Jane Austens Romane. Ein literarischer Führer - Christian Grawe - E-Book

Jane Austens Romane. Ein literarischer Führer E-Book

Christian Grawe

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Beschreibung

Der Führer durch Jane Austens literarische Welt informiert in 52 Artikeln über Figuren und Handlungsorte, erläutert den historischen Hintergrund und zeitgenössische Sitten, enthüllt biographische Bezüge und politische Implikationen. Austen-Neulinge lädt das E-Book ein, das Werk dieser großen Schriftstellerin kennenzulernen, ihren Fans dient es als kundiger Begleiter, und es macht Lust, in ihre Romanwelten einzutauchen.

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EPUB

Seitenzahl: 304

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Christian Grawe

Jane Austens Romane

Ein Führer

Reclam

2015, 2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung, Hamburg, unter Verwendung des Farbkupferstichs »Bouquet de Pensées« von Victor nach Pierre-Joseph Redouté (1759–1840). akg-images

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961211-9

Inhalt

She is the most ...Jane Austens ŒuvreDie JugendwerkeVolume the FirstVolume the SecondVolume the ThirdDie RomaneDie unvollendeten RomaneDie BriefeEinführungHinweise zur BenutzungDie ArtikelÄrzteAlte JungfernBathBelauschte GesprächeBrüderBurns, RobertDienerschaftEhenErziehungFanny Price’ LiteraturDie Geheimnisse UdolphosGeistlichkeitGeldGesellschaftHandlungsorteHandlungszeitHeldenHeldinnenHighburyJugendwerkeKapitän Benwicks PoesieKinderKloster NorthangerLandschaftLiebesschwüreLiteraturLondonMansfield ParkMilitärModeMütterMusikOberst Brandons erste LiebePemberleyPortsmouthPseudoheldenRechtsanwälteRivalinnenRomaneSanditonSchwesternSeebäderShakespeareTagesrhythmusTanzUmgangsformenUnd wenn sie nicht gestorben sind ...Unvollendete RomaneVäterWitwenWitwerZeitkontextAnmerkungenAbbildungsverzeichnisZum Autor

She is the most difficult to catch in the act of greatness.

VIRGINIA WOOLF über Jane Austen

 

Marriage, morality, manners, money.

PAUL POPLAWSKI über Jane Austens Romane

 

Jane Austen, who has probably given more delight to more English-speaking people than any other woman who ever lived.

J. B. PRIESTLEY

 

Artistic achievements of Mozartian perfection.

DAVID CECIL über Jane Austens Werke1

Jane Austens Œuvre

Die Jugendwerke

Maßgebliche englische Ausgabe: The Works of Jane Austen. Volume VI. Minor Works. Now first collected and edited from the manuscripts by R. W. Chapman. With illustrations from Contemporary Sources. Oxford [u. a.] 1972.

Vollständige deutsche Ausgabe: Jane Austen: Die schöne Cassandra. Sämtliche Jugendwerke. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe. Stuttgart 2012.

 

Austen hat ihre Jugendwerke in drei handschriftlichen Heften gesammelt.

Volume the First

Frederic and Elfrida. A Novel (Frederic und Elfrida. Ein Roman)

Jack and Alice. A Novel (Jack und Alice. Ein Roman)

Edgar and Emma. A Tale (Edgar und Emma. Eine Erzählung)

Henry and Eliza. A Novel (Henry und Eliza. Ein Roman)

The Adventures of Mr. Harley (Mr. Harleys Abenteuer)

Sir William Montague. An unfinished performance (Sir William Montague. Eine unvollendete Darbietung)

Memoirs of Mr. Clifford. An unfinished Tale (Mr. Cliffords Memoiren. Eine unvollendete Erzählung)

The Beautiful Cassandra. A Novel in Twelve Chapters (Die schöne Cassandra. Ein Roman in zwölf Kapiteln)

Amelia Webster. An interesting & well written Tale (Amelia Webster. Eine interessante und gekonnt geschriebene Erzählung)

The Visit. A Comedy in 2 Acts (Der Besuch. Eine Komödie in zwei Akten)

The Mystery. An Unfinished Comedy (Das Geheimnis. Eine unvollendete Komödie)

The Three Sisters. A Novel (Die drei Schwestern. Ein Roman)

A Beautiful Description of the Different Effects of Sensibility on Different Minds (Eine hinreißende Beschreibung der unterschiedlichen Wirkung von Empfindsamkeit auf unterschiedliche Gemüter)

The Generous Curate. A moral Tale, setting forth the Advantages of being Generous and a Curate (Der großzügige Hilfspfarrer. Eine moralische Erzählung, die beschreibt, wie vorteilhaft es ist, großzügig und Hilfspfarrer zu sein)

Ode to Pity (Ode an das Mitleid)

 

Entstehung: zwischen 1787 und 1790

Erstveröffentlichung: Oxford 1933, Einzelstücke 1871 (in: James-Edward Austen-Leigh, A Memoir of Jane Austen, 2. Aufl.)

Volume the Second

Love and Friendship. A novel in a series of Letters (Liebe und Freundschaft. Ein Roman in einer Reihe von Briefen)

Lesley Castle. An unfinished Novel in Letters (Burg Lesley. Ein unvollendeter Briefroman)

The History of England from the reign of Henry the 4th to the death of Charles the 1st (Die Geschichte Englands von der Herrschaft Heinrichs IV. bis zum Tode Karls I.)

A Collection of Letters (Eine Sammlung von Briefen)

Scraps (Schnipsel)

 

Entstehung: zwischen 1790 und 1793

Erstveröffentlichung: London 1922

Volume the Third

Evelyn

Catherine or the Bower (Kitty oder die Laube)

 

Entstehung:1792 (die Widmung datiert: August 1792)

Erstveröffentlichung: Oxford 1951 (kurze Auszüge von Evelyn bereits 1913 in: Austen-Leigh, Jane Austen, her Life and Letters)

Die Romane

Maßgebliche englische Ausgabe: The Novels of Jane Austen. The Text based on Collation of the Early Editions by R. W. Chapman. In Five Volumes. Third Edition. Oxford 1988.

Deutsche Ausgabe: Jane Austen: Die sechs Romane. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe. Stuttgart 2013.

Sense and Sensibility. A Novel in three Volumes

(Verstand und Gefühl. Ein Roman in drei Bänden)

Entstehung:1795? unter dem Titel Elinor and Marianne, wahrscheinlich als Briefroman, Überarbeitung mit dem neuen Titel November 1797 und 1809–1811

Erstveröffentlichung: anonym, 30. Oktober 1811

Verfilmungen: Fernsehserie 1971 (BBC), Fernsehserie 1981 (BBC), Film 1996, Film 2008 (BBC)

Pride and Prejudice. A Novel in three Volumes. By the Author of »Sense and Sensibility«

(Stolz und Vorurteil. Ein Roman in drei Bänden. Von der Autorin von »Verstand und Gefühl«)

Entstehung: Oktober 1796 bis August 1797 unter dem Titel First Impressions, überarbeitet 1809–1812

Erstveröffentlichung: anonym, by a Lady, 28. Januar 1813

Verfilmungen: Hollywood-Film 1940, Fernsehserie 1980 (BBC), Fernsehserie 1995BBC, Film 2005 (Universal Pictures)

Mansfield Park. A Novel in three Volumes. By the Author of »Pride and Prejudice«

(Ein Roman in drei Bänden. Von der Autorin von »Stolz und Vorurteil«)

Entstehung: Februar (?) 1811 bis Juli (?) 1813

Erstveröffentlichung: anonym, 9. Mai 1814

Verfilmungen: Fernsehserie 1983 (BBC), Hollywood-Film 1999, Fernsehfilm 2007, 2008 (ITV)

Emma. A Novel in three Volumes. By the Author of »Pride and Prejudice« etc. etc.

(Ein Roman in drei Bänden. Von der Autorin von »Stolz und Vorurteil« usw. usw.)

Entstehung:21. Januar 1814 bis 29. März 1815

Erstveröffentlichung: anonym, Ende Dezember 1815

Verfilmungen: Fernsehserie 1972 (BBC), Fernsehfilm 1996 (BBC), Film 1996 (Miramax), Fernsehserie 2009 (BBC)

Northanger Abbey. A Novel in two Volumes. By the Author of »Pride and Prejudice«, »Mansfield Park«, etc. With a Biographical Notice of the Author

(Kloster Northanger. Ein Roman in zwei Bänden. Von der Autorin von »Stolz und Vorurteil«, »Mansfield Park« usw. Mit einer biographischen Anmerkung über die Autorin)

Entstehung: August (?) 1798 bis Juni (?) 1799 (unter dem Titel Susan), Umarbeitung bis 1803

Erstveröffentlichung: postum und anonym, Ende Dezember 1817

Verfilmungen: Fernsehserie 1986 (BBC), Fernsehserie 2007 (ITV)

Persuasion. A Novel in two Volumes. By the Author of »Pride and Prejudice«, »Mansfield Park«, etc. With a Biographical Notice of the Author

(Überredung. Roman in zwei Bänden. Von der Autorin von »Stolz und Vorurteil«, »Mansfield Park« usw. Mit einer biographischen Anmerkung über die Autorin)

Entstehung:8. August 1815 bis 6. August 1816

Erstveröffentlichung: postum und anonym, Ende Dezember 1817

Verfilmungen: Fernsehserie 1971 (BBC), Film 1995 (BBC), Fernsehfilm 2007 (ITV)

Die unvollendeten Romane

The Works of Jane Austen. Volume VI. Minor Works. Now first collected and edited from the manuscripts by Robert W. Chapman. With illustrations from Contemporary Sources. Oxford [u. a.] 1972.

 

Deutsche Ausgabe: Jane Austen: Die Watsons, Lady Susan, Sanditon. Die unvollendeten Romane. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Nachwort von Christian Grawe. Stuttgart 2011

The Watsons

Entstehung:1803/1804

Erstveröffentlichung:1871 (in: James-Edward Austen-Leigh, A Memoir of Jane Austen, 2. Aufl.), erste textgetreue Ausgabe 1927

Lady Susan

Entstehung: zwischen 1794 und 1800 oder 1804/1805

Erstveröffentlichung:1871 (in: James-Edward Austen-Leigh, A Memoir of Jane Austen, 2. Aufl.), erste textgetreue Ausgabe 1923

Verfilmung: »Love and Friendship« (2015)

Sanditon

Entstehung:27. Januar bis 18. März 1817

Erstveröffentlichung: Auszüge 1871 (in James-Edward Austen-Leigh, A Memoir of Jane Austen, 2. Aufl.), erste vollständige Ausgabe 1925

Die Briefe

Vollständige und maßgebliche englische Ausgabe: Jane Austen’s Letters. Forth Edition. Collected and Edited by Deirdre Le Faye. Oxford 2011. Erhalten sind 161 Briefe, davon 96 an Austens Schwester Cassandra.

Deutsche Ausgabe: Jane Austen: Ich bin so gütig, Dir wieder zu schreiben. Briefe. Mit weiteren Briefen und Dokumenten aus dem Familien- und Bekanntenkreis. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe. Stuttgart 2013

Entstehung:1. Brief: 9./10. Januar 1796, letzter Brief: 28./29. Mai 1817

Erste Veröffentlichungen: Auswahl 1870 (in: Austen-Leigh, A Memoir of Jane Austen), 1884 (Edward Brabourne, Letters of Jane Austen), 1906 (J. H. and Edith C. Hubback, Jane Austen and her Sailor Brothers), 1913 (William and Richard Austen-Leigh, Jane Austen. Her Life and Letters)

Einführung

1

Jane Austen and the Ghosts of Netley, Jane Austen and the Unpleasantness of Scargrave Manor usw. – in der englischsprachigen Welt löst Jane Austen als scharfsinnige Detektivin in einer Serie von Kriminalromanen seit Jahren ein Verbrechen nach dem anderen. Inzwischen hat auch die Monster- und Vampirmode sie erreicht: Pride and Prejudice and Zombies und Sense and Sensibility and Sea-Monsters etwa liegen in den Buchhandlungen. Auch die neuesten Forschungsmethoden sind an ihr nicht vorübergegangen. In dem 2013 erschienenen Werk Jane Austen, Game Theorist2 wird sie geradezu zur »Erfinderin« der Spieltheorie gemacht. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die Filme und Fernsehserien nach Jane Austens Romanen die Autorin auch in Deutschland wieder einem breiten Publikum in Erinnerung gerufen. Ihre Romane werden daher neuerdings auch als »Buch zum Film« gelesen.

Jane Austen ist ein in der Literaturgeschichte einmaliges Phänomen, denn ihr schmales Œuvre von nur sechs Romanen, drei unvollendeten Romanen und einem Band von Jugendwerken kontrastiert auf kuriose Weise mit ihrem weltweiten Ruhm. Zweihundert Jahre nach ihrem Tod ist sie eine internationale »Kultfigur« und wird auf erstaunliche Weise verehrt und … vermarktet: Jane-Austen-Handtücher, -Trinkbecher, -Einkaufstaschen, -Puppen sind nur einige der Devotionalien, die zum Kauf angeboten werden. Neuerdings findet sich ihr (unhistorisches) Porträt sogar auf der englischen Zehn-Pfund-Note. Vor kurzem sind Episoden ihres Lebens – mehr oder minder authentisch – als Filmvorlagen verwendet worden: Becoming Jane behandelt ihre Jugendliebe zu Tom Lefroy, Miss Austen Regrets die reifere Jane Austen.

Ihre Romane sind Claire Harman zufolge3 neben den verbreiteten europäischen Sprachen auch auf Japanisch, Koreanisch, Hebräisch, Isländisch, Russisch, Persisch, Polnisch, Serbokroatisch, Bengalisch, Finnisch, Chinesisch, Arabisch, Ungarisch und sogar auf Marathi, Tamil und Telugu erschienen. Jeder Aspekt ihres Daseins ist erforscht: Jane Austen und das Geld, … und das Theater, … und das Essen, … und die Religion, … und das Pianoforte, … und das Verbrechen, … und die Aufklärung – und so weiter. Die Werke über sie füllen ganze Regale: Handbücher, Studienführer, wissenschaftliche Untersuchungen, Quellensammlungen, Reiseführer usw. Es gibt feministische, postkoloniale, soziologische, psychologische, stilistische, religiöse Studien. Sogar zum Verständnis der weltweiten Finanzkrise von 2008/09 kann sie etwas beitragen. In der Wochenzeitschrift The Spectator erschien am 25. Oktober 2008 ein Artikel von Paul Johnson mit dem vielversprechenden Titel »Jane Austen knew all about a banking crisis«.

Die Zahl ihrer treuen Verehrer und Verehrerinnen geht in die Millionen. Schon 1927 bezeichnete Arnold Bennet die meisten ›Janeites‹ als »Fanatiker«: »Ich begebe mich auf gefährliches Gelände. Jane Austen wird von Kohorten verteidigt, die bereit sind, für ihr heiliges Anliegen einen Mord zu begehen.«4 Was Henry Crawford in Mansfield Park über Shakespeare sagt, mit dem Austen gelegentlich verglichen worden ist, trifft unterdessen fast auch auf sie zu:

»Shakespeare lernt man kennen, ohne eigentlich zu wissen, wie. Er wird jedem Engländer zur zweiten Natur. Seine Gedanken und Schönheiten sind so verbreitet, dass man überall darauf stößt; man ist instinktiv mit ihnen vertraut.«

Benjamin Disraeli, englischer Premierminister im Jahr 1868 und von 1874 bis 1881, behauptete, Stolz und Vorurteil17 Mal gelesen zu haben.5 Wenn das keine Empfehlung ist!

2

Der vorliegende Band bietet einen für die meisten deutschen Leser neuen Zugang zu Jane Austen. Durch alphabetisch angeordnete Artikel zu den verschiedensten Aspekten ihrer Werke wird das Œuvre hier von den Details her aufgeschlüsselt, die in ihren Kontext gestellt werden: biographische Verweise, personale Gruppierungen, vergleichbare Konstellationen, historischer Hintergrund, zeitgenössische Sitten und Bräuche, politische Implikationen, künstlerische Aspekte. Ein solcher Buchtypus ist in der angelsächsischen Welt durchaus verbreitet, in Deutschland aber noch weitgehend unbekannt. Er hat den Vorteil, dass viele Details und Anspielungen auch für Leser, die mit dem historischen Kontext der Romane und den Interpretationsmethoden der modernen Literaturwissenschaft nicht vertraut sind, erkennbar werden. Auf diese Weise wird die Welt von Austens Romanen über die bloße Handlung hinaus in ihrem geschichtlichen Kontext und ihrer schriftstellerischen Subtilität verständlicher. Der Bezug und die Bedeutung vieler Einzelheiten lassen sich so nachvollziehbar aufschlüsseln. Es wird dabei deutlich, wie präzise sich Austen an die tatsächlichen Gegebenheiten ihrer Gesellschaft hält. Die Artikel sind in sich abgeschlossen, so dass sie einzeln gelesen werden können. Der Band insgesamt ergibt aber hoffentlich ein recht umfassendes Bild von Austens Romankunst. Das Buch folgt keiner bestimmten interpretatorischen Richtung oder Schule. Es ist eklektisch und nimmt auf, was immer die Lektüre von Austens Romanen bereichern könnte und zum Verständnis ihrer Kunst beiträgt.

Man hat Jane Austens »Minimalismus«6 bewundert, ihre Beschränkung auf das für die jeweilige Situation Wesentliche. Aber trotz dieses Funktionalismus enthalten ihre Romane, wie die Leser dieses Bandes schnell erkennen werden, eine Fülle von präzisen und detaillierten Informationen über die physische Erscheinung, die Charakterzüge und Eigenarten, die finanzielle Situation und den sozialen Status ihrer Figuren, über die Gesellschaft ihrer Zeit, über die oft spannungsreichen familiären Konstellationen und das Ensemble der Schauplätze vom Schloss bis zur Hütte. Da die englische Gesellschaft zu Austens Zeit hochstrukturiert war, muss man, um die einzelnen Charaktere zu verstehen, ihre Herkunft, ihr Milieu und ihre familiäre Situation kennen. Das Gesamtbild einer Person – ihre individuellen Züge und Qualitäten ebenso wie ihre soziale und gesellschaftliche Umwelt – ist zu ihrem Verständnis unerlässlich. Viele dieser Einzelheiten tragen zur Deutung des Geschehens bei und erlauben Rückschlüsse auf das Befinden, die Emotionen, Illusionen und Täuschungen der Figuren. In Emma hat die Autorin das Versteckspiel mit Andeutungen und falschen Fährten auf die Spitze getrieben.

Bei den nachfolgenden Beobachtungen und Analysen zu Austens Romanen sollte die Autorin selbst so ausführlich wie möglich zu Wort kommen. Schließlich kann man ihre geistreiche, präzise Formulierungskunst kaum übertreffen. Auf diese Weise kommen hoffentlich auch ihr unnachahmlicher Witz und ihr Sarkasmus zu ihrem Recht. Der Verfasser hofft, dass die Leser es aufschlussreich und unterhaltsam finden werden, Austens Werke auf diese ungewöhnliche Art näher kennenzulernen und sich von Artikel zu Artikel leiten zu lassen. Ohne den Rat und die Hilfe meiner Frau Ursula wäre der Band so nicht zustande gekommen. Ihr gebührt mein herzlicher Dank.

 

Christian Grawe, Melbourne (Australien)

Hinweise zur Benutzung

1. Die Werke werden innerhalb der Artikel, gegebenenfalls mit Seitenzahl, folgendermaßen abgekürzt:

BR

Briefe

DW

Die Watsons

E

Emma

J

Jugendwerke

KL

»Kitty und die Laube«

KN

Kloster Northanger

LS

Lady Susan

MP

Mansfield Park

S

Sanditon

SC

Die schöne Cassandra

SV

Stolz und Vorurteil

Ü

Überredung

VG

Verstand und Gefühl

2. Alle Zitate aus Austens Werken und Briefen sind kursiv gesetzt. Kürzungen im Zitatinneren werden durch eckige Klammern nachgewiesen. Am Anfang eines Zitats zeigt gegebenenfalls die Kleinschreibung an, dass es sich nicht um einen Satzanfang handelt. Um die Zitate in den Satzzusammenhang einzufügen, hat sich der Verfasser manchmal kleine grammatische Veränderungen erlaubt (also etwa Akkusativ statt Dativ, Adjektiv statt Adverb usw.).

 

3. Bei Briefen Austens, die nicht an ihre Schwester gerichtet sind, wird jeweils der Adressat oder die Adressatin genannt. Alle Briefzitate sind in den Anmerkungen nachgewiesen.

 

4. Die Quellenangaben aus Austens Werken und Briefen beziehen sich auf die Seitenzahlen der obengenannten deutschen Ausgaben von Jane Austens Werken und Briefen im Reclam Verlag in der Übersetzung von Ursula und Christian Grawe. Folgt einem Zitat oder mehreren Zitaten keine Seitenangabe, dann gilt die nächstfolgende Angabe auch für diese.

 

5. Der Verfasser verdankt der umfangreichen, ständig wachsenden Literatur über Jane Austen viele Anregungen. Da es sich durchweg um englische Werke handelt, ist auf eine Bibliographie verzichtet worden. Wörtliche Zitate aus der Sekundärliteratur werden aber in den Anmerkungen nachgewiesen. Alle zusätzlichen englischen Texte wurden von Ursula und Christian Grawe übersetzt.

Die Artikel

Ärzte

Anders als heute war der Arztberuf zu Austens Zeit nicht besonders angesehen und auch finanziell wenig ergiebig. Noch in George Eliots (1818–1880) Roman Middlemarch (1874) beklagt ein Grundbesitzer, dass die Ärzte neuerdings den Anspruch erhöben, sich in der eleganten Gesellschaft zu bewegen. Austen selbst macht ihre Nichte Anna, die in ihrem Roman einen Arzt bei zwei Lords einführt, darauf aufmerksam, dass ein Landarzt […] Männern dieses Ranges nicht vorgestellt würde.7 Die Tätigkeit des Arztes bestand weitgehend aus Hausbesuchen – kein Wunder, dass das Gesicht des sehr geschickten Arztes Sam Watson sehr Wind und Wetter ausgesetzt (DW 19) ist –, zumal das ärztliche Instrumentarium der damaligen Zeit leicht in einer Tasche zu transportieren war. Es gehörte dabei zum guten Ton, dass der Arzt Arme umsonst behandelte. Die wissenschaftliche Basis für Diagnose und Therapie steckte allerdings noch in den Anfängen, und viele Beschwerden wurden allgemeinen, vagen Krankheiten zugeschrieben. Noch immer galt der Aderlass vielen Ärzten als die beste Waffe im Kampf gegen Unpässlichkeiten. Der Londoner Apotheker Mr. Haden, der in Austens Briefen von 1815 öfter erwähnt wird, weil er ihren Bruder Henry behandelte und sich offenbar um ihre Nichte Fanny bemühte, ist ein gutes Beispiel: Henry hat Schmerzen in der Brust. […] Mr. Haden nennt es eine allgemeine Entzündung. Er hat ihm gestern abend einen halben Liter Blut abgenommen und fast noch einmal so viel heute vormittag und beabsichtigt, ihn morgen noch einmal zur Ader zu lassen.8 Alle Mediziner in Austens Romanen besuchen wie Mr. Haden ihre Patienten: So sieht in Verstand und Gefühl Dr. Donavon in London nach dem zahnenden Kind der Palmers, muss sich um die hysterischen Anfälle von Fanny Dashwood kümmern und bleibt vorsichtshalber in Reichweite (295), falls Mrs. Ferrars ebenfalls hysterisch wird; und Mr. Harris bei den Palmers in Cleveland diagnostiziert bei Marianne Dashwoods Krankheit die Gefahr einer möglichen Ansteckung (351). Mr. Parkers Suche nach einem Arzt für das Seebad Sanditon setzt in Sanditon die Handlung in Bewegung, aber die ›große Dame‹ des Ortes ist von der Aussicht nicht angetan: Da kämen nur unsere Dienerschaft und die Armen auf den Gedanken, krank zu spielen. (192) Für die verbreitete Gicht, die angeblich durch Port- und Rotweinkonsum verschlimmert wurde, fuhr man in die heißen Bäder nach Bath wie Mr. Allen (KN) und Mr. Johnson (LS).

Es gab damals drei Gruppen von Medizinern: Ärzte, Chirurgen und Apotheker. Nur die ersteren durchliefen eine medizinisch-akademische Ausbildung, die beiden anderen erlernten ihren Beruf in der Praxis und galten kaum als Gentlemen. Einen Chirurgen lernen die Leser von Mansfield Park ganz kurz kennen: Der Schiffsarzt Mr. Campbell holt William Price ab, weil ihre Korvette, die »Thrush« (Drossel), in See sticht. Was der sehr wohlerzogene junge Mann (MP 466) von den chaotischen Zuständen im Haus Price hält, erfahren die Leser nicht. Auf einem Kriegsschiff waren Amputationen, die vom Chirurgen noch ohne Narkose durchgeführt wurden, oft die einzige Möglichkeit, ein Leben zu retten. Der Fall eines Marineleutnants aus der Austenschen Bekanntschaft zeigt, wie schnell die Chirurgen der Zeit bereit waren, zum Messer oder zur Säge zu greifen. Der Mann hatte sich aus Versehen in den Oberschenkel geschossen: Zwei junge schottische Chirurgen […] waren so liebenswürdig, ihm anzubieten, den Oberschenkel sofort zu amputieren, aber dem wollte er nicht zustimmen.9 Es war die richtige Entscheidung, denn der Knochenbruch verheilte.

Die amüsanteste Arzt-Gestalt Austens ist Mr. Perry in Emma. Der vielbeschäftigte Apotheker von Highbury, ein intelligenter, gebildeter Mann (22), ist allgegenwärtig, ohne dass die Leser ihn je sprechen hören. Wenn die Westons und Emma Woodhouse nach Hartfield gehen, reitet er gerade […] vorbei (409); wenn Emma vor Fords Laden steht, sieht sie ihn im Vorbeihasten (275); wenn er eine freie Stunde (505) hat, besucht er Mr. Woodhouse; Miss Bates trifft ihn zufällig auf der Straße (280); Miss Nash zufolge war er gerade bei Mrs. Goddard, um nach einem kranken Kind zu sehen (81), und Miss Smith hat er schon öfter wegen ihrer Halsschmerzen behandelt (137). Er wird offenbar tatsächlich immer überall gebraucht (121), behandelt die Armen kostenlos (188) und scheint indiskreterweise Berichte über die Krankheiten seiner Patienten von Haus zu Haus zu tragen. Ob er es wirklich mit der Galle (121) hat, wie Mr. Woodhouse behauptet, sei dahingestellt, denn dieser sagt dasselbe über Mr. Cole (248). Mr. Perrys Plan, sich eine Kutsche zuzulegen, führt fast zur Entdeckung von Frank Churchills und Jane Fairfax’ heimlicher Verlobung. Als Miss Bates fast das Verlöbnis ihrer Nichte ausplaudert, muss Mr. Perry gar als Ausrede herhalten (543). Er erscheint nie bei den gesellschaftlichen Zusammenkünften in Highbury, und seine Frau verkehrt nur mit den Coles und den Bates – ein Hinweis auf den niedrigen sozialen Status des Apothekers.

Es gibt nicht viele Kranke in Austens Werken. Die traurigsten Invaliden unter ihnen sind drei der Parkers in Sanditon: Diana (Gallenkoliken), Susan (Kopfschmerzen, Nervenzustände, Schlaflosigkeit, zwei Ohnmachtsanfälle, drei Zahnziehungen, tägliche Behandlung mit sechs Blutegeln) und Arthur (rechtsseitige Lähmungen, Nervenzustände, Schweißausbrüche, Leberleiden, Gefahr eines Hexenschusses). Niemand ist mehr auf seine Krankheiten fixiert als sie. Gleichwohl haben sie mit der ganzen Sippe der Mediziner gebrochen (S 183) und doktern nun selbst an sich herum. Dabei sind Zweifel durchaus berechtigt, ob nicht ein erheblicher Teil ihrer Krankheiten nur eingebildet ist. Die 34jährige Diana Parker hält ihre Schwester und ihren Bruder in einem Zustand kränklicher Abhängigkeit. Diana ist einer von Austens köstlichsten Charakteren, deren aufdringliche Aktivitäten – wie Mrs. Elton in Emma – die Leser mit ständigem Schmunzeln begleiten. Sie ist trotz ihrer Leiden ein dominanter ›busybody‹ und redet quasi ohne Unterlass. Charlotte Heywood kommt ihr Benehmen wie unverständliche Zudringlichkeit und wahnsinnig gewordene Unternehmungslust (213) vor. Sie beobachtet sie bezeichnenderweise, wie sie über die Hochebene eilte, um ein Haus für eine Dame zu mieten, die sie nie gesehen und die sie gar nicht darum gebeten hatte (217).

Der ewig kränkelnde Mr. Woodhouse mit seiner nervösen Konstitution (E 152) hat keine erkennbaren Krankheiten, wittert aber fortwährend Probleme bei anderen. Ob die wechselhaften Leiden von Mrs. Churchill (E) im fernen Yorkshire, durch die auch die Freiheit ihres Adoptivsohns Frank eingeschränkt wird, eingebildet oder ernst zu nehmen sind, klärt sich erst, als sie überraschend stirbt – neben Henry Dashwood (VG), Dr. Grant und Lord Ravenshows Großmutter (MP) ist sie damit eine von vier Figuren, die in Austens Romanen das Zeitliche segnen. Außer Mr. Grant sterben dabei alle fern vom Geschehen. Eine fast tödliche Krankheit ist allerdings nur psychosomatisch, die von Marianne Dashwood, und eine zweite, die von Thomas Bertram, ist es zumindest teilweise. Beide Leiden haben einen kathartischen Effekt.

Erst 1796 begann der Arzt Edward Jenner (1749–1823) mit den ersten Versuchen der Pockenimpfung. Es herrschte deshalb zu Austens Zeit noch eine berechtigte Angst vor oft tödlichen oder entstellenden ansteckenden Krankheiten. Daher verlässt Mrs. Palmer Cleveland mit ihrem Baby panikartig, als der Arzt bei Marianne Dashwoods Krankheit das Wort ›Ansteckung‹ […] seinen Lippen entschlüpfen ließ (VG 351), und ist Mr. Weston unendlich dankbar, dass er sie vor dem gefährlichen Scharlach (E 114) gewarnt hat. Der Emma Woodhouse ergebene Mr. Elton hofft, dass es sich bei Harriet Smiths Halsschmerzen um keine ansteckende Vereiterung (E 130) handelt. Da Jane Fairfax’ Mutter – wie Oberst Brandons erste Liebe Eliza Williams (VG 237) – an der Schwindsucht gestorben ist, fürchtet Miss Bates um das Befinden ihrer kränklichen Nichte.

Alte Jungfern

Emma Woodhouse und Harriet Smith diskutieren die trüben Aussichten alternder unverheirateter Frauen (E 102 f.) zu Austens Zeit. Die Autorin selbst schrieb wenige Monate vor ihrem Tod ironisch: Alleinstehende Frauen haben eine schreckliche Neigung arm zu sein, was ein überzeugendes Argument fürs Heiraten ist.10 Sie hatte keinerlei Vermögen, und die Honorare für ihre Bücher waren ihr einziges Einkommen. In einer Gesellschaft ohne jedes soziale Netz sanken unverheiratete Frauen leicht in die Armut und waren auf das Wohlwollen ihrer Verwandten oder Nachbarn angewiesen. Ein Beispiel dafür ist Miss Bates in Emma, die von ihren Mitbürgern mit Lebensmitteln versorgt wird, für die sie sich überschwenglich bedankt. In Austens Romanen ist sie der klassische Fall der lächerlichen alten Jungfer: so albern, so anspruchslos, so immer lächelnd, so geschwätzig, so begriffsstutzig, so hausbacken (102), wie Emma Woodhouse findet. Dass sie keinen Mann gefunden hat, verwundert nicht, denn sie ist arm, einfältig, begriffsstutzig und von nervtötender Redseligkeit. Aber auch wenn sie nicht jung, schön, reich war, erfreute sie sich wegen ihrer unerschöpflichen Freundlichkeit und ihrer immerwährenden Zufriedenheit einer ungewöhnlichen Beliebtheit (24). Da Miss Bates in ihrer Geschwätzigkeit nichts für sich behalten kann, verrät sie Einzelheiten, aus denen ihre Zuhörer (und die Leser) das Geheimnis zwischen ihrer Nichte Jane Fairfax und Frank Churchill erraten könnten. Austen treibt ihren Spaß mit den Lesern, wenn sie Hetty Bates sagen lässt: Ich habe wohl kein besonders gutes Gespür für Entdeckungen […]. Was ich vor Augen habe, das sehe ich. (206) Die meisten ihrer Zuhörer und Leser glauben an ihr eigenes Gespür für Entdeckungen, sehen aber nicht, was sie vor Augen haben. Miss Bates ist eine von Austens gelungensten und beliebtesten Gestalten; in der englischsprachigen Welt ist sie sprichwörtlich. Ihre konfusen Monologe sind witzige Perlen indirekter Charakterisierungskunst. Emmas Urteil, dass das Gute und das Lächerliche bei ihr eine ganz unglückselige Mischung eingegangen sind (446 f.), wird sicher von vielen geteilt. Miss Bates’ kleines Wohnzimmer (283) ist einer der zentralen Schauplätze für die Handlung des Romans: Emma kommt ungern der sehr unleidlichen Verpflichtung nach, Miss Bates zu besuchen: reine Zeitverschwendung, ermüdende Gesellschaft und obendrein die fürchterliche Aussicht, auf die zweit- und drittklassige Garnitur von Highbury zu stoßen. (180) Trotz des herablassenden Tons ist diese Befürchtung nicht unbegründet, denn Hetty bildet mit einigen Mitbürgerinnen einen Zirkel klatschender Frauen. Frank Churchill fühlt sich auf geheimnisvolle Weise zu der Wohnung hingezogen und wird beinahe von Emma in einem intimen Moment mit Jane ertappt. Hetty ist auch der Grund für Emmas Gewissensbisse, nachdem sie die hilflose Frau beim Ausflug nach Box Hill beleidigt hat. Eine Anregung für die Figur der Miss Bates scheint Austens Verwandte Lady Saye und Sele gewesen zu sein, die der Mutter der Autorin zufolge »natürlich eine rechte Qual« war und Austen »viel Anlass zum Lachen« gab.11

Obwohl sie als Mrs. Percival (KL) bezeichnet wird, zeigt Catherine Percivals altmodische, engstirnige Tante das typische Verhalten einer alten Jungfer. Sie überwacht das Verhalten ihrer Nichte mit unwahrscheinlicher Strenge, weil sie befürchtet, dass sie auf die schiefe Bahn gerät. Mrs. Percival unterhält sich gern über Politik – vertritt dabei allerdings lauter vorgefasste, reaktionäre Meinungen und folgt offenbar dem Motto: Früher war alles besser. Sie befürchtet, dass die gesamte Nation unaufhaltsam auf dem Weg in den Abgrund (J 259) und die gesamte Menschheit entartet (246) ist. Sogar die Tatsache, dass das verworfene Geschöpf Catherine mit einem ihr unbekannten jungen Mann auf einem Ball erscheint, mit ihm tanzt und dann in ihrer Laube mit ihm sitzt, trägt für sie zum Umsturz des Königreichs (282) bei. Auch einen Briefwechsel zwischen jungen Mädchen hält sie für schädlich (257).

Zwei weitere Frauenfiguren Austens sind wahrscheinlich auf dem Weg zur alten Jungfer. In einem Fall hat Austen selbst es bestätigt. Die beinahe dreißigjährige Anne Steele (VG) mit dem sehr biederen und nicht sehr empfindsamen Gesicht (139) hat Anspruch auf den Titel, Austens albernste junge Dame zu sein. Zusammen mit ihrer Schwester Lucy erobert sie sich durch ihr liebedienerisches Benehmen einen Platz in der Gesellschaft. Annes ordinäre, plumpe Vertraulichkeit und Dummheit (145) macht sie zum Gespött der Leute. Ständig ist sie auf der Suche nach flotten Verehrern (144), und bei dem vergeblichen Versuch, Doktor Davies zu erobern, macht sie sich mit rosa Schleifen (311) lächerlich.

Elizabeth Elliots (Ü) Wunsch, ihren Vetter William Walter Elliot zu heiraten, wird zweimal enttäuscht. Vor Jahren hat er ihr eine reiche Frau von niederer Herkunft (11) vorgezogen, und nachdem diese gestorben ist, favorisiert er nun Elizabeths Schwester Anne. Da Elizabeth fast dreißig ist, sind ihre Heiratschancen gering. Das schafft ihr ein gewisses Bedauern und eine gewisse Beklemmung (10). Anders als ihr Vater blickt die schöne (9), aber adelsstolze und herzlose Frau deshalb auch sehr ungern in den Adelskalender. Elizabeths und Annes Aussichten auf eine Heirat kehren sich im Laufe des Romans um. Es ist tragische Ironie, dass Elizabeth in Mrs. Clay, deren Gesellschaft sie der ihrer eigenen Schwester vorzog, ›die Natter am Busen genährt‹ hat, die ihr dann den Mann wegschnappt, den sie heiraten wollte.

Bath

Die bereits von den Römern besiedelte, höchst reizvolle kleine Stadt am Avon in Somersetshire (im Südwesten Englands) mit ihrer großartigen Architektur aus dem 18. Jahrhundert und den einzigen heißen Quellen des Landes war der modische Kurort des 18. Jahrhunderts. Zu Austens Zeit erlebte er seine letzte Blüte, bevor die vornehme Gesellschaft schließlich die Seebäder vorzuziehen begann. Die Schriftstellerin Austen reagierte auf diese Entwicklung, indem sie einen fiktiven aufstrebenden Badeort zum Schauplatz ihres letzten Romans Sanditon machte. Austen selbst lebte von 1801 bis 1806 in Bath, hielt sich aber schon im November/Dezember 1797 und von Mitte Mai bis Ende Juni 1799 dort auf. Die Art und Weise, wie sie Bath als Handlungs- und Wohnort ihrer Figuren schildert, beweist ihren unbestechlichen Sinn für die gesellschaftliche Topographie der Stadt.

In Kloster Northanger ist Bath der Schauplatz des größten Teils der Handlung. Hier wird Catherine Morland in die Gesellschaft eingeführt, hier verliebt sie sich, und hier erlebt sie ihre Abenteuer, bevor sie schließlich nach Kloster Northanger fährt. Sie wohnt mit den Allens in der östlichen Ausfahrtsstraße Pulteney Street; die reichen Tilneys haben sich in der zentralen vornehmen Geschäftsstraße Milsom Street eingemietet, und die Thorpes leben in Edgar’s Buildings, einer westlichen Querstraße davon. Die Leser verfolgen Catherines Begegnungen und Erlebnisse vor allem in vier öffentlichen Gebäuden, die für das gesellschaftliche Leben eine zentrale Bedeutung hatten: in den ›Oberen‹ (14, 51, 78) und den ›Unteren Gesellschaftsräumen‹ (19, 141), in der ›Brunnenhalle‹ (19, 25, 31, 35, 61, 74, 97, 154) und im ›Royal Theatre‹ (30, 73, 98).

Dabei hält sich Austen, wie schon das erste Gespräch zwischen Catherine und Henry Tilney bestätigt (19 f.), genau an die tatsächliche Routine dieser Institutionen. Die älteren, 1730 gebauten ›Unteren Gesellschaftsräume‹ im alten Zentrum der Stadt und die neueren ›Oberen Gesellschaftsräume‹ etwas weiter nördlich an dem runden, Circus genannten Platz hielten wöchentlich zwei Tanzabende ab – je ein formeller und ein etwas zwangloserer. Die Veranstaltungen dauerten jeweils von 18 bis 23 Uhr und waren zeitlich aufeinander abgestimmt: In den 1771 eröffneten ›Oberen Gesellschaftsräumen‹ fanden sie am Montag und Donnerstag, in den ›Unteren‹ am Dienstag und Freitag statt. In ersteren gab es außerdem neun Konzerte pro Saison, jeweils am Mittwoch, und das ›Royal Theatre‹ spielte am Dienstag, Donnerstag und Sonnabend. In der ›Brunnenhalle‹ trank man beim Umherwandeln das natürliche Mineralwasser mit der konstanten Temperatur von 46 Grad. Man kann es noch heute in der Brunnenhalle trinken, in der inzwischen ein Restaurant eröffnet hat.

Abb. 1: Pump Room, Bath.

The New Bath Guide von 1799 beschreibt die tägliche Routine der eleganten Gesellschaft so:

»Am Vormittag trifft man sich in der Brunnenhalle; von dort geht man auf den ›Paraden‹ oder in verschiedenen Teilen der Stadt spazieren, besucht die Läden usw.; danach wieder zur Brunnenhalle, von dort nach einem erneuten Spaziergang zum Dinner, und nach dem Dinner ins Theater (das berühmt ist für seine Schauspieltruppe) oder in die Gesellschaftsräume, wo Tanz oder Kartenspiel den Abend beschließen.«12

Die Paraden waren zwei elegante Parallelstraßen, die vom Avon aus nach Norden führen. John Feltham schreibt in seinem Guide to All the Watering and Sea-bathing Places for 1813: »Die Schönheit ihrer Lage und die Eleganz ihres Designs sind unübertroffen, und zu verschiedenen Tageszeiten sind sie von Menschenmengen bevölkert.«13

Als Sir Walter Elliot (Ü) im September nach Bath umzieht, kommt er gerade richtig zum Beginn der Saison, die von Anfang September bis in den Juni des Folgejahres dauerte. Zu den beliebtesten Spaziergängen gehörte der ›Royal Crescent‹ (31, 71, 104), die halbmondförmige Häuserzeile im Westen mit dem großen freien Platz davor, der nie bebaut werden darf. Es passt zu John Thorpes (KN) aufschneiderischer Natur, dass die Fahrt von Bath zum ›Blaise Castle‹ in Bristol in doppelter Hinsicht missglückt: Sie endet ungefähr auf halbem Weg, und Blaise Castle ist ironischerweise auch keine echte mittelalterliche Burg, sondern eine eher kümmerliche Nachahmung aus dem späteren 18. Jahrhundert. Austen vermischt in Kloster Northanger auf charakteristische Weise Realität und Fiktion und spielt dabei J. Barchas14 zufolge auch mit tatsächlichen bekannten Namen in Bath. Die Allens und Tilneys waren immens reiche Familien zu dieser Zeit, so dass General Tilney anscheinend Catherines Gastgeber, die Allens, mit der prominenten Familie verwechselt. Und als John Thorpe Catherine nach ihren Allens ausfragt, fahren sie gerade an dem riesigen Besitz des wirklichen Mr. Allen vorbei.

Der von Catherine herbeigesehnte Ausflug mit Henry und Eleanor Tilney nach Beechen Cliff führt südlich des Avon zu jenem stattlichen Hügel, der durch sein schönes Grün und seine bewaldeten Hänge von Bath aus in jeder Richtung ein so überwältigendes Landschaftsbild bietet (115). Anders als die Fahrten mit dem dumm-dreisten Thorpe wird er für Catherine in dreifacher Hinsicht zu einer ›Bildungsreise‹. Erstens führen die Tilneys, die die Landschaft mit den Augen von Menschen (betrachteten), die malen, sie in die neue Mode der Landschaftsmalerei ein. Dabei stellt Austen das von William Gilpin (1724–1804) propagierte Pittoreske zunächst aus der naiven Sicht der hilflosen (120) Catherine als irritierenden Verlust dar: Anscheinend malte man eine Landschaft nicht mehr vom Gipfel eines hohen Hügels aus, und ein klarer blauer Himmel war kein Beweis mehr für einen schönen Tag. (121) Henry veranschaulicht diese neue ›malerische‹ Darstellung der Landschaft, indem er vor ihrem inneren Auge auf dem Gipfel eine Felsgruppe und eine verwitterte Eiche platzierte (122). Nach der neuen Theorie sollten Landschaft und Himmel bewegt, variationsreich und mit Licht-und-Schatten-Effekten dargestellt werden.15 Catherine ist so gelehrig, dass sie nach dem Aufstieg auf Beechen Cliff […] die Stadt Bath mit einem Federstrich auslöschen wollte, weil sie das Landschaftsbild verschandele (122).

Zweitens verwickeln die Geschwister Catherine, ausgehend von ihrer Begeisterung für den gotischen Schauerroman, in ein Gespräch über das Verhältnis von Fiktion und Geschichte – eine neue Facette von Catherines ständigem Vermischen von Fiktion und Realität. Sie führt – aus gleichsam ›feministischem‹ Blickwinkel – die Langeweile der historischen Darstellungen auf deren männlichen Standpunkt zurück. Drittens macht Henry sie in seiner ironischen Überlegenheit und seinem hochentwickelten Sprachbewusstsein auf ihre sprachlichen Nachlässigkeiten und die der Frauen insgesamt aufmerksam.

In Überredung finden sich in Bath in der zweiten Hälfte des Romans die verschiedenen Gruppen zwanglos zusammen, und es kommt vor der Aussöhnung von Anne Elliot und Kapitän Wentworth zu dramatischen Missverständnissen auf beiden Seiten. Austen selbst zieht fast genau im selben Alter wie Anne – und wie diese ungern – nach Bath. Sie kommt zu ihrem Bedauern bei schönem Wetter dort an, gesteht aber, klarer bei Regen16 sehen zu können. Genau dies ist das Wetter, das Anne bei ihrer Ankunft in Bath erlebt (162 f.). Alle im Roman vorkommenden Straßen gibt es wirklich, und alle sind genau ›die richtige Adresse‹. In Camden Place, in vornehmer, respektabler Lage (164) im hochgelegenen Norden mit Blick über die Stadt, hat sich Sir Walter Elliot eingemietet. Lady Russell wohnt nicht weit davon in der ebenfalls eleganten Rivers Street. Von woher sie und Anne Elliot die Pulteney Street im Osten entlang zurückfahren (216), wird den Lesern nicht berichtet. Sie passieren dabei Laura Place, den rautenförmigen vornehmen neuen Platz, wo Lady Dalrymple drei Monate residiert. Der offenbar vermögende Oberst Wallis lebt dicht beim eleganten Royal Crescent auf großem Fuß in Marlborough Buildings (167). In der Gay Street, die näher zur Stadt hin liegt, wohnen die Crofts – durchaus zu Sir Walters Zufriedenheit (203), weil sie weniger vornehm ist als Camden Place. Und direkt im anspruchslosen alten Zentrum, in Westgate Buildings, hat die arme Mrs. Smith ihre kleine Wohnung.

Zweimal kommt es in Annes Beisein zu einer peinlichen Begegnung von Mr. Elliot und Kapitän Wentworth, die dessen Eifersucht weckt: in der Konditorei Molland, in der belebten Geschäftsstraße Milsom Street  2, und dann in den ›Oberen Gesellschaftsräumen‹. Dort findet im ›Oktogonzimmer‹ (vgl. KN 51), dem zentralen achteckigen Vorraum zu Ballsaal, Kartenzimmer und Teesalon, das Gespräch zwischen Anne und Wentworth über Louisa Musgroves Verlobung statt, bevor er sich beim anschließenden Konzert im daneben liegenden Ballsaal aus Eifersucht auf Mr. Elliot (231