Jakob Mustafa - Das Vermächtnis des Chronisten - Fritz Schindlecker - E-Book

Jakob Mustafa - Das Vermächtnis des Chronisten E-Book

Fritz Schindlecker

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Beschreibung

Ein kleiner Ort an der Donau bei Wien im Jahre 1684: Ein Bub wird dort geboren, Jakob soll er heißen. Die Dorfbewohner nennen ihn nur Mustafa. Als Sohn eines türkischen Offiziers ist er in ihren Augen ein Bastard. Aber Jakob ist klug, er weiß sich zu wehren. Und schließlich retten ihm der Mut und die Großherzigkeit seines Ziehvaters das Leben. Der Kampf gegen die grausamen Intrigen ist jedoch nicht zu Ende. Fesselnd und authentisch schildert Fritz Schindlecker, wie sein Held aus der von Aberglauben geprägten Dorfwelt ausbricht und alle Vorurteile überwindet.

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Fritz Schindlecker

Jakob Mustafa –

Das Vermächtnis des Chronisten

Historischer Roman

Fritz Schindlecker

Jakob Mustafa – Das Vermächtnis des Chronisten

Für meine Tochter Lea Viktoria

Prolog des Chronisten

Das vorliegende Erzählwerk will dem geneigten Leser ebenso eigentümliche wie erschreckende Ereignisse näherbringen. Was sich zum Ausgang des letzten Jahrhunderts unweit der Residenzstadt Wien in der Grundherrschaft Fürstenstetten zugetragen hat, habe ich in langen Jahren sorgfältig notiert. In meiner Eigenschaft als Richter des ebendortigen Landgerichtes hatte ich Einblick nicht nur in die Akten des eigenen Amtes, sondern auch in die protokollarischen Aufzeichnungen des Tollener Stadtgerichtes. Für die kollegiale Unterstützung sei dem dort amtierenden Richter, dem hochgelehrten Doctor iuris Emanuel Viktor Böhmhagel, warmherzig gedankt, ebenso seinem nicht minder gebildeten Vorgänger, Doctor iuris Ferdinand Hauser. Weiters konnte ich auf die akribischen Tagebuchaufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, des Freiherrn Augustin von Ravenbühl, zurückgreifen, der in jenen Tagen als Rentamtleiter der Grundherrschaft Fürstenstetten wirkte. Darüber hinaus dienten mir sporadisch hingeworfene lyrische Sentenzen und Madrigaltexte meines väterlichen Großvaters, des Grafen Leopold von Sarngau, als Quelle. Überall dort, wo mir Tatsachenbelege fehlten, besann ich mich der Gottesgabe der Phantasie. Ob dabei die dichterische Freiheit und die Faktentreue eines Mannes, der jahrzehntelang in dem nur klaren Fakten verpflichteten Richteramte seine Betätigung fand, in diesem Schriftwerke nunmehr einen harmonischen Zweiklang ergeben, das zu beurteilen sei der geneigten Leserschaft überlassen.

Möge das hier Aufgezeichnete der gesamten Öffentlichkeit, zuvörderst aber allen Studierenden der Jurisprudenz wie auch bereits im Amte tätigen jungen Rechtsgelehrten als mahnendes Beispiel dafür dienen, zu welch grässlichen Übeltaten religiöser Fanatismus führen kann. Und welch große Schritte in eine lichte Zukunft Seine Apostolische Majestät, Kaiser Josef II., mit seinem vor zwei Jahren den Evangelischen und im vorigen Jahre den Mosaischen gewährten Toleranzpatenten zu setzen geruhte.

Diesem aufgeklärten Geiste sei dieses Buch gewidmet.

Gegeben zu Wien, im Juno anno domini 1783

Doctor iuris Martin Thomas Augustin von Sarngau,

ehemaliger Landrichter & nunmehriger Privatier

Die Vision des geistlichen Herrn

Ein eisiger Wind blies dem Lorenz Senfpichler ins Gesicht, als er die Zille mit ruhiger, doch kräftiger Ruderführung zu der kleinen Insel mitten in der Rafelsfurther Lacke steuerte. Dabei sah er immer wieder zu seinem Sohn hin, der so tat, als spüre er nichts von der Winterkälte, die ihm doch längst in den Knochen sitzen musste. Jakob hatte den Vater unbedingt begleiten wollen an diesem dunklen, frostigen Morgen des 24. Dezembers anno domini 1692. Und der Kleine freute sich offensichtlich wie ein Schneekönig, dass er nun tatsächlich an diesem Fischzug teilnehmen durfte. Lorenz versuchte das glückliche Lächeln des Buben zu erwidern. Doch was er zustande brachte, war nur ein Grinsen. Und das entstellte sein an sich schon hässliches Gesicht noch mehr, indem es die wenigen dunkelbraunen Zahnstummeln sichtbar machte.

Als der Vater aus der Zille gesprungen war und sie eilig an einem festen Baumstrunk vertäut hatte, leckte er sich in der Vorfreude auf den Weihnachtsfisch die hasenschartigen Lippen. Dann beugte er sich zum Wasser, zog mit einem ungeduldigen Ruck die Reuse ans Ufer und stieß einen anerkennenden Pfiff aus: Zwei Karpfen und ein Weißfisch hatten sich gefangen. Noch immer zufrieden grinsend reichte Lorenz seinem Sohn die Beute, der sie in einer großen Filztasche verstaute. Lorenz wollte schon in die Zille steigen, als er plötzlich inne hielt und die Luft prüfend wie ein Wild, das drohende Gefahren zu erwittern sucht, durch die Nase einatmete. Noch einmal gab er ein schnaufendes Geräusch von sich, dann zuckte er die Achseln, machte eine wegwerfende Handbewegung, löste das Hanfseil vom Baum, stieg ins Boot und stieß es mit einem kräftigen Schub von der Insel ab.

Wenige Minuten später erreichten sie die Landestelle, an der sie von zwei bewaffneten Männern erwartet wurden. Jakob sah den Vater sorgenvoll an.

»Soldaten?«

Lorenz schüttelte den Kopf.

»Tollener Bereitung!«, sagte er undeutlich und zischelnd. Mit seinen entstellten Lippen und seinem fast völlig zahnlosen Mund brachte er es nicht besser zustande.

Die beiden Männer trugen wallende Mäntel und warme Hosen, ihre Beine steckten in schwarzen Reitstiefeln, an denen jetzt Schnee klebte. Den letzten Teil des Weges, der sie durch das dichte Gestrüpp der Rafelsfurther Au geführt hatte, waren sie zu Fuß gegangen, ihre Gäule an den Zügeln führend. Beide Männer trugen Säbel und Pistolen, die in Taschen an ihren Gürteln steckten.

Am Abend zuvor hatten die beiden, der zweiundzwanzigjährige Wolfgang Oberholzer und sein Kamerad, der vierzigjährige Torwächter Bartholomäus Mang im Leewarner Schiffmühlenwirtshaus gesessen, ein festliches Mahl verzehrt und schlussendlich einen Humpen Wein nach dem anderen geleert. Sie hatten wahrlich Grund zum Feiern: Gemeinsam mit zehn anderen Tollener Bürgern waren sie in der Früh gegen eine Räuberbande ausgerückt, die seit Wochen die Donaustraße zwischen der Stadt Tollen und dem Ort Leewarn unsicher gemachte hatte. Fünfmal hatten die Banditen Tollener Bürger überfallen, Geld, Wein und Bier erbeutet und schlussendlich gar einen Ratsherren, der ihnen Widerstand leisten wollte, durch mehrere Dolchstiche so schwer verletzt, dass der noch in derselben Nacht verstarb.

Diese Schreckenstat hatte das Maß voll gemacht. Auf Anordnung des Stadtrichters und Vaters des jungen Oberholzer stellte man in Tollen eine Bereitung auf, die ein für alle Mal dem Spuk ein Ende setzen sollte. Zwar fiel die Leewarner Au – wie auch das Dorf – nicht unter die Gerichtsbarkeit der Stadt Tollen, sondern gehörte zur Landgerichtsbarkeit von Fürstenstetten, und ergo wäre es auch Aufgabe der dortigen Behörde gewesen, eine Strafaktion gegen die Gesetzesbrecher einzuleiten. Doch nach Ansicht des Stadtrates mangelte es dem dortigen Landrichter an Entschlusskraft.

Und so brach mit dem ersten Hahnschrei eine zwölf Mann starke Bereitung auf, durchkämmte ausschwärmend das Augebiet neben der Donaustraße und fand nach einigen Stunden das Lager der völlig überraschten fünf Räuber. Nach einem kurzen Schusswechsel, in dessen Verlauf der Anführer der Gesetzlosen von Mang über den Haufen geschossen wurde, ergaben sich die restlichen vier und wurden gebunden nach Tollen gebracht. Oberholzer und Mang erhielten von Herrn Krummbaum, der als amtierender Stadtwächter die Bereitung befehligte, die Erlaubnis, sich von der rückkehrenden Truppe zu absentieren. Mang, weil er durch die Erschießung des räuberischen Anführers die Schlacht so rasch entschieden hatte, Oberholzer, weil er als Sohn eines bedeutenden Vaters ohnehin jedes Privileg genoss. Zuvor hatte man im Räuberlager neben Resten der Beute – ein Fässchen Wein und eine leere, mit einem Seidenfaden bestickte Börse – auch zwei frisch erlegte Rehe gefunden. Diesen hatte man mit geübten Schnitten die Decken abgezogen. Daraufhin ward das Wildbret zerlegt worden und die einzelnen Stücke verteilte man gemäß den Anordnungen Krummbaums an die Mitglieder der Bereitung.

Für Mang und Oberholzer war dabei eine schöne, kräftige Keule abgefallen. Mit dieser ritten sie zur Leewarner Schiffmühlenschenke und baten die Wirtin, eine verwitwete Kranzmaier und seit kurzem dem Dorfschmied Ehringer ehelich verbunden, das gute Stück nach allen Regeln ihrer Kochkunst zu bereiten.

Anfänglich wollte die Ehringerin davon nichts wissen: Sie habe keine Zeit, knurrte sie unwirsch, Getreide sei zu mahlen und ihr Ehegespons liege seit vielen Tagen wimmernd im Wundfieber in der Dachkammer. Sie wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe, zumal sie nunmehr nicht nur die Arbeit für zwei zu tun, sondern auch noch den Gemahl mit Lindenblütensud gegen das Fieber und mit Milchsuppe gegen die vollständige Auszehrung des geschwächten Leibes stündlich zu versorgen habe.

»Der Poldl? Krank?«

Mang schien bass erstaunt. Im Gegensatz zu seinem jungen Kameraden war er häufiger Gast im Schiffmühlenwirtshaus und kannte die Wirtin und ihren Gatten gut. »Ich muss ihn unbedingt besuchen!«

»Das wird kein schöner Anblick«, sagte die Wirtin verdrossen, als sie eine Öllampe entfachte und über die schmale, knarrende Treppe die beiden Gäste in die kleine Dachkammer führte. Als sie die Türe öffnete, schlug den Besuchern eine den Atem raubende Gestankwolke entgegen. Es roch nach verbrauchter Luft, gestocktem Blut, Eiter und billigem Fusel. Die Ehringerin hatte den kleinen Fensterladen fest verschlossen, in der Annahme, jeder kühle Lufthauch könnte dem Fiebernden den Tod bringen.

Der Schmied lag schnarchend auf seiner Pritsche.

»Schaut Euch den armen Kerl an«, sagte seine Gattin und hob die Lampe so, dass ihr Lichtschein auf den Schlafenden fiel.

Sein Kopf war mit einem weißen Linnen eingebunden, das mit eingetrockneten Eiter- und Blutflecken übersät war. Der rechte Arm hing wie leblos über die Bettkante und der Kranke stöhnte im Schlafe bei der kleinsten Bewegung vor Schmerzen.

»Sein ganzer Körper ist voller Blutergüsse, wahrscheinlich sind auch einige Knochen gebrochen!«, greinte die Ehringerin.

»Und Schlaf findet er nur, wenn er säuft wie ein Spundloch«, fügte sie in leidendem Ton hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen fast leeren Schnapskrug, der auf dem Boden neben dem Bett stand.

Mang starrte fassungslos auf den Leidenden.

»Wer hat den Poldl so zugerichtet? Hat er sich mit einem Bären gebalgt?«

»Nein«, erwiderte die Wirtin und bittere Wut klang in ihrer Stimme. »Mit einem Knecht des Leibhaftigen!«

»Hier«, sagte der junge Oberholzer mit gedämpfter Stimme und reichte der Ehringerin einen silbernen Reichstaler: »Für den Wundarzt!«

Die Ehringerin griff mit eiligen Fingern nach der Münze, doch Oberholzer schloss blitzschnell die Hand.

»Nur, wenn Ihr uns den Schlögel bereitet«, sagte er in einem schnarrenden, arrogant klingenden Tonfall. Dabei umspielte ein breites Lächeln seinen Mund, das seltsamer Weise sein Gesicht viel älter wirken ließ.

So jedenfalls schien es der Wirtin.

»In Gottes Namen«, erwiderte sie seufzend, führte die beiden in die Gaststube zurück, kredenzte ihnen den ersten Krug Wein und machte sich an die Arbeit: Sie schnitt geräucherten Schweinebauchfilz in Streifen, wickelte diese um die Keule und befestigte sie mit Bindfaden. Schließlich würzte sie alles mit einer Mischung aus getrockneten, zerstoßenen Wacholderbeeren, Salz und Thymian und steckte das so vorbereitete Wildbret auf den gusseisernen Spieß über der offenen Feuerstelle in der Rauchküche, wo sie es unter beständigem Drehen briet. Als Zuspeise dünstete die Ehringerin getrocknete Linsen, die sie am Vortag – eigentlich für den Eigenbedarf – zur Quellung in Wasser eingelegt hatte. Dann knetete sie einen Teig aus Dinkelmehl, Eiern und Milch und formte daraus mit geübten Händen Knödel, die sie sogleich in siedend heißem Wasser garte.

Als sie das Mahl kredenzte, waren die beiden Männer schon beim fünften oder sechsten Schoppen angelangt und luden in bester Laune die Wirtin ein, an dem Festschmause teilzuhaben.

Die ließ sich das nicht zweimal sagen. Den Ehemann wusste sie wohlversorgt im Branntweinnebel und weitere Gäste waren am Vorabend des Weihnachtsfestes ohnehin keine zu erwarten. So setzte sich die Ehringerin zu den beiden Männern, schenkte sich einen Krug mit Wein voll und die drei genossen schweigend das opulente Mahl. Als man es beendet hatte, kam Mang neuerlich auf die Verletzungen Ehringers und deren genaue Ursache zu sprechen. Er war über deren Ausmaß zutiefst verwundert, galt ihm der Schmied doch als der stärkste Mann Leewarns, der nicht nur kraftstrotzend war, sondern auch wohl geübt in zahllosen Wirtshausraufereien.

Mang konnte sich nicht erklären, wie ein einzelner Kontrahent den Bedauernswerten so übel zugerichtet haben konnte.

»Der Senfpichler war’s«, erwiderte die Ehringerin bitter und nahm schlürfend einen mächtigen Schluck aus ihrem Weinkrug. »Doch freilich war er’s nicht allein. Die Mächte der Finsternis haben ihn unterstützt, ein ganzes Heer von Dämonen hat ihn flankiert, unsichtbar und unüberwindlich!«

Der junge Oberholzer machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte mitleidig. Als gebildeter Tollener Bürgersohn hegte er eine tiefe Verachtung für die Angst des Bauernpacks, das bei allem und jedem, was sich seiner beschränkten Erklärungsfähigkeit entzog, sofort beelzebübische Machenschaften im Spiele sah. Als Stadtrichterspross hatte man ihn im Geiste eines Rechtsverständnisses erzogen, nach dem jeder Untat die Strafe auf dem Fuß zu folgen hatte. Und so wandte er sich barsch an die Wirtin: »Was gedenkt Ihr nun gegen den Übeltäter zu unternehmen?«

»Was gedenkt Ihr gegen den Übeltäter zu unternehmen?«, äffte ihn die Wirtin spöttisch nach. »Nichts gedenken wir zu unternehmen, Bübchen, gar nichts!«

Mit hochrotem Kopf sprang Oberholzer auf.

»Nenn mich nicht Bübchen, du alte Vettel!«, brüllte er mit überschnappender Stimme und hob die Rechte zum Schlage, den er wohl auch ausgeführt hätte, wäre ihm Mang nicht in den Arm gefallen.

»Nichts für ungut, junger Herr«, stammelte die Ehringerin mit leichenblassem Gesicht. Und als sich der Tobende offensichtlich wieder beruhigt und gesetzt hatte, erklärte sie in begütigendem Tonfall: »Was könnten wir schon tun? Die beiden Dorfrichter dürfen keine Strafen verhängen, die der Übeltat angemessen wären. Und nach Fürstenstetten gehen wir Leewarner nicht wegen eines Raufhandels!«

Während ihrer letzten Worte war die Wirtin aufgestanden, um neue Weinkrüge zu holen.

»Diese Runde geht auf’s Haus«, sagte sie, als sie den Wein auf den Tisch stellte und fügte, sich setzend, hinzu: »Als Sühneleistung für die Beleidigung, die ich Euch zugefügt habe!«

»So soll es sein«, meinte Oberholzer leidenschaftlich. »Schuld verlangt nach Sühne – das habt Ihr trefflich erkannt, Frau Wirtin! Umso unverständlicher ist es, dass Ihr, die Ihr die ewigen Gesetze der Gerechtigkeit im Blute zu haben scheint, die arge Verstümmelung Eures Ehegesponses so duldsam hinnehmt wie ein Kalb das Messer des Schlachters!«

Die Ehringerin sah den Jungen an und ihre wasserblauen Augen schwammen in einem Meer von Tränen. Sie schnäuzte sich in die Hand und schleuderte den Rotz mit einer geübten, flinken Handbewegung auf den Schenkenboden.

»Selbst wenn wir nach Fürstenstetten gingen«, meinte sie mit heiserer Stimme, »hätten wir wenig Aussicht auf Erfolg. Der Senfpichler ist wegen seiner guten Robotleistung seit Jahr und Tag beim Rentamte gut angeschrieben. Der Rentamtleiter würde wohl auf den Richter einwirken …«

Sie machte eine resignierende Handbewegung.

»Ja, ja«, gab Oberholzer zu. »Seine Exzellenz, der Landrichter von Fürstenstetten, ist ein lahmer Einfaltspinsel. Kein Wunder, dass in eurem Gerichtskreise das Gesindel zunimmt wie die Ratten nach der Erntezeit! Doch wenn die Institutionen der Gerechtigkeit ihrer Funktion nicht nachkommen, dann gilt es, sich selbst zu helfen!«

Er sah die Ehringerin an.

»Gibt es in Leewarn keine Kerle, die Manns genug sind, den schuldig Gewordenen zu züchtigen?«

Jetzt mischte sich Mang ein, der eine Zeitlang geschwiegen, das Gespräch aber mit sichtlichem Interesse verfolgt hatte.

»Wolfgang, was erwartet Ihr?«, sagte er lachend. »Hier leben keine freien Bürger wie in unserem Tollen! Hier lebt unfreies, tumbes Bauerngesindel! Dazu ein paar elende Fischer, allesamt nicht fähig, Recht von Unrecht zu unterscheiden! Geschweige denn, die Sache des Gesetzes selbst in die Hand zu nehmen.«

Die Ehringerin war von dieser Beschreibung der Leewarner, zu denen sie ja auch gehörte, nicht gerade begeistert. Mang bemerkte dies und fügte rasch hinzu:

»Ausgenommen natürlich die wenigen Handwerks- und Wirtsleute. Aber auch von diesen können wir nicht verlangen, dass sie alleine gegen den Strom schwimmen!«

Jetzt nickte die Ehringerin eifrig und ihre Miene spiegelte eine Mischung aus Zustimmung und Kümmernis wider. Dann nahm sie – offensichtlich wollte sie das leidige Gesprächsthema beenden – den Weinkrug hoch und prostete den beiden Männern zu.

»Auf das bevorstehende Weihnachtsfest! Auf die Ankunft unseres Herrn und Erlösers!«, sagte sie mit feierlicher Stimme.

Alle drei tranken.

Der reiche Alkoholgenuss schien Oberholzer immer mehr zu erhitzen und aufzustacheln. Offensichtlich hatte er eine Idee geboren, denn seine finsteren Züge erhellten sich plötzlich und mit leichtem Zungenschlag, doch immer noch fester Stimme verkündete er: »Wohlgefällig ist es unserem Herrn, jene zu schlagen, die ihrerseits geschlagen haben! Wie heißt es in der Schrift? Auge um Auge, Zahn um Zahn!«

Er wandte sich Mang zu.

»Und wir beide werden am Vorabend des Heiligen Christtages dafür sorgen, dass das Wort der Schrift auch zu Leewarn Erfüllung findet!«

Mang, der eigentlich wesentlich besonnener war als sein jugendlicher Freund, stimmte nichtsdestotrotz dessen Vorhaben mit freudigem Lachen zu. Es mögen dafür verschiedene Gründe ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen hatte auch Mang zu diesem Zeitpunkte schon überreichlich dem Weine zugesprochen. Zum anderen mochte er vor der Ehringerin, die trotz ihrer beinahe vierzig Lebensjahre noch immer eine anziehende Erscheinung war, nicht als Feigling dastehen. Zum dritten schließlich wollte sich Mang die Gunst und das Wohlwollen des Oberholzers erhalten. Denn dessen Vater stand schon hoch in den Sechzigern und es war nur mehr eine Frage weniger Jahre, bis sein Sohn nicht nur dessen Handelshaus, sondern wohl auch dessen Stadtrichteramt erben würde. Und für einen einfachen Torwächter konnte es nicht von Übel sein, den reichsten und mächtigsten Mann der Tollenerstadt zum Freund zu haben.

So blieb man denn sitzen und hielt Rat, wie man am folgenden Tag den Senfpichler züchtigen könnte. Die Ehringerin berichtete, dass dieser alljährlich am Morgen jedes Heiligabends aufbräche, um sich einen Weihnachtsfisch zu fangen. Ihn bei dieser Tätigkeit zu überraschen, hielt sie für den günstigsten Zeitpunkt, zumal es notorisch war, dass die Höllengeister in Gottes freier Natur wesentlich weniger Kraft entfalteten als in engen Behausungen.

Oberholzer stimmte ihr zu – wenngleich aus einem anderen Grund: Wenn man den Dummkopf forsch anginge, ihm vielleicht gar mit einer listenreichen Finte die Fischbeute entriss, dann könnte man ihn wahrscheinlich dazu bringen, im ersten Zornesrausch die Hand gegen ein Mitglied einer Tollener Bereitung zu erheben. Das wäre Handhabe genug, den Tölpel festzunehmen und der Tollener Gerichtsbarkeit zu übergeben.

Und so brachen nach einer durchzechten Nacht Mang und Oberholzer mit schwerem Kopf, doch fröhlichen Gemütes nach der Rafelsfurther Lacke auf.

»Gott zum Gruße«, murmelte Lorenz, als er mit gleichmütigem Gesicht ans Ufer stieg und dem Sohn die Hand reichte, um ihm beim Aussteigen aus der schwankenden Zille zu stützen.

Die beiden Bewaffneten kamen näher. Die Sporen klirrten, als sie vorsichtig auftraten, um mit den glatten Sohlen der Reitstiefel nicht auf dem vereisten Boden auszurutschen.

»Was hat der Mohrenbankert in seinem Filzsack?«

Während er dies sagte, zupfte Oberholzer mit spitzen Fingern am Bartflaum auf seiner Oberlippe.

Lorenz machte eine ausladende Handbewegung – die wurde von den beiden offensichtlich als Drohung verstanden, denn Oberholzer griff sofort mit der Rechten an den Knauf seines Säbels, während Mang die Hand an die Pistolentasche legte.

Lorenz verzog die Lippen zu einem Grinsen, das verbindlich wirken sollte.

»Fische«, knurrte er kaum verständlich. Und Jakob fügte lauter und deutlicher hinzu: »Zwei Karpfen und einen Weißfisch.«

»Wir haben schon verstanden, Mustafa!«, sagte Oberholzer und streckte die Hand aus. »Her damit!«

Aus Lorenz’ Mund kam unverständliches Gebrumme. Jakob wiederholte, was sein Vater gesagt hatte: »An den heiligen Weihnachtstagen dürfen wir so viele Fische fangen, wie wir selbst verzehren können. Allein das Feilbieten ist uns nicht gestattet.«

»Allein das Feilbieten ist euch nicht gestattet«, wiederholte der Sohn des Tollener Stadtrichters mit spöttischem Tonfall. »Und wer hat euch das gestattet, ihr edlen Herren?«

»Der Rentamtleiter zu Fürstenstetten, Herr Augustin von Ravenbühl«, erwiderte Jakob.

Mang gähnte gelangweilt. Seine kleinen, grünen Augen sahen Jakob kalt an.

»Das Fürstenstettener Rentamt hat in dieser Causa überhaupt nichts zu sagen! Vor einem Mond schon hat das Bistum Passau zwei Leewarner Hufen der Stadtgemeinde zu Tollen verkauft. Dazu gehört auch die Au, in der eure Keusche steht«, erklärte er leidenschaftslos. »Ergo seid ihr nunmehr nach Tollen zuständig.«

Der junge Oberholzer lächelte, als er die Lüge vernommen hatte. In jedem anderen Dorf der Umgebung wäre eine solche Äußerung mit Misstrauen aufgenommen worden – aber das Doppeldorf Leewarn war schon seit alters her nicht einheitlich einer einzelnen Herrschaft zugeordnet gewesen, sondern spaltete sich in mehrere Besitztümer auf. Ein Großteil der Bauern und Inleute, vor allem in Unterfluren, dem östlichen Teil des Dorfes, war dem Bistume Passau untertänig und fiel damit unter die Herrschaftszuständigkeit des Passauer Rentamtes in Fürstenstetten. Der Großteil der in Oberfluren, dem westlichen Ortsteile, Ansässigen war aber wiederum dem Stift Göttweig untertänig. Darüber hinaus gab es Leibeigene anderer Herrschaften. Und erst vor kurzem hatte die »Zuständigkeit« einiger Leewarner Familien gewechselt – durch Landverkäufe der Herrschaft Fludenau an die von Herrndorf.

Es war also durchaus denkbar, dass ein solches Schicksal auch die Senfpichlerischen ereilt hatte und ihre Zuständigkeit von Passau nach Tollen gewechselt hatte. Mang sprach leidenschaftslos weiter: »Ergo liegt auch das Jagd- und Fischrecht bei der Stadt. Und« – er grinste genüsslich – »nach meinem Wissen gestatten die Tollener Ratsherren keinem Leewarner Bauernlümmel an heiligen oder unheiligen Tagen das Fangen von Fischen. Also her damit.«

Er ging drohend einen weiteren Schritt auf Jakob zu. Jakob sah ängstlich zu seinem Vater. Auf dessen Stirne schwollen die Zornesadern. Der Bub zog die Filztasche noch fester an sich.

»Türkenbankert!« Mang holte zum Schlag aus. Mit einer fast tänzerischen Bewegung, die ihm bei seiner Vierschrötigkeit niemand zugetraut hätte, trat Lorenz vor seinen Sohn und fing die niedersausende Hand mühelos mit seiner Rechten ab.

Er machte eine kleine Drehbewegung und der Uniformierte ging mit einem Schmerzensschrei in die Knie.

»Bauernsau!«, kreischte Oberholzer und griff nach der Pistolentasche. Lorenz versetzte dem vor ihm kauernden Mang einen so derben Faustschlag, dass dieser rücklings auf seinen Kameraden stürzte. Der verlor auf dem eisigen Boden den Halt. Er fiel und die gezogene Pistole entglitt seiner Hand.

Jakob war mit zwei Schritten bei der Waffe und hob sie auf. Hilflos starrte er die Pistole an – wie ein Ding aus einer anderen Welt. Einen Augenblick später wurde sie ihm aus der Hand gerissen und gleich darauf vernahm er einen lauten, hässlichen Knall auf den ein schriller Schrei folgte.

Jakob sah verschreckt auf.

Der ältere der beiden Berittenen lag reglos im Schnee. Seine Hand hatte sich an der linken Brustseite festgekrallt. Durch seine Finger quoll Blut. Starr vor Entsetzen sah der Bub, wie die Augen des am Boden Liegenden blickleer wurden. Dann ging ein grässlich anzusehendes Zucken durch seinen Körper, das wenig später erstarb.

Lorenz hatte dem Stiefsohn die Waffe entwunden, auf Mang gerichtet und abgefeuert. Keinen Moment zu früh, denn der Torwächter hatte seine Pistole schon in Anschlag gebracht und sein wutverzerrtes Gesicht verriet, dass er Ernst machen würde.

Fassungslos sah Oberholzer, während er sich selbst hochrappelte, wie sein Kumpan im Schnee verendete.

»Mörder«, brüllte er mit sich überschlagender Stimme und wollte mit blankem Säbel auf Lorenz eindringen. Doch als er in die Mündung seiner eigenen Pistole sehen musste, hielt er inne.

»Verschwinde!«, murmelte Lorenz.

Mit ängstlichem Blick steckte Oberholzer seinen Säbel weg, schwang sich auf den Rücken seines Pferdes und lenkte es im Schritttempo davon.

Lorenz beugte sich über den Liegenden und legte sein Ohr an dessen Brust.

Er hob den Kopf und sah Jakob ernst an.

»Tot«, sagte er leise. Jakob starrte den Vater mit weit aufgerissenen Augen an: »Was machen wir jetzt?«

»Komm!« Lorenz packte ihn am Unterarm und zog ihn rasch hinter sich her. Er schlug den schmalen Pfad zur Keusche ein.

Oberholzer war hinter den Bäumen verschwunden. In sicherer Entfernung machte er jetzt seiner ohnmächtigen Wut Luft: »Du Bauernsau! Dafür werden sie dich rädern!«

Ängstlich sah Jakob den Vater an. Der aber schaute starr geradeaus.

Es hatte heftig zu schneien begonnen, als sie die Keusche erreichten. Lorenz sah wehmütig auf die dicht fallenden Flocken.

»Weihnachtsschnee«, murmelte er.

Dann ging er in die Hütte. Jakob folgte ihm zögernd. Er wusste, dass etwas Schreckliches, etwas Furchtbares, etwas, was ihm in seinem jungen Leben noch nicht widerfahren war, bevorstand. Er fühlte einen schweren Druck auf seiner Brust und hätte gerne geweint. Aber kein Wasser stieg ihm in die Augen. Dafür rannen Lorenz dicke Tränen über die Wangen, als er in die Bettstatt über der Feuerstelle kletterte. Er hob die Matratze hoch und nahm ein kleines Kästchen, das jahrelang hier wohl verwahrt gewesen, an sich und reichte es Jakob.

Mehr als acht Jahre vor diesem Ereignis – im April des Jahres 1684 – hatte der neugeborene Jakob den damaligen Leewarner Pfarrer Bartholomäus Mehringer in arge Gewissenskonflikte gestürzt.

Der Westwind fegte über das Tollenerfeld und der Regen peitschte in dicken Tropfen auf das Schindeldach des Schulmeisterhauses, in dem Mehringer seit der Zerstörung des Pfarrhofes durch vazierende Tataren Quartier genommen hatte.

Der Schulmeister, dessen Frau und der Pfarrer saßen gerade bei einem kärglichen Mittagsbrot, als es heftig an die Türe klopfte.

Die Schulmeisterin öffnete. Die Senfpichlerin trat ein und legte glückstrahlend das in eine Wolldecke gewickelte Kind auf den Tisch. Sie bat den Pfarrer, die Taufe vorzunehmen, schlug die Decke zurück und Mehringer blickte in das braunhäutige Gesichtchen, dessen kohlschwarze Augen leuchteten. Ein gleichfarbiger, kräftiger Haarschopf stand in wirren Strähnen vom Kopf ab.

Die Schulmeisterin und der Schulmeister tauschten erschreckte Blicke und der Pfarrer bekreuzigte sich, als er der beelzebübischen Erscheinung ansichtig ward.

»Taufen? Das Heidenkind?!«

Der Pfarrer schien empört.

»Wenn Sie’s taufen, dann ist’s kein Heidenkind mehr!«

Die ansonsten so sanfte Stimme der Senfpichlerin klang trotzig.

»Ein Kind der Sünde«, murrte die Schulmeisterin und ihr Gatte kreischte in hellem Falsett: »Ein Türkenbankert! Wenn wir die Kreatur in die Gemeinde aufnehmen, wird der Allmächtige uns strafen.«

»Ich taufe nicht! Punktum!«, sagte Mehringer entschlossen. Doch so einfach ließ sich die Senfpichlerin nicht abspeisen.

»Hochwürdigster Herr«, begann sie mit Engelszungen zu reden, »predigt nicht Ihr immer von der Kanzel: Der Herrgott ist barmherzig? Vergibt Er nicht den bereuenden Sündern? Und tätet Ihr es Euch jemals verzeihen, wenn Ihr die arme Seele den Feuern der Hölle ausliefern tätet?«

»Türken haben keine Seele!«, warf der Schulmeister mit überschnappender Stimme dazwischen.

Der Pfarrer wandte sich ab und starrte durch die Ritzen des Fensterladens in den Regen. Er seufzte und als er darauf die Luft durch die Nase geräuschvoll einsog, brannte ihm der Rauch, der von der offenen Feuerstelle aus den Raum erfüllte, in den Schleimhäuten.

Weiß Gott der Allmächtige, das war kein Frühjahrswetter! Man konnte die Läden nicht öffnen bei dieser beißenden Kälte, kein Blütenduft belebte den Raum und der wütende Wind fand seinen Weg durch die Risse des Mauerwerks und die Spalten des Holzes. Den Pfarrer fröstelte. Der Herr hatte den Hauch des Herbstes in den Frühling gesandt und das konnte nur drohendes Unheil bedeuten. Ungeordnete Gedanken von Verwesung und Tod schossen dem Geistlichen durch den Kopf und nur wie von ferne nahm er wahr, dass die Senfpichlerin weiter auf ihn einredete, an seine Barmherzigkeit appellierte und immer wieder die Unschuld des Wurms betonte. Ebenso fern erschien ihm die schrille Suada des Schulmeisters, der meinte, es wäre gotteslästerlich, der Türkenbrut das heilige Sakrament zu spenden. Das wäre dasselbe, als würde man die Welpen, welche die Hündin der Ortnerischen zwei Tage zuvor geworfen hatte, mit Weihwasser benetzen. Alle, die Hündchen wie das kleine Muselmanenkind, seien seelenlos und wo nichts sei, da sei auch nichts zu retten. Wehmütig dachte der Pfarrer an den Fronleichnam vor zwei Jahren, als die Senfpichlerin noch das Fintschinger Mariechen gewesen und unter dem Rosenhimmel gegangen war. Unschuldig hatte sie ausgesehen in dem weißen Kleide und beim Schmücken des Himmels war sie die Eifrigste gewesen und die Geschickteste. Und er dachte daran, wie der Senfpichler all die Jahre beim Neubau der Kirche mitgeholfen hatte, nachdem die gefräßige Donau das alte Gotteshaus verschlungen hatte.

Zentnerschwere Lasten hatte er getragen, der Senfpichler, als seien es keine Steine gewesen, die seinen Rücken belasteten, sondern Federbetten. Der Senfpichler mochte dumm und starrköpfig sein, wie die Leewarner behaupteten, geschickt war er ohne Zweifel. Und auch anstellig und fleißig. Wenn sich die anderen Bauern vor der Robotleistung drückten, wo sie nur konnten, war der Senfpichler immer zur Stelle.

Und doch: Er war ein Nachfahre der gotteslästerlichen Rafelsfurther und das Kind hatte etwas Satanisches, entsprossen den Lenden eines Christenfeindes.

Ebenso plötzlich, wie er sich umgewandt hatte, drehte sich der Pfarrer wieder der Senfpichlerin zu.

Er müsse nachdenken, sagte er mit fast ängstlicher Stimme, er müsse Zwiesprache halten mit seinem Gotte. Die Senfpichlerin solle morgen wiederkommen mit dem Kind, dann wolle er ihr seine Entscheidung mitteilen. Sie solle auch den Senfpichler mitbringen, denn auch der Vater und Ernährer müsse anwesend sein und zur Kenntnis nehmen, was er, der Pfarrer, betreffs der Taufe zu entscheiden gedenke.

»Welcher Vater?«, meldete sich sogleich giftig die Schulmeisterin.

Der Vater sei längst in Kalmückistan oder der Berberei. Oder er sei – Gott geb’s! – von einer christlichen Kugel oder einem geweihten Säbel zum Schutzherrn aller Muselmanen, dem dreimal vermaledeiten Gottseibeiuns, geschickt worden. Der Senfpichler aber sei kein Vater, sondern ein Tölpel, der die Senfpichlerin geehelicht habe, trotzdem er wie alle andern gewusst habe, dass ihr sündiger Leib die faule Frucht trug.

»Er ist der Ziehvater«, sagte der Pfarrer bestimmt und zur Senfpichlerin gewandt: »Sie komm also morgen mit dem Mann und dem Kinde Schlag Mittag in die Kirche!«

Die Senfpichlerin dankte dem Pfarrer, küsste seine Hand und wickelte das Kind wieder sorgsam in die wollene Decke, ehe sie in den sturmgepeitschten Regen ging.

Kaum war sie draußen, bestürmte das Schulmeisterpaar den Pfarrer, den Bankert auf gar keinen Fall der Christenheit einzuverleiben.

Gott würde die Leewarner schlagen wie weiland die Philister, sagte der Schulmeister. Denn Er liebe es nicht, wenn man den Sprösslingen jener, die die Erlösung standhaft verweigerten, den Weg ins Himmelreich ebne.

Mehringer mochte seinen Schulmeister nicht. Dieser spielte sich häufig als Schriftgelehrter auf, wusste lange Textpassagen aus der Heiligen Schrift nicht nur zu zitieren, sondern so auszulegen, dass sie seine Ansichten stets unterstützten. Darüber hinaus war er dem Wein abhold, sah in der Traube, die Gott doch dem Noah zur Beglückung der Menschen gegeben hatte, ein Teufelswerk, das die Sinne verwirrte und die luziferischen Triebe weckte. Der Pfarrer hingegen liebte den Wein und hasste die Sophisterei. Jetzt zog er sich in die kleine Kammer zurück, die ihm das Schulmeisterpaar vorübergehend zur Verfügung gestellt hatte. Er kniete sich auf den harten Lehmboden und betete das Brevier. Nach Beendigung des Gebetes stand er auf, legte den Überwurf an, stülpte die Kapuze über den Kopf und ging hinaus.

In der Stube kümmerte sich die Schulmeisterin gerade um das Feuer und ihr Gatte benetzte, als er des Pfarrers ansichtig wurde, jene Stelle des Tisches mit Weihwasser, auf der das kleine Wurm gelegen hatte. Dabei flüsterte er ein »Apage Satanas« und rollte grimmig mit den Augen, in der offensichtlichen Absicht, dem Herrn der Unterwelt Angst einzuflößen.

»Hochwürden, bei dem Sauwetter dürft Ihr doch nicht hinausgehen ins Freie!«, sagte die Schulmeisterin.

»Es muss sein!«, murmelte der Pfarrer und fügte ein Grußwort hinzu.

Mit raschen Schritten eilte er über die Äcker und Wiesen, so, als habe er ein Ziel vor Augen, das er so rasch wie möglich zu erreichen trachtete. Und er strebte ja auch einem Wegende zu, allerdings keinem örtlichen, sondern einem geistigen.

Mehringer liebte die Ordnung. Und obwohl er seinen Gott nicht immer verstand, war er doch der Meinung, dass auch Er das Wohlgefügte, das Übersichtliche, das Klare, das Eindeutige und Unveränderliche über das Chaos setzte. Doch auch das Böse schlief nicht, und der Bocksfüßige förderte das Unbotmäßige, das Anmaßende und Ketzerische, wo immer er konnte. Immer wieder hatte Mehringer in seinen freien Stunden die Leewarner Kirchenchronik durchgearbeitet und war auf Eintragungen gestoßen, die ihm die kalten Schauer über den Rücken getrieben hatten.

Schon vor mehr als dreihundert Jahren hatten die Rafelsfurther den Herrn versucht. Es waren Siedler gewesen, über deren Herkunft die Chronik schwieg. Allerdings hatte viel später ein Vorgänger Mehringers angemerkt, es könne sich bei den ersten Rafelsfurthern um versprengte Katharer oder Waldenser gehandelt haben – Ketzer also, die sich schon lange vor den Lutheranern oder Calvinisten gegen die heilige Ecclesia gewandt hatten. Wer immer sie auch gewesen sein mochten, sie hatten jedenfalls einen Flecken Au zwischen Leewarn und der Stadt Tollen gerodet, um dann in unmittelbarer Nähe des mächtigen Donaustroms einen Weiler zu errichten.

Der damalige Leewarner Pfarrer hatte die Bewohner von Rafelsfurth gewarnt, den Herrn nicht zu versuchen und sich nicht so nahe an den Fluten des unberechenbaren Flusses zu behausen. Doch das hoffärtige Volk wollte nicht hören, quittierte den Rat mit Hohnlachen und vertraute auf die hohen Pfähle, auf denen die Häuser ruhten. Doch schon in der dritten Generation nahm das Unheil seinen Lauf: Nach der Schneeschmelze des Jahres 1421 trat die pralle Donau wütend über die Ufer und in einer einzigen, blitzedurchzuckten und donnergrollenden Nacht ward der ganze Ort Rafelsfurth hinweggespült und war nach wenigen Stunden vom Erdboden verschwunden.

Viele der Hoffärtigen ersoffen hilflos wie neugeborene Kätzchen, die die Leewarner Bauern, wenn ein Wurf allzu üppig ausgefallen, gerne in der Dorflacke, einem toten Seitenarm der Donau, ertränkten.

Die wenigen Rafelsfurther, die sich retten konnten, suchten ohne Habseligkeiten das Weite. Lediglich eine Familie, so besagte der Rumor, bewies genug Starrsinn, dem göttlichen Zorn zu trotzen. Sie baute sich ein neues Haus in der Au und ihre Mitglieder galten fürderhin den Leewarnern als Außenseiter, als Gebrandmarkte des Herrn.

Und der einzige Nachfahre dieser gottlosen Frevler war der Senfpichler.

Pfarrer Mehringer kannte kein Mitleid mit den Rafelsfurthern. Sie hatten die Ordnung der Schöpfung gestört und ihre gerechte Strafe erfahren. Doch warum hatte sein Gott dieselbe Donau, die ihm damals als Strafwerkzeug gegen die Ketzer gedient hatte, vor zwei Jahrzehnten das Leewarner Gotteshaus hinwegspülen lassen?

Sicher: In den dunklen Zeiten der Versuchung war auch Leewarn nicht von den Irrlehren des Luthertums verschont geblieben. Viele Bewohner waren, auch das wusste die Chronik zu berichten, nach Fludenau und Buxendorf gepilgert, wo die Grund- und Gutsherrn sich zum reformierten Glauben bekannten und reformierte Prediger beschäftigten. Und auch einige Leewarner Pfarrer hatten in den Jahren des Schismas das Zölibat gebrochen und Kinder gezeugt. Doch sicher nicht aus böser Absicht, sondern einfach deshalb, weil eine große Rechtsunsicherheit geherrscht hatte und die Vermittlung der römischen Wahrheiten einige Zeit brauchte, eh sie Leewarn dann doch noch erreichte.

Und just in jener Zeit, als Mehringers Vorgänger, der Pfarrer Seidl, frohlockend in seine Pfarrchronik schreiben durfte, dass nunmehr keine Leewarner Seele den lutherischen Wahnideen anhängig sei, just in jener Zeit verschlangen die Fluten das altehrwürdige Gotteshaus!

Mehringer schüttelte schwermütig den Kopf, als er durch die knöcheltiefen Pfützen eines Ackerrains stapfte. Musste nicht gerade in solchen Tagen, in denen so mancher Leewarner Mund zwar das römisch-katholische Bekenntnis sprach, in so mancher Leewarner Seele aber noch das Unkraut des Irrglaubens wucherte, das Verschwinden des Gotteshauses wie ein Zeichen des Herrn wider den wahren Glauben missverstanden werden?

Solche und ähnliche Gedanken gingen dem Pfarrer durch den Kopf.

Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als er zum Schulmeisterhaus zurückkehrte. Bei seiner schwerwiegenden Entscheidung war er aber kein Jota weitergekommen.

Beim Betreten des Hauses sah er zu seiner Erleichterung, dass weder der Schulmeister noch sein Eheweib in der Stube waren. Sie machte sich draußen im Schweinekoben zu schaffen, und er mochte sich, wie es bei ihm in den Abendstunden üblich war, im Schiffmühlenwirtshaus zu Unterfluren herumtreiben. Dort würde er mit gelehrter Fistelstimme dem Unterflurener Dorfrichter Sandner, der Wirts- und Müllerwittib Kranzmeier und den übrigen Gästen die Gottgefälligkeit des Biertrinkens gegenüber dem verfluchten Weingenuss anpreisen. Und zu später Abendstunde würde er sturzbetrunken auf das Lager neben seinem Eheweib fallen und mit lallender Stimme berichten, welch beelzebübische Schändlichkeiten er mit ihr anzustellen gedächte, hätte er nicht dem Hopfentrank, sondern dem Rebensaft zugesprochen.

Mehringer war es jedenfalls zufrieden, dass er unbehelligt seine Kammer aufsuchen konnte. Er verzichtete auf das Abendbrot und sprach das Vespergebet, dem er einige Fürbitten um Erleuchtung in seiner diffizilen Angelegenheit hinzufügte. Dann öffnete er den Schrank, in dem er neben seinen wenigen Habseligkeiten ein Fässchen Wein aufbewahrte, das ihm die barmherzige Äbtissin des Tollener Frauenklosters der Dominikanerinnen jedes Vierteljahr zum Geschenk machte.

Er goss einen irdenen Krug voll, den er in raschen Zügen leerte.

Schon wenige Minuten später lichtete sich der dicke Nebelschleier, der seine Gedanken umwölkt hatte und der tückische Kopfschmerz, der ihn auf seiner Wanderung begleitet hatte, verschwand allmählich. Seine Gedanken schweiften nicht mehr ab wie am ziellosen Nachmittag, sondern umkreisten mitleidlos sein eigentliches Problem.

Wenn der Schulmeister mit seiner Theorie von der Seelenlosigkeit der Türkenstämmlinge Recht hatte, dann war es zweifelsfrei gotteslästerlich, das Kindlein zu taufen und damit des für alle Ewigkeit dauernden Heilsangebotes der heiligen Ecclesia teilhaftig werden zu lassen. Andererseits gab es aber auch das unumstößliche Gottesgebot, barmherzig zu sein. Gerade das hatte die Senfpichlerin vorgebracht. Und darüber hinaus gab es auch den biblisch fundierten Auftrag der Bekehrung. Und dem gemäß wiederum war das Kindlein zweifelsfrei zu taufen.

Mehringer seufzte. Er wusste nicht, warum der Herr gerade ihm, einem einfachen Dorfpfarrer, eine so schwere Entscheidung aufgebürdet hatte. Er war kein Gelehrter der Theologie, er konnte sich nicht messen mit den weisen Interpreten der Glaubenswahrheiten. Vielleicht hätte er sich in seiner Not an den Tollener Weihbischof Antonius Knapp wenden sollen, einen Mann, der an der Wiener Universität studiert und seinen theologischen Doktor gemacht hatte. Und den selbst der Bischof von Passau in Fragen der Pastorale gerne gelegentlich zu Rate zog.

Doch Mehringer war ein gebranntes Kind und scheute das Feuer. Zweimal schon hatte er in der Vergangenheit des Weihbischofs Hilfe gesucht, doch der gebildete Bruder hatte ihm unmissverständlich in beiden Fällen klar gemacht, dass Gott sehr wohl wisse, wem er Bürden auflade und dass der, dem sie aufgeladen, sie auch zu tragen habe, mannhaft und alleine.

So füllte Mehringer ein zweites Mal seinen Krug und versank in stillem Gebete.

Bis zur Mitternacht wiederholte er dieses Ritual noch dreimal. Er trank, betete und harrte der Eingebungen, die ihm Gott durch seine Engel mitzuteilen gedachte. Und er hoffte, dass die Dämonen, die oft mit Engelszungen redeten, ihn nicht narren und zu falschen Handlungen treiben würden.

Schlag Mitternacht – Mehringer hatte den fünften Schoppen geleert und in seinem letzten Gebet die heilige Helena, die Schutzpatronin der Leewarner Pfarrkirche, angerufen – sah der Pfarrer das sehnlichst erwartete Zeichen:

Für einige Augenblicke hörte der Regen auf und Mehringer, der die Fensterläden aufriss, blickte in einen völlig wolkenfreien Nachthimmel. Gleichzeitig vernahm sein Ohr Kirchengeläute, vom Donaustrome her! Laut und deutlich jubilierten die Glocken der versunkenen Pfarrkirche und eine mächtige Frauenstimme, oder nein, vielleicht doch eine Männerstimme rief klar und deutlich:

»Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Dann erhellte ein Blitz den schlagartig wieder bewölkten Himmel, Donner grollte und der Regen setzte ein wie zuvor.

Die Nacht war sternenlos und stockfinster.

Der Pfarrer warf sich auf den Boden.

»Ich danke Dir, o heilige Helena, Lob und Preis sei Dir, o Allmächtiger Gott!«, stammelte er und es übermannte ihn der Schlaf.

Am nächsten Tag blieb der Pfarrer nach der Roratemesse in der Kirche und bereitete alles für die Taufe vor. Als Schlag Mittag Lorenz und Maria Senfpichler mit ihrem Kindlein erschienen, taufte er es nach dem Wunsch der Eltern auf den Namen Jakob. Als er dann, ins Schulmeisterhaus zurückgekehrt, dem Paare seine Entscheidung mitteilte, bekreuzigten sich die beiden zwar, doch enthielten sich jedes weiteren Kommentars.

Allerdings sorgte schon am Abend im Schiffmühlenwirtshaus der Schulmeister dafür, dass die Aufnahme des Türkenbankerts in die Leewarner Christenschar publik wurde.

»Man hätte ihn nicht Jakob nennen sollen«, kreischte er unter dem Gelächter der betrunkenen Gäste, »sondern Mustafa!«

Und so hieß in den folgenden Jahren der kleine Senfpichler bei den Leewarnern »Jakob Mustafa«.

Engelswerk und Teufelstrug

Mehringers beglückendes Gefühl, einer göttlichen Weisung gefolgt zu sein, währte nicht lange. Waren die Frühmessen schon seit jeher von den Leewarnern kaum besucht gewesen, so blieb das neue Gotteshaus nunmehr auch bei den Sonntagsämtern fast völlig leer. Der Großteil der Bewohner folgte der Meinung des Schulmeisters, die priesterliche Taufentscheidung sei nicht das Ergebnis einer himmlischen Vision, sondern die Folge eines satanischen Trugbildes, durch das sich ein von exorbitantem Weinsuff aufgeweichtes Gehirn hatte täuschen lassen. Und man harrte mit banger Erwartung des Tages des Zorns, an dem der Allmächtige alle Leewarner für die Sünde der Senfpichlerin und die Dummheit des Pfarrers zur Rechenschaft ziehen würde.

Und wahrlich, man musste nicht lange warten: Schon wenige Monate nach der Taufe ging ein heftiger Hagelregen nieder und zerstörte einen Großteil der Ernte. Nun war dies zwar keineswegs das erste Unwetter, das über dem Tollenerfelde wütete, doch sah man in der Tatsache, dass alle umliegenden Ortschaften – Fürstenstetten, Puckendorf, Tipfling – davon verschont geblieben waren, ein eindeutiges Zeichen zielgerichteter, himmlischer Heimsuchung.

Kaum hatten sich die unheilbringenden Wolken verzogen, da bewaffneten sich einige Aufgebrachte mit Sensen und Heugabeln in der Absicht, die Ursache des göttlichen Rachestrebens ein für alle Mal zu beseitigen. Doch ehe sie im Schutze der Dunkelheit einer mond- und sternenlosen Nacht zu ihrem Feldzug aufbrachen, pochten sie an die Tür des notdürftig wiederhergestellten Pfarrhofes und forderten Mehringer auf, an dem heiligen Kreuzzug gegen den beelzebübischen Türkenbalg und seine gottlose Mutter teilzunehmen. Und der Pfarrer schloss sich der aufgebrachten Meute an. Nicht etwa aus Angst, wie er sogleich in stillem Gedankengebet seinem Gotte mitteilte, sondern deshalb, weil er beruhigend auf die erhitzten Gemüter einwirken wollte.

Der Zug bewegte sich an den letzten Häusern Oberflurens vorbei auf die Rafelsfurther Au zu. Es hatte erst vor wenigen Stunden zu regnen aufgehört und von dem wochenlang durch die Sommersonne aufgeheizten Boden stiegen dicke Dampfwolken auf. Der Schmied Ehringer, der Unterflurener Dorfrichter Sandner sowie der Totengräber Hintermeier und sein Weib führten mit Fackeln in den Händen die Prozession durch die nächtliche Schwüle, vorbei an den mächtigen Bäumen und dornenbewehrten Gebüschen, die wie ein schwarzer, finsterer Schutzwall die Senfpichlerische Keusche von der christlichen Welt abzuschotten schienen.

Zuvor, als man durch den Ort gezogen war, hatte die Hintermeierin das »Te Deum« angestimmt und ein vielstimmiger Chor hatte das Loblied auf den Herrn und Erlöser mitgesungen. Nun aber, da man die nächtliche Au durchstreifte und somit dem Zentrum allen Übels immer näher rückte, herrschte tiefes Schweigen. Lediglich das Knacken der Zweige, die unter den Schritten der Vorwärtsstrebenden barsten, und die düsteren Rufe der Nachtvögel waren zu hören. Allmählich erhob sich unter einigen Weibern ein Getuschel. Sie bebten vor Angst und waren offenkundig im Zweifel darüber, ob der Weg, den zu beschreiten sie sich entschlossen hatten, denn auch der richtige sei.

Da ertönte die Bassstimme des Ehringers.

Vor einem Jahr hatte er in Wien neue Werkzeuge für seine Schmiede zu erwerben gesucht, just zu jener Zeit, als das mächtige Türkenheer auf die Residenzstadt zustrebte in der Absicht, den wohlbefestigten Außenposten der Christenheit zu erstürmen. Ehringer war immer noch stolz darauf, nicht zu jenen gehört zu haben, die feige vor der muselmanischen Sturmflut das Weite gesucht hatten, nein: Obwohl kein Wiener Bürger, war er doch in den Mauern der bedrohten Stadt geblieben, hatte kräftig zugepackt, als es darum ging, von den Angreifern zerstörte Wehranlagen wieder aufzubauen, hatte mit den Einwohnern der Stadt gehungert und letztendlich mit ihnen die Freude über die siegreiche Befreiung geteilt.

Nun stimmte er jenes Gebetslied an, das er in den Tagen der ärgsten Bedrängnis zu Wien oft gehört und fast ebenso oft mitgesungen hatte:

Herrscher Himmels und der Erde!

Lasse Dich Dein Volk erbitten,

hilf denselben und zerstreue

des Erbfeindes grausam Wüten.

Lass, o Vater, Dich erweichen,

siehe nicht an unsre Sünd’,

Dein Barmherzigkeit uns zeige,

und verschon die kleinen Kind’.

Ach, wir fallen Dir zu Füßen,

und mit dem verlor’nen Sohne

wir inbrünstig alle rufen:

Schone, liebster Vater, schone!

Treibe ab von unsern Mauern

die verdiente Grausamkeit,

wir als Deine Kinder wollen

loben Dich in Ewigkeit!

Kaum war der letzte Ton verhallt, da zeigte der melancholische Bittgesang auch schon Wirkung.

»Nieder mit dem Erbfeinde!«, schrie just eines jener Weiber, das vor wenigen Augenblicken noch einige der Weggefährtinnen zagend zur Umkehr hatte bewegen wollen.

»Recht gesprochen, Herr Schmied!«, meldete sich nun auch der Schulmeister leidenschaftlich fistelnd. Er und seine Gattin schritten in der Mitte des Zuges und flankierten den Pfarrer.

»Treiben wir sie ab, die Grausamkeit! Entledigen wir uns jenes Erbes, das uns der besiegte Feind in seiner Tücke hinterlassen hat!«

Ein wildes Jubelgeschrei antwortete dem Schulmeister und alle beschleunigten den Schritt, um den »Unterschlupf des muslimischen Bankerts« möglichst schnell zu erreichen. Auch Mehringer wurde von einem unbändigen Gefühl der Wut auf die Dämonen erfasst, die ihn irregeführt hatten, und auf deren offenkundige Schützlinge. Und wiewohl er sich noch immer nicht bereit finden wollte, selbst die Hand gegen die Senfpichlerischen zu erheben, so mochte er nun auch nichts mehr zu deren Schutz unternehmen.

Bald erreichte man die kleine Waldlichtung, an deren anderem Ende sich die Senfpichlerische Keusche an ein undurchdringliches Augestrüpp drückte. Johlend und Fackeln schwenkend wälzte sich der Haufen auf die Hütte zu, die sich im Dunkeln schemenhaft abhob.

»Halt, wer noch einen Schritt weiter geht, den schieß ich ab!«

Lorenz’ Stimme klang wie immer zischelnd und undeutlich, doch laut und verständlich genug, um ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Ehringer und Sandner, die die Spitze des Zuges bildeten, blieben stehen. Auch jene, die an ihnen vorbeistürmen wollten, hielten inne, als der Senfpichler seine Drohung wiederholte.

»Der Dorfdepp hat ein Gewehr!«, schrie die Kranzmeierin, offensichtlich empört ob der Tatsache, dass der Idiot nicht bereit war, das Feld freiwillig und kampflos zu räumen.

»Wir wollen nichts von dir, Senfpichler!«, meldete sich nun der rotgesichtige Sandner. »Gib den Bankert heraus, der nicht von deinem Blute ist! Liefere ihn aus mitsamt dem Weibe, das den sündigen Unglücksbringer ausgetragen hat, und für dich ist die Sache erledigt!«

Alle schwiegen und lauschten gespannt in die Dunkelheit. Doch es gab keine Antwort.

»Wir sind mehr als siebenzig Leute!«, gellte die Stimme des Schulmeisters. »Ihr könnt einen töten, dann reißen Euch die anderen in Stücke!«

»Wer Lust aufs Sterben hat, der komme als Erster!«, tönte es undeutlich zurück.

»Löscht die Fackeln! Er kann uns sehen – wir ihn nicht!«, schrie der Ehringer und sogleich kamen alle seiner Aufforderung nach. Kaum hatte die Nacht wieder die ungeteilte Herrschaft errungen, da bekamen es einige mit der Angst zu tun. Männer wie Weiber sprachen mit leisen Stimmen das »Ave Maria«. Der Schmied, der sich durch seine glorreiche Vergangenheit soldatisch genug fühlte, Befehle zu erteilen, beendete die aufkeimende Unsicherheit. Mit gedämpfter Stimme teilte er die Männer in zwei Gruppen und forderte sie auf, im Schutz der Dunkelheit vorzudringen, die einen zur linken, die anderen zur rechten Seitenwand der Keusche. Daselbst sollten sie Lunten entzünden und das Anwesen in Brand stecken. Der beißende Rauch würde letztlich – so prophezeite es der Ehringer – den Keuschler dazu zwingen, das schützende Gebäude zu verlassen. Weiters würde der grelle Lichtschein des Feuers den dämonischen Schutz der Finsternis beenden. Und dann musste es ein Leichtes sein, den Dorfdeppen zu überwältigen, eh der nur einen einzigen gezielten Schuss abfeuern konnte.

Ein zustimmendes Raunen quittierte den mit gedämpfter Stimme vorgetragenen Plan des selbsternannten Feldherrn und die mordlüsterne Bande machte sich daran, das aus ihrer Sicht gottgefällige Vorhaben auszuführen. Plötzlich aber tauchte aus der Dunkelheit der Schaanschläger auf – atemlos und mit hochrotem Kopf.

Hubertus Schaanschläger war ein besonnener Mann. Er war der erst vor kurzem von den Bewohnern Oberflurens gewählte Dorfrichter und somit das Pendant des Sandners, der dieselbe Position in Unterfluren bekleidete. Wohlweislich hatten es der und die anderen Anführer des Kreuzzuges vermieden, auch an die Türe des Schaanschlägers zu pochen, zumal damit zu rechnen war, dass der sich nicht der allgemeinen Zorneswallung hingeben würde. Vielmehr stand zu befürchten, dass er sich dem mehrheitlich akklamierten Reinigungswerk entgegenstellen könnte.

Nun war aber der Schaanschläger da. Und er war da, weil die Schaanschlägerin ihre Ziegen von der wasserseitigen Gartenweide geholt hatte und zwar just zu der Zeit, als die singende Prozession am Gatter vorbeigezogen war. Sogleich war sie zum Hause und dann in den angrenzenden Stall gelaufen, wo der Gatte dabei war, die Kuh zu melken und hatte ihm von dem merkwürdigen Schauspiel berichtet. Nach Beendigung seiner Arbeit hatte sich der Schaanschläger – drohendes Unheil ahnend – eilends aufgemacht und war mit raschen Schritten der Prozession nachgeeilt.

Nun, da er hier war, drohte er mit lauter Stimme jedem, der sich an Leib oder Gut der Senfpichlerischen vergreifen würde, mit strenger Verfolgung und Strafe. Vorerst ernteten seine Worte Hohngelächter. Der Sandner wandte sich mit zorngerötetem Antlitz an den dorfrichterlichen Kollegen und fuhr ihn an, er solle sich gefälligst hüten, den gottgefälligen Vorgang des Ausbrennens einer heidnischen Pestbeule zu behindern.

»Abergläubische Tölpel!«, schrie der Schaanschläger zurück. »Ihr tut so, als hätten nur wir Leewarner an einem bastardischen Erbe des Türkenkrieges zu tragen. In fast jedem Ort des Tollenerfeldes gibt es Kindlein als Resultate der schändlichen Vergewaltigungen unserer Frauen durch die Tataren! Doch anderswo lässt man nicht die Würmlein für die Sünden der Väter büßen.«

»Vergewaltigung?!«, greinte die Kranzmeierin. »Dieser türkische Hauptmann hat dem Mensch keineswegs Gewalt antun müssen! In wollüstiger Gier hat sie freiwillig die Beine dem Heidenhund gespreizt!«

Sogleich erhob sich ein Geschrei der Zustimmung. Und der Schulmeister setzte mit gelehrtem Unterton hinzu, die notorische Freiwilligkeit, mit der sich die Mutter des Bankerts dem Fortpflanzungsakt unterzogen habe, sei ein untrüglicher Hinweis auf ihr Teufelsbündnis und darüber hinaus Beleg genug, dass dieses Kind nicht bloß das traurige Ergebnis einer schändlichen Feindeshandlung, sondern vielmehr eines dämonischen Planes zur Unterminierung des Christentums sei. Und dieser Plan, setzte er mit leidenschaftlichem Fisteln hinzu, habe durch die sakramentale Aufnahme des Balgs in die Leewarner Christenschar erste, giftige Früchte getragen. Ein drohendes Murren ging durch die Umstehenden und die Hintermeierin zog den Rotz geräuschvoll in der Nase hoch, räusperte sich lautstark und spuckte mit abfälligem Gesichtsausdruck neben dem Pfarrer aus. Jetzt bekam auch Mehringer Angst. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er den kalten Schweiß ab, der sich in wenigen Augenblicken in dicken Tropfen auf seiner Stirn gebildet hatte. Er suchte nach Worten der Verteidigung, doch seine Stimme versagte und so entrang sich nur ein heiseres Krächzen seiner Kehle.

Der Schaanschläger aber behielt die Nerven. Als sich der Ehringer, der Hintermeier und auch der Sandner nun sogleich daran machten, Lunten zu entfachen, kündigte er in kaltem Ton an, er werde nach Fürstenstetten hinübergehen und beim Rentamt bewaffneten Beistand zur Niederschlagung des Aufruhrs erbitten. Die drohende Aussicht, in Kürze mit bewaffneten Rentamtknechten konfrontiert zu werden und vielleicht schlussendlich vor dem Landrichter stehen zu müssen, kühlte die Gemüter schlagartig ab. Zwar beschimpfte man den Schaanschläger als starrköpfigen Söldling der Teufelsbündler, doch man wagte es nicht, sich an ihm zu vergreifen.

Schließlich zog der Haufen murrend ab.

Als die Lichter der Fackeln zwischen den Aubäumen verschwunden waren, verließ Lorenz seine Hütte, die schweißnasse Linke noch immer um die Heugabel gekrallt, die er den Aufgebrachten als »Gewehr« präsentiert hatte.

Er ging auf den Schaanschläger zu und reichte ihm in stummer Dankbarkeit die Hand. Der drückte sie, murmelte etwas von Christenpflicht und wandte sich dann heimwärts.

Als Lorenz ins Halbdunkel der Keusche zurückkam, saß Maria noch immer angstbebend auf der Bettstatt und hielt den kleinen Jakob eng an die Brust gedrückt. Ihre angsterfüllten Augen starrten Lorenz fragend an.

»Sie sind weg«, murmelte der mit einem kleinen Lächeln. Dann schloss er die Tür und schob den schweren Eisenriegel vor.

Mehringer hatte sich von dem Zug getrennt und ging einen weiten Umweg über die Felder zu seinem Pfarrhof, wo er sogleich den Weinkrug füllte, allerdings ohne eine neuerliche Vision zu erflehen.

Die anderen versammelten sich im Schiffmühlenwirtshaus. Dort verkündete der Schulmeister bei einem Krug Bier den verhinderten Mordbrennern, dass die gerechte Sache dereinst doch siegreich sein werde. Man solle getrost die Sensen und Heugabeln beiseite legen und auf die Waffe des Gebetes vertrauen. Denn der Herr sei auch in seinem Zorne gerecht und wisse nun, dass nicht der ganze Ort an den Verfehlungen der Senfpichlerin teilhabe. Und wenn man Geduld aufbringe und Gottvertrauen, dann werde man bald mitansehen können, wie Er die Sünder schlagen werde.

Im eiskalten Februar des Jahres 1686 starb die Senfpichlerin bei der Niederkunft einer Tochter. Das Kindlein selbst war schon tot, als es zur Welt kam.

An der Begräbniszeremonie, die der Pfarrer Mehringer rasch und ohne die übliche Totenpredigt hinter sich zu bringen suchte, nahmen neben Lorenz und dem kleinen Jakob nur der Schaanschläger, sein Weib und die vier Töchter teil.

Im Schiffmühlenwirtshaus zu Unterfluren war man mit Gott zufrieden. Dorfrichter Sandner prostete dem Schulmeister zu und gratulierte ihm zu seinem Weitblick und seinem theologischen Verständnis.

»Über kurz oder lang straft der Allmächtige die Sünder!«, meinte der Schulmeister selbstgefällig.

»Der Bankert lebt aber noch!«, ließ sich der Ehringer vernehmen. Und seinem Tonfall war anzumerken, dass er den göttlichen Racheakt gerne ausgedehnter gesehen hätte.

»Aber nicht mehr lange!«

Mit diesen Worten stellte die Wittib Kranzmeier zwei Bierkrüge und ebenso viele Schoppen auf den Tisch, an dem der Schulmeister, der Schmied Ehringer und der Dorfrichter Sandner Platz genommen hatten und setzte sich zu ihnen.

»Der Mustafa ist keine zwei Jahre alt. Und der Senfpichler wird ihm die Mutter nicht ersetzen können.«

»Wer weiß? Vielleicht heiratet der Tölpel wiederum!« Der Schmied blieb skeptisch.

»Kein ehrbares Weib wird diesen ungehobelten Klotz zum Mann nehmen!«, ereiferte sich die Wittib, nahm einen kräftigen Schluck Weines und rülpste lautstark zur Bekräftigung.

»Ehrbar? Der Senfpichler hat hinlänglich bewiesen, dass er nicht auf Ehrbarkeit schaut!«, fistelte der Schulmeister und der Unterflurener Dorfrichter schüttete sich aus vor Lachen.

»Er musste ihr nicht einmal Gewalt antun, dieser türkische Hauptmann!«, fuhr der Schulmeister fort. »Das sagen zumindest anständige Leute, die es wissen müssen!«

Der Sandner hörte abrupt zu lachen auf und spuckte auf den Holzboden.

»Und dieser Esel hat sie geheiratet, um ihr die Schande zu ersparen. Warum hat der Dorfdepp das getan?«

»Sie war ein schönes Mädchen«, erwiderte der Schulmeister verträumt. »Kein Wunder, dass sich diese primitive Kreatur von ihren Reizen blenden ließ!«

»Sei’s drum. Schönheit vergeht – jetzt fressen sie die Würmer.« Die Stimme der Kranzmeierin verriet tiefe Genugtuung. »Und je mehr sie abgenagt wird, desto mehr wird selbst ein Tölpel wie der Senfpichler zur Besinnung kommen. Der Türkenbankert wird ihm lästig werden.«

»Ihr meint, er wird ihn zu Tode bringen?«

In den Worten des Schulmeisters paarte sich tiefe moralische Erschütterung mit klammheimlicher Hoffnung.

»Er wird ihn nicht meucheln, wenn Ihr das meint«, erklärte die Kranzmeierin nunmehr mit gedämpfter Stimme. »Aber er wird ihm nicht jene Pflege angedeihen lassen, die ein so kleines Würmchen braucht, um überleben zu können. Er wird es nicht tun, wenn noch ein Rest von Verstand in seinem tumben Schädel wohnt!«

»Verlasst Euch nicht auf den Verstand des Dorftrottels«, meinte der Schmied und schlürfte bedächtig an seinem Bier.

»Und bedenkt«, setzte der Schulmeister skeptisch hinzu, »eine beelzebübische Brut steht mit dunklen Mächten in Verbindung. Wer weiß, ob sie so sehr der Fürsorge bedarf wie ein Christenkind!«

In den folgenden Jahren musste die Wittib Kranzmeier wiederholt zugeben, dass Schmied und Schulmeister Recht behalten hatten.

Der Senfpichler war tatsächlich dümmer, als sie angenommen hatte. Er liebte Jakob wie seinen eigenen Sohn – ja, mehr noch: Beim Mittagessen und beim Abendmahl steckte er dem Kleinen die besten Bissen zu, ganz gegen den bäuerlichen Usus, demnach dem Hausvater und Ernährer vor dem Weib und den Kindern die kräftigsten Fleischstücke, die schmackhaftesten Fischteile und das frischeste Gemüse zustanden. Und in Zeiten der Not, wenn es weder Fisch noch Fleisch gab und die Ernte schlecht gewesen war, dann fastete der Senfpichler lieber selbst, anstatt das Kind auch nur einen Tag hungern zu lassen.

Doch die schier satanische Widerstandskraft des Jakob Mustafa erwies sich spätestens in jenem Herbst des Jahres 1688, als die Pockenseuche das Tollenerfeld heimsuchte und alleine in Leewarn zwölf Menschen dahinraffte, davon acht Kinder, unter ihnen auch zwei der Töchter des Schaanschlägers.

Alle, die angesteckt wurden, starben. Alle – bis auf den Senfpichler Balg. Zwar lag er, über und über mit Pusteln besät, zwei Wochen danieder, doch schließlich kam die Genesung.

Man hätte es für ein himmlisches Wunder halten können, vor allem deshalb, weil dem Kind nicht einmal eine Narbe von den Pocken zurückblieb. Man hätte es für ein himmlisches Wunder halten können, wenn man nicht gewusst hätte, dass es nur Teufelswerk sein konnte.

So wuchs also der kleine Jakob zu einem kräftigen Jungen heran. Er half seinem Vater, wo er konnte. Er bestellte mit ihm das kleine Dinkelfeld, sammelte Kastanien für die Schweine, die sie in einem Koben neben der Keusche hielten, half ihm beim Bereiten des Essens und begleitete ihn zu den Robotleistungen. Meist waren in Fürstenstetten oder Bärnpassing Felder zu beackern, die Ernte einzubringen oder Wein zu lesen.

Das waren auch die wenigen Gelegenheiten, bei denen die anderen Leewarner – zumindest jene des Dorfes, die auch nach Passau und somit dem Rentamt Fürstenstetten zuständig waren – der Senfpichlerischen ansichtig wurden. Denn seit dem Tod seiner Frau führte Lorenz gemeinsam mit Jakob immer mehr ein Einsiedlerleben. Er war ein friedfertiger Mann, der nie Streit suchte, diesen aber zu finden fürchtete, wenn er sich allzu oft bei den Leewarnern – sei’s in Ober- oder Unterfluren – blicken ließe. Seit jener Schreckensnacht, in der der aufgewühlte Haufen versucht hatte, sein Haus anzuzünden und offensichtlich noch Schlimmeres im Schilde geführt hatte, war Lorenz vorsichtig geworden. Er mied auch den Kirchenbesuch. Lediglich einmal im Jahr, am Sterbetag seiner Frau, besuchte er mit seinem Sohn die Frühmesse. Dabei wurden sie feindselig angestarrt von den alten Weibern, die den Satz »Und erlöse uns von dem Bösen« offensichtlich mit besonderer Inbrunst sprachen, wenn sie die Senfpichlerischen unter sich wussten.

Freilich, als Jakob das siebente Lebensjahr vollendet hatte, versuchte Lorenz, in aller Bescheidenheit und Friedfertigkeit die teils aufgezwungene, teils selbst gewählte Isolation aufzugeben.

Er hatte Maria, die des Lesens und Schreibens ein wenig kundig gewesen war, am Totenbett versprechen müssen, auch den Jakob einer gewissen Bildung teilhaftig werden zu lassen.

Dieses Gelöbnisses eingedenk machte sich also der Senfpichler mit seinem Sohn an einem recht warmen Altweibersommertag des Jahres 1691 auf den Weg nach Unterfluren, wo neben dem Pfarrhaus das kleine Schulgebäude stand.

Jakob war schrecklich aufgeregt. Den ganzen langen Weg lief er in übermütigem Zick-Zack vor Lorenz her, offensichtlich ahnend, dass etwas Neues, Aufregendes seiner harrte.

Der Tag war wunderschön. Der frühe Herbst hatte bereits angefangen, die Blätter der Aubäume einzufärben, doch die Sonne hatte noch Kraft genug, das sommerlich aufgewärmte Land gegen die Kühlung der ersten Stürme abzuschotten.

In den Gärten der Oberflurener beugten sich die Bäume unter der Last der Äpfel und Birnen. Etliche Frauen und Kinder waren eben dabei, die Obsternte einzubringen. Vor dem Schulgebäude standen nur wenige Schüler, es mochten zehn oder zwölf sein. Dies lag nur zum Teil daran, dass die meisten Leewarner zu arm waren, das Schulgeld aufzubringen. Immerhin war ja der Ortspfarrer ermächtigt, für einige Auserwählte der nach Passau zuständigen Familien aus der Kasse des Bistums den notwendigen Obolus zu entrichten, doch nützten die Wenigsten diese Möglichkeit. Lesen und Schreiben waren für die meisten Leewarner vernachlässigbare Fertigkeiten. Außerdem benötigte man die Kinder als Arbeitskräfte im Haus, auf dem Feld und als Hilfen bei den Robotleistungen.

Der Schulmeister trat aus dem Gebäude, um die Kinder zu begrüßen. Ihm zur Seite stand der neue Pfarrer. Der hieß Alois Bergauer, war ein noch relativ junger Mann von kaum dreißig Jahren und hatte wenige Monate zuvor seinen Vorgänger abgelöst.

Mehringer hatte in unzähligen Schreiben an Seine Eminenz, den hochwürdigsten Herrn Bischof, um eine neue Pfarre gebeten und sein Flehen war schließlich erhört worden. Kaum hatte ihm ein bischöflicher Reiterbote die Epistel mit dem freudigen Bescheid gebracht, hatte der Pfarrer auch schon seine Siebensachen gepackt und war am Morgen des nächsten Tages mit seinem Ochsenkarren von dannen gefahren.

Die Leewarner weinten ihm keine Träne nach. Der meist stumme, in seltenen Fällen auch laut werdende Vorwurf, der Mehringer habe nach einer Rauschnacht das Kuckucksei in das christliche Nest gelegt, stand wie eine Mauer zwischen dem Hirten und seiner Herde. Daran hatte auch Mehringers Beteiligung an dem letztlich fehl geschlagenen Kreuzzug gegen die Heidengebärerin und ihre Brut nichts ändern können.

Als nun der Schulmeister der Senfpichlerischen ansichtig wurde, überzog sein freundlich lächelndes Gesicht eine dunkle Zornesröte. Er fasste Pfarrer Bergauer, den neuen Seelsorger, am Ärmel, zog ihn beiseite und fuhr ihn an: »Um Christi Willen, welcher Teufel reitet Euch? Wollt Ihr denselben heidnischen Wahnsinn begehen wie Euer Vorgänger?«

Im Gegensatz zu Mehringer war Bergauer ein entschiedener Gegner des Weingenusses außerhalb der Eucharistiefeier und als solcher dem gesinnungsverwandten Schulmeister, dem er noch dazu die höhere Lebenserfahrung und die bei weitem höhere Bibelfestigkeit zubilligte, treu ergeben.

Als ihn der nun so unverhohlen anschnauzte, wich jede Farbe aus dem sonst so rosigen, runden Gesicht des wohlbeleibten Priesters.

»Wie meint Ihr das? Ich habe nichts getan, was Eure Empörung rechtfertigen könnte, so wahr mir Gott helfe!«

»Ihr habt dem Senfpichler also kein kirchliches Schulgeld für seinen Mustafa in Aussicht gestellt?«

Das Gesicht des Schulmeisters entspannte sich.

»Um Gottes Willen! Nein! Natürlich nicht!«, beeilte sich der Pfarrer gefällig und wahrheitsgetreu zu versichern.

Der Schulmeister lächelte und klopfte dem anderen gönnerhaft auf die Schulter.

»Entschuldigt, dass ich an Eurer christlichen Gesinnung einen Moment lang gezweifelt habe. Kommt!«, erwiderte er und versuchte seiner Fistelstimme einen sonoren Klang zu geben.

Nun ging er mit entschlossenen Schritten – der Pfarrer folgte ihm in gebührendem Abstand – auf Lorenz zu. In der Zwischenzeit hatten die Kinder gekichert und getuschelt, wobei sie immer wieder verstohlene Blicke in Richtung Jakob geworfen hatten. Der lächelte freundlich in die Runde und bemerkte in seiner kindlichen Naivität nichts von der Ablehnung und spöttischen Verachtung, die ihm die anderen entgegenbrachten. Lediglich die Schaanschläger Walli, die Tochter des inzwischen längst wieder abgewählten Oberflurener Dorfrichters, beteiligte sich nicht an dem Getuschel und schenkte dem kleinen Jakob sogar ein verstohlenes, schüchternes Lächeln.

»Gott zum Gruße«, wandte sich der Schulmeister an Lorenz, »was führt dich zu mir? Meine Schule und mein Haus sind in bestem Zustande! Wenn es etwas zu reparieren geben sollte, würde ich nach dir schicken!«

Die Kinder verstummten und beobachteten die Szene, die versprach, eine interessante Abwechslung in ihren kläglichen Alltag zu bringen.

»Nein, Herr Schulmeister«, kam es undeutlich zischelnd und leise aus Lorenz’ deformiertem Mund. »Der Jakob! Er soll in d’ Schul gehen!«

»Der Jakob soll in d’ Schul gehen!«, wiederholte der Schulmeister höhnisch.