Jakobs Mantel - Eva Weaver - E-Book
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Jakobs Mantel E-Book

Eva Weaver

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Beschreibung

Warschau 1939. Mika liebt seinen Großvater Jakob sehr. Gemeinsam lebt die Familie im Ghetto. Als Jakob stirbt, erbt Mika dessen geheimnisvollen Mantel und entdeckt darin eine Puppe. Jakob hatte sie gebastelt, ebenso wie das Krokodil, den König, den Narren. Mitten in einem Alltag bestimmt von Angst, Hunger und Tod, erfindet Mika neue Puppen. Der Prinz wird sein Liebling, und bald ist Mika im ganzen Ghetto für seine Puppenspiele bekannt. Trotz aller Gefahren spielt Mika immer wieder – bis ihn der deutsche Soldat Max erwischt. Der Prinz rettet ihn, doch dafür muss Mika von da an für die Deutschen spielen.

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Eva Weaver

Jakobs Mantel

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Knaur e-books

Über dieses Buch

Warschau 1939

Inhaltsübersicht

VorbemerkungWidmungPrologTeil einsKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnTeil zweiKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigTeil dreiKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigEpilogAnhangAus Mikas»Buch der Helden«Adina Blady-Szwajger, KrankenschwesterSylvin Rubinstein, ein russischer TravestiekünstlerJanusz Korczak, polnisch-jüdischer Kinderbuchautor, Kinderarzt und PädagogeHanuš Hachenburg, dreizehnjähriger Dichter in TheresienstadtIrena Sendler, Retterin von Kindern in riesigem UmfangHakina Olomoucka, Malerin des HolocaustNivelli, der große ZaubererSophie Scholl, Aktivistin der Weißen RoseDie Mitwirkenden beim Rosenstraßen-ProtestDie EdelweißpiratenDanksagung
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»Diese bewegende, vor dem Hintergrund des Warschauer Ghettos und seiner Nachwirkungen erzählte Geschichte ist ein beeindruckender Beweis der erlösenden Kraft von Kunst in einer brutalen, gewalttätigen Welt.«

 

Antony Polonsky, Professor für Holocaust-Studien und Herausgeber vonA Cup of Tears –a Diary of the Warsaw Ghetto

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Für die Opfer des Krieges,

damals wie heute.

Möge dieses Buch zum Dialog, zur Heilung

und zum Frieden beitragen.

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Prolog

Ohne den Mantel wäre nichts so gekommen, wie es kam. Erst war er nur ein Zeuge, ein einfacher schwarzer Wollmantel mit sechs untereinandergesetzten Knöpfen, aber dann wurde ein Taschen-Mantel aus ihm und damit ein Komplize.

Jetzt liegt er ausgeweidet da wie ein Keiler, dem man die Innereien herausgeholt hat, geleert bis auf den letzten Gegenstand. Abgewetzt und aus der Mode, getränkt mit Erinnerungen und Tränen. Alles, was er einst beherbergt hat, Dinge wie Menschen, ist verschwunden: Mika und seine Puppen, die alte Goldrandbrille, die Flöte des Bettlers, die verblichenen Briefe, die Fotografien und natürlich die Kinder. Nur noch das letzte Buch ist da, das Mika in eine der Taschen gesteckt hat, einem tiefen Geheimnis gleich. Gebunden in dunkelrotes Leder, nicht größer als ein Notizbuch und gefüllt mit Fotografien, Zeitungsausschnitten und Notizen: Mikas »Buch der Helden« liegt in den Nähten des Mantels versteckt wie ein versunkener Schatz.

Als Mika den Mantel zusammenrollte und in einen Karton stopfte, war er noch ein junger Mann gewesen. Seine letzte Nacht als Junggeselle war für den Mantel ein grausamer Sturz in die Finsternis. Es war, als fiele er in einen tiefen Schacht, in den nie auch nur ein Sonnenstrahl drang, und langsam vergaßen ihn alle, die ihn einmal geschätzt hatten: Nathan, der Schneider, Großvater Jakob, Mika, Elli, die Mütter, die Zwillinge, die Puppen und die Waisen …

Dann kam Mika zurück. Ohne Vorwarnung, einem Blitz in der Schwärze der Nacht gleich, hellte er die Finsternis auf. So grau wie einst sein Großvater stand er da, gereift und gealtert, und neben ihm mit schokoladenbraunen Augen ein Junge von der Größe und Statur Mikas zu der Zeit, als er den Mantel bekommen hatte.

Zugeschnitten und zusammengenäht von den erfahrenen Händen des alten Schneiders Nathan, mit einer Reihe eleganter schwarzer Knöpfe versehen, war der Mantel kein gewöhnliches Kleidungsstück. Und als die Deutschen Warschau einnahmen und Großvater Jakob ihn zwei Jahre danach zu einem Taschen-Mantel machte, da fand er seine Aufgabe.

Aber vor den Taschen kam die Armbinde: aus weißer Baumwolle und mit einem blauen aufgenähten Davidstern. Oben am rechten Ärmel wurde sie befestigt. Sieh genau hin, da ist immer noch ein Rest von dem dunkelblauen Garn, mit dem die Binde festgemacht war, ein unschuldiges Stück Faden aus Mutters Nähkorb.

Über die Jahre hat sich vieles in den Taschen vermischt und ineinander verfangen, aber das Mädchen veränderte alles. Für sie wurde der Mantel zu einer Zuflucht, zu Jonas Wal, der sie ganz verschluckte, so dass sie sicher auf die andere Seite gebracht werden konnte.

Sie war das erste hinausgeschmuggelte Kind, und sie roch nach Schlaf, selbstvergessenem Schlummer und billiger Seife. Die Oberin musste sie von Kopf bis Fuß abgeschrubbt haben. So würde sie wenigstens gut riechen, falls sie entdeckt wurde, und vielleicht würde der frische Seifengeruch sie auch schützen, indem er in einem der Soldaten Zweifel weckte bei der sorgfältig gehegten Erinnerung an das eigene Kind, frisch gewaschen und bereit, zu Bett zu gehen …

In jener Nacht bot der Mantel der Kleinen Schutz, umfing sie und wickelte sich so fest wie nur möglich um sie. Wie grobe Wolle rieben ihre Locken über den seidigen Futterstoff, und dann war sie weg, im Handumdrehen weitergereicht, nur ihr Geruch schwebte noch eine Weile in der Luft, einem nachklingenden Gedanken gleich …

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Teil eins

Mikas Geschichte

Kapitel eins

New York City, 12. Januar 2009

Nach dem Blizzard lag die Welt unter einer pudrigen, federleichten weißen Decke. Der erste Schnee verzauberte New York, still und völlig verändert glitzerte die Stadt unter einem strahlend blauen Himmel. Trotz oder wohl eher wegen der weißen Pracht bestand Mika darauf, die paar Straßen von der U-Bahn zum Museum zu Fuß zu gehen. Schnee nimmt allem die Härte. Plötzlich ist die Welt eine andere.

Obwohl er nicht geschlafen hatte und der Schmerz in seinem linken Knie nicht nachlassen wollte, summte der alte Mann eine Melodie: Das Weiß war wie ein Versprechen, und ein Sonntag mit seinem Enkel bot eine willkommene Abwechslung vom einsamen Tageseinerlei.

Daniel war schon früh gekommen, damit sie den kurzen Wintertag gebührlich nutzen konnten, und nach einem ausgiebigen Frühstück schlug Mika vor, sich unter die Dinosaurier des Naturkundemuseums zu mischen. Mit dicken Schals und Mützen gegen den eisigen Wind verließen sie die U-Bahn an der 72. Straße und gingen Richtung Central Park.

Daniel war groß für seine dreizehn Jahre, schlaksig und gelenkig, mit noch kindlichen Zügen, die Neugier und eine Prise Verschmitztheit verrieten. Mika mochte das laute, offene Lachen und die wilden schwarzen Locken seines Enkels. Sie waren wie die von Hannah. Wie die von Ruth. Immer wieder vollführten die beiden einen verrückten kleinen Tanz und traten in den schwerelosen Schnee, um glitzernde Puderzuckerwolken aufsteigen zu lassen. Mika schwang seinen Stock, und sie lachten ausgelassen.

Es war auf der 72. Straße, Richtung Columbus. Sie kamen an einem kleinen Theater vorbei, das von außen nicht mehr als eine große, schäbige rote Tür mit einem einfachen Schriftzug darüber war. Aus den Augenwinkeln sah Mika ein farbiges Plakat, auf dem in großen Lettern stand: »Der Puppenspieler von Warschau – seine bewegte Geschichte, von Puppen erzählt«.

Mika wurde langsamer, blieb aber nicht stehen. Trotz der Kälte sammelte sich Schweiß auf seiner Stirn und zwischen seinen Schulterblättern.

Die Schrift zog sich über das Bild eines alten schwarzen Mantels, der ausgestreckt dalag und aussah, als ob er im nächsten Augenblick tanzen oder davonfliegen wollte. Am rechten Ärmel war eine Binde mit dem Davidstern befestigt. Einem blauen Stern, einem polnischen, keinem gelben, wie sie ihn anderswo tragen mussten. Und dann die Puppen, aufgeregt reckten sie ihre leuchtend bunten Köpfe aus den zahllosen Taschen des Mantels: ein Krokodil, ein Narr, eine Prinzessin, ein Affe.

Mikas Herz klopfte heftig und schnell wie eine verrückte Trommel.

Er griff in seinen Mantel, erst in die linke, dann in die rechte Tasche, tastete und suchte nach etwas, fand aber nur ein altes, verkrumpeltes Taschentuch, einen Bleistiftstummel und ein zweites Paar Handschuhe. Ihm wurde schwindelig, Übelkeit erfasste ihn und mit ihr ein Gefühl von Hilflosigkeit und Zorn, das ihn zu verschlingen drohte. Seine Brust wurde eng, er schnappte nach Luft und fasste Daniels Arm. Seine Stimme klang dünn und angespannt.

»Danny, bitte, lass uns nach Hause gehen. Ich muss dir etwas zeigen.«

»Was ist? Ist dir nicht gut?«

»Doch, doch. Ich muss nur zurück. Es tut mir leid, Daniel.« Mika klammerte sich an seinen Stock, er schwankte. Bilder überfluteten ihn: Ein kleiner Junge stolperte über ein endloses Feld schwelender Trümmer, in Rauch und Asche gehüllt, einen riesigen, krähengleichen schwarzen Schatten über sich. Es war ein Mantel, von schreienden Puppen bewohnt, der ihn jagte und fangen wollte, ein für alle Mal.

Mika lehnte sich gegen die Hauswand, das Bild verblasste, doch seine Knie gaben nach und er spürte, wie er zu Boden glitt, langsam, aber unweigerlich. Es klingelte dumpf in seinen Ohren, dann war da nur noch Schwärze.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als er Dannys Hand spürte, die seine Wange tätschelte.

»Wach auf, Grandpa!«

Von der anderen Seite der Straße ruft eine Gestalt. Er kann nicht verstehen, was der Mann will. Der Bursche sollte nicht auf dem Bürgersteig laufen, wenn er ein Jude ist wie ich. Weiß er denn nicht, dass es verboten ist, den Bürgersteig zu benutzen? Oder ist er ein Deutscher?

Der Fremde überquerte die Straße.

»Hier, Grandpa, nimm einen Schluck.« Danny drückte einen silbernen Flachmann gegen Mikas Mund. Das Metall klebte an den Lippen.

»Geht es?« Der Mann von der anderen Seite der Straße beugte sich über ihn, freundlich, besorgt, die Stirn voller Furchen. Er trug keine Uniform, sondern eine Wollmütze und einen Schal.

Vertrau nie dem Lächeln eines Fremden! Du musst aufstehen, du kannst hier nicht sterben.

Daniel hielt die Flasche erneut an Mikas Lippen. Mika nahm einen Schluck und hustete.

»Wollt ihr mich umbringen? Was ist das?«

Der Mann lachte.

»Stroh-Rum aus Österreich, der hat sechzig Prozent. Ideal für Notfälle. Erweckt sogar Tote zum Leben. Fühlen Sie sich besser?«

»Danke, ja.« Mika schüttelte sich wie ein nasser Hund.

»Kannst du aufstehen?« Danny stand direkt neben ihm. »Ich kann einen Krankenwagen rufen.«

»Nein, es geht schon wieder. Wirklich. Helft mir nur auf.« Daniel und der Mann fassten jeder einen Arm und zogen Mika hoch. Seine Beine fühlten sich fremd an und schienen so weit weg, als sähe er verkehrt herum durch ein Fernglas. Er stampfte ein paarmal mit den Füßen auf den eisigen Boden.

»Das ist schon besser, danke. Ich muss nach Hause.« Sein Kopf brummte fürchterlich.

»Bist du sicher, dass du gehen kannst, Grandpa? Sollen wir nicht lieber ein Taxi nehmen?«

Mika lächelte. Seit sie aus der U-Bahn gekommen waren, hatten sie nicht ein einziges Auto gesehen. Das gehörte zur Magie des ersten Schnees.

»Nein, wir gehen zur U-Bahn. Und vielen Dank für den Rum, Sir, der wird mich bis nach Hause bringen.« Danny gab ihm seinen Stock. Sie sagten nichts, aber Daniel ergriff Mikas Arm und stützte ihn auf dem Weg durch die verschneite Stadt. Mika ließ es zu, mehr noch, er war ihm dankbar dafür.

Sie nahmen die U-Bahn, und nach einem weiteren kurzen Fußmarsch erreichten sie Mikas Apartmenthaus. Der Aufzug brachte sie in den fünften Stock. Mika schloss die Tür auf, zog den Mantel aus und schien wieder bei Kräften.

»Danny, gehe bitte ins Schlafzimmer und hole das große braune Paket aus dem Schrank. Es steckt hinter den Mänteln und Anzügen.«

Das Paket stand schon seit vielen Jahren dort. Am Tag, bevor er seiner Frau das Jawort gab, hatte Mika es hier verstaut. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt gewesen. Seitdem hatte er es nur einmal geöffnet, im letzten Oktober, um noch etwas Letztes hineinzulegen.

Daniel lief zum Schrank und holte das in braunes Packpapier gewickelte Paket heraus. Einen Moment schwankte er unter dem Gewicht.

»Hast du da Steine drin?«

»Nein, bring es her!« Mikas Hände zitterten, als Daniel das Paket vorsichtig vor ihm abstellte. Seine Finger glitten über das knittrige braune Papier und betasteten liebevoll alle Seiten. Dann schnitt er die Kordel mit einem scharfen Küchenmesser durch. Er riss das Papier auf, das er nicht mehr brauchte, weil er das Paket nie mehr verschnüren würde. Dann öffnete er langsam den Deckel. Der Geruch war überwältigend, scharf und durchdringend.

»Was ist da drin, Grandpa?«

»Ich will dir erzählen, wie es im Ghetto war, Danny. Bevor ich sterbe. Ich will dir die Wahrheit erzählen – dir und meinem Herzen. Deiner Mutter und vielleicht der ganzen Welt.« Er holte einen riesigen Mantel aus dem Karton. Schwarz und schwer. Mika musste an den großen schwarzen Hund denken, den er in der letzten Woche tot am Eingang zum Madison Park hatte liegen sehen, wie vom Blitz getroffen. Aber in seinem alten Mantel steckte noch Leben.

Er faltete ihn auseinander und schob die Arme in die dunklen Ärmel, als wären es zwei Tunnels. Das schwarze Ding sah zu groß aus und schien ihm doch zu passen wie eine zweite Haut. Und als wäre es der Mantel eines Zauberers, fiel es Mika leicht, in seiner Geborgenheit Geister und Erinnerungen aus der Vergangenheit heraufzubeschwören. Er nahm Daniels Hand und holte tief Luft.

»Hast du das Plakat an dem kleinen Theater gesehen, an dem wir vorbeigekommen sind? Vom ›Puppenspieler von Warschau‹?« Daniel schüttelte den Kopf und sah seinen Großvater mit aufgeregt schimmernden Augen an.

»Nun, im Ghetto haben sie mich den Puppenspieler genannt, aber sie hätten mich auch den Taschenspieler nennen können.«

»Bist du deswegen so erschrocken?«, fragte Daniel.

Mika nickte. »Die Soldaten haben die geheime Welt meines Mantels nie entdeckt, Danny, all die Taschen in den Taschen. Dieser Mantel besitzt seine ganz eigene Magie. Aber lass uns von vorn beginnen. Lass mich dir erzählen, wie es wirklich war.«

Kapitel zwei

Warschau 1938

Ich war zwölf, als der Mantel geschneidert wurde, im letzten Jahr der Freiheit, das Warschau und uns noch blieb. Nathan, unser Schneider und guter Freund, hatte ihn in der ersten Märzwoche 1938 fertiggestellt.

Nathan wohnte in seiner kleinen Werkstatt am Ende der ulica Piwna, der Piwna-Straße, in der Altstadt, nicht weit von unserer Wohnung. Weil er für sein großes Können bekannt war, kamen die Leute aus allen Teilen der Stadt zu ihm. Er wurde Nadel und Faden nie leid und arbeitete wie eine fleißige Spinne, als kämen ihm die Fäden direkt aus den Händen. Tatsächlich lagen sie ordentlich in einem Regal, er besaß eine riesige Auswahl an Farben und Schattierungen: Hemden, Hosen, Mäntel und Jacken wurden von ihnen zusammengehalten, und wie sich herausstellte, vermochte Nathan mit ihnen nicht nur Säume und Größen zu ändern, sondern auch Menschenleben.

Ich erinnere mich an viele Besuche in Nathans Werkstatt, vor der Okkupation, zusammen mit Großvater. Das Licht war gedämpft, und es roch immer leicht muffig nach Stoff, der nicht gut gelüftet wurde. Es gab Baumwollgewebe aller Qualitäten und Farben, Wollstoffe und sogar Kaschmir. Im Fenster standen ein paar traurige, verstaubte Gummibäume, die überlebten, obwohl sie nie jemand zu gießen schien. Wenn wir eintraten, klingelte ein kleines Glöckchen über der Tür. Besonders lebhaft aber erinnere ich mich an Nathans strahlend grüne Augen, die mich in der Eintönigkeit der Werkstatt immer neu überraschten. Wie Smaragde leuchteten sie in seinem faltigen Gesicht. Seine knochigen Finger und unruhigen Hände bewegten sich ständig und kamen nicht eine Sekunde zur Ruhe. Nähte er auch in seinen Träumen?

Das war der Ort, an dem alles begann, diese kleine, staubige Schneiderwerkstatt. Nathan nahm Maß, und mein Großvater fuhr mit den Händen über die zahllosen Stoffe, die einer festlichen Tafel gleich vor ihn hingebreitet lagen. Behutsam ließ er seine Fingerspitzen den richtigen Stoff aussuchen. Er war im Monat zuvor zum Professor ernannt worden, und der maßgeschneiderte Mantel war seine Art, das zu feiern.

Großvater nannte mich Mika, was die Kurzform von Mikhael ist. Mikhael bedeutet »Geschenk Gottes«. Machte mich die Verkleinerung meines Namens zu einem kleineren Geschenk? Ich war dünn und nicht gerade groß für meine zwölf Jahre, aber schnell auf den Beinen und ein wissbegieriger Schüler. Überall in meinem Zimmer lagen Bücher, selbst unter dem Kopfkissen. Großvater liebte ich mehr als sonst jemanden auf der Welt. Nach dem Tod meines Vaters war er mein bester Kamerad geworden. Ich nannte ihn Tatuś, also Papa, und manchmal auch Opa. Wir waren eine seltsame Familie: Ich hatte keine Geschwister, mit denen ich streiten oder Streiche aushecken konnte, nur meine Mama und den alten Mann. Wir waren ein Dreigestirn aus drei Generationen.

Als wir eine Woche später wieder zu Nathan kamen, konnte Großvater es kaum erwarten, den neuen Mantel anzuprobieren. Es schien mehr als nur ein neuer Mantel zu sein, es war, als zöge er in ein neues, größeres, aufregendes Haus.

»Was sagst du, Mika?« Sein Gesicht verzog sich zu einem wunderbaren Lächeln, während er sich vor dem großen Spiegel drehte. Er erwartete keine Antwort.

»Gut gemacht, Nathan, mein Bruder. Was für eine Kunst! Was ist die Algebra schon, verglichen mit solch einem Geschick?«

Er klopfte dem Schneider auf die Schulter, bezahlte, und wir gingen nach Hause. Wir nahmen den längeren Weg. Großvater schritt stolz über die gepflasterten Straßen, die Hände tief in den Taschen des Mantels vergraben.

1938 konnten wir uns noch frei in der Stadt bewegen, einem blühenden Zentrum jüdischer Kultur. Es war eine schöne Stadt, unser Warschau. Aber das alles sollte bald schon ein brutales Ende nehmen.

Großvater war Professor für Mathematik an der Universität Warschau, ein kluger, stolzer Mann, der von seinen Studenten geliebt wurde. Seine runde Goldrandbrille und die ruhige, tiefe Stimme machten ihn zum Inbegriff eines Professors, seine Größe, sein kantiges Gesicht und das dichte schwarze Haar mit der dünnen weißen Strähne über der linken Schläfe verlangten Respekt. Er liebte die Klarheit der Zahlen und dass alles immer einen Sinn ergab, wenn man ihnen nur genug Zeit und Aufmerksamkeit schenkte. »Zahlen finden immer zu einem Ergebnis«, pflegte er zu sagen, doch ein paar Monate nach unserem Heimweg vom Schneider sollte ich noch eine andere Seite an ihm entdecken, die wenig mit Algebra, Logik und abstrakten Zahlen zu tun hatte. Und dabei lernte ich auch, dass uns Zahlen keinerlei Schutz zu bieten vermochten.

 

Der Krieg war ein Gespenst, das schon lange drohend über uns schwebte. Am 1. September 1939 dann fielen die ersten Bomben auf Warschau. Der Schulunterricht war ausgesetzt worden, und ich saß mit Mutter und Großvater zu Hause und kuschelte mich in unseren alten Ohrensessel im Wohnzimmer, um mich herum meine Physikbücher. Die erste Explosion hörte ich aus Richtung Stadtzentrum, ein dumpfer Schlag, und schon krachte es, als sei etwas Riesiges in tausend Stücke zerschellt. Splitter rissen Stein auf.

Ich lief ans Fenster. Draußen brach die Hölle los: Ein Schwarm Messerschmitts dröhnte heuschreckengleich über unsere schöne Stadt, warf Bombe um Bombe und tauchte den Himmel in ein unheimliches Orange und Phosphorgelb. Ich stand da, deutete hinaus und schnappte nach Luft, bis meine Mutter meinen Arm fasste und mich wegzog. In dieser Nacht schliefen wir kaum, und auch in den kommenden Nächten nicht.

Nach dem ersten Angriff fielen die Bomben Tag und Nacht, unerbittlich krachten sie auf Warschau nieder. Manche Angriffe dauerten Minuten, andere hörten über Stunden nicht auf. Ich konnte nicht anders, ich musste mir das tödliche Feuerwerk ansehen, besonders nachts. Auch nachdem wir die Fenster mit Vorhängen, Bettlaken und Zeitungen verdunkelt hatten, fand ich winzige Lücken, durch die ich hinaussehen konnte. Wie Kaninchen, die darauf warteten, geschlachtet zu werden, waren wir gefangen.

»Geh vom Fenster weg, du bringst uns noch alle um!«

Mama hatte Angst, wir könnten die Aufmerksamkeit der Flugzeuge auf uns ziehen, während ich der Meinung war, wenn ich die Dinger im Auge behielt, würden ihre Bomben nicht auf uns fallen. Vielleicht war es eine dumme Vorstellung, aber Tatuś stand in vielen Nächten neben mir. Was sonst konnten wir tun? Nach Tagen des Eingeschlossenseins in der Wohnung schmerzten Glieder und Augen, und wir fühlten uns wund vor Schlaflosigkeit.

Und dieser höllische Lärm! Ich hatte Angst, unser Trommelfell könnte platzen, doch wenn die Flugzeuge wieder weg waren, ängstigte uns die merkwürdige Leere der Stille noch mehr. Das war jedoch nur der Anfang. Ein paar Tage später kamen die Stukas, Deutschlands aggressivste Kampfflugzeuge, die mit ohrenbetäubenden Sirenen ausgerüstet waren, unseren Willen brechen und uns zur Aufgabe zwingen sollten. Ich hörte sie lange, bevor ich den ersten zu Gesicht bekam. Er kreiste über uns wie ein unheimlicher Raubvogel und zog Runde um Runde. Dann plötzlich fiel er wie ein toter Vogel vom Himmel, senkte die Nase und stürzte mit atemberaubender Geschwindigkeit und kreischendem Crescendo herab.

»Wir haben einen erwischt!«, schrie ich und drückte die Hände auf die Ohren. »Tatuś, komm, sieh doch!« Ich hüpfte wie wild auf der Stelle, aber meine Freude zerplatzte schnell wie eine Seifenblase. Eine Sekunde vor dem Aufschlag warf das Flugzeug seine Bomben ab. Unser Himmel war eine einzige Feuersbrunst, dicke, schwarze Wolken quollen auf, während das Flugzeug einer Lerche gleich zurück in die Lüfte stieg. Die Mistkerle hatten zugeschlagen und waren entkommen. Das war schlecht, sehr schlecht. Wenn ihnen so etwas gelang, was hatten sie dann noch alles im Ärmel? In dieser Nacht verließ ich das Fenster zum ersten Mal seit Tagen.

Unsere kleine Familie hielt fest zusammen. Mama schaffte es an den meisten Tagen immer noch, eine einfache Suppe oder einen Eintopf auf den Tisch zu bringen, und Großvater unterhielt mich mit Algebra und Geometrie. Manchmal verbrachten wir ein paar Stunden mit den Nachbarn, meist hielten wir jedoch den Atem an, spähten hinter unseren verdunkelten Fenstern hervor oder lauschten dem knisternden Radio. Es gab jetzt weniger Ankündigungen, dafür schwebten Chopins Polonaisen und Walzer durch den Äther und erinnerten uns an unseren polnischen Helden, unser Erbe und unseren Stolz. Manchmal wurde die Musik mittendrin unterbrochen, und es gab Nachrichten, aber die waren nie ermutigend.

Wir waren die Ersten, die Deutschlands neueste Erfindung zu spüren bekamen, den Blitzkrieg: Mit intensiver, übermächtiger Kraft überrannten sie uns und zwangen unser Land und seine herrliche Kavallerie in die Knie. Wir kämpften so tapfer, doch was konnten Pferde und Gewehre gegen die dröhnenden Kampfflugzeuge ausrichten, gegen Panzer und weitreichende Mörser? Die Menschen starben wie Fliegen unter dem Ansturm, wurden zerfetzt, unter dem Schutt ihrer Häuser begraben oder von Maschinengewehrgarben aus Flugzeugen niedergemäht, wo sie doch nur Wasser holen und etwas zu essen besorgen wollten.

Am 29. September, nach einem Monat des Bombardements, war die Stadt übersät mit schwelenden Ruinen, und es gab kein Wasser zum Löschen mehr. Warschau ergab sich.

Als ich das Haus verließ, betrat ich eine andere Welt. In der ulica Pawia 46, wo die Krotowskis lebten, begrüßte mich nur noch eine hässliche, ausgebrannte Fassade. Die Karsinskis hatten zwei ihrer Kinder verloren, und das Haus meines Freundes Jakob war völlig ausgebrannt, eine verkohlte Ruine, der Vater lag unter den Trümmern begraben. Die beiden alten Rosenzweigs nebenan hatten überlebt, aber Steinbergs kleine Bäckerei direkt gegenüber von Nathans Werkstatt war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Damit würde es sein luftig-lockeres Weißbrot nicht mehr geben. Die gepflasterten Straßen lagen voller Schutt und übel zugerichteter Habseligkeiten. Und die Pferde. Ihre aufgedunsenen, verwesenden Kadaver waren überall. Schwarze Fliegenwolken flogen auf, wenn man an ihnen vorbeiging.

An diesem Abend sahen wir, wie eine lange Reihe unserer tapferen, kläglichen Soldaten stumm aus der Stadt hinauseskortiert wurde. Wie geschlagene Hunde schleppten sie sich voran, kaum zusammengehalten von ihren schmutzigen, zerrissenen Uniformen. Ihr Anblick ließ mich erschaudern. Was würde aus ihnen werden? Was aus uns?

Am nächsten Tag marschierte die deutsche Wehrmacht in Warschau ein und das, sage ich dir, ganz und gar nicht still und leise. Der »Führer«, Hitler, kam selbst, um die siegreichen Truppen und die neu eroberte Stadt zu inspizieren. Die Panzer, mit denen sie unser Land so brutal überrannt hatten, rollten durch die Straßen, die Ketten dröhnten über das alte Pflaster. Und dann die Soldaten, wie sie marschierten: endlose Rechtecke behelmter, bewaffneter Männer im Parademarsch, als wären sie ein einziges Wesen. Als sie an der Tribüne des Führers vorbeikamen, drehten sie die Köpfe scharf zur Seite und traten noch härter mit ihren schwarzen Lederstiefeln aufs Pflaster. Sie marschierten mit solch einer Präzision und Kraft, dass die Stadt erzitterte.

Als Nächstes wurden die Flaggen gehisst. Als sollte uns die Allgegenwart des Hakenkreuzes immer und überall an die blonde, blauäugige »Herrenrasse« erinnern, die mit ihren brutalen Stiefeln alles niedertrampelte, was sie für minderwertig und unwert hielt. Es dauerte nicht lange, bis sie uns wie Ungeziefer, wie Insekten, wie Schmutz zu vernichten begannen.

Bald gab es die ersten Verordnungen, und Woche für Woche wurden neue erlassen, Monat für Monat. Das alles kam nicht auf einmal, sondern sie übten ihren Terror in kleinen Portionen aus und nahmen uns Schritt für Schritt Freiheit und Ehre. Zuerst verboten sie die Unterhaltung. Von einem Tag auf den anderen war es allen Menschen jüdischer Abstammung untersagt, öffentliche Parks, Cafés oder Museen zu besuchen. Unser Krasinski-Park: verboten. Ausflüge in den Zoo und den Łazienki-Park: nicht mehr für uns. Bänke und Straßenbahnen: »Nicht für Juden!« Die Schilder waren bald überall und wirkten wie ein Schlag ins Gesicht.

Eines Tages ging ich nach der Schule die ulica Freta hinunter, als ein deutscher Soldat um die Ecke kam.

»Mach, dass du wegkommst! Runter hier!«, schrie er, und bevor ich begriff, was er da herausbellte, hatte er mich schon beim Hemd gepackt und warf mich wie einen alten Sack vom Bürgersteig auf die Straße. Ich spürte das Blut aus meinen Knien sickern, die Hose war hin, und mein Herz hing in Fetzen, als ich nach Hause kam. Abends las mir Großvater die neuesten Verordnungen vor: »Juden dürfen keine Straßenbahnen benutzen, keine Restaurants in nichtjüdischen Vierteln besuchen und nicht auf den Bürgersteigen gehen, sondern müssen sich die Straße mit Autos und Pferden teilen.«

 

Im Mai verlor Tatuś seine Stelle an der Universität. Völlig aus dem Blauen heraus sagten sie ihm, er solle seine Sachen packen, seine Anwesenheit sei nicht länger erwünscht. Und es sollte nicht mehr lange dauern, bis es auch mich erwischte.

Es geschah während des Chemieunterrichts. Siemaski, unser Lehrer, deutete gerade auf das Beryllium im Periodensystem, als es dreimal laut klopfte und sich die Tür zum Chemiesaal öffnete.

Rektor Gorski stand völlig verwirrt da, zwischen zwei deutschen Soldaten eingekeilt, und starrte uns an. Der Soldat links neben ihm hatte eine Liste. Er drückte sie Gorski in die Hand: »Vorlesen!«

»Abram Tober, Jakob Kaplan und Mika Hernsteyn.« Gorskis Stimme zitterte. »Packt eure Sachen, ihr seid von der Schule verwiesen. Geht nach Hause.«

Einen Augenblick lang konnte ich mich nicht bewegen.

»Schnell, macht schon!«, rief der Deutsche. Ich stand auf und ging hinaus, ohne jemanden anzusehen. Abram und Jakob habe ich nie wiedergesehen, und auch meine Freunde Bolek und Hendryk nicht, die in der Klasse zurückblieben.

Zu Hause warf ich mich in Großvaters Arme. »Tatuś, sie haben mich aus der Schule geworfen, einfach so. Wie ein Stück Dreck. Das ist nicht fair.« Großvater drückte mich an sich, und Mama nahm uns beide in den Arm.

»Ich weiß, es steht heute in der Zeitung: ›Jüdische Kinder werden sofort aus allen öffentlichen Schulen entfernt.‹ Es tut mir so leid, Mika.«

Ich ließ mich in einen Sessel fallen. Ich betrachtete mich als Juden und Polen. Chopin, der große Komponist, Kopernikus und Madame Curie, diese mutigen Wissenschaftler, die Grenzen überschritten und uns neue Welten eröffnet hatten, waren meine Helden. Ich wollte in ihre Fußstapfen treten. Ungläubig und wie erstarrt saß ich in unserem alten Ohrensessel und dachte daran, wie ich mit Großvater Madame Curies Haus in der Altstadt besucht hatte, und obwohl ich noch nie in der Heiligkreuzkirche gewesen war, erfüllte es mich doch mit Stolz, dass Chopins Herz in unserer Stadt begraben lag.

Nicht mehr in die Schule zu dürfen traf mich hart. Ich war ein ausgezeichneter Schüler und liebte den Unterricht. Bolek und Hendryk war die Schule nicht halb so wichtig wie mir, und die durften bleiben? Warum? Wie viele Nachmittage hatten wir zusammen in den Straßen gespielt. Bolek hatte sogar am selben Tag Geburtstag wie ich.

Großvater versuchte, mich zu trösten, wir verbrachten lange Tage gemeinsam über seinen alten Büchern, und er brachte mir seine Liebe zur Mathematik nahe. Ich nahm seine sanfte Stimme in mich auf, sein Wissen und seine Güte. Und die Algebra hatte tatsächlich etwas Tröstendes. Aber ein Teil von mir wollte Großvaters Kapitulation, sein Sichabfinden mit der Situation nicht akzeptieren. Warum wehrte er sich nicht? Jahrzehntelang war er an der Universität gewesen, von allen respektiert. Wo blieben seine Kollegen? Warum war niemand bereit, für ihn aufzustehen?

»Ich bin alt, Mika, mach dir wegen mir keine Sorgen! Aber du, mein Junge, musst noch viel lernen, und deine Mutter braucht dich«, sagte er und schüttelte den Kopf. Er hatte keine Antworten, er konnte mir nur hilflos die Hand auf die Schulter legen. Sie war leicht wie eine Feder.

 

Wochen vergingen, in denen die Verordnungen die Schlinge um unseren Hals immer enger zogen. Wir hielten den Atem an, und kaum, dass wir den Schock einer neuen Einschränkung verdaut hatten, folgten weitere: Die Deutschen wollten uns deutlich erkennbar mit einem Zeichen versehen. Alle Juden hatten weiße Armbinden mit einem blauen Davidstern zu tragen, am rechten Ärmel und nicht kleiner als sechs Zentimeter. Die Binden mussten deutlich sichtbar aufgenäht werden, und natürlich hatten wir sie selbst herzustellen. Das sollte von jetzt an immer so sein: Die Deutschen erließen Gesetze, und wir mussten für ihre Umsetzung sorgen. Wir hatten die Seile zu flechten, mit denen sie uns strangulierten. Natürlich gab es innerhalb von Tagen an jeder Straßenecke Verkäufer mit den verhassten Armbinden.

Bald darauf mussten wir uns für Kennkarten registrieren lassen, Ausweisen mit einem großen J für Jude. Wie ein einzelner Buchstabe doch alles verändern konnte. Wir brauchten die Karten, um unsere Lebensmittelmarken zu bekommen, doch unsere Zuteilungen waren mager, gerade mal ein Bruchteil dessen, was die nichtjüdische Bevölkerung erhielt. Zwei Laibe Brot für die Deutschen, einen für die Polen, eine Scheibe für uns Juden. Mutters Suppen wurden mit jedem Tag dünner. Wir bekamen weder Milch noch Eier und schon gar kein Fleisch. Die Deutschen hatten zweifellos vor, uns verhungern zu lassen. Kilo für Kilo nahmen wir ab.

Um dem nagenden Hunger zu entgehen, versuchten viele von uns, heimlich an »arische« Kennkarten zu kommen. Wer gefasst wurde, kam ins Pawiak-Gefängnis. Die Gerüchte über Folterungen und Ermordungen in dieser grässlichen Festung verschafften mir schlimme Alpträume, aus denen ich, in eiskalten Schweiß gebadet, hochfuhr.

Im Oktober 1940, als wir dachten, es könne nicht schlimmer werden, gaben sie uns zwei Wochen, um unsere Wohnungen zu räumen. Den Großteil unserer Habe mussten wir zurücklassen und in einen winzigen Teil der Stadt ziehen, den die Deutschen den Jüdischen Wohnbezirk nannten. Das Wort »Ghetto« war tabu, aber wir wussten – die Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der Nachbarschaft –, es würde ein riesiges Gefängnis sein.

Stell dir die Angst und Verzweiflung unter uns vor! Überall war die Bedrückung zu spüren, wie Nebel kroch sie in unsere Behausungen und hing dick und stickig über uns, ein Gewitter, das jeden Moment losbrechen musste. Wie sollten wir alle in diesen kleinen Bezirk passen? Wir waren fast vierhunderttausend, ein Ozean von Menschen, der versuchen musste, in einem kleinen Teich unterzukommen. Umgeben von einer drei Meter hohen, mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrten Mauer.

Am 31. Oktober trieben uns die Deutschen ins Ghetto, dessen nördliche Ecke nach Westen hin von der ulica Okopowa und unserem alten jüdischen Friedhof gesäumt wurde. Dieser Teil Warschaus war schon immer dicht bevölkert gewesen. Zwar waren viele der Häuser stolze dreistöckige, mit schmiedeeisernen Balkonen geschmückte Gebäude, doch der Großteil der Straßen war eng und dunkel. Die Deutschen hatten alle Nichtjuden gezwungen, das Gebiet zu verlassen, um Platz für unseren Exodus zu machen, und als wir ankamen, wurden wir von einer unheimlichen Stille begrüßt.

Mama hatte sich viel Zeit genommen, um auszuwählen, was wir mitnehmen wollten. Ich sehe sie noch vor mir in unserer alten Wohnung, wie sie diesen Kerzenständer und jenes Buch in die Hand nimmt und sich zwischen einem Topf und einer Blumenvase entscheiden muss. Am Ende nahm sie die wertvollsten und praktischsten Dinge mit: ein Fotoalbum, ein paar Bücher, einen silbernen Leuchter, der ein Hochzeitsgeschenk gewesen war, zwei Töpfe, Kleider und Bettzeug. Wir bündelten alles zusammen und schlossen uns dem Auszug an. Unsere kleine Gruppe, unsere winzige Familie: Mama, Tatuś und ich.

Stumm zogen wir dahin und trugen unsere verbliebenen Besitztümer in alten Koffern und provisorischen Rucksäcken auf dem Rücken. Manche hatten Karren oder schoben Kinderwagen vor sich her, gefüllt mit Decken, Kissen und Töpfen, einige balancierten ihre Habseligkeiten auf dem Kopf. Die Straßen wurden von christlichen Polen gesäumt, die unseren Auszug neugierig und mitunter mitleidvoll verfolgten. Einige von ihnen trugen dieses besondere Grinsen im Gesicht, das die Deutschen Schadenfreude nennen, die Freude über das Unglück anderer, vom Schicksal getroffener Menschen. So lange schon waren wir Juden zu Sündenböcken gemacht worden, und die antijüdische Propaganda mit ihren grellen, hässlichen Plakaten, auf denen wir mit Ungeziefer und Läusen verglichen wurden, die Typhus verbreiteten, tat den Rest.

Die meisten in unserem traurigen Zug hielten den Kopf gesenkt. Warum? Ich wollte den Leuten ins Gesicht sehen, wenn mein trotziger, hasserfüllter Blick auch das Einzige war, was ich auf diese Menschen abschießen konnte, die dastanden und darauf warteten, unsere Wohnungen und unser Eigentum in Besitz zu nehmen. Ich hielt auch nach Bolek und Hendryk Ausschau, die seit meinem Hinauswurf aus der Schule nicht mehr zu uns nach Hause gekommen waren, vermochte sie jedoch nirgends zu entdecken. Wie konnten sie sich gegen uns wenden und glauben, wir seien Menschen zweiter Klasse? Feiglinge. Ich ballte die Fäuste, aber der Gedanke an Bolek mit seinem fehlenden Schneidezahn und dem schiefen Lächeln versetzte mir immer noch einen Stich.

Als wir das Ghetto von Osten her über die ulica Nalewki betraten, sah ich ein letztes Mal zurück. Sie zwangen mich nicht nur, meine alten Freunde und meine Schule hinter mir zu lassen, sondern auch meine Erinnerungen an chlopek, Himmel und Hölle, zoska und viele andere Spiele, an unsere Picknicks im Krasinski-Park, die Ausflüge mit Mama und Tatuś an die Seen und unsere schöne Wohnung. Beim Durchschreiten des Tors ins Ghetto wurde mir meine Kindheit und alles genommen, was mir lieb und teuer war.

Und doch waren wir auf eine verdrehte Art glücklicher dran als viele andere. Ein ehemaliger Kollege meines Großvaters war Mitglied des Judenrats und besorgte uns eine halbwegs anständige Bleibe, was das wenigste war, was er für einen geachteten ehemaligen Kollegen tun konnte: eine kleine Wohnung in der ulica Gęsia, der Gänsestraße 19 – was ich als gutes Zeichen zu sehen versuchte, denn ich hatte am 19. Mai Geburtstag.

Während wir in zwei Zimmer ziehen konnten, mussten sich viele große Familien mit nur einem Raum begnügen oder, schlimmer noch, auf der Straße bleiben, bis sich irgendwo ein Platz für sie fand. Es kam vor, dass sich neun Leute in einem einzigen Raum zusammendrängten. Wir erkannten unser Glück sofort, aber sollte unsere Wohnung nicht einer größeren Familie zustehen?

Am 16. November stellten die Deutschen die Mauer fertig und verschlossen das Ghetto. Da war ich vierzehn Jahre alt.

 

Damals machte der Mantel eine Verwandlung durch. Großvater war nicht nur ein Wissenschaftler, sondern auch ein äußerst praktisch veranlagter Mann, und er beschloss, falls wir je anderswo hingebracht würden – aus Warschau zu fliehen, war nicht mehr denkbar –, seine wertvollsten Besitztümer nahe bei sich zu haben. Taschen waren da eine tolle Lösung: große, kleine, winzige Verstecke in den Tiefen seines Mantels. Den Beginn machte eine kleine Tasche auf der linken Seite, auf Höhe seines Herzens, eher ein Schlitz als eine sichtbare Öffnung, aber eben doch eine Tasche. Für seine goldene Uhr, das Letzte, was er noch von seinem Vater besaß. Mit der Zeit nähte er mehr und mehr Taschen in seinen Mantel: eine eigens für Fotos tief innen rechts unter dem Brustkorb. Es waren Fotos von meinem Vater als Junge und später mit mir, seinem Baby, das er stolz auf den Armen hielt, meine Mutter strahlend neben sich. Wieder und wieder bat ich meinen Großvater, mir die Fotos zu zeigen.

Ich vermisste meinen Vater sehr, vor allem in jenen dunklen, beißend kalten Winternächten während des ersten Jahrs im Ghetto. Ich war erst drei Jahre alt gewesen, als er starb, und konnte mich nicht daran erinnern. Mama sagte, ich hätte mit meinen Sachen gespielt, während er im Zimmer nebenan an einer falsch diagnostizierten Lungenentzündung starb.

»Der Arzt dachte, dein Vater hätte eine Erkältung und eine Blasenentzündung«, erklärte sie später, als ich sie danach fragte.

Ich weiß, sie hat dem Arzt nie vergeben, und auch sich selbst nicht.

»Er hätte überleben können, hätten wir ihn ins Krankenhaus gebracht. Du hast nicht mehr geredet und wochenlang die alte rote Spielzeuglokomotive nicht losgelassen.« Die Eisenbahn war das letzte Geschenk von ihm gewesen.

Mittlerweile bestanden die Erinnerungen eher aus bestimmten Gerüchen und Geräuschen: ein scharfer Seifengeruch, Schweiß, Tabakduft und etwas, das ich später als Alkoholgeruch identifizierte, in den sich seine sanfte Stimme mischte: »Schlaf jetzt, mein Junge.« Das lebte als schwache Erinnerung in meinem Körper versteckt, und ich rief sie so oft wach, wie ich nur konnte. Ich sehnte mich nach ihm und der Sicherheit seiner Gerüche. Als ich den Mantel erbte, fühlte sich nichts mehr sicher an.

Großvater fügte dem Mantel Tasche um Tasche hinzu, und eines Tages kam ihm die Idee für zusätzliche Taschen in den Taschen. Selbst wenn sie diese oder jene Tasche entdeckten, würden sie die zusätzlichen Einschübe und Schichten nicht finden. Langsam wurde Großvaters Mantel zu einem riesigen Labyrinth: Diese Tasche war mit jener verbunden, die aber wieder nicht. Hier gab es eine Sackgasse, und dort führte eine Öffnung von links nach rechts.

Während andere Leute ihr Leben für falsche Pässe riskierten oder Tunnels hinaus aus dem Ghetto gruben, fand Großvater mehr und mehr schlaue Plätze für Verstecke in seinem Mantel, in dem nur er sich auskannte. Seine Lieblingsbücher kamen an den Saum, eine zusätzliche Garnitur Unterwäsche unter die rechte vordere Seite, eine zweite Brille, Manschettenknöpfe und Taschentücher nach links.

Großvater trug seinen Mantel voller Stolz, und während es um uns herum immer schlimmer wurde, während wir wegen der schlechten Versorgung immer schwächer und magerer wurden, dachte ich manchmal, dass der Mantel das Einzige war, was ihn noch zusammenhielt.

Großvater verbrachte viel Zeit in seiner kleinen Werkstatt, die er ganz für sich hatte. Es war nicht mehr als ein kleiner Vorratsraum, kaum geräumiger als ein Schrank, den er bei unserem Einzug entdeckt und ausgeräumt hatte. Er nannte ihn sein »Refugium«. Ich habe ihn oft gefragt, was er darin mache, aber darauf lächelte er nur und schwieg.

Der Mantel und Tatuś waren unzertrennlich, wie eine Hand und ein Handschuh. Dann, im Juli 1941, zwei Tage vor seinem dreiundsiebzigsten Geburtstag, änderte sich alles.

 

Als ich auf die Straße vor unserem Haus hinunterkam, lebte er noch. Eine Nachbarin war die Treppe heraufgerannt, um uns zu rufen, atemlos und blass, die Stimme angespannt und voller Angst.

»Sie haben auf ihn geschossen. Schnell, schnell!« Furcht ergriff mich wie eine stählerne Faust. Ich erinnere mich noch an die ersten Momente, ein verweilendes Nichts, in dem ich mich nicht zu bewegen vermochte. Erstarrt stand ich da, wie in einem Alptraum. Die Nachbarin brachte die Worte kaum heraus, ihre Brust hob und senkte sich. »Er wollte den Mund nicht halten, es war wieder das Mädchen. Er konnte es nicht mit ansehen, kommen Sie! Schnell!«

So sanftmütig und reserviert mein Großvater war, vermochte er doch angesichts der Grausamkeiten um uns herum kaum ruhig zu bleiben – wenn er wieder einmal sah, wie Leute getreten und angespuckt wurden, geschlagen, verhöhnt oder, schlimmer noch, wie alte, räudige Hunde erschossen wurden, einfach so, auf der Stelle. Er wollte sich nicht an die Besatzer und die tägliche, unvorhersehbare Gewalt gewöhnen. An diesem Morgen hatten Soldaten eine junge Frau im Haus gegenüber drangsaliert, hatten sie nach draußen gezerrt und mit vorgehaltener Pistole von ihr verlangt, sich auszuziehen. Großvater war zu ihr gegangen und hatte seinen Mantel um sie legen wollen, um sie zu schützen, worauf die Soldaten ihn erschossen. Einfach so, aus nächster Nähe. Meinen Tatuś, den liebsten Menschen, den ich kannte.

Das Mädchen war verschwunden, als ich kam. Erst später hörte ich, dass es geschrien und seine Kleider zusammengesucht hatte, ehe es davongerannt war. Ich lief zu Großvater und beugte mich zu ihm hinab. Seine Augen öffneten sich einen Spaltbreit.

»Pass auf den Mantel auf, Mika, mein Junge …« Es war kaum mehr als ein Flüstern. Sein Blick brach, und der Kopf fiel zur Seite gegen mich.

»Schafft ihn weg«, bellte einer der Soldaten und wollte sich schon abwenden, sah Großvater aber noch einmal an und zögerte. »Moment mal, das ist ein guter Mantel, zieht dem Mann den Mantel aus! Sieht aus, als wären da ein paar Schätze drin. Gib ihn mir, Junge!«

Da brach es aus Mutter heraus. Sie hatte neben mir gestanden, zur Salzsäule erstarrt wie Lots Weib, meine Hand fest in ihrer. Unversehens ließ sie mich los und fing an zu jammern und zu schreien, warf die Hände in die Luft und schlug sich wieder und wieder auf die Brust. Langsam bewegte sie sich dabei von meinem Großvater weg auf die gegenüberliegenden Häuser zu.

»Halt’s Maul, Frau! Ruhe!«, brüllte der Soldat.

Sie klopfte an die erste Tür.

»Hör schon auf damit, du Hure, oder wir erschießen dich!«

Sie drehte sich nicht um.

In der Verwirrung um meine Mutter und den brüllenden Soldaten zog ich meinem Großvater mit Hilfe der Nachbarn den Mantel aus. Immer noch mehr Leute kamen zusammen. Ein paar Männer hoben Tatuś hoch und trugen ihn zum Haus, und dann sah ich in all dem Durcheinander Nathan. Ich hatte keine Ahnung, woher er gekommen war, doch die knochigen Hände des alten Schneiders griffen nach dem Mantel und zogen ihn mir an. Ich fühlte mich steif und leblos wie eine von Nathans alten hölzernen Schneiderpuppen und ließ ihn wortlos machen.

Es war das erste Mal, dass ich den Mantel trug. Ich hatte meinen Großvater mehrmals darum gebeten, ihn anprobieren zu dürfen, doch er hatte es nicht gewollt: »Das bringt Unglück, Mika. Deine Zeit ist noch nicht gekommen.«

Das Gewicht des Mantels war unglaublich. Ich konnte kaum atmen unter der Last der Besitztümer meines Großvaters, des Gewichts seines Lebens. Dennoch, ich musste mich beeilen, musste davonlaufen, seinen letzten Wunsch ehren. Der Mantel umfing mich wie ein warmes, lebendes Geschöpf und flößte mir neue Kraft ein, und so stolperte ich aus dem Blickfeld des Soldaten hinauf in unsere kleine Wohnung.

Ich sank zwischen unsere mutigen Nachbarn, die ihr Leben riskierten, um mir Schutz zu bieten. Ich hatte solche Angst um Mutter und saß lange reglos und stumm in der Küche, wartete auf das Brüllen und die schweren Stiefeltritte auf der Treppe und auf die gefürchteten Schüsse, doch es blieb still.

Mutter kam viel später nach Hause, weiß wie ein Laken, schmutzig und zerzaust, gestützt von Anna, unserer Nachbarin. Ich lief zu ihr und drückte sie fest an mich, aber ihr Gesicht blieb reglos. Sie starrte mich durch eine leere, ausdruckslose Maske an und schob mich sanft zur Seite. Ohne ein Wort setzte sie sich an den Küchentisch und blieb dort für den Rest des Nachmittags, den Blick auf die zitternden Hände gerichtet, als fragte sie sich, wem sie gehörten. Anna setzte sich zu ihr und sagte, sie solle etwas Tee trinken, heißes Wasser mit ein paar Teeblättern, die bereits zum zweiten Mal aufgebrüht worden waren. Ich hatte meine Mutter dort draußen erlebt, hatte gehört, wie die Soldaten sie beschimpften, und für mich war sie eine Heldin.

Erst später sollte ich erkennen, was Scham bedeutet und was sie dir zufügen kann. Ich ließ Mutter am Tisch zurück und vergrub meine heftige Liebe zu ihr und Tatuś tief in dessen Mantel. Ich breitete ihn auf meinem Bett aus, legte mich darauf und suchte nach Großvaters Geruch und Spuren seines Lebens. Aber ich spürte nur meine Tränen und die rauhe Wolle an meiner Wange.

In dieser Nacht fühlte ich mich wie ein Kind und gleichzeitig wie ein alter Mann.

Wir konnten Großvater nicht so begraben, wie wir es früher getan hätten, aber ich nehme an, wir hatten noch Glück, überhaupt ein Grab für ihn zu finden. Trotz der Angst, die uns erfüllte, als wir uns auf dem jüdischen Friedhof trafen, war eine ganze Reihe Leute gekommen, um sich von ihm zu verabschieden. Zusammen mit Nathan, dem Schneider, einem Nachbarn und zwei von Großvaters alten Kollegen von der Universität, die ebenfalls ins Ghetto verbannt worden waren, trug ich den einfachen Sarg. Die Sonne brannte an diesem Julitag auf uns nieder, aber ich bestand darauf, Großvaters Mantel anzubehalten. Der Schweiß lief mir über den Rücken, als wir Tatuś die ulica Okopowa hinunter zum Friedhof trugen. Die Männer von der Beerdigungsgesellschaft hatten Großvater in ein weißes Tuch gewickelt und seinen alten Gebetsschal mit in den Sarg gegeben.

Es ging alles so schnell, achtundvierzig Stunden sind wenig Zeit, sich zu verabschieden. Der Rabbi sprach die Gebete, ich stand stocksteif da wie die alten, knotigen Bäume des Friedhofs und sah wie durch einen Schleier oder rauchiges Glas auf das offene Grab. Ein paar Leute warfen eine Schaufel Erde auf den Sarg meines lieben Tatuś, aber als ich an die Reihe kam, hatte ich nicht die Kraft dazu. Mama legte die Arme um mich, und ich zitterte und schluchzte untröstlich.

Monate später gab es keine richtigen Gräber mehr: Die Toten wurden in den Straßen liegengelassen und abends oder im Morgengrauen eingesammelt, auf übervollen Karren davongeschafft und irgendwo in ein Loch geworfen. Sie lagen, nackt und zusammengekeilt mit den anderen, die an diesem Tag gestorben waren, in einem namenlosen Massengrab.

Kapitel drei

Die Tage nach Großvaters Tod verbrachte ich allein mit dem Mantel und seinen Geheimnissen. Ich lebte in diesem geschneiderten Meisterstück, atmete sein kräftiges Aroma ein und ließ mich von ihm umfangen und halten. So schwer und rauh der Mantel war, spürte ich doch Großvaters liebevolle Gegenwart in seiner Umarmung, und so saß ich stundenlang in meinem Zelt, während die gedämpfte Welt draußen aufhörte zu existieren. Mama ließ mich in Ruhe, und ich war ihr dankbar dafür. Sie trauerte auf ihre eigene, stumme Weise.

Irgendwann knurrte mein Magen so sehr, dass er sich verkrampfte. Ich hasste mich dafür, aber ein scharfes Hungergefühl erfasste mich, und ich untersuchte den Inhalt der Manteltaschen genauer. Ich hoffte auf etwas Essbares, um den Schutz des Mantels nicht verlassen zu müssen.

Langsam bewegte ich mich durch das von Großvater angelegte Labyrinth und stieß ständig auf neue Schätze: eine hölzerne Pfeife, eine Brille, einen kleinen Gedichtband. Ich hatte nicht gewusst, dass Großvater solche Dinge wichtig gewesen waren. Kieselsteine, klebrige Bonbons, ein Füllfederhalter und einiges, worin ich nichts erkennen konnte, wie ein Stück Hasenfell, bunte Stofffetzen und eine Papierblume.

Da plötzlich berührten meine Finger eine kühle, gewölbte Oberfläche, über die Drähte gespannt waren. Ich zog das Ding aus den Tiefen der Nähte durch die Röhre des linken Ärmels und schnappte nach Luft, als ich eine perfekt geformte kleine Geige ans Licht beförderte. Ich hatte meinen Großvater niemals spielen hören und bestaunte das winzige Instrument, das für einen Zwerg gemacht zu sein schien oder einmal das wertvolle Spielzeug eines Kindes gewesen sein musste. Vorsichtig hielt ich die kleine Geige in Händen, zupfte an den Saiten und durchsuchte den Mantel nach einem Bogen, den ich in einer anderen Tasche fand, einer schmalen senkrechten, direkt hinter der vorderen Knopfreihe.

Ich breitete den Mantel auf dem Boden aus, setzte mich darauf und versuchte meine ersten Striche über die Saiten. Ich stellte mir Großvater vor, wie er die winzige Geige hielt, als wäre sie ein Neugeborenes. Die von mir erzeugten Töne hatten aber wenig mit Musik zu tun.

Später an diesem Nachmittag entdeckte ich eine weitere Tasche, etwa auf Nierenhöhe. Als meine Finger hineinfuhren, konnte ich gleich sagen, dass das, worauf sie stießen, Briefe waren. Ein kleines Bündel, ordentlich mit einem hellblauen Seidenband zusammengebunden. Die Briefe wirkten brüchig und blass, als hätte ein Geist sie geschrieben, jemand, der kaum von dieser Welt stammte. Die Tinte war verblichen und die Handschrift fast nicht mehr zu lesen. Langsam öffnete ich das Band, und die Briefe fielen wie Motten in meinen Schoß.

An diesem Abend, im Licht einer wertvollen Kerze über die Seiten gebeugt, erfuhr ich Dinge, die alles veränderten, was ich über meinen Großvater und meinen Vater gewusst hatte. Großvater hatte nicht nur eine besondere Begabung für die Mathematik besessen, sondern auch für die Sprache: Er hatte wunderschöne Gedichte geschrieben. Da waren Briefe an seine Frau, die Großmutter, die ich nie kennengelernt habe, Briefe aus dem ersten großen Krieg. Er goss seine Liebe und seinen Schmerz über die Trennung in Bilder und Metaphern, und obwohl er den Krieg kaum erwähnte, gab das dünne, zerknitterte, angeschmutzte Papier ein beredtes Zeugnis von den Schrecken und Drangsalen der Schützengräben. Bis an die Ränder hatte er die Blätter mit winzigen Worten gefüllt. Dort, wo er gewesen war, musste das Papier genauso knapp gewesen sein wie heute bei uns im Ghetto. Großmutters Prosa dagegen war handfester. Sie schrieb hauptsächlich über ihren Jungen, meinen Vater. Als die Dunkelheit dem Grau des Morgens wich, band ich die Briefe wieder zusammen und versteckte sie in den Tiefen des Mantels. Erschöpft schlich ich ins Bett.

Wochenlang verließ ich die Wohnung so wenig wie möglich, und der Mantel wurde mein zweites Zuhause, meine Höhle, mein stummer Begleiter. Währenddessen wurde die Welt draußen noch hoffnungsloser und feindseliger. Die Tage, an denen ich mit Bolek und Hendryk in unserer Straße oder im Krasinski-Park gespielt hatte, waren nur mehr eine ferne Erinnerung. Das Kinderleben, das ich einst gelebt hatte, lag in Scherben, die Straßen des Ghettos waren nicht zum Spielen geeignet. Ich hatte keine Freunde zum Herumspaßen, und wenn Mutter mich zu Besorgungen losschickte, um etwas zu erhandeln oder mich an einer Schlange anzustellen, weil plötzlich das Gerücht ging, es gebe frisches Gemüse, sah ich, wie alles immer noch schrecklicher wurde: Ich roch den Gestank und sah, wie überfüllt alles war, eingehüllt in ein überwältigendes, uns alle verschluckendes Grau.

Aus meinem Mantel heraus sah ich das Ghetto wie durch einen Schleier: Wer waren diese Horden von Menschen, die in schmutzige, zerrissene Lumpen gekleidet ständig so rannten und drängten, als müssten sie noch den letzten Zug nach Hause erreichen? Ich sah nichts als graue, dahineilende Gestalten, dazwischen ein paar Fahrradrikschas mit schreienden, durch das Durcheinander steuernden Fahrern und hier und da einen Pferdewagen. Auch eine letzte, ständig überfüllte Straßenbahn fuhr durchs Ghetto, eine traurige Erinnerung an vergangene Tage. Trauben von Menschen hingen an ihr wie Schiffbrüchige an einem Boot. Statt der gewohnten Nummer trug die Bahn vorn einen Davidstern und pendelte zwischen den Mauern hin und her. Es war die einzige Linie, die uns noch blieb.

 

In jenen frühen Tagen hatte jeder etwas zu verkaufen: Zerlumpte Straßenkinder handelten mit den verhassten weißen Armbinden, Frauen hockten hinter ein paar winzigen Kartoffeln, die sie sorgfältig wie Edelsteine in Vierergruppen vor sich ausgebreitet hatten. Sie wetteiferten mit Männern, die rauhe Bürsten und andere Waren feilboten, einen Stapel Hemden hier und einen Mantel und ein Paar wertvolle Stiefel dort. Ein junger Mann bewachte einen Kinderwagen voller Bücher, während andere auf dem Boden saßen und anboten, was immer sie erübrigen konnten: einen Topf, ein Kleid, Geschirr. Sie alle hofften auf Geschäfte, hofften darauf, ein paar Zlotys nach Hause bringen zu können, um Brot, ein paar Stücke stinkenden Trockenfisch oder etwas verschrumpeltes Gemüse kaufen zu können.

Einige Läden im Ghetto waren noch geöffnet, und der Schwarzmarkt blühte. Tatsächlich konntest du, wenn du Geld hattest, immer noch alles kaufen. Selbst Süßigkeiten gab es noch. Bettler, dünn wie wandelnde Skelette, hockten vor Bäckereien und Lebensmittelgeschäften und reckten die knochigen Arme, während hinter ihnen in den Schaufenstern Weißbrot und sogar Kuchen ausgestellt wurden. Was war mit uns geschehen, mit uns und unserer schönen Stadt? Menschen verhungerten vor unseren Augen, lebende Leichname lehnten an den Mauern und lagen auf der Erde, während die Leute vorbeihasteten und ihr Schicksal zu übersehen versuchten.

Einige Bettler machten Musik: mit einer Geige, einer kleinen Flöte; oder wie der alte Marek, ein Bär von einem Mann mit einem wilden grauen Bart, der in Lumpen gekleidet in einem Kinderwagen ein ganzes kleines Orchester mit sich führte. Er versammelte immer ein paar Leute um sich, bekam aber nur wenige Zlotys.

Am schlimmsten waren die Waisenkinder, die auf den Bürgersteigen saßen, dünn und verkrumpelt wie altes Papier. Sie starrten dich mit großen Augen an und hatten längst den Versuch aufgegeben, etwas zu stehlen. Ich mied ihren Blick.

Eines Tages begann Mama, einen Garten anzulegen. Seit wir im Ghetto eingesperrt waren, entstanden überall kleine Gärten. Der Wirklichkeit zum Trotz zogen die Leute in ihnen Blumen, der Verzweiflung zum Trotz Gemüse. Zuerst konnte man sie im allumfassenden Grau kaum erkennen, doch dann zeigten sie sich überall: kleine Flecken sorgfältig gehegter und gepflegter Erde, kleine Stücke urbar gemachten Landes. Ihre Besitzer handelten mit Setzlingen, säten, pflanzten und hegten und pflegten, was da wuchs, manchmal beteten sie sogar dafür. Die Toporol-Gesellschaft unterstützte den Anbau, und immer mehr Ghettobewohner versuchten sich als Gärtner, um sich und ihre Familien am Leben zu halten: Ein Kohlkopf konnte eine Familie über Tage ernähren, und auch ein paar Rüben hielten dich eine Weile länger am Atmen. Irgendwann wurde das ganze ehemalige Stadion des Sportvereins SKRA in ein großes Kohlfeld umgewandelt – was hatte Sport noch für einen Sinn, wenn alle verhungerten?

Zusätzlich zu unserem Garten hängte Mutter auf dem Balkon Blumenkästen auf. Die Erde tröstete sie mehr als alles in ihrer Trauer um Großvater und schien ihr zu sagen, dass das Leben weiterging. Langsam sprossen im Grau des Ghettos hübsche Blumen. Wie war sie an die Samen gekommen? »Ich habe sie im Oktober mit eingepackt, als wir entscheiden mussten, was wir ins Ghetto mitnehmen wollten. Sind Blumen nicht genauso wichtig wie Töpfe und Pfannen?«, sagte sie, als ich sie fragte.

Später legte sie auf unserem Balkon einen kleinen Garten an. Ein Garten auf einem Balkon im dritten Stock? Ich hatte sie ausgelacht. Aber sie schleppte Eimer um Eimer Erde herauf und bedeckte den steinernen Boden des Balkons mit einer schönen, dicken Schicht. Und ein paar Monate später lachte ich nicht mehr, als wir grünen Salat und kleine rote Radieschen aßen.

Die Kunde vom Tod meines Großvaters und von seinem Mantel voller Taschen verbreitete sich schnell, und bald schon hatte Nathan alle Hände voll mit Änderungsaufträgen zu tun. Er hatte seine Nähmaschine mit ins Ghetto gebracht und arbeitete Nacht um Nacht in seinem winzigen Zimmer gleich um die Ecke. Er stattete Mäntel, Jacken, Hemden und Hosen mit geheimen Taschen aus, denen die Leute ihre wertvollsten Dinge anvertrauten, die Zeugnisse ihres Lebens.

 

Eines Tages suchte ich wieder einmal in meinem Mantel herum und tastete nach geheimen Verbindungen, als ich auf etwas Fremdes, Unbekanntes stieß: Es war hart, leicht, fast rund und schmiegte sich angenehm in meine Handfläche. Vorsichtig zog ich es hervor und sah direkt in ein Gesicht. Es war ein kleiner Kopf aus Papiermaschee, mit großen Augen bemalt, roten Lippen und flachsblondem Haar. Er sah so echt aus, dass ich ihn küssen wollte.

Mein Herz wusste es, bevor ich es denken konnte, und setzte einen Schlag aus: der Vorratsraum! Die kleine Kammer, in die Großvater mich nie lassen wollte. Warum hatte ich nicht früher daran gedacht? Erst am selben Morgen hatte ich einen Schlüssel in einer winzigen Tasche nahe beim Saum des Mantels gefunden. Ich fingerte nach dem Schlüssel und lief zur Tür von Tatuś’ Refugium. Der Schlüssel passte. Fast geräuschlos sprang die Tür auf. Ich schaltete das Licht ein und schnappte nach Luft: Eine ganze Armee kleiner Leute starrte mich an.

Der Raum war voller Puppen in allen Ausführungen und Stadien der Herstellung. Da waren ein König, ein Mädchen, ein Narr und etliche Tiere: ein Krokodil mit erst zur Hälfte bemalten Zähnen, ein Affe und ein Pferd ohne Schweif. Einige der Puppen sahen aus, als wären sie bereit, von ihrem Regalbrett zu springen, anderen fehlten noch einzelne Glieder oder sie hatten nichts an. Quer durch den Raum war eine Leine gespannt, an der, mit Klammern befestigt, winzige Arme und Beine hingen, die darauf warteten, einen Besitzer zu finden.