war nicht viel, und ich hatte nichts gesagt, das wie eine Entschuldigung klang. Aber ich hatte ihn auch nicht ignoriert, hatte seinen stillen Test bestanden, indem ich mich ihm anschloss.

2

FISHERMAN’S WHARF

JULIAN

Ich lehnte mich über die Reling der Fähre und ließ meinen Blick über die funkelnde Bucht schweifen, während die Stadt langsam näher rückte. Wenn mir vor einer Woche jemand gesagt hätte, dass ich meine Sommerzeit auf Alcatraz verbringen und dabei mit einem schweigsamen, abweisenden Typen wie Amir zusammenarbeiten würde, hätte ich nur gelacht. Aber da war ich nun – mitten in der Bucht, neben einem Mann, dessen verschlossener Blick mir in den letzten Tagen mehr Rätsel aufgab, als mir lieb war.

Amir stand schweigend neben mir, die Hände in die Taschen seiner Jacke vergraben, den Blick geradeaus gerichtet, als wäre das Wasser ihm irgendwie vertrauter als ich. Wenn ich ehrlich war, hätte ich mir einfach nur eine entspannte Zeit auf Alcatraz vorgestellt, so eine Art Sommerabenteuer mit einer Prise morbidem Charme. Ein bisschen Geschichte, ein bisschen Geistertour – nichts Ernstes. Ein einfacher Job, um meine Zeit zu füllen und dabei mein Projekt fürs Studium irgendwie ins Rollen zu bringen. Aber dann war Amir aufgetaucht, mit seiner verschlossenen Art und dieser intensiven Musterung, die sich wie eine Nadel in mein Selbstbild gebohrt hatte.

Die letzten Tage mit ihm hatten mich mehr frustriert und genervt, als ich je gedacht hätte. Seine Blicke, die eine Mischung aus Ablehnung und Unsicherheit ausstrahlten, das ständige missbilligende Augenbrauenzucken bei allem, was ich sagte oder tat. Es war fast, als würde er mich unter einem unsichtbaren Mikroskop betrachten, jeden Schritt von mir analysieren, um herauszufinden, ob ich seiner Vorstellung von … was auch immer … entsprach.

Und dann gestern … Ich ballte die Hände zu Fäusten, während ich mich an sein Gesicht erinnerte, diesen verschlossenen, kühlen Ausdruck, als er meinen Regenbogenbutton bemerkt hatte. Ein einziger, kleiner Knopf, den ich aus Gewohnheit trug, eine stille Erinnerung daran, wer ich war und wofür ich stand. Dass ich das offen lebte, was ich war. Aber für Amir schien dieser kleine Pin plötzlich alles zu verändern. Ich hatte in seinem Gesicht gesehen, wie sich seine Züge verhärteten, wie seine Augen ihn fixiert hatten, als wäre es ein Symbol für alles, was nicht in seine Welt hineinpasste.

Ich hatte gedacht, dass es einfach nur Ablehnung war, diese Mischung aus schweigender Missbilligung und Ignoranz, die ich nur zu gut kannte. Doch irgendwann hatte ich bemerkt, dass da auch etwas anderes war – ein Hauch von Unsicherheit, der kurz durch seine Verschlossenheit blitzte. Und das brachte mich zum Nachdenken. Vielleicht war ich nicht nur ein nerviger Kollege für ihn. Vielleicht war ich eine Art Bedrohung, weil ich all das verkörperte, was er sich selbst nie zugestehen konnte.

Trotzdem … Ich hatte keine Lust mehr auf dieses stumme, angespannte Spiel zwischen uns. Wenn wir weiter so arbeiten mussten, dann musste ich ihm irgendwie die Hand reichen – oder ihn zumindest aus seiner selbst gewählten Isolation locken. Deshalb stand er jetzt hier, neben mir auf dieser Fähre, auf dem Weg zu Fisherman’s Wharf.

Ich war mir nicht sicher, warum er mitgekommen war. Wahrscheinlich wollte er einfach nur eine Art ›Frieden‹ herstellen, ohne wirklich darüber zu sprechen, ohne sich mir zu öffnen oder mir irgendwas zu erklären. Aber selbst das war ein Anfang. Ein Schritt.

Als wir schließlich anlegten und den Weg entlang des Piers einschlugen, stellte ich fest, dass Amir mir wortlos folgte, seinen Blick konzentriert auf die Menschenmengen und die lebendige Atmosphäre um uns herum gerichtet. Der Pier war gut besucht, voller Touristen und Einheimischer, die sich in das warme Licht der Nachmittagssonne begaben. Überall roch es nach salziger Luft, gegrilltem Fisch und Zuckerwatte, und ich spürte, wie sich eine leise Freude in mir breitmachte – das Gefühl, das ich immer bekam, wenn ich an lebhaften Orten wie diesem war.

Ich warf einen kurzen Blick auf Amir, der die Hände noch immer tief in die Taschen seiner Jacke geschoben hatte und seine Augen stur nach vorn richtete, als würde er sich gegen die gesamte Fröhlichkeit um ihn herum verteidigen müssen. Er sah fehl am Platz aus – ein ruhiger, undurchdringlicher Felsen im Fluss der Menschen, die um uns herumströmten. Und doch … war er hier. Neben mir.

Ich lächelte leicht und beschloss, ihn ein bisschen herauszufordern. »Also, Amir«, sagte ich, »was hältst du von diesem Ort? Oder ist das alles zu viel … Farbe für dich?«

Amir warf mir nur einen kurzen, kaum zu deutenden Blick zu, bevor er stur nach vorn sah. Ich biss mir auf die Lippen, fast belustigt. Er hatte diese Miene, als stünde er unter Zwang, und irgendwo in mir regte sich der Wunsch, ihn einfach mal aus dieser grimmigen Ernsthaftigkeit zu reißen. Es war schließlich nicht mein Job, ihn zu therapieren – ich hatte selbst genug eigene Herausforderungen.

Ich war ja nur hier wegen meiner Mutter. Dieser Job bei der Parkverwaltung? Ihre Idee. Alcatraz? Auch ihre Idee. Ein ›schöner Sommerjob‹ für ›etwas Lebenserfahrung‹ und natürlich eine ideale Möglichkeit, mein Studium endlich mal ›handfest und praxisnah‹ umzusetzen, wie sie es formulierte. Meine Mutter – erfolgreiche Direktorin bei der Nationalparkverwaltung hier in Frisco und nebenberuflich Strippenzieherin, die mich gern auf einen vernünftigen Weg lenken wollte. Sie meinte es gut, klar, aber manchmal war sie blind dafür, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffen wollte. Alcatraz klang für sie nach der perfekten Lösung, eine Aufgabe, die Verantwortung und Bodenständigkeit erforderte. Dabei wusste sie vermutlich nicht einmal, dass ich es genoss, die Leute mit meiner Art zu provozieren. Meine Freiheit, mein Lebensstil – für sie war das ein Spiel, ein Experiment.

Doch ich war wirklich hier – für sie und ein bisschen für mich selbst. Es war ironisch, wie ich täglich Touristen durch ein ehemaliges Bundesgefängnis führte und dabei spürte, dass ich selbst irgendwie gefangen war. Tag für Tag dieselben Wände, dieselben Geschichten, derselbe morbide Charme, den die Leute fasziniert aufsogen.

Was ich wirklich gern machte? Ich liebte es, über Gesellschaft, über soziale Mechanismen zu philosophieren, über das, was Menschen dazu bringt, Normen zu sprengen, und was sie antreibt, sich zu verstecken. Ich las und schrieb, und wenn es nach mir ginge, würde ich in kleinen Cafés sitzen und meine Gedanken zu Papier bringen oder mich in spontane Diskussionen stürzen. Manchmal zog es mich in Kunstausstellungen, manchmal auf Poetry Slams – irgendetwas, das Farbe und Unberechenbarkeit in sich trug. Diese Welt, die so voller Leben war, im Gegensatz zu den kalten Zellen und den steinernen Fluren auf Alcatraz.

›Lebenserfahrung sammeln‹, hatte sie gesagt, und irgendwie spürte ich den Sinn darin. Aber hier draußen, zwischen Zuckerwatte und Möwengeschrei, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Tagen frei. Und ich fragte mich, ob Amir auch nur ein Fünkchen davon wahrnahm oder ob er seine Mauern heute noch höherbaute, um bloß nichts zu sich durchscheinen zu lassen.

Ich lotste ihn weiter ins Getümmel, führte ihn zu einem der kleinen Stände, die frische Fischbrötchen verkauften. »Also, Amir«, sagte ich, während ich mich vorsichtig an die dampfende Mahlzeit wagte, die ich gerade bestellt hatte, »du bist jeden Tag freiwillig dort auf dieser einsamen Insel? Oder gibt’s da auch eine nette Geschichte dazu, die du mir erzählen willst?«

Er verzog kaum eine Miene, aber ich meinte, ein winziges Zucken in seinen Augenwinkeln zu erkennen.

Während Amir mir ausweichend antwortete, warf ich ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. Es war schwer, ihn tatsächlich zu lesen. Der Typ war ein wandelndes Bollwerk aus verschlossener Mimik und vorsichtigen Gesten, die ihn wie eine Festung erscheinen ließen, umgeben von einem Schutzwall, der so undurchdringlich war wie die Betonwände auf Alcatraz. Aber eines konnte ich nicht ignorieren: Er sah verdammt gut aus. Dieses unaufdringliche, maskuline Erscheinungsbild, das er einfach ausstrahlte, ohne groß was dafür zu tun. Die breiten Schultern, die kräftigen Arme – alles an ihm wirkte solide, wie aus Stein gemeißelt. Dunkle, dichte, leicht lockige Haare und Augen, die nahezu schwarz anmuteten. Er hätte auch in diesem Film über die Kreuzzüge mitspielen können, Eroberer von Jerusalem oder so, oder die Geschichte mit dem Flaschengeist … Echt jetzt, ich sollte von Klischees Abstand nehmen – aber für ihn war ich ja auch ein wandelnder Stereotyp. Doch sein Aussehen allein machte ihn für mich nicht gerade sympathischer. Denn ein maskulines Auftreten war das eine, aber das bedeutete nichts, wenn darunter eine Intoleranz lag, die ich nur zu gut kannte.

Ich hatte mich an Typen wie ihn gewöhnt – Männer, die eine sichtbare Reaktion darauf zeigten, wenn jemand wie ich den Raum betrat. Männer, die Augenbrauen hoben oder den Blick abwandten, sobald sie den Regenbogenbutton entdeckten oder mich die Hand leicht in die Hüfte stützen sahen. Amir machte da keine Ausnahme. Er hatte dieses ständige Stirnrunzeln, diese leichte Verengung seiner Augen, die alles in mir provozierte und mir gleichzeitig sagte, dass er sich wahrscheinlich am liebsten weit von mir fernhalten würde. Und irgendwie tat das weh, obwohl ich das nicht zugeben wollte.

»Du redest ja nicht besonders viel, was?« Ich sprach die Worte beinahe spielerisch aus, doch die leichte Schärfe war nicht zu überhören. »Falls es dir lieber ist, könnten wir auch einfach weiter schweigen. Die Touristen verstehen das vielleicht nicht, aber ich kann durchaus ein paar Stunden ohne Smalltalk auskommen.«

Amir warf mir einen prüfenden Blick zu, als wollte er entscheiden, ob ich ihn herausforderte oder schlicht nur provozierte. Doch dann hob er andeutungsweise die Schultern und meinte knapp: »Ich rede, wenn es was zu sagen gibt.«

Ich schnaubte leise und schüttelte den Kopf. »Natürlich, Amir. Lass mich raten – das Leben ist für dich schwarz und weiß, richtig? Man sagt, was man denkt, oder man bleibt still, bis man die Worte gefunden hat. Alles andere ist unnötiges Geplänkel.«

Er sah mich noch einen Moment reserviert an, und ich merkte, wie meine Aussage ihm in die Magengegend zu gehen schien. Er warf mir dann einen Blick zu, der ein bisschen weniger abweisend war, beinahe nachdenklich. Doch er sagte nichts weiter.

Ich wandte mich ab und biss in mein Fischbrötchen, während ich versuchte, mir einzugestehen, dass ich mit meiner Abneigung gegen ihn wahrscheinlich auch nicht viel besser war als er mit seiner Reaktion auf mich. Doch da gab es einen Unterschied: Ich verurteilte ihn nicht für das, was er war. Ich hatte einfach nur die Schnauze voll von Menschen, die meine Art und mein Leben ungebeten bewerten mussten.

Aber vielleicht – und dieser Gedanke kam mir widerwillig, als ich ihn so stehen sah, mit diesem verschlossenen, in sich gekehrten Ausdruck –, vielleicht wusste Amir gar nicht, was er mit mir anfangen sollte. Vielleicht war er einfach einer von denen, die nie die Gelegenheit gehabt hatten, mit jemandem wie mir in einer entspannten Umgebung zu sprechen. Nicht auf Augenhöhe.

Ich seufzte leise und ließ den Blick wieder über das bunte Treiben auf dem Pier schweifen. Die Sonne tauchte alles in ein warmes Licht, und die Möwen kreisten über uns, ihr Kreischen vermischte sich mit dem Lachen der Touristen und den Geräuschen der Straßenkünstler. Ein Teil von mir wollte diesen Moment schlicht und ergreifend genießen und die Spannung vergessen, die zwischen uns herrschte. Ich wollte Amir nicht ständig beweisen müssen, dass ich genauso viel wert war wie jeder andere. Und vielleicht – vielleicht würde ich irgendwann erleben, dass er das von selbst begriff.

Ich nahm einen weiteren Bissen von meinem Fischbrötchen, und für einen Moment konzentrierte ich mich lediglich auf den Geschmack und das Geräusch des Trubels um uns herum. Ich wusste nicht genau, warum ich es mir überhaupt antat, Amirs ablehnende Haltung zu dulden und ihm die Hand zu reichen. Normalerweise war ich kein Mensch, der sich mit Intoleranz abfand. Wenn mir jemand blöd kam, legte ich meist noch einen drauf – eine extravagantere Geste, ein auffälligerer Kommentar. Ich hatte keine Lust, mich zu verstecken, nur weil jemand wie Amir es mir unter die Nase rieb, dass er meinen Lebensstil nicht verstand oder ihn verurteilte.

Aber irgendwas an ihm ließ mich nachdenklich werden. Vielleicht war es dieser stille Schmerz, den ich manchmal in seinen Augen bemerkte, oder die Art, wie er mich beobachtete, als wäre ich ein Rätsel, das ihn wider Willen faszinierte. Oder vielleicht hatte ich einfach Mitleid, weil er sich so verbissen abmühte, in seiner eigenen starren Welt zu verharren.

Ich beschloss, es ein wenig auf seine Art zu versuchen. Ich hielt die Kommentare und das Geplänkel zurück, trat einen Schritt in den Hintergrund und beobachtete die Szene, ohne ihn absichtlich zu reizen. Das war ungewohnt für mich, aber es hatte einen seltsamen, beruhigenden Effekt. Ich spürte, wie die Spannung zwischen uns langsam abfiel, auch wenn Amir noch immer in sich gekehrt und zurückhaltend blieb.

Ich drehte mich um und zeigte auf einen Straßenkünstler, der ein kleines Publikum mit einer Jonglagenummer unterhielt. Die Leute lachten und klatschten, und ich sah ein schwaches Lächeln auf Amirs Lippen – ein Zeichen, dass er sich zumindest ein bisschen entspannte. Ich widerstand dem Drang, einen flapsigen Kommentar abzugeben, und lehnte mich stattdessen entspannt an die Reling, die Sonne im Gesicht.

»Fisherman’s Wharf ist nicht so schlecht, oder?«, sagte ich schließlich, meine Stimme ruhig und unverbindlich. »Es hat was … Befreiendes.«

Amir zuckte nur mit den Schultern, aber sein Blick blieb auf den Jongleur gerichtet, und ich meinte, ein leichtes Glitzern in seinen Augen zu erkennen. Es war kein Lächeln, und doch sah er etwas weniger angespannt aus.

Ich atmete tief ein und ließ den Moment einfach wirken. Der warme Wind, die Gerüche von Meer und gebratenem Essen, das Lachen der Mengeum uns herum – es erinnerte mich daran, wie gern ich solche Plätze hatte. Hier, zwischen all den Menschen, den Farben, dem unbändigen Leben, konnte ich einfach ich selbst sein, ohne darüber nachzudenken, wie andere mich wahrnahmen.

Und irgendwie hoffte ich, dass Amir zumindest einen Teil dieser Freiheit spürte, selbst wenn er nicht in der Lage war, es in Worte zu fassen.

»Weißt du, Amir«, sagte ich schließlich leise, fast ohne ihn dabei anzusehen, »ich habe nicht vor, dir irgendwas aufzuzwingen. Jeder geht seinen Weg. Vielleicht treffen wir uns irgendwo in der Mitte, vielleicht nicht. Aber ich will den Augenblick genießen. Ist das okay?«

Er sah mich einen Moment lang schweigend an, und ich hielt den Atem an, unsicher, wie er reagieren würde. Doch dann nickte er langsam, und obwohl sein Gesichtsausdruck unverändert blieb, schien er mir das erste Mal wirklich zuzuhören.

»Ja«, sagte er leise. »Ist okay.«

Und mit diesen drei Wörtern schien sich eine winzige Brücke zwischen uns zu bilden. Wir standen eine Weile schweigend nebeneinander, ließen die Geräusche und die Lebendigkeit des Piers auf uns wirken, und für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als könnten wir einfach nur zwei Menschen sein, die die Wärme des Augenblicks teilten.

* * *

Während wir die